„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Monica Gomes aus Unterfranken.

Foto: Ahlers/WR

Ihr Kopf und ihr Körper sollten endlich wieder Ruhe geben, also schluckte sie Tabletten, viele Tabletten. Sie krampfte. Ihre Atmung setzte aus. Das Herz gab nach. Der Notarzt kam, erst auf der Intensivstation wachte Monica Gomes wieder auf.

Monica Gomes: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

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Ebern, Unterfranken, eineinhalb Jahre später. Draußen vor den Fenstern schlägt die Landschaft sanfte Wellen, darauf Grün und Gold und graue Streifen: Wälder, Felder, kurvige Straßen, hin und wieder weist ein Schild den Weg zur nächsten Burgruine. Drinnen sitzt Wolfgang, der Lebensgefährte von Monica; seine Stimme bebt vor Empörung, wenn er über den Tag spricht, an dem er sie bewusstlos fand. „Die Monica“, sagt er, „wäre fast gestorben!“ Neben Wolfgang sitzt Monica, sie sagt: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten.“

Was sie nicht mehr ausgehalten hatte, das erklärte ihr anschließend eine Ärztin, eine Psychiaterin: Es waren die ständigen Retraumatisierungen durch die Schriftwechsel mit dem Amt, das ihren Antrag auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) prüft. Schreiben, die Monica „martialisch“ nennt. Schreiben mit Fragen und Forderungen, die Monica immer wieder zurückzwangen: in ihre Kindheit, die damals erlebte Gewalt, „die ständige Ohnmacht und die kaum aushaltbare Angst“, wie sie sagt. Die Ärztin riet ihr dringend, das OEG-Verfahren zu beenden.

Zum ersten Mal vom OEG hörte Monica Gomes 2018. Ihr jüngster Aufenthalt in einer Nervenklinik lag noch nicht lange zurück, es war bereits der sechzehnte, als sie Kontakt zum WEISSEN RING aufnahm. Helmut Will, Leiter der Außenstelle Ebern, fragte sie: „Kennen Sie eigentlich das Opferentschädigungsgesetz?“ „Nein“, sagte Monica; wie die meisten Deutschen hatte sie nie davon gehört. Will erklärte ihr, dass sie als Gewaltopfer möglicherweise Anspruch auf Unterstützung nach dem OEG habe, vielleicht sogar auf eine lebenslange Rente. Monicas Krankheitsliste war lang: Posttraumatische Belastungsstörung, Agoraphobie, also Platzangst, Depressionen, es bestand Suizidgefahr. Arbeiten konnte sie schon lange nicht mehr, bereits mit 33 Jahren wurde sie unbefristet berentet. Heute ist sie 46.

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Im Amt füllte sie den OEG-Antrag aus. Sie nannte die Täter, „Eltern, Adresse unbekannt“, sie nannte den Tatort, „Elternwohnung“, sie nannte die Tatzeit, „bis zum 19. Lebensjahr“. Sie beschrieb die Taten, „jahrzehntelange Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Psychoterror“. Sie kreuzte „Nein“ an bei der Frage, ob sie Strafanzeige erstattet habe, „Hauptgrund war, dass das Jugendamt mir von einer Strafanzeige abgeraten hat“.

Das Amt antwortete mit Schreiben in Amtsdeutsch. „Die Bearbeitung Ihres Antrags wird einige Zeit erfordern“, hieß es in einem ersten Brief. „Die zur Bearbeitung erforderlichen Unterlagen und Beweismittel sind einzuholen und mit Ihrer Mitwirkung zu vervollständigen.“ Das Amt hatte auch einen ersten Mitwirkungsauftrag für Monica: „Umgehend einzureichen“ seien Namen und Anschrift aller Hausärzte „ab Kindheit bis laufend“, außerdem Kopien sämtlicher Zeugnisse.

Weitere Schreiben folgten. Das Amt mahnte: Der Anspruchsteller oder die Anspruchstellerin, also Monica, habe den Nachweis zu erbringen über „das Vorliegen eines tätlichen vorsätzlichen Angriffs“. Das Amt forderte weitere Angaben „im Rahmen der behördlichen Sachverhaltsaufklärung“, zum Beispiel: Welche „konkreten Körperverletzungshandlungen (auf den Körper zielende gewaltsame Einwirkungen)“ hätten die Eltern an Monica vorgenommen? Was könne Monica vorbringen, damit „das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs“ geprüft werden könne?

Ohnmacht. Kaum aushaltbare Angst.Monica wusste, sie brauchte nun einen Anwalt.

Wo finden Gewaltopfer einen Anwalt, der sich mit dem Opferentschädigungsrecht auskennt? Monica suchte im Internet, das Suchergebnis war ernüchternd. Oben im Norden fand sie ein paar Namen. Gemeinsam mit Wolfgang stieg sie frühmorgens in Bayern in den Zug, um nach Hamburg zu reisen, erst spätabends kamen sie zurück, erschöpft. Eine Frau, arbeitsunfähig, agora­phobisch, kauft ein Zugticket für eine Fahrt quer durchs Land und setzt sich in ein Zugabteil voller Menschen. Monicas Kopf und Körper waren unruhig.

Im Norden fand Monica eine Anwältin, Ruhe fand sie dadurch nicht. Jetzt kam die Post nicht aus dem Amt, sondern aus der Anwaltskanzlei. „Nehmen Sie Stellung hier, nehmen Sie Stellung da“, so beschreibt es Monica.

Das Amt suchte Zeugen für die Körperverletzungen an Monica. Sie möge bitte den vollständigen Namen und die Anschrift ihrer Schwester übermitteln. Die Schwester war vor Jahren nach Portugal gezogen, Monica hatte keine Ahnung, wo sie lebt; die beiden hatten keinen Kontakt. „Jeder geht auf seine Weise mit dem Erlebten um“, sagt Monica. Sie setzte lange Antwortschreiben auf. Ja, antwortete das Amt, dann möge sie doch bitte den vollständigen Namen der Schwester und ihre zuletzt bekannte Anschrift mitteilen.

Monicas Kopf und Körper rotierten. Würde das Amt jetzt jahrelang nach der verschollenen Schwester suchen? Müssten zuerst die portugiesischen Behörden um Amtshilfe ersucht werden? Wieso glaubte ihr niemand? Monica spricht bis heute nur von der „Gegenseite“, wenn sie von der Behörde spricht. Jede Stellung­nahme, die sie schreibt, wird von der Gegenseite „mit Macht“ auseinandergenommen, so empfindet sie es. „Permanent steht die Behauptung der Gegenseite im Raum, dass meine Schilderungen nicht wahr seien!“, empört sie sich. „Das ist erniedrigend!“ Monica schlief kaum noch. Sie fragte: „Was bringt mir das alles?“ Sie recherchierte im Internet zu aktiver Sterbehilfe. Sie griff zu den Tabletten.

Nach der Entlassung von der Intensivstation stoppte Monica das OEG-Verfahren, das Amt setzte die Bearbei­tung ihres Antrags bis auf Weiteres aus.

„Wenn ich das alles gewusst hätte, hätte ich niemals den Antrag gestellt“, sagt sie eineinhalb Jahre später in Ebern, Unterfranken. Vor einigen Wochen entschied sie sich dennoch, das Verfahren wieder aufzunehmen: „Wir haben schon so viel investiert.“ Sie hat eine Thera­peutin, die sie durch das Verfahren begleitet. Eine neue Anwältin. Ihre Schwester hat sich gemeldet, ein erster E-Mail-Kontakt besteht jetzt. Unterm Tisch kauert Kimi, eine Königspudeldame, Monicas Assistenzhund, finanziert mit Unterstützung des WEISSEN RINGS. Mit Außenstellenleiter Helmut Will hat Monica verabredet, dass alle Post vom Amt zum WEISSEN RING geht. „Die Monica kriegt keinen Brief mehr zu sehen“, sagt Wolfgang, ihr Lebensgefährte. Sie soll davon so gut es geht verschont bleiben.

Wenn sie doch mal eine Frage beantworten muss, dann stelle sie sich dem, sagt Monica, aber nicht allein. „Meine Therapeutin fängt mich auf.“ Gemeinsam laufen die beiden durch die Natur, lange Spaziergänge, lange Gespräche. Die Therapeutin sagt: „Wer so etwas erlebt hat, sollte nicht in einen Raum eingepresst werden.“

In Ebern drängelt Kimi, sie zupft an Monica, die Hündin will raus. „Sie will mich hier rausholen“, erklärt Monica, „das Gespräch dauert ihr schon zu lange.“

Aber zuerst möchte Wolfgang noch etwas sagen, er räuspert sich. Das hier, kündigt er an, sei ihm wichtig. Er sagt, er habe sein altes Haus in Unterfranken verkauft und eine neue Wohnung in Bayreuth gekauft, für die Monica und ihn. Behindertengerecht, mit Notfallknopf, betreutes Wohnen. Für die Monica, sagt er. Für ihn gebe es einen tollen Blick auf das Festspielhaus, er sei ja ein großer Wagner-Fan. Seine Stimme bebt, diesmal vor Entschlossenheit: „Niemals“, sagt er, „niemals werde ich die Monica im Stich lassen!“

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Matthias Corssen aus Niedersachsen.

Foto: Ahlers/WR

An einem Wintermorgen im Jahr 2019 reiht sich Matthias Corssen mit Dutzenden anderen in die Warteschlange vor dem Saal ein, in dem der größte Mordprozess in der jüngeren deutschen Geschichte verhandelt wird. Er hofft, dass er früh genug dran ist, um hinten im Saal noch einen Platz zu finden.

Vor Gericht steht der sogenannte Todespfleger, angeklagt wegen 100-fachen Mordes. Vorn im Saal gibt es reservierte Plätze für die 126 Nebenkläger: Angehörige der mutmaßlichen Mordopfer. Es gibt auch Plätze für 17 Rechtsanwälte, für Ersatzrichter und Ersatzschöffen, für Gutachter, für 80 Journalisten. Für Matthias Corssen ist kein Platz reserviert. Er ist der einzige bekannte Überlebende der größten Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er ist der einzige Mensch im Saal, dem selbst Gewalt angetan wurde durch den Todespfleger. Aber hier gehört er nicht dazu.

Matthias Corssen: „Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Fünf Jahre lang tötete der Todespfleger kranke und verletzte Patienten. Er spritzte ihnen tödliche Medikamente, um sich bei Wiederbelebungsmaßnahmen als Retter zu inszenieren. Er tat das auch bei Matthias Corssen: Als er im Juni 2004 einen schweren Verkehrsunfall hatte, war der Pfleger als Rettungssanitäter vor Ort. Er spritzte Corssen eine Medikamentenüberdosis, anschließend reanimierte er ihn, so ergaben es die Ermittlungen der Polizei. Corssen überlebte die Tat.

Im Gerichtssaal richten sich alle Blicke auf den Täter. Corssen, der seit Jahren darum kämpft, als sein Opfer anerkannt zu werden, sieht niemand.

Strafrechtlich hat Corssens Überleben die Sache verkompliziert. Wenn niemand stirbt, kann kein Mord geschehen sein. Zwar ist auch der Versuch des Mordes strafbar, aber dem stand im Fall Corssen Paragraf 24 des Strafgesetzbuches entgegen, „Rücktritt vom Versuch“: Weil der Todespfleger Corssen wiederbelebte, ist er rechtlich vom Mordversuch zurückgetreten. Bleibt der Vorwurf Körperverletzung. Aber im Fall des Todespflegers verschleppte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen jahrelang. Seine Taten kamen erst Jahre später ans Licht, im Fall von Matthias Corssen Ende 2014. Corssen bekam Post, „aufgrund der Verjährungsfrist ist diese Tat nicht mehr verfolgbar“. So wurde der einzige bekannte Überlebende der Mordserie bei ihrer juristischen Aufarbeitung zum Zuschauer. „Das ist der Witz des Jahrhunderts“, findet Corssen.

Krampfanfälle, Panikattacken, Schlaflosigkeit. Eine tiefe Angst vor Spritzen. Träume von Mord und Tod. Corssen ging es schlecht. Er begann eine Traumatherapie, bezahlte sie selbst. Wenn er im Bekanntenkreis über die Tat sprach, hieß es oft, naja, so schlimm war das ja nicht. Wenn Journalisten über seinen Fall berichteten, schrieben ihm fremde Leute, er wolle sich doch nur wichtigmachen.

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Der Staat konnte Matthias Corssen nicht vor der Gewalttat schützen. Er schützte ihn auch nach der Gewalttat nicht: Der Staat ermittelte zu spät und zu langsam, er legte Paragraf 24 des Strafgesetzbuchs gegen Corssen aus, er legte die Verjährungsfrist gegen ihn aus. Er weigerte sich, Corssen als Opfer anzuerkennen.

Corssen ging zu einer Anwältin, die er von früher kannte. Die Anwältin drückte ihm den Antrag zum Opferentschädigungsgesetz in die Hand. Corssen hatte noch nie davon gehört. „Den nimmst du mit und füllst ihn aus“, sagte die Anwältin. „Da habe ich dann zu Hause gesessen mit dem Antrag“, sagt er. „Ich war absolut überfordert.“ Zum nächsten Termin bei der Anwältin nahm er den unausgefüllten Antrag wieder mit. „Das musst du mal in Ruhe machen“, sagte die Anwältin. Corssen schaffte es auch in Ruhe nicht.

Die Medien berichteten groß über den Todespfleger. Die Menschen in Corssens Umgebung sprachen über die Morde. Über die Toten. Über ihre Angehörigen. „Ich war immer unterm Radar“, sagt Corssen. Er sagte sich: Ich muss den OEG-Antrag ausfüllen! Wenn mein Anspruch auf Opferentschädigung anerkannt wird, dann bin ich doch ein Opfer!

Jemand wies ihn auf die Stiftung Opferhilfe hin. Corssen machte einen Termin. In Oldenburg war die Stiftung Opferhilfe im Gebäude der Staatsanwaltschaft untergebracht. Das Gebäude steht direkt neben dem alten Gefängnis: hohe Mauern, Stacheldraht, vergitterte Fenster. Corssen saß vor dem Gefängnis in seinem Auto und konnte nicht aussteigen. Sitzt da der Todespfleger?, fragte er sich. Steht er vielleicht am Fenster? Als er nach langem Ringen endlich im Büro der Stiftung saß, sagte er: „Wisst ihr eigentlich, wie es den Leuten geht, die hierherkommen?“

Die Stiftung half ihm mit dem Antrag. Zeit verging, Corssens Therapeut bekam Post, „dreimal das gleiche Schreiben von drei verschiedenen Sachbearbeitern“, sagt er. Auch Corssen bekam Post, es sei die „Durchführung einer speziellen psychiatrischen Begutachtung unbedingt erforderlich“, stand in dem Schreiben vom Amt. Der Einladung zur Begutachtung solle er „in Ihrem eigenen Interesse bitte unbedingt folgen“, andernfalls könne das „nachteilige Auswirkungen“ haben.

„Das klingt doch drohend, oder?“, fragt Corssen. Er folgte der Einladung. Herzklopfen. Schweißausbrüche. „Wie vor einer Prüfung“ habe er sich dabei gefühlt: „Ich soll mich rechtfertigen für das, was mir geschehen ist.“

Der Gutachter hob an: „Sie sind ja hier, weil Ihnen vermutlich diese Tat passiert ist…“ Corssen unterbrach den Mann: „Vermutlich?“ Es geschah schon wieder: Alles nicht so schlimm, du willst dich nur wichtigmachen, du lügst doch.

Im niedersächsischen Magelsen, auf dem flachen Land zwischen Bremen und Hannover, praktiziert auf einem jahrhundertealten Meierhof Klaus Römer, Corssens Therapeut. Corssen fährt eineinhalb Stunden zu seinen Traumatherapiestunden, sein Auto parkt er unter wuchtigen Bäumen. Hier ist alles ruhig, hier hört ihm jemand zu. Römer erklärt: „Damit jemand den Opferstatus verlassen kann, ist es unglaublich wichtig, dass eine dritte Instanz sagt: Du bist das Opfer, das ist der Täter. Es geht darum, gesehen zu werden.“ Corssen sagt, die Polizei habe ihn nicht gesehen nach der Tat, die Staatsanwaltschaft nicht, die Anwältin nicht, die Krankenkasse nicht, das Gericht nicht, der Gutachter nicht.

Im Juni 2019 spricht das Landgericht Oldenburg den Todespfleger schuldig wegen Mordes in 85 Fällen. Corssen war zweimal als Zuschauer im Prozess dabei, danach ging er nicht mehr hin, er habe dort keine Antworten erhalten.

Ende 2021 kommt der Anerkennungsbescheid. „Als Schädigungsfolgen werden anerkannt: ,Depressive Anpassungsstörung‘“, so steht es schwarz auf weiß im Bescheid über die „Gewährung von Beschädigtenversorgung“. Matthias Corssen, 46 Jahre alt, ist jetzt offiziell ein Opfer des Todespflegers: 17 Jahre nach der Tat, sieben Jahre nach der polizeilichen Ermittlung, sechs Jahre, nachdem ihm seine Anwältin den OEG-Antrag in die Hand gedrückt hatte.  Für die Jahre 2017 bis 2019 wird ihm eine niedrige Rente zugesprochen, danach fließt kein Geld mehr.

Corssen legt keinen Widerspruch ein. „Es ging mir nie um Geld“, sagt er. Er hat einen Beruf, er ist Fluggerätbauer. „Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Maria Hagelkorn aus Niederbayern.

Foto: Ahlers/WR

An einem Esszimmertisch in Niederbayern sitzt Maria Hagelkorn* und sagt: „Es wäre schön, wenn man einfach die Reset-Taste drücken könnte und wieder ganz beschwingt wäre.“ Unter dem Tisch bewegt sie unruhig ihre Beine hin und her, eine Nervenkrankheit plagt sie. „Es ist einfach ein Teil vom Leben“, sagt Maria Hagelkorn. Sie meint die vielen Jahre der Angriffe, der Gerichtsprozesse und des OEG-Verfahrens. Und sie meint auch die Spuren, die diese Jahre bei ihr hinterlassen haben, bemerkbar an den Bewegungen unter dem Holztisch.

Maria Hagelkorn: „Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

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Es begann vor 20 Jahren als Stalkingfall, wie so viele ähnlich gelagerte Fälle. Der Nachbar ist das Problem: Er schikaniert Maria Hagelkorn, platziert tote Tiere oder ein Grabkreuz, das für ihren Tod stehen soll, an der Grundstücksgrenze, beschimpft, bedroht. Mit harmlosen Streichen oder einem Nachbarschaftsstreit hat das nichts mehr zu tun. Das ganze Dorf bekommt das mit, schaut im Vorbeigehen neugierig, was jetzt schon wieder los ist bei der Hagelkorn, einer Zugezogenen, es gibt Gerede.

Maria Hagelkorn schreibt Tagebuch, „wenn es mal wieder eskaliert ist“, hat Angst, fühlt sich als Opfer alleine gelassen. Und die Polizei? „Die kam, sprach den Täter an und sagte mir dann, sie könnte erst was machen, wenn er mir was antut.“ Genau das passierte dann auch: Der Mann wird gewalttätig, greift sie mit Gartengeräten an, gibt der Polizei einen Grund, nicht mehr nur zu zuschauen. Für Maria Hagelkorn aber ist das zu spät: Fünf Jahre, nachdem alles anfing, „da bin ich zusammengeklappt“. Die Taten haben nicht nur psychische Folgen für die Betroffene: Sie muss ihren Job aufgeben, kann seitdem nicht mehr arbeiten.

Drei Mal muss Maria Hagelkorn im Strafprozess erscheinen und aussagen, „ich hätte mir das gerne erspart.“ Das Urteil in zweiter Instanz: Bewährungsstrafe mit Annäherungsverbot.

Irgendwann, der Strafprozess läuft noch, kommt sie in Kontakt mit einem Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, der ihr vom OEG erzählt: „Vorher habe ich nichts, überhaupt nichts vom OEG gewusst.“ Sie, ihr Mann und auch ihre Anwältin, eine Strafrechtlerin, „wir hätten niemals gedacht, dass ich einen Rechtsanspruch auf Entschädigung habe.“ Die Strafrechtlerin macht klar: Ein OEG-Verfahren wird sie nicht begleiten. Also füllt Hagelkorn den Antrag alleine aus. Der Antrag wird abgelehnt.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

„Ich hätte das einschlafen lassen, wenn ich keine Anwältin vermittelt bekommen hätte. Mich alleine hinstellen und sagen: Schaut mich an, ich bin Opfer und hätte gerne Entschädigung, das hätte ich nicht gemacht.“ So landet Hagelkorn schließlich in einer Regensburger Kanzlei, weit weg vom Dorf. Weil es in der Nähe einfach niemanden gibt, der sich mit Sozialrecht auskennt, geschweige denn mit dem Teilbereich OEG. Die neue Anwältin habe gesagt, das machen wir jetzt, das könnte funktionieren. Zusammen legen sie erst Widerspruch ein, dann reichen sie Klage ein.

„Man musste immer irgendwo hin, aufs Amt, ins Gericht, das war der Horror. Weil man sich wieder damit beschäftigen muss“, sagt Maria Hagelkorn. Der Gang zum Postkasten wird zur Qual, sofort reißt Maria Hagelkorn die Schreiben der Anwältin auf, „jedes Mal war das wieder ein Urknall, alles wurde wieder aufgewühlt.“ Maria Hagelkorn bekommt in dieser Zeit Lähmungserscheinungen: „Ich dachte, meine Füße tragen mich nicht mehr.“ Bis heute hat sie bei schwierigen Gesprächen Spannungsgefühle, auch jetzt, wenn sie davon erzählt, wackeln ihre Beine unter dem Esszimmertisch hin und her.

Das Gericht entscheidet, dass die Klägerin zu einem Gutachter gehen muss. „Ich habe den Mann gegoogelt. Es gab viele negative Bewertungen, dass er sehr streng und direkt sei. In mehreren Rezensionen stand: ‚entspricht nicht der Wahrheit.‘“ Sie habe sich sehr viele Gedanken gemacht vor dem Termin. Eines der Tagebücher, in denen sie die Geschehnisse festgehalten hat, nimmt Maria Hagelkorn mit, der Sachverständige kopiert es sich in Auszügen.

„Ich habe mich oft gefragt, wieso sich der Täter mich als Opfer ausgesucht hat und ob ich selbst schuld bin.“ Als sie im OEG-Verfahren steckt, stellt sie sich die Frage, warum sie sich das überhaupt antut: „Man fühlt sich, als ob man beweisen muss, dass man selbst nicht der Schuldige ist, dass man sich rechtfertigen muss, dass einem das passiert ist.“

Irgendwann kommt der Tag des Prozesses am Sozialgericht. Die Richterin sei sehr nett gewesen. Aber sie fragt auch, ob Maria Hagelkorn ihre Klage nicht zurücknehmen wolle, schließlich lebe sie in unmittelbarer Nachbarschaft zum Täter. „Der Anwalt des Versorgungsamts sagte: Es ist ja nur ein Nachbarschaftsstreit. Das klingt mir bis heute nach. Das zu hören war ganz schrecklich. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass er anders über die Sache gesprochen hätte.“

Nach knapp sieben Jahren endlich bekommt Maria Hagelkorn eine Anerkennung nach dem OEG. Aber es folgen dann noch vier weitere Jahre, in denen mit den Behörden um Dauer und Umfang der Leistungen gestritten wird. Am Ende zahlt der Staat über einen befristeten Zeitraum eine Rente und übernimmt die Kosten für eine Psychotherapie. „Auf keinen Fall schafft man das OEG-Verfahren ohne Unterstützung, es kostet Kraft, aber die ist durch den Strafprozess schon aufgebraucht“, sagt Maria Hagelkorn, heute Anfang 50. Ihre Unterstützer waren eine Psychologin, die Hausärztin, die Anwältin und vor allem ihr Mann, der ihr immer Mut machte. Die Anwältin betont, Hagelkorns Partner habe „wie eine Eins hinter ihr“ gestanden.

Das Paar ist nicht weggezogen aus dem Dorf: „Wir hätten nicht gewusst, ob es woanders besser gewesen wäre.“ Momentan ist die Situation vor Ort ruhig, der verurteilte Nachbar hält sich fern. Vor dem Gespräch über ihre Erfahrungen mit dem OEG hatte Maria Hagelkorn eine schlaflose Nacht. Sie sagt: „Mir persön­lich nützt das jetzt nichts mehr. Aber anderen hilft es vielleicht zu sehen: Ich kann mich trauen, andere haben das auch überstanden.“

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Flora-Nike Göthin.

Foto: Ahlers/WR

Die Würde von Flora-Nike Göthin* umfasst 108 DIN-A4-Blätter. „Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk ever“, sagt die 62-Jährige über das psychologische Gutachten, das sie hat ausdrucken und binden lassen, weil es ihr so wertvoll ist. Auf den roten Kartondeckel hat sie geschrieben: „100 Seiten zurückbekommene Würde: 1965-2021“. Kurz vor dem letzten Heiligabend las sie das Schriftstück über ihre „Aussagetüchtigkeit“, so steht es auf Seite 1, zum ersten Mal. Sie weinte vor Glück und dachte im ersten Moment, „dass es mir ab jetzt vollkommen egal sein würde, was das Gericht entscheidet“. Dann kam der zweite Moment.

Flora-Nike Göthin: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt“

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„1965“ auf dem Cover steht für das Jahr, in dem Göthin in ein Kinderheim im unterfränkischen Würzburg kam, das von katholischen Nonnen geführt wurde. Das, was sie als Sechsjährige dort erlebte, nennt Göthin heute rituellen sexuellen Kindesmissbrauch durch Geistliche, was von mehreren Priestern beobachtet und fotografiert worden sei. Sie verließ das Heim und die Bilder verblassten. Göthin wurde erwachsen, erlernte einen Beruf, ging arbeiten. Als sie Anfang 30 war, merkte sie, dass sich etwas veränderte. Sie bekam plötzlich Flugangst, konnte nicht weiter als Flugbegleiterin arbeiten, fiel immer wieder krankheitsbedingt aus, „alles kam wieder hoch“, so Göthins Schilderung: Ein Auf und Ab, das sie erst viel später verstanden habe, als sie sich in Therapie begab, wie sie erzählt: „Das hängt alles zusammen.“

Traumafolgestörung, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen und Schlafstörungen: Diese Schädigungsfolgen stellte Göthin bei sich fest und schickte 2013 den Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) an die zuständige Behörde. Diese bestellte sie zur persönlichen Anhörung ein, weil es „keine ‚neutralen‘ Beweismittel“ gebe, also „keine Unterlagen oder Zeugenaussagen“, wie es in einer Mail  heißt. Göthin schrieb zurück: Sie spreche nur mit einer Frau, und auch nur dann, wenn diese nachweislich traumaspezifisch qualifiziert sei im Umgang mit Betroffenen von Gewalttaten, um sich selbst vor einer Retraumatisierung zu schützen. Das Amt antwortete, dass „kein hierfür geschultes Personal zur Verfügung steht, das Ihren Vorgaben gerecht werden könnte“. Der Anhörungstermin kam nicht zustande, der Antrag wurde abgelehnt.

Göthin legte Widerspruch ein und klagte. Das Gericht wies die Klage ab und bezog sich unter anderem auf fehlende Nachweise, etwa Zeugen, Ermittlungs- oder Strafverfahren. Gerade mal 20 Minuten habe der Prozess gedauert. Sie findet, es sei gar nicht ermittelt worden, ärgert sich Göthin.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Dass die Nachweispflicht aus Sicht des Staates bei den OEG-Antragstellenden liegt, empört die 62-Jährige. Sie sei im Laufe des OEG-Verfahrens aufgefordert worden, Anzeige zu erstatten, dem sei sie auch nachgekommen. Allerdings seien die Taten verjährt und das Verfahren eingestellt worden. Göthin versteht das nicht: „Warum muss ich Anzeige erstatten, wenn das eh verjährt ist? Es ist jedes Mal belastend, wenn ich aufs Neue davon erzählen muss.“ Nach Verfahrensbeginn seien zudem nicht nur der letzte beteiligte Pfarrer, sondern auch Schwestern, die sie als Zeugen benannt habe, gestorben. Diese Personen seien nicht befragt worden, man habe sie „wegsterben“ lassen.

Wenn die Aussagen eines Opfers die einzigen Beweismittel sind, ist nach Ansicht des Bundessozialministeriums ein aussagepsychologisches Gutachten „sinnvoll“, heißt es in einem Schreiben an die zuständigen Landesbehörden aus dem Jahr 2014. Aber erst als Flora-Nike Göthin in Berufung ging, beauftragte das Landes­sozialgericht eine Psychotherapeutin mit einem Gutachten. Das Gericht wollte wissen: „Können die Angaben der Klägerin (…) aus aussagepsychologischer Sicht mit relativer Wahrscheinlichkeit (hierbei genügt die gute Möglichkeit) als erlebnisfundiert angesehen werden?“

Für den Termin mit der vom Gericht beauftragten Gutachterin ließ sich Göthin 2018 in eine Klinik einweisen, weil sie hier schon wegen Traumata behandelt worden war und damit sie aufgefangen werden könnte, falls das Gespräch schwierig würde. Sie ließ die Befragung auf Video aufzeichnen. Weil sie befürchtete, „wie in Watte gepackt“ zu sein und nicht mitzubekommen, was sie gesagt hat, Fachleute nennen das dissoziieren. Göthin sagt: „Die Begutachtung hat mich wieder voll in die Traumatisierung getrieben.“ Der Chefarzt der Klinik, Alexander Jatzko, spricht von einer „Aktualisierung des Traumas“ und „massiven Triggern“ für Göthin. Sie habe mehrere Tage benötigt, bevor sie die Klinik wieder habe verlassen können.

Psychotherapeut Jatzko macht das Dilemma seiner Patientin bei der Begutachtung deutlich: einerseits die unangenehme, belastende Situation, alles wieder hochkommen zu lassen. Andererseits: „Es war ihr wichtig, beweisen zu können, dass ihr etwas ganz Schlimmes passiert ist“, sagt der Chefarzt. Über die angewandte Methode sagt er: „Ob die Aussagepsychologie das richtige Mittel ist, um Ergebnisse zu erhalten, ist umstritten.“ Hier brauche es noch einiges an Forschung.

Die Gutachterin schlussfolgerte: „Trotz vorliegender schwerwiegender psychischer Symptomatik“ könne nicht belegt werden, dass sich die Geschehnisse im Kinderheim wie berichtet zugetragen haben. Flora-Nike Göthin hat das 145 Seiten lange Gutachten akribisch durchgearbeitet, Kommentare an die Ränder geschrieben, Ausrufezeichen gesetzt, Sätze unterstrichen. Sie findet es „mangelhaft“.

Göthin hat verstanden: Wenn es keine „neutralen“ Beweise gibt, dann „ist die Glaubhaftigkeit das A und O“. So startete sie einen neuen Versuch, um zu belegen, dass ihre Schilderungen glaubhaft sind. Das Sozialgerichtsgesetz gestattet es Antragstellenden, sich selbst einen zweiten Gutachter zu suchen. Göthin fand einen, der schon andere Heimkinderfälle begutachtet hatte. Allerdings musste sie die Kosten vorschießen: Das Gericht forderte sie auf, 11.000 Euro zu zahlen, und zwar innerhalb von etwas mehr als einem Monat. „Das haut einen um“, sagt die 62-Jährige, das sei Geld gewesen, das sie nicht gehabt habe: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich.“ Der Kostenvoranschlag des zweiten Gutachters fiel dann aber deutlich geringer aus. Sie habe ihn gebeten, dies dem Gericht mitzuteilen. So habe sich der Betrag dann verringert und der WEISSE RING am Ende die Zahlung übernommen.

2021 musste Göthin wieder von 1965 erzählen, dieses Mal dem zweiten Gutachter. Dieser kam zu einem ganz anderen Schluss als die erste Sachverständige, seine Beurteilung endet mit dem Satz: „Im Rahmen der Glaubhaftmachung ist die Möglichkeit, dass ihre (Göthins, d. Red.) Angaben zutreffen, als die wahrscheinlichste anzusehen.“ Ein Satz, der dokumentiert, was für Flora-Nike Göthin größte Bedeutung hat: Sie hat ihre Würde zurück! Seit 2013 habe man ihr sagen wollen, dass das, was sie sagt, nicht stimmt. Nach neun Jahren, endlich, hat sie die Bestätigung: „Ich bin glaubwürdig!“

Zum Gesprächstermin im Frühjahr 2022 kommt Göthin mit einem hellgrünen Rollköfferchen, darin ein Teil ihrer Unterlagen zum OEG-Verfahren. Die Worte, mit denen die 62-Jährige ihre Empfindungen über Kontakte mit Behörden und Gericht beschreibt: Kampf. Demütigung. Ausgeliefertsein. Ständige Warteposition. Was wird sie machen, wenn das Verfahren abgeschlossen ist? Göthin blickt auf das aufgeklappte Köfferchen auf dem Fußboden, auf das Erstgutachten in einem zerfledderten Umschlag, die Gerichtsbeschlüsse: „Erstmal alle Akten verbrennen. Damit diese Papierflut aufhört.“

„Es kostet unendlich viel Kraft“, sagt Göthin über das Verfahren. Wann es abgeschlossen sein wird, ist offen. Bei Redaktionsschluss wartete sie noch auf Rückmeldung von Behördenseite: Das Amt muss mitteilen, ob es aufgrund des Zweitgutachtens eine grundsätzliche Anerkennung ausspricht oder ob es zu einer Berufungsverhandlung vor Gericht kommt. Göthins Anwalt Kai Nissen sagt: „Wir haben zwei gegensätzliche Gutachten. Sollte es zum Prozess kommen, wird das Gericht entscheiden müssen, welchem es folgt.“ Falls Göthin eine Anerkennung bekommt, bedeutet das nicht automatisch, dass sie auch eine Entschädigung erhält. Laut Nissen müsste im nächsten Schritt dann ein entsprechend hoher „Grad der Schädigung“ nachgewiesen werden.

Es ist Flora-Nike Göthin nicht egal, wie das Verfahren ausgeht. Sie findet, dass sie einen Anspruch auf Entschädigung hat, deswegen wolle sie „wie ein Stachel im Fleisch sein“, wie sie kämpferisch sagt. Immer wieder habe sie nicht arbeiten können, sei krank gewesen, sie sei auf sich allein gestellt und erwarte eine nur kleine Rente. Sie müsse weitermachen, sagt Göthin, schon aus wirtschaftlichen Gründen: „Sonst hätte ich längst aufgegeben.“

„Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für die Familie Kreis aus Niedersachsen.

Foto: Ahlers/WR

Wenn Alexeis Kopf auf der linken Seite liegt, fällt sein Blick auf Bilderrahmen, ein Foto zeigt ihn in Kindertagen mit seiner kleinen Schwester Alina, die ihn am Ohr zieht. „Wir konnten immer sehr gut miteinander“, sagt Alina, 17 Jahre alt und sieben Jahre jünger als Alexei. Die Geschwister der Familie Kreis sind sich bis heute nah, daran hat auch dieser eine Septembermorgen 2018 nichts geändert. Aber Alina konnte nicht einfach nur die kleine Schwester bleiben. Sie musste neue, ganz unterschiedliche Rollen übernehmen. Das hat dieser eine Morgen schon geändert.

Familie Kreis: „Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

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Ausgerechnet „Infinity“, Unendlichkeit, hieß die Disco in Hannover, in der Alexei feierte und vor der er Opfer einer schweren Körperverletzung wurde. Eine Faust traf ihn, „wie ohnmächtig“ fiel Alexei „in gerader Position“ um, heißt es im Amtsgerichtsurteil, er schlug mit dem Hinterkopf auf dem Asphalt auf. Auf die Notoperation folgte das Wachkoma, in dem sich der 24-Jährige bis heute befindet, laut Gerichtsunter­lagen „ohne Aussicht auf wesentliche Besserung“.

Alina, die Familiensprecherin, überlegt: „Wie sagt man Opferentschädigungsgesetz auf Russisch?“ Sie zückt ihr Smartphone, googelt. Es gibt kein russisches Äquivalent. Wirklich erklären kann die 17-Jährige nicht, was das Gesetz, abgekürzt OEG, genau besagt, wo welcher Vorgang – Gerichtsprozesse, Auseinandersetzung mit der Krankenkasse oder Behörden – anfängt und aufhört, an welcher Stelle welcher Ansprechpartner zuständig ist, von welcher Quelle am Ende Geld kommt. „Man kann es nicht mehr auseinanderhalten, es verwirrt einen.“

Alina, die Erklärerin: „Man stellt sich nicht vor, dass so etwas passiert. Deshalb denkt man gar nicht darü­ber nach, ob es so etwas wie eine Entschädigung geben könnte.“ Der Begriff „Schockschaden“ ist ihr und ihrer Mutter Larissa nicht geläufig, dennoch erlebt die Familie Kreis, was das Wort bedeutet: Sie selbst sind nicht unmittelbar Opfer des Angriffs geworden, leiden aber als Angehörige psychisch unter der Gewalttat gegen Alexei. Die Eltern seien wochenlang nicht in der Lage gewesen, zur Arbeit zu gehen, sie selbst, 13 Jahre alt damals, habe nicht am Unterricht teilnehmen können. Alina wiederholte ein Schuljahr, „wegen des Stresses“, wie sie es formuliert. Der Oma erzählten sie erst nichts, befürchteten, dass diese es nicht verkraften könnte. Kurz nachdem die Oma es schließlich erfuhr, erlitt sie einen Schlaganfall, wurde in eine Pflegestufe eingeordnet und lebt nun im selben Haushalt, in dem ihr Enkel gepflegt wird.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Wochenlang lag Alexei im Krankenhaus. Es kam nicht infrage, ihn in einer Pflegeeinrichtung unterzubringen, die Familie holte ihn, der nur noch 42 Kilo wog, nach Hause in die Wohnung im niedersächsischen Goslar. Aber sie wohnten im zweiten Stock, mehrere Menschen mussten mit anpacken, wenn Alexei mal nach draußen sollte, der Wohnraum war nicht für die Pflege eines Menschen mit Behinderung ausgelegt. Die Familie kaufte mit einem Kredit ein altes Haus im Landkreis Goslar, das sie mithilfe von Bekannten und Freunden von Alexei umbauten, im Oktober 2021 zogen sie ein, erzählt Mutter Larissa. Überhaupt hätten sie viel Unterstützung erfahren, sagt die Mutter. Immer wieder berichten Medien, mit verschiedenen Aktionen werden Spenden gesammelt.

Alina, die Deutliche: „Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht.“ Von der Polizei bekam die Familie, die aus Russland stammt, verschiedene Zettel, vielleicht auch zum OEG – „aber für solche Sachen hat man in so einer Situation definitiv keinen Kopf“. Unterstützung kam von einer Kanzlei und dem WEISSEN RING, die sich darum kümmerten, dass der OEG-Antrag für Alexei keine zwei Monate nach der Tat beim Versorgungsamt vorlag und auch die Anträge wegen der Schockschäden gestellt wurden. „Alleine hätten wir das gar nicht geschafft“, sagt Alina, weil sie sich nicht auskenne mit dem Gesetz, bei den Eltern eine Sprachbarriere bestehe und sie sich nur auf Alexei konzen­triert hätten. Doch wenn ein Mensch zum Pflege­fall wird, bedeutet das auch, dass von jetzt auf gleich Geld benötigt wird.

Mutter und Tochter erzählen: Alexei sei nur ein einziges Mal begutachtet worden, im Krankenhaus, danach nie wieder. Zwischen der Tat und der Anerkennung nach dem OEG für Alexei vergingen trotzdem mehr als drei Jahre. Erst nach der Verurteilung des Angreifers wegen schwerer Körperverletzung stellte das Versorgungsamt einen sogenannten Grad der Schädigung von 100 Prozent fest, berichtet Deniz Akinci, juristischer Mitarbeiter der Kanzlei, die die Familie im Verfahren begleitet. Dabei sei der junge Mann „von Tag eins an komplett ein Pflegefall gewesen“. Alexei ist der schwerwiegendste Fall, den Akinci bisher bearbeitet hat: „Wenn ich sehe, dass da jemand irreparable Hirnschäden hat und sich das nicht bessern wird, könnte man das Verfahren abkürzen. Dass das so lange gedauert hat, ist nicht nachvollziehbar. Ich verstehe die Handhabung der Behörden hier nicht.“

Alina, die Diplomatische: „Es wäre gut gewesen, wenn der OEG-Antrag früher bewilligt worden wäre.“ Der Familie geht es Akincis Einschätzung nach in erster Linie darum, Alexei pflegen zu können, aber dazu seien sie auf die Leistungen angewiesen. Sie hätten sich allein gelassen gefühlt. Mutter Larissa sagt, sie hätten Geld zurückgelegt gehabt, so hätten sie sich etwa bestimmte Massagehandschuhe anschaffen können, die nicht von der Krankenkasse übernommen worden seien. Akinci meint: „Es war eine zusätzliche Belastung für die Angehörigen, dass sie so lange auf wirtschaftliche Hilfe warten mussten.“

Alina, die Erwachsene: „Ich möchte Logopädin werden“, so wie die Frau, die sie über die Jahre bei der Arbeit mit ihrem Bruder beobachtet hat. Während der OEG-Antrag in der Schwebe war, hat sich das Leben der Familie enorm verändert: Sie musste von einem auf den anderen Tag lernen, wie man einen jungen Mann pflegt. Vater, Mutter, Tochter haben einen Kranken­kassenkurs besucht, um zu wissen, wie man einen Pflegebedürftigen umlagert. Nachts wechseln sich die Eltern, beide nebenbei auch berufstätig, mit Umpositionieren ab, damit Alexei sich nicht wund liegt. Auf einer Kommode in Alexeis Zimmer steht eine Kamera, so kann die Mutter nachts auf dem Smartphone nachschauen, ob alles okay ist oder ob sie aufstehen und ihm den Arm vom Gesicht nehmen muss, damit er besser Luft bekommt. Zwischen Aufstehen und Zubettgehen dreht sich alles darum, ob der 24-Jährige auf der Toilette war, die Tabletten genommen sind, wer ihn anzieht, wann er in den Rollstuhl gesetzt wird, ob heute Physio- oder Ergotherapie-Termin ist.

Alina, die Dolmetscherin, erzählt: „Alexei konnte besser Deutsch als ich.“ Von ihrem Bruder hat sie die Aufgabe übernommen, für die Eltern zu übersetzen, Briefe etwa, oder wenn Vater Sergej Termine bei der Bank hat. Diese Fähigkeit ist noch wichtiger geworden: „Mein Vater hat durch den Stress sein Sprachverständnis verloren“, sagt die 17-Jährige. Bevor sie weiterspricht, stockt sie. „Es geht ihm sehr schlecht, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.“ Der Vater sei schnell gereizt, ärgere sich, wenn niemand Alexei Gesellschaft leiste. Sein Hobby – zusammen mit dem Sohn war er oft angeln – habe er ganz aufgegeben, „er nimmt sich lieber die Zeit, bei Alexei zu sein“, beschreibt Alina.

Alina, die Realistische: „Wir hoffen, dass es irgendwann weniger wird mit den Zetteln, komplett aufhören wird das sicher nicht.“ Sie bemerkt, dass ihre Mutter jedes Mal, wenn Briefe ankommen und wieder Formulare ausgefüllt werden müssen, in Stress gerät, weil sie andere um Rat fragen muss. Larissa sagt: „Wäre das alles nicht passiert, hätte ich weiter die Aufgabe der Gärtnerin übernommen.“ Sie hatten einen kleinen Garten gepachtet, verbrachten vor der Tat viel Zeit dort als Familie. Vier Hände reichen kaum, wenn Larissa die einst angepflanzten Obst- und Gemüsesorten aufzählt. Heute weiß sie nicht mehr, wann sie ihren Garten das letzte Mal besucht hat.

Kanzleimitarbeiter Deniz Akinci hat die Leistungen  im Blick, er berichtet: Im Dezember 2021 kam endlich die Info, dass Alexei eine Nachzahlung rückwirkend bis zur Tat erhält, eine Rente und eine Zulage aufgrund der Schwerbehinderung. Was noch aussteht ist die Klärung zu einem Berufsschadensausgleich. Alexei wäre Tischler geworden, sollte es eine positive Rückmeldung geben, stünde der Familie ein monatlicher Betrag zu, der sich am Gehalt eines Tischlers orientiert. Seit Januar 2022 bekommen Schwester, Eltern und Oma als mittelbar Betroffene eine Rente und eine Nachzahlung wegen der Schockschäden.

Alina, die Starke, antwortet: Ja, sie bräuchten mal wieder Urlaub. Das letzte Mal waren sie 2017 zu viert unterwegs, in Polen. Ohne Alexei werden sie nirgendwo hinfahren. „Wenn er wieder mehr machen kann, dann wollen wir mal wieder weg“, sagt Larissa. Alinas Gesicht, bisher gefasst-professionell, hellt sich auf: „Er macht viele Fortschritte, das macht uns glücklich.“ Alexei kann rund viereinhalb Jahre nach der Tat am „Infinity“ fast eine halbe Stunde stehen, so erzählen es die Frauen. Wenn sein Körper festgezurrt ist in einem Gestell aus Stangen und Gurten. Sie möchten, dass Alexei eine kostenintensive „Robotertherapie“ macht, durch die sich sein Körper an Bewegungs­abläufe gewöhnen soll. Das Geld dafür und für den Verdienstausfall, weil Larissa ihn begleiten müsste, wollen sie von ihren Schockschäden-Renten zusammensparen. Immer gibt es etwas zu organisieren, zu bedenken.

Etwas, was keine Mühe macht und keine Sorgen: Netflix schauen. Haus des Geldes, The Walking Dead, Tierdokus, das sehe ihr Bruder gerne, sagt Alina, „wir schauen oft zusammen“. Als sie an diesem Nachmittag sein Zimmer betritt, grinst Alexei, gerade läuft auf dem Bildschirm an der Wand eine Angelsendung. Alina ist seit diesem einen Moment im September 2018 in so viele Rollen geschlüpft. Aber wenn sie jetzt an Alexeis Bett steht, ist sie einfach nur Alina, die kleine Schwester, die zurückgrinst und den 24-Jährigen sanft am rechten Ohr zupft.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Karsten

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Spurensuche.

Foto: Hauke-Christian Dittrich

Tatort Amtsstube?

Warum kommen Hilfen aus dem OEG bei Betroffenen nicht an?

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Kapitel I: Draußen vor der Tür

An einem nasskalten Morgen im Januar 2022 kehrt Christophe Didillon an den Ort zurück, wo vor 40 Jahren alles angefangen hat. Mit einem Pappschild in den Händen stellt er sich vor den Eingang der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern des Landkreises Aurich, Ostfriesland. Didillon, 50 Jahre alt, beginnt eine Mahnwache, „das muss jetzt raus“, sagt er.

„In Gedenken an Judith T.“ steht auf seinem Schild. Die Studentin wurde 2015 erwürgt, im nahen Osnabrück läuft der Prozess gegen ihren mutmaßlichen Mörder, einen mehrfach vorbestraften Sexualstraftäter. Didillon ist überzeugt, dass es sich um denselben Mann handelt, der ihn 1982 als Teenager bis zur Bewusstlosigkeit würgte, hier in der Beratungsstelle, im Wartezimmer.

„Ich finde es unerträglich, wie das Land Niedersachsen beim Opferschutz versagt hat“, sagt Didillon. Der Staat habe Judith T. nicht geschützt, er habe die Vergewaltigungsopfer des Mannes nicht geschützt, er habe den damals zehnjährigen Christophe nicht geschützt. Und jetzt versage er erneut beim Schutz des erwachsenen Didillon, den die Gewalt krank gemacht habe, schwerbehindert, arbeitsunfähig – und der deshalb Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz beantragt hat.

Didillon hat die Wollmütze tief über die Ohren gezogen, bis zum Abend will er der Kälte trotzen und warten. Er kennt das Gefühl; sein Verfahren dauert jetzt schon 13 Jahre.

Kapitel II: Die Zahlen

Wer infolge eines tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung.

So steht es in Paragraf 1 des Opferentschädigungs­gesetzes, kurz: OEG. Der Staat, der die Menschen nicht vor Gewalt beschützen konnte, verpflichtet sich mit dem Gesetz, sie nun wenigstens vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat zu schützen.

Es ist ein gutes Gesetz, betonen Fachleute. „Der Leistungskatalog ist hervorragend“, lobt eine Betroffene, die sich bundesweit in Expertengremien zum Opferschutz engagiert.

Doch es gibt ein Problem: Die versprochene Hilfe kommt bei den Gewaltopfern nicht an.

Das hat vor allem drei Gründe:

Zu wenig Anträge
In Deutschland werden kaum Anträge auf Opferentschädigung gestellt. Im Jahr 2020 gingen nur 17.578 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nicht einmal zehn Prozent der 176.672 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizei­lichen Kriminalstatistik erfasst hat. Der Wert liegt seit Jahren auf diesem niedrigen Niveau.

Warum werden „hervorragende“ Leistungen so wenig nachgefragt? Eine naheliegende Antwort darauf lautet: Die Opfer wissen nicht, dass es ein Gesetz für sie gibt; niemand hat sie nach der Tat darauf aufmerksam gemacht. Das OEG ist in Deutschland weitgehend unbekannt, das zeigen auch die Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des WEISSEN RINGS: 76 Prozent der Befragten hatten noch nie davon gehört.

Bodo Kuhn, Fachanwalt für Sozialrecht im badischen Lörrach, sagt: „Vom Nichtwissen profitiert der Staat. Je unbekannter die Ansprüche sind, desto weniger wird beantragt.“

Zu viele Ablehnungen
Die wenigen Gewaltopfer, die von dem Gesetz wissen und eine Entschädigung beantragen, gehen größtenteils leer aus: Kaum mehr als ein Viertel der in Deutschland bearbeiteten Anträge wird genehmigt. Entsprechend hoch sind die Ablehnungsquoten, zwischen 40 und 50 Prozent der Anträge fallen in den Ämtern regelmäßig durch. Der Rest der Anträge bekommt in vielen Ländern den Stempel „erledigt aus sonstigen Gründen“. „Sonstige Gründe“ sind zum Beispiel der Tod des Antragstellenden, die Rücknahme des Antrags oder die Weitergabe des Falls an ein anderes Bundesland.

Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Besonders schlecht stehen die Chancen auf eine Anerkennung in Bremen, Thüringen und Berlin. Bremen beispielsweise lehnte 2019 mehr als zwei Drittel aller Anträge ab. Etwas hoffnungsvoller dürfen Gewaltopfer dagegen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und im Saarland sein. Spitzenreiter Mecklenburg-Vorpommern bewilligte zwischen 2018 und 2020 immerhin fast jeden zweiten Antrag.

Warum werden von den wenigen gestellten Anträgen so viele abgelehnt? Die Rückmeldungen aus den meisten Bundesländern auf Nachfrage des WEISSEN RINGS sind fast wortgleich: Die Gründe für eine Ablehnung werden statistisch nicht erfasst. Manchmal wird fehlende „Mitwirkung“ als häufiger Grund genannt, mal der fehlende „Vollbeweis“, mitunter fehlende „Glaubhaftmachung“.

Zu hohe Hürden
Der dritte Grund, warum Gewaltopfer ohne die beantragte Hilfe bleiben, sind die OEG-Verfahren selbst. Betroffene warten oft jahrelang auf eine Entscheidung, häufig müssen sie vorher aufwändige Beweiserhebungen durchstehen, psychologische Begutachtungen, Widerspruchsverfahren und Gerichtsprozesse, mitunter durch mehrere Instanzen. In dieser Zeit werden sie, denen oft finanzielle Mittel fehlen, mit neuen Kosten konfrontiert, zum Beispiel für anwaltlichen Beistand. Gleichzeitig sehen die Betroffenen sich schweren psychischen Belastungen ausgesetzt; häufig ist die Rede von Retraumatisierungen, die Psychotherapien notwendig machen und somit weitere Kosten verursachen können. Immer wieder geben Opfer auf und ziehen ihre Anträge zurück, oft auf therapeutischen oder ärztlichen Rat.

Wer die Statistiken zum OEG auswertet, wer mit Betroffenen spricht, mit Anwälten, Therapeutinnen, Wissenschaftlern und Opferhelferinnen, kommt zu dem Schluss, dass das OEG ein Gesetz mit einem hervorragenden Leistungskatalog sein mag – dass es bei der Umsetzung aber mächtig knirscht. Schlimmer noch: In vielen Fällen macht das Gesetz Opfer, denen es Hilfe verspricht, erneut zu Opfern.

Christophe Didillon, der in der norddeutschen Kälte seine Mahnwache hält, sagt:
„Ich bin nur ein einzelner Fall – aber ich bin kein Einzelfall.“

„Es ist ein Trauerspiel“, sagt ein langjähriger Opferbetreuer des WEISSEN RINGS aus Hessen über das OEG.

„Es ist eine Katastrophe“, sagt eine Traumatherapeutin aus Bayern.

„Für mich ist das der zweite Missbrauch“, sagt ein Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs aus Baden-Württemberg.

Kapitel III: Der Antrag

Der „Antrag auf Leistungen für Gewaltopfer nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten“ besteht aus acht Seiten: sechs Formblätter und zwei Zusatzblätter. Die Zusatzblätter sind dafür da, falls die vorgedruckten Formularzeilen nicht ausreichen, zum Beispiel bei Punkt zwei: Angaben zur Gewalttat.

Tatzeit. Tatort. Ist Strafanzeige erstattet worden? Nein? Gründe (bitte erläutern). Name und Anschrift des Täters/der Täter/der Täterin/nen. Tatzeugen. Ersthelfer. Tathergang: Bitte schildern Sie den wesentlichen Ablauf der Gewalttat. 

,,Für mich ist das der zweite Missbrauch"

Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs aus Baden-Württemberg

Manche Opfer füllen den Antrag allein aus und sind, so wie Christophe Didillon, „komplett überfordert“, wie er sagt, „es kommt alles in einem wieder hoch“. Einige Opfer brechen ab, beginnen erneut, brechen wieder ab. Andere holen sich Hilfe, wenn sie denn welche finden. Vielleicht reichen sie irgendwann einen ausgefüllten Antrag ein, vielleicht auch nicht: Es gibt keine Statistik darüber, wie viele Opfer einen OEG-Antrag anfordern, aus einer Behörde mitnehmen, aus dem Internet herunterladen – und ihn niemals abgeben.

Erreicht ein Antrag die zuständige Behörde, macht sie ihre Behördenarbeit: Sie prüft zunächst ihre Zuständigkeit, dann die Vollständigkeit des Antrags und die Anspruchsberechtigung. Das Verfahren beginnt. Es können schriftliche Rückfragen folgen, Gesprächstermine zur Erläuterung des Sachverhalts in der Behörde, Begutachtungen, Gerichtsprozesse.

Bei vielen Opfern findet sich im Antrag unter Punkt drei, „Angaben zu Gesundheitsstörungen / Schädigungen“, die Angabe PTBS, Posttraumatische Belastungsstörung. Ein Auslöser, ein sogenannter Trigger, kann das Opfer die Gewalttat wieder erleben lassen und die damit verbundene Bedrohung, die Angst, die Panik. Jedes Mal, wenn die Betroffenen sich mit der Tat beschäftigen müssen, setzen sie sich der Trigger­gefahr aus, jedes Mal müssen sie damit rechnen, dass es am Ende trotzdem heißt: Wir glauben Ihnen nicht.

Christophe Didillon erinnert sich an seine erste Begutachtung, im Dezember 2010 war das. Vor dem Termin ging es ihm wochenlang schlecht: Würde der Arzt ihm glauben? In der Praxis sah er dem Gutachter in die Augen, sie erinnerten ihn an die Täteraugen von damals. „Ich bekam eine so schwere Panikattacke, dass der Notarzt mich aus der Praxis holen musste“, sagt Didillon. Das Warten auf eine Entscheidung ging weiter, er brauchte einen neuen Gutachter und einen neuen Termin.

Die Therapeutin Hendrikje ter Balk ist eine der Initiatoren der „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“. 2020 hat ter Balk in sozialen Netzwerken im Internet eine Umfrage gemacht: Sie fragte Menschen, die in ihrer Kindheit körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt erlebt hatten, nach ihren Erfahrungen mit dem OEG. „Das ist natürlich nicht repräsentativ“, sagt sie. Aber  die Umfrage erlaubt doch einen Einblick. 156 Menschen, die in früher Kindheit Übergriffe erlebt hatten, antworteten auf ihre Fragen. 125 gaben an, einen OEG-Antrag gestellt zu haben. 44,4 Prozent von ihnen befanden sich in laufenden Verfahren, zum Teil seit Jahren oder sogar Jahrzehnten. Fast 80 Prozent empfanden das OEG-Verfahren als „sehr belastend“. 60,7 Prozent stimmten der Aussage zu: „Die behördlichen Strukturen haben mich retraumatisiert.“

OEG – was ist das?

Was besagt das Opferentschädigungsgesetz, wer hat Anspruch auf Leistungen und wie läuft das Verfahren ab? Ein Erklärstück.

„Das ist Körperverletzung!“, sagt die Bamberger Traumatherapeutin Dorothea Rau-Lembke, die Opfer frühkindlicher Gewalt betreut: „Diese schwer verletzten Menschen werden immer wieder neu traumatisiert!“ Bei ihr gehe zeitweise Tag und Nacht das Telefon, sagt sie, „ich habe schreiende Menschen am Telefon“.

Betroffene berichten von einer „Papierflut“. Ein Missbrauchsopfer sagt: „Die psychische Belastung, Briefe zu öffnen, ist immens.“ Andere schicken gleich ihre Partner an die Briefkästen und bitten diese, die Schreiben zu lesen und zu entscheiden, ob sie sie selbst lesen müssen. Christophe Didillon sagt, er reiße die Briefe auf, fotografiere sie schnell mit dem Smartphone und schicke sie direkt weiter an seinen Anwalt.

„Ich habe ständig Angst vor einer Nachprüfung. Ich könnte morgen einen Brief in der Post haben, dass ich wieder zum Gutachter muss und dort beweisen muss, dass es mir schlecht geht“, sagt eine Betroffene aus Nordrhein-Westfalen, die als Kind den Mord an der Mutter durch den Vater erlebte.

„Wie oft habe ich das schon gehört von anderen Betroffenen: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr“, sagt ein Vergewaltigungsopfer aus Nordrhein-Westfalen.

„Ich kann jedem nur sagen: Stell keinen OEG-Antrag. Es ist die Hölle“, sagt ein Missbrauchsopfer aus Bayern.

Kapitel IV: Der Gegner

Kampf. Ohnmacht. Ausgeliefertsein. Machtmissbrauch. Es sind immer dieselben Worte, die Gewaltopfer benutzen, wenn sie über ihre OEG-Verfahren sprechen. Ihr erster Gegner war der Täter oder die Täterin. Ihr zweiter Gegner ist nun das System, in dem sie für ihr Recht auf Entschädigung kämpfen müssen: die Versorgungsämter, die Sozialgerichte und die von diesen Stellen beauftragten Gutachter. „Für Menschen, die Gewalt erlebt haben, ist jeder Mensch, der ihnen gegenübersitzt, ein potenzieller Aggressor“, sagt ein Traumatherapeut aus Niedersachsen.

Die für Gewaltopfer in OEG-Verfahren wichtigste Frage lautet: Glaubt man mir? Eine Entschädigung erhalten sie nur, wenn drei Dinge nachweisbar sind: die Gewalttat, die gesundheitliche Schädigung und der Zusammenhang zwischen Tat und Schädigung. Die Behörden sollen zwar selbst ermitteln, Antragsteller haben aber eine „Mitwirkungspflicht“. Für die Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Opferaussagen können Ämter die Betroffenen zum Gespräch in die Behörde bitten oder eine psychologische Begutachtung in Auftrag geben.

Ein Missbrauchsopfer aus Baden-Württemberg, das als Kind Missbrauch erlebte, erinnert sich an ein Gespräch in der Behörde zu seinem OEG-Antrag. Eine Sachbearbeiterin habe ihn „wenig einfühlsam“ gefragt nach den damaligen sexuellen Handlungen; sie habe zum Beispiel wissen wollen, ob er, der kleine Junge, dabei eine Erektion gehabt habe.

Bis zur Anerkennung oder Ablehnung dauert es im Schnitt zwischen 12 und 18 Monaten. Das geht aus den Angaben derjenigen Bundesländer hervor, die die Bearbeitungszeit erfassen; einige Länder tun das nicht. Es kann aber auch länger dauern: Die Verfahrensdauer hänge „ganz individuell vom Umfang der Ermittlungen in jedem Einzelfall“ ab, teilt etwa Schleswig-Holstein auf Nachfrage der Redaktion mit.

Juristen berichten, dass Ämter oft abwarten, ob es einen Strafprozess gibt, in dem ein Täter verurteilt wird. „Das ist rechtlich nicht richtig, weil das OEG-Verfahren ein eigenes, vom Strafprozess unabhängiges Verfahren ist“, kritisiert Jürgen Walczak, der seit bald 30 Jahren als Fachanwalt für Sozialrecht im Hamburger Süden arbeitet. Eine Familie aus Niedersachsen zum Beispiel, deren Sohn nach einem Gewaltangriff ins Wachkoma gefallen war, musste auf die OEG-Anerkennung bis zum Abschluss des Prozesses warten – drei Jahre lang, obwohl sie von der Tat an Unterstützung brauchte.

Noch schwieriger wird es, wenn es kein Strafverfahren gibt, weil keine Anzeige erstattet wurde, zum Beispiel nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit, Vergewaltigung oder häuslicher Gewalt. Das Amt blende diese Umstände aus, kritisiert Anwalt Walczak. „Gerade die Opfer von frühkindlichem Missbrauch geraten regelmäßig in Beweisnot“, sagt Dr. Stephan Porten, Fachanwalt für Medizinrecht und einer der Initiatoren von „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“: „Der einzige Zeuge ist oft der Täter.“ Die Regensburger Opferanwältin Christine Obermeier spricht von einem „Beweislastproblem, das kaum lösbar ist“.

In solchen Fällen soll dann oft ein amtlich bestelltes Gutachten Klarheit schaffen.

„Nächtelang nicht geschlafen“ habe sie vor dem Gutachtertermin, sagt eine Betroffene aus Bayern. Zu groß sei ihre Sorge gewesen, ob der Psychologe sie als glaubwürdig einschätzen würde. Ein anderes Opfer ist überzeugt, dass Gutachter von der sogenannten Nullhypothese ausgingen; ihr Ansatzpunkt sei es, Opfer der Lüge zu überführen.

Die bayerische Traumatherapeutin Dorothea Rau-Lembke sagt, vor und nach Gutachterterminen müsse sie immer wieder „Suizid-Prävention“ betreiben. „Ich rate den Menschen inzwischen meistens davon ab, einen OEG-Antrag zu stellen.“ Auch der Anwalt Kai Nissen aus Baden-Baden geht davon aus, dass der absehbare Stress, die Angst vor dem „Auseinandergenommenwerden“ in einer Befragung viele Opfer davon abhalte, einen Antrag zu stellen. Denn wenn am Ende in den Gutachten schwarz auf weiß steht, was die Opfer „angeblich“ erlebt haben, sehen sich die Betroffenen als Lügner dargestellt. Sie sind erneut schwer verletzt, diesmal durch Worte.

,,Es ist eine Katastrophe"

Traumatherapeutin aus Bayern

Die Worte. Behördenschreiben voller Paragrafenzeichen und Belehrungen. Sätze wie: „Im Rahmen der Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist zu beurteilen, ob das, was Sie schildern, auf tatsächlich Erlebtem beruht.“ Oder: „Teilen Sie uns bitte schriftlich mit, falls Sie Ihren Antrag (…) zurücknehmen wollen. Andernfalls werden Sie eine Einladung zur psychiatrischen Begutachtung erhalten, der Sie dann in Ihrem eigenen Interesse bitte unbedingt folgen sollten, um nachteilige Auswirkungen zu vermeiden.“ Ein Opfer aus Niedersachsen, das einen Mordversuch überlebt hat, sagt: „Ich empfinde den Ton als drohend.“

Eine Opferhelferin aus Baden-Württemberg berichtet von „furchtbar formulierten Schreiben“ und nennt Beispiele. In einem Fall von körperlicher Gewalt in der Kindheit habe es geheißen, die Züchtigungsmaßnahmen seien für damalige Verhältnisse normal gewesen. In einem Fall von häuslicher Gewalt habe das Amt mitgeteilt, wenn das Opfer dem Täter die Scheckkarte wie verlangt ausgehändigt hätte, wäre es nicht zur Gewalt gekommen. In einem weiteren Fall von Gewalt hatte sich das Opfer im Haus verschanzt, der Täter lauerte draußen. Weil die Frau später das Haus verließ und dort dem Täter in die Hände fiel, schrieb das Amt, sie habe ja den Schutzbereich verlassen und sich selbst in Gefahr begeben.

„Opfer von Straftaten sollten als solche anerkannt und respektvoll, einfühlsam und professionell behandelt werden“, heißt es in der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten. Demgegenüber steht das, was Behördenarbeit in deutschen Versorgungsämtern bedeutet: Prüfen und Beurteilen, ob die Opfer die drei Voraussetzungen für den Bezug von Entschädigungsleistungen erfüllen.

„Eine fürchterlich niedrige Zahl“

Wie erlebt jemand, der Menschen zum Opferentschädigungsgesetz berät, Gespräche mit Betroffenen? Was denkt er über Personalstärken in den Ämtern? Interview mit Ralf Bartsch, der seit mehr als zehn Jahren in Oberbayern als sogenannter Sonderbetreuer arbeitet.

Für die Beamten und Beamtinnen gibt es mehr als 45 Jahre nach Verabschiedung des OEG kein einheitliches und verbindliches Schulungskonzept für einen sensiblen Umgang mit verletzten und oftmals traumatisierten Betroffenen. Rückmeldungen aus den Ländern zeigen, dass die Anforderungen, dem Job aus Behördensicht gerecht zu werden, vielerorts niedrig sind: Im Saarland etwa gehen Mitarbeitende „aufgrund ihrer Arbeits- beziehungsweise Lebenserfahrung sensibel mit den Antragstellern um“. In Hamburg gibt es „in erkennbar sensiblen Fällen“ eine Abstimmung mit dem Versorgungsärztlichen Dienst. Brandenburg berichtet von einer Mitarbeiterin, die einen „berufsbegleitenden Zertifikatskurs zur Fachberaterin für Opferhilfe“ absolviert hat. Mecklenburg-Vorpommern teilt mit: „Alle Mitarbeitenden sind aufgrund ihrer zum Teil langjährigen Tätigkeit in der Versorgungsverwaltung und insbesondere im Fachbereich Soziales Entschädigungsrecht für den Umgang mit traumatisierten Antragstellenden sensibilisiert.“

Die Berliner Behörde fasst das Problem zusammen: „Der Kontakt zu den Antragstellenden ist respektvoll und empathisch, dennoch ist es Wille des Gesetzgebers, den Sachverhalt zu ermitteln und den ursächlichen Zusammenhang der geltend gemachten Gesundheits­störung mit dem schädigenden Ereignis verwaltungsseitig zu prüfen. Es ist nicht auszuschließen, dass es hierbei für die Betroffenen zu belastenden Wieder­erinnerungen kommt.“

„Man kommt sich als Opfer vor wie ein Sozialschmarotzer“, sagt ein Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch aus Baden-Württemberg.

„Ein Leben in der Warteschleife“, sagt ein Missbrauchs­opfer aus Rheinland-Pfalz.

Wir sprechen hier ganz klar von einer sekundären Viktimisierung: Das Opfer fühlt sich wieder als Opfer, insbesondere wenn es nach einem Freispruch für den Täter im Strafprozess nun im OEG-Prozess um seine Ansprüche kämpfen muss“, sagt ein Anwalt aus Baden-Württemberg.

Kapitel V: Die Ablehnungen

Im Zollernalbkreis, Baden-Württemberg, unterstützt Heike Dachs seit 18 Jahren Gewaltopfer bei OEG-Anträgen: zunächst für die Frauenberatungsstelle Feuervogel, seit 2019 auch für den WEISSEN RING. Sie sagt, sie habe in dieser Zeit wohl 100 Anträge begleitet. Bis auf einen einzigen seien alle Anträge zunächst abgelehnt worden. „Da gibt die erste Hälfte schon mal auf“, sagt Dachs. Die zweite Hälfte lege Widerspruch ein, „nach gutem Zureden“, nach der nächsten negativen Rückmeldung gebe dann wieder die Hälfte auf.

Etliche Betroffene haben sich über das Internet vernetzt. Bei Facebook zum Beispiel gibt es mehrere geschlossene Gruppen, die das Wort „Opferentschädigungsgesetz“ oder das Kürzel „OEG“ im Namen tragen. Einige haben mehrere Hundert Mitglieder, einzelne mehr als tausend. Christophe Didillon aus Niedersachsen ist eine der bekanntesten Stimmen, ebenso wie Ralf Rupprecht aus Baden-Württemberg oder Martina Multhaupt aus Nordrhein-Westfalen. Andere Betroffene schreiben ihnen, rufen sie an. „Wir stützen uns gegenseitig“, sagt Multhaupt.

Die Mitglieder der Gruppen tauschen Informationen aus, Ratschläge – und immer wieder Erklärungsversuche, warum so viele Anträge abgelehnt werden oder in jahrelangen Verfahren hängen bleiben. „Uns liegen zahlreiche gleichlautende Berichte unzähliger Betroffener vor, ja sogar zahlreiche Verfahrensakten, anhand derer man die systematischen Entschädigungspflicht-Abwehrstrategien der Behörden und Gerichte gut erkennen kann“, sagt Ralf Rupprecht. Er ist überzeugt: Die Behörden prüfen nicht auf Anerkennung des Anspruchs, so wie es Paragraf 1 des Opferentschädigungsgesetzes nahelegt, sondern auf Ablehnung.

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Maria Hagelkorn aus Niederbayern.

In den Netzwerken ist immer wieder ist die Rede von „Whistleblowern“, die das zu bestätigen scheinen: dass es in den Behörden „informelle Gespräche“ mit Sachbearbeitern gebe, „interne Dienstanweisungen“ sogar, die nur eine begrenzte Zahl an Anerkennungen oder Begutachtungen erlaubten. Dass Gerichte Gutachter beauftragten, die verlässlich zugunsten der Behörden entschieden. Kurz: dass es dem Staat allein darum gehe, die Ausgaben zu begrenzen. Schon jetzt kostet das OEG den Staat viel Geld: 2019 lagen die Gesamtausgaben von Bund und Ländern bei mehr 330 Millionen Euro. Die Summe wächst mit jedem Jahr, rund 30 Prozent der Bewilligungen sind Rentenzahlungen.

„Sie wollen um jeden Preis Kosten sparen“, das schreibt auch der anonyme Informant „John Doe“ über „Politik und Verwaltung“ in einer E-Mail an Betroffene. John Doe, der nach eigenen Angaben in Niedersachsen „beruflich ständig mit Anträgen auf Opferentschädigung und Berufsschadensausgleich zu tun“ hat, nennt das OEG ein „Scheingesetz“: „Dessen Anwendung wird so weit als möglich und mit allen Mitteln verhindert.“ Laut dem anonymen Informanten prüfen Behörden OEG-Anträge nach dem „Worst-Case-Szenario“: „Alter der Antragsteller (wegen noch zu erwartender Lebensdauer und damit Bezugsdauer der Rente), eingereichte Diagnosen der Ärzte, abgeschlossene Berufsausbildung (hieraus errechnet sich die monatliche Höhe eines Berufsschadensausgleichs). Anträge, bei denen bei Bewilligung für das Land besonders hohe Kosten entstehen würden, bekommen einen speziellen Vermerk.“ Diese Antragsteller würden ausschließlich zu Gutachtern geschickt, die sich „im Sinne der Behörde bewährt“ hätten. „Die Aufgabe lautet: Die besonders teuren Fälle abweisen, abweisen um jeden Preis!“

Belegen lässt sich das nicht. Es gibt keine Studien zu OEG-Verfahren oder zu den Gutachten. Auch die Echtheit von „John Doe“ können wir nicht beweisen. Aber in den Betroffenen-Netzwerken nährt das alles den Eindruck vom Staat als Gegner.

Anwalt Jürgen Walczak aus Hamburg vermutet eher: „Die Beamten wollen keine Fehler machen. Mit einer Ablehnung sind sie erst mal auf der sicheren Seite, das spart dem Staat Geld. Das könnte eine Grundeinstellung sein.“ Manchmal, sagt eine Opferhelferin aus Nordrhein-Westfalen, habe sie das Gefühl: „Die gucken nicht individuell, sondern die gucken ins Gesetz.“

Ein Opferhelfer aus Schleswig-Holstein wiederum macht die hohe Ablehnungsquote am Personalmangel fest: Aus Gesprächen wisse er, dass die Ämter unterbesetzt seien. Es sei sogar schon gebeten worden, aussichtslose Anträge gar nicht erst zu stellen. „Es müsste personell aufgerüstet werden, damit die Anträge in angemessenerer Zeit erledigt werden können“, sagt er.

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Monica Gomes aus Unterfranken.

Belegen lässt sich auch das nicht. Auf Anfrage unserer Redaktion machten die Bundesländer teilweise keine Angaben zu Mitarbeiterstärken – oder sie teilten einschränkend mit, dass in den Abteilungen neben den OEG-Anträgen auch andere Aufgaben bearbeitet würden. Ohne Einschränkungen heißt es dagegen aus dem Saarland: „OEG-Anträge werden hier von zwei Mitarbeiter*innen bearbeitet.“ In Sachsen sind es zwölf, in Berlin 31, in Bayern 70 Vollzeitkräfte. Wer aber was genau leistet und ob das im Verhältnis zur Antragszahl ausreichend ist, lässt sich nicht nachvollziehen.

„Die drehen jeden Cent mehrfach um, als ob es ihr eigener wäre“, sagt ein Mitarbeiter des WEISSEN RINGS aus Hessen über die Sachbearbeiter in den Versorgungsämtern.

„Ich habe das Gefühl, in manchen Akten klebt ein roter Zettel mit dem Hinweis: Die bekommen nichts mehr“, sagt ein Opfer von ritueller Gewalt aus Hessen.

 „Ich allein kenne acht Leute, die ihren Antrag zurückgezogen haben – weil sie es nicht aushalten“, sagt ein Missbrauchsopfer aus Baden-Württemberg.

Kapitel VI: Die Unterstützer

Warum nehmen Opfer den oft aussichtslosen Aufwand überhaupt in Kauf? Warum riskieren sie die Stigmatisierung durch übergriffige Behörden, die Traumatisierung durch das erneute Durchleben der Gewalttat? Die Antwort: Viele von ihnen sind auf die Hilfe angewiesen, die ihnen das Gesetz verspricht.

„Die meisten Menschen, die OEG-Anträge stellen, stellen sie, weil sie irgendwann im Leben nicht mehr zurechtkommen“, sagt die Betroffene Martina Multhaupt aus Nordrhein-Westfalen. Ralf Rupprecht aus Baden-Württemberg vermutet, dass in seiner Betroffenen-Gruppen „85 Prozent“ von Sozialhilfe lebten, „wo sie nicht hingehören“. In der nicht repräsentativen Online-Umfrage von Hendrikje ter Balk von der „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“ stimmten 55,5 Prozent der Gewaltopfer der Aussage zu: „Ich habe existenzielle Sorgen.“

Anderen Betroffenen geht es vor allem darum, dass ihr Leid anerkannt wird: dass amtlich bestätigt wird, dass sie unverschuldet zum Gewaltopfer wurden und dass die Gewalt ihr Leben verändert hat. Manchmal fließt gar kein Geld vom Versorgungsamt, weil den Opfern nur ein niedriger „Grad der Schädigungsfolge“ (GdS) zugesprochen wird – aber die Opfer werden durch den Bescheid als Opfer anerkannt. Das sei für viele Betroffene das Allerwichtigste, sagt die Regensburger Anwältin Christine Obermeier: „Das hilft der Seele – weil ihnen von offizieller Stelle geglaubt wird.“

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Flora-Nike Göthin.

Ein Satz, der von Gewaltopfern immer wieder zu hören ist, zum Beispiel von Christophe Didillon in Norddeutschland: „Ich habe mir das nicht ausgesucht!“

Das Ausfüllen eines OEG-Antrags mag ein sehr persön­licher und emotionaler Vorgang sein – das Verfahren, in dem darüber entschieden wird, bleibt ein Verwaltungsakt. Es geht um Rechtsvorgaben und die Überprüfung von Leistungsansprüchen, nicht um Rücksichtnahme auf die Antragsteller. Die Zeit zwischen Antragstellung und Bescheid wird für Gewaltopfer oft zur Belastungsprobe, fachlich, finanziell, psychisch. Berichte von Betroffenen und Experten zeigen, dass das ohne Unterstützer kaum jemand durchsteht: ohne Anwältinnen, Therapeuten, Hilfsorganisationen, Freunde, Familie.

Wer sich in den Kampf mit der Gegenseite begibt, braucht rechtliche Beratung. Die Anwälte und Anwältinnen, die in Strafprozessen Gewaltopfer als Nebenkläger vertreten, sind in der Regel Strafrechtler, aber eben keine Fachanwälte für Sozialrecht, in dem das OEG angesiedelt ist. Das führt dazu, dass diese Juristen ihre Mandate niederlegen, sobald das Strafverfahren erledigt ist. Die Betroffenen müssen sich neue Anwälte suchen. Aber, wie eine Ehrenamtliche des WEISSEN RINGS aus Bayern sagt: „Es ist schwierig, Sozialrechtler zu finden, die sich tatsächlich mit dem OEG auskennen.“

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Matthias Corssen aus Niedersachsen.

Laut der Bundesrechtsanwaltskammer gab es 2021 nur 1808 Fachanwälte für Sozialrecht. Wie viele auf das OEG spezialisiert sind, wird nicht erhoben. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) teilt auf Anfrage zu seinen 61.000 Mitgliedern mit: „Davon haben mehr als 500 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte angegeben, sich im Bereich Opferrecht oder Nebenklage/Opferrecht spezialisiert zu haben.“ Das sind 0,82 Prozent der Mitglieder.

Das OEG ist für Juristen unattraktiv, weil es nicht lukrativ ist, heißt es beim DAV: „Anwältinnen und Anwälte müssen von ihrem Beruf leben können. Im Bereich Opferrechte ist dies allein kaum möglich.“ Bodo Kuhn, Rechtsanwalt aus Lörrach in Baden-Württemberg, sagt: „Wer Opferanwaltsarbeit macht, muss das quersubventionieren und tut dies aus Engagement und Überzeugung.“ Deniz Akinci, juristischer Kanzleimitarbeiter im niedersächsischen Seesen, hat beobachtet: „Die meisten Mandanten haben nicht viel Geld, oft zahlen dann Hilfsorganisationen.“

Das Thema Geld wird für die Betroffenen aber auch aus anderem Grund zum Problem: Wer einen passenden Rechtsbeistand sucht, muss häufig quer durch die Republik fahren, so manches Mandatsverhältnis entsteht über Hunderte Kilometer Distanz hinweg und verursacht entsprechende Reisekosten. Wem das Gericht keine Prozesskostenhilfe bewilligt, weil es für das Verfahren keine Erfolgsaussichten sieht, der muss zudem die Anwältin oder den Anwalt aus eigener Tasche bezahlen. Wer das nicht kann, muss entweder die Ablehnung seines Antrags akzeptieren oder auf finanzielle Unterstützung von Hilfsorganisationen hoffen. Immer wieder verweisen die Bundesländer in ihren Schreiben auf Opferschutzvereine, auch auf den WEISSEN RING. Eine Betroffene aus Rheinland-Pfalz klagt: „Es gibt keine Clearingstelle, keine Ombuds­stelle, keine Stelle, an die sich die Betroffenen wenden können.“

„Nichts war wichtiger, als dass es Alexei besser geht“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für die Familie Kreis aus Niedersachsen.

Die „Agenda bedarfsgerechte Versorgung“ hat angekündigt, noch in diesem Jahr ein juristisches Kompetenzzentrum zum Sozialen Entschädigungsrecht einzurichten. „Wir sind dabei, ein rechtswissenschaftliches Expertenteam aufzubauen“, hieß es im Frühjahr.

Ebenso wichtig wie rechtliche und finanzielle Unterstützung ist für die Opfer das private Umfeld. Eine Betroffene aus Hessen etwa bittet immer einen Bekannten, sie zu Terminen zu begleiten: „Das ist enorm wichtig, dass jemand bei Gesprächen dabei ist. Ich selbst bin in solchen Situationen wie in Watte gepackt.“ Anschließend brauche sie jemanden, um sich auszutauschen. „Anders würde ich das nicht schaffen“, sagt sie.

 „Um das durchzustehen, braucht man erstens einen Therapeuten, zweitens einen guten Rechtsanwalt, drittens im Privaten einen Partner, der auffangen kann – und viertens eine Klinik, falls es ganz schlimm wird“, sagt eine Betroffene aus Hessen. 

Einen Anwalt muss man sich leisten können“, sagt ein Missbrauchsopfer aus Rheinland-Pfalz.

„Das macht mich alles so, so wütend!“, sagt eine Opferhelferin des WEISSEN RINGS aus Baden-Württemberg.

Kapitel VII: Drinnen

In seinem Haus in Ostfriesland biegt sich der Bücherschrank unter Geschichtswerken, am Regal hängen 14 kleine Schildchen. „Geh deinen eigenen Weg“ steht auf einem, „Glaube an dich“ auf einem anderen, „Tanz im Regen“, „Genieße den Moment“.

,,Ich bin nur ein einzelner Fall – aber ich bin kein Einzelfall"

Christophe Didillon

Christophe Didillon, der in seiner Kindheit wiederholt Gewalt und Missbrauch erlebte, hat Abitur gemacht. Er hat eine Kaufmannslehre abgeschlossen. Er hat ein Sinologie-Studium beendet, Chinawissenschaften. „Aber“, sagt er, „es war wie gegen die Strömung anzuschwimmen.“ Erst nach und nach sei ihm klar geworden, was mit ihm los sei; mit jedem Jahr kamen mehr verdrängte Kindheitserinnerungen hoch. Die Strömung wurde zu stark. Panikattacken gehören seither zu seinem Leben, Nervenzusammenbrüche. Wenn er einen Raum betritt, setzt er sich so, dass er die Tür im Blick hat. Hört er irgendwo ein Geräusch, zuckt er zusammen.

Er sagt, er lerne weiter Chinesisch. Er gehe regelmäßig joggen. „Das gibt meinem Leben Struktur.“ Von seinem Zuhause in der Kleinstadt Norden sind es nur zwei, drei Kilometer Luftlinie zum Nordseedeich, dahinter starten die Fähren nach Norderney und Juist. „Hier kann ich selbst bestimmen, wie viel und wie schnell und wie laut ich es haben will“, sagt er. Von Beruf ist Christophe Didillon Kunstmaler. Seit 15 Jahren habe er kein Bild mehr fertiggemalt, sagt er. Seine OEG-Akten hat er an seinen Anwalt in Hamburg übergeben. „Ich bin froh, dass die nicht mehr hier sind.“

Christophe Didillon ist einer der wenigen Betroffenen, die ihr Anliegen immer wieder in die Öffentlichkeit tragen. Nach der Mahnwache vor der Beratungsstelle in Ostfriesland meldet er sich schriftlich bei seinem Netzwerk. „Eine solche Mahnwache abzuhalten ist sehr, sehr anstrengend“, schreibt er, „insbesondere für meine Seele.“

Neulich war Didillon im niedersächsischen Celle beim Landessozialgericht, es ging mal wieder um sein OEG-Verfahren. Es gab Metalldetektoren, er wurde durchsucht, an der Seite stand ein bewaffneter Wachmann das Gericht tagte hinter Glas. Didillon empfand das so: „Ich werde als Bedrohung angesehen!“ Er fordert: „Der Staat muss endlich aufhören, Verbrechensopfer wie Verbrecher zu behandeln!“

„Ich will nicht den Staat bekämpfen“, sagt Christophe Didillon, „ich glaube an die Notwendigkeit des Rechtsstaats. Ich will aber, dass er an den Stellen, wo er nicht funktioniert, verbessert wird.“ Er sagt, er wäre ja schon zufrieden, wenn er aus der Sozialhilfe herauskäme.

OEG – was ist das?

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

OEG – was ist das?

Was besagt das Opferentschädigungsgesetz, wer hat Anspruch auf Leistungen und wie läuft das Verfahren ab? Ein Erklärstück.

Foto: Ahlers/WR

Der Staat hat die Aufgabe, seine Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Da er dies nicht immer garantieren kann, gibt es das Opferentschädigungsgesetz (OEG). Demnach entschädigt der Staat Betroffene von „tätlichen Angriffen“, wenn sie gesundheitliche Schäden erlitten haben, um sie sozial abzusichern. Betroffene sollen also nicht Sozialhilfe beziehen müssen, sondern einen Ausgleich für gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen der Tat erhalten.

Wer hat Anspruch auf Entschädigung?

Wer Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs geworden ist und durch die Tat eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält laut §1 OEG Entschädigung. Entscheidend ist: Erstens muss es sich um eine Gewalttat handeln, etwa um eine Körperverletzung oder Vergewaltigung. Zweitens muss sich der Angriff auf deutschem Staatsgebiet ereignet haben, dazu zählen auch deutsche Schiffe oder Flugzeuge.

Ausländische Staatsbürger haben ein Recht auf die gleichen Leistungen wie Deutsche, wenn sie in Deutschland Opfer einer Gewalttat geworden sind. Wer in Deutschland lebt und im Ausland Opfer wird, kann leistungsberechtigt sein, allerdings mit Einschränkungen.

Können auch Zeugen, Helfer oder Angehörige Leistungen bekommen?

Bei Menschen, die beispielsweise eine Gewalttat beobachtet haben, werden sogenannte Schockschäden anerkannt. Ebenso entschädigt der Staat etwa Eltern oder Kinder, wenn sie das Opfer auffinden oder durch die Nachricht über die Tat gesundheitliche Schäden erleiden. Hinterbliebene von Getöteten erhalten unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Leistungen, etwa eine Witwen- oder Waisengrundrente.

Was sind die wesentlichen Leistungen?

Die Entschädigung für Taten im Inland gilt bei gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen, reiner Schadensersatz oder Schmerzensgeld werden nicht gezahlt. Die Leistungen in Deutschland sind weitergehender als in anderen Staaten, dort sind es zumeist nur Einmalzahlungen. Es gibt keine Beschränkungen für die Dauer oder die Höhe der Entschädigung nach dem OEG. Im Wesentlichen geht es um:
– Heilbehandlungen: Das bezieht sich auf die akute medizinische Versorgung, Psychotherapie und Rehabilitation. Der Anspruch geht über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus, es fallen keine Zuzahlungen an, zum Beispiel zu Medikamenten oder Krankenhausaufenthalten, Fahrtkosten zu Behandlungen werden übernommen.
– Rentenzahlungen: Grundlage ist der sogenannte Grad der Schädigungsfolgen (GdS), der das Ausmaß der gesundheitlichen Folgen der Gewalttat beschreibt. Besteht ein GdS von mindestens 25 Prozent voraussichtlich länger als ein halbes Jahr, haben Betroffene das Recht auf eine Grundrente. Diese ist unabhängig vom Einkommen und wird bei anderen Sozialleistungen nicht angerechnet. Sind die Einschränkungen gravierender, sind weitere Leistungen möglich. Ein zusätzlicher Berufsschadensausgleich hilft, wenn durch die Tat das Einkommen gemindert wurde.
– Leistungen der Kriegsopferfürsorge: Um wirtschaftliche Nachteile auszugleichen, unterstützt der Staat Geschädigte zum Beispiel dabei, eine Berufsausbildung oder ein Studium zu absolvieren.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Wie und wo stellt man einen Antrag?

Der Antrag wird beim Versorgungsamt gestellt, das für den Wohnsitz des Betroffenen zuständig ist. Das Formular des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) ist für alle Bundesländer gültig, ebenso das Vorblatt. Einzelne Länder haben eigene Vordrucke entwickelt, auf einigen davon fehlt aber zum Beispiel der Hinweis, dass eine Strafanzeige bei der Polizei keine Voraussetzung ist, um den Antrag stellen zu können. Es besteht auch die Möglichkeit, sich zunächst mit einem einfachen Schreiben, telefonisch oder per E-Mail an die Behörde zu wenden, dann gilt der Antrag als eingegangen. Der ausgefüllte Antrag muss nachgereicht werden. Wird die OEG-Leistung innerhalb eines Jahres nach dem Angriff gestellt, wird rückwirkend ab der Tat entschädigt, bei späterer Antragsstellung erst ab Antragseingang.

Wer unterstützt bei der Antragstellung?

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Opferhilfsorganisationen, wie zum Beispiel dem WEISSEN RING, Fachberatungsstellen, aber auch Rechtsanwältinnen oder sogenannte Sonderbetreuer in den Versorgungsämtern einiger Bundesländer können Opfer beraten und bei der Antragstellung unterstützen.

Wie läuft ein Verfahren ab?

Betroffene müssen die Entschädigung nach dem OEG selbst beantragen und dabei die Gewalttat schildern. Gibt es eine Anzeige oder ein Ermittlungsverfahren, sollte das Aktenzeichen angegeben werden, dann sind erneute Angaben zum Erlebnis unter Umständen nicht erforderlich. Das Versorgungsamt kann Unterlagen anfordern und medizinische oder psychologische Gutachten über Betroffene in Auftrag geben. Es besteht für Opfer eine sogenannte Mitwirkungspflicht, um den Sachverhalt aufzuklären. Sind die Ermittlungen abgeschlossen, verschickt die Behörde einen Bescheid. Gegen eine Ablehnung können Betroffene innerhalb eines Monats Widerspruch eingelegen. Wird dieser zurückgewiesen, kann der Fall vor Gericht gehen. Es gibt drei Instanzen: das Sozialgericht (Klage), Landessozialgericht (Berufung) und das Bundessozialgericht (Revision). Im Prozess kann sowohl das Gericht als auch die Klägerseite Gutachter beauftragen.

Gewaltopfer kennen Recht auf Entschädigung nicht

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

Gewaltopfer kennen Recht auf Entschädigung nicht

Der WEISSE RING hat im Frühjahr 2022 das Meinungsforschungsinstitut Forsa mit einer bundesweiten Umfrage zum Opferentschädigungsgesetz (OEG) beauftragt. Der Grund: Es gab bislang keine repräsentative Erhebung, in der die Bekanntheit des OEG oder die Meinung der Bevölkerung zum Thema erfragt wurde.

Für die Telefonbefragung interviewte Forsa 4004 Menschen in ganz Deutschland, 708 gaben an, selbst schon einmal Opfer einer Gewalttat geworden zu sein oder ein Opfer einer Gewalttat im persönlichen Umfeld zu kennen.

Die Ergebnisse

Fast jeder Zweite in Deutschland ist der Ansicht, dass die Entschädigung von Gewaltopfern Aufgabe des Staates ist. Grundsätzlich meint die Mehrheit der Befragten, dass insbesondere Täter (86 Prozent) oder Institutionen wie Kirchen, Schulen oder Vereine (58 Prozent), in denen die Tat stattgefunden hatfür eine Entschädigung der Betroffenen aufkommen müssten. Aber: Solche Ansprüche lassen sich oft nur schwer oder gar nicht durchsetzen. 46 Prozent sehen den Staat in der Pflicht, Opfer von Taten wie Körperverletzung, häuslicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch zu unterstützen.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Bereits seit 1976 gibt es das Opferentschädigungsgesetz (OEG), mit dem der deutsche Staat verspricht, Opfer von Gewalt zu versorgen. Allerdings ist das Gesetz weitgehend unbekannt, auch dies belegt die Umfrage des WEISSEN RINGS: 76 Prozent der Befragten haben noch nie vom OEG gehört. Sogar Menschen, die selbst Opfer einer Gewalttat geworden sind oder Betroffene im persönlichen Umfeld haben, wissen nichts von dem Recht, einen Antrag auf Entschädigung stellen zu können (70 Prozent). Diejenigen Befragten, die das Gesetz kennen, haben in erster Linie durch Medien oder im privaten Umfeld (71 Prozent) oder durch ihren Beruf oder ihr Ehrenamt (27 Prozent) davon erfahren. Nur 14 Prozent hingegen kennen das Recht auf Entschädigung, weil staatliche Institutionen sie informiert haben, zum Beispiel Polizei oder Gerichte.

Staat soll über Entschädigung informieren

Das deckt sich nicht mit den Erwartungen der Befragten: Die Mehrheit sieht den Staat in der Verantwortung, Gewaltopfer über seine Entschädigungsleistungen zu informieren. 76 Prozent meinen demnach, die Polizei müsste darüber aufklären. 64 Prozent sind der Ansicht, andere Behörden (beispielsweise Staatsanwaltschaft oder Rathaus) müssten dies übernehmen. 72 Prozent der Befragten finden zudem, dass Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte oder psychologische Beratungsstellen die Betroffenen auf die Möglichkeit staatlicher Unterstützung hinweisen sollten.

Als wichtigste Hilfsleistung für Opfer von Gewalttaten sehen die Befragten mit einer großen Mehrheit von 63 Prozent Kostenübernahmen für medizinische Behandlungen, Therapien und Rehabilitationsmaßnahmen. 13 Prozent halten eine Rentenzahlung für wichtig, 9 Prozent eine Einmalzahlung an die Betroffenen.

„Eine fürchterlich niedrige Zahl“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Eine fürchterlich niedrige Zahl“

Wie erlebt jemand, der Menschen zum Opferentschädigungsgesetz berät, Gespräche mit Betroffenen? Was denkt er über Personalstärken in den Ämtern? Interview mit Ralf Bartsch, der seit mehr als zehn Jahren in Oberbayern als sogenannter Sonderbetreuer arbeitet.

Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Ab 2024 soll es in allen Bundesländern „Fallmanager“ in den Versorgungsämtern geben, die Betroffene zum Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) beraten. Einige Länder haben bereits ähnliche Anlaufstellen für Gewaltopfer eingerichtet, in Bayern etwa gibt es Ansprechpartner in jedem Regierungsbezirk. Einer von ihnen ist Ralf Bartsch, der seit mehr als zehn Jahren in Oberbayern ein sogenannter Sonderbetreuer und damit so etwas wie ein Vorgänger des Fallmanagers ist.

Was genau ist die Aufgabe eines Sonderbetreuers?
Ich bin die Schnittstelle zwischen Antragsteller und Behörde. Es geht darum, die Leute vernünftig zu beraten, ob es Sinn macht, einen Antrag zu stellen, und falls ja, sie dabei zu unterstützen. Die Anträge gebe ich weiter an die Fachabteilung, in der entschieden wird. Damit endet eigentlich mein Auftrag, ich beantworte aber auch Fragen zum Sachstand und informiere über die Möglichkeit, nach einer Ablehnung einen Widerspruch einzulegen.

Was denken Sie darüber, dass – im Verhältnis zu den in der Polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Gewalttaten in Deutschland – nur rund zehn Prozent der Opfer überhaupt einen OEG-Antrag stellen?
Ich bin persönlich der Meinung, dass dies eine fürchterlich niedrige Zahl ist. Es wäre spannend zu wissen, wie viele von den Opfern, die tatsächlich bleibende Schäden erleiden, auch einen Antrag stellen. Allerdings kann die Statistik dahingehend nicht differenziert werden, weil die entsprechenden Daten nicht erhoben werden.

Woran könnte es Ihrer Einschätzung nach liegen, dass Betroffene von Gewalttaten keinen Antrag nach dem OEG stellen?
Als Opfer bekommt man am Anfang von den verschiedensten Stellen und Behörden gefühlt tausend Formulare in die Hand gedrückt, die liest man sich nicht durch. Es braucht häufig einen Anlass oder jemanden, der Betroffene daran erinnert, einen Antrag zu stellen.

Wie erleben Sie Gespräche mit Betroffenen, die sich an Sie wenden?
Viele Hilfesuchende befinden sich in einem schlechten seelischen Zustand, haben sich nach langem Über­legen zur Antragstellung entschieden, sind damit aber überfordert. Dementsprechend sind sie dankbar, dass ihnen jemand zuhört und hilft. Oder sie sind unsicher, was sie erwartet: Gleicht die Zeugenbefragung der vor Gericht? Wird man gar mit dem Täter konfrontiert? Hier können Ängste genommen werden.

Viele wissen zum Beispiel nicht, dass auch ein Ohrenzeuge ein Zeuge und die Aussicht auf eine Anerkennung dann besser sein kann. Gibt es andererseits in bestimmten Fällen bloß eine Schilderung eines Ereignisses, aber keine Zeugen, dann können wir den Ausblick geben, dass das wohl nichts wird. Alles in allem empfinde ich den Umgang mit den Betroffenen als angenehm. Bedrückte Stimmung, Weinen, Insichgekehrtsein ist immer angenehmer als offen verbal kommunizierte Aggression, die ich in meiner Tätigkeit bislang vielleicht das ein oder andere Mal erleben musste, aber nie gegen meine Person. Unzufriedenheit mit unserer Behörde nehme ich nicht als persönliche Kritik wahr.

Gibt es vonseiten Ihrer Behörde Vorgaben, was neue Antragstellungen betrifft?
Ich habe keine Vorgabe, den Menschen die Antragstellung auszureden, sondern ich überlasse ihnen die Entscheidung. Damit sie eine realistische Erwartungshaltung entwickeln, erläutere ich ihnen die Erfolgsaussichten. Manchmal rate ich vom OEG-Antrag ab und er wird trotzdem gestellt, weil die Leute diesen Schritt zur Bewältigung der Erlebnisse benötigen und es wenigstens versucht haben wollen. Für manche Menschen bringt es aber nichts, einen Antrag zu stellen.

Inwiefern?

Ein Beispiel: Wenn jemand nach einer Schlägerei lediglich blaue Flecken hat, die schnell von alleine abheilen, ist eine Antragstellung nach dem OEG nicht sinnvoll, weil es keine Arztkosten und nur vorübergehende Gesundheitsschäden gab. Manche Betroffene haben unter Umständen auch falsche Vorstellungen vom Heilbehandlungsanspruch nach dem OEG: Wenn ihnen beispielsweise die Krankenkasse ganz konkrete Leistungen – etwa eine spezielle Therapieform – nicht bewilligt hat, dann erhoffen sie sich, diese zu erhalten, indem sie einen OEG-Antrag stellen. Das OEG regelt ganz klar: Leistungen werden nach dem Bundesversorgungsgesetz gewährt. Und dieses Gesetz sagt: Abhängig von der Art der Maßnahme wird diese von den gesetzlichen Krankenkassen oder der Behörde erbracht. Das ist juristisch aufgeteilt auf verschiedene Paragrafen, wie Gesetze eben so sind. Allgemein wird das gerne mal darauf verkürzt, dass ein Heilbehandlungsanspruch nach dem OEG besteht, der immer über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen hinausgeht. Hier war es schon einige Male gut, dass Betroffene vor der Antragstellung Kontakt zur Beratung aufgenommen und dann überlegt haben, ob sie einen Antrag stellen möchten.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Sie haben sowohl Einblick in Fälle als auch in die Behörde: Welche Rolle spielt aus Ihrer Perspektive die Personalstärke in den Ämtern, wenn es um die Entscheidung der Anträge geht?
Eine schlechtere Ausstattung oder Engpässe beim Personal führen eher zu einer längeren Bearbeitungszeit der Anträge, die durch unterschiedliche Faktoren ohnehin schon recht lang ist. Bei Fällen, in denen die Gewalttat nicht durch eine Verurteilung nachgewiesen ist, kann die Arbeitsbelastung in den Ämtern eine Rolle dabei spielen, ob Ermittlungsakten intensiv danach durchgesehen werden, ob sich trotz Freispruchs des Täters irgendwo in den Akten ein Anhaltspunkt ergibt, mit dem die Gewalttat als nachgewiesen angesehen werden kann.

Wie unterscheiden sich die Beweismaßstäbe von Ämtern und Therapeuten?
Ich ernte manchmal Unverständnis, wenn ich in eine psychosomatische Klinik eingeladen bin, um das OEG vorzustellen, und dort erläutere, dass wir Erinnerungen, die im Rahmen einer Therapie ans Tageslicht kommen, nicht ungeprüft als nachgewiesen ansehen können, weil es sich um Suggestiverinnerungen handeln könnte. Oder dass wir eine Gewalttat nicht aufgrund einer bestimmten Diagnose als nachgewiesen ansehen dürfen. Ich denke, für Therapeuten ist es nicht ungewöhnlich, dass Erinnerungen komplett verdrängt waren und erst nach langer Zeit wieder auftreten können. Bestimmte Krankheitsbilder legen aus therapeutischer Sicht wohl nahe, dass ihnen eine bestimmte Gewalttat zugrunde liegt. Wenn es um die Entscheidung über OEG-Anträge geht, fehlen bei solchen Erinnerungen aber häufig weitere Ermittlungsansätze, wie Zeugen oder Belege, die die Erinnerungen stützen könnten, um nachzuweisen, dass jemand Opfer wurde.

Für Betroffene ist eine Ablehnung häufig gleichbedeutend mit der Feststellung, dass sie nicht glaubwürdig seien. Wie beurteilen Sie das?
Ich glaube, das würde uns allen nicht anders gehen. Wir versuchen in unserer Entscheidung zwar deutlich zu machen, dass wir keine Unwahrheit unterstellen, aber für viele ist das schlicht nicht die erste Zurückweisung. Gerade sexueller Missbrauch im familiären Bereich hat häufig das Merkmal, dass Betroffenen nicht geglaubt wird: während der Übergriffe von Elternteilen nicht, später beim Versuch der Aufarbeitung von Familien­mitgliedern nicht, vielleicht wurde sogar der Täter wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Wenn dann auch noch der OEG-Antrag abgelehnt wird, ist das ein weiterer Rückschlag, der sehr ernüchternd sein kann. Die Quintessenz ist für die Opfer dann häufig: Man glaubt mir nicht. Was aber möglich ist: Behörden­mitarbeiter können in Ablehnungsbescheide eine persön­liche Bemerkung einbauen, um zu verdeutlichen, dass es nur um den Begriff „Nachweis“ geht, und nicht die Person selbst nicht glaubwürdig ist.

Behördenschreiben enthalten aus Opfersicht oft unsensible Formulierungen. Ließe sich das ändern?
Bescheide einer Behörde können oftmals als bürgerunfreundlich empfunden werden, vor allem wenn Anträge abgelehnt werden. Bei Ablehnungsbescheiden etwa müssen die Rechtsvorschriften aufgeführt werden. Die Frage ist, inwiefern man jemandem, der eine andere Lebenswirklichkeit hat, überhaupt verständlich machen kann, dass es keinen passenden Nachweis für seine Schilderung gibt.

Wie die Redaktion recherchiert hat

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

Wie die Redaktion recherchiert hat

Warum und wie haben wir uns mit dem Opferentschädigungsgesetz auseinandergesetzt – und was ist uns dabei aufgefallen? Hier legen wir offen, wie wir bei der journalistischen Recherche zum #OEGreport vorgegangen sind.

Foto: Christian Ahlers/WR

Wenn es um die Interessen von Kriminalitätsopfern geht, ist der WEISSE RING nicht neutral. Seit seiner Gründung im Jahr 1976 setzt sich der Verein für Betroffene ein – deshalb haben unsere Juristen auch maßgeblich an der Novellierung des Opferentschädigungsrechts mitgearbeitet, die 2024 in Kraft tritt. Die Neuregelung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) trägt an vielen Stellen die Handschrift des WEISSEN RINGS. Zudem geht es in der täglichen Arbeit des WEISSEN RINGS immer wieder darum, Gewaltopfer über die Leistungen des OEG zu informieren und sie bei der Antragstellung zu unterstützen.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Als Redaktion von „Forum Opferhilfe“, dem Magazin des WEISSEN RINGS, legen wir deshalb hier offen, wie wir bei der journalistischen Recherche zum Thema OEG vorgegangen sind.

  1. Wir wollten wissen, wie oft Anträge nach dem OEG gestellt werden und wie über sie entschieden wird. Dazu haben wir die Zahlen herangezogen, die der WEISSE RING jedes Jahr bei den zuständigen Behörden aller 16 Bundesländer abfragt. Diese Zahlen des WEISSEN RINGS sind derzeit die einzige statistische Quelle zum OEG.
  2. Um eine Vergleichsgröße anbieten zu können, haben wir die Zahl der OEG-Anträge der Zahl der Gewaltdelikte gegenübergestellt, die in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts (PKS) aufgeführt sind. Die Zahlen sind nicht eins zu eins vergleichbar: Nicht aus allen in der PKS erfassten Gewalttaten ergibt sich ein Entschädigungsanspruch, zudem können die in der PKS registrierten Fälle mehrere Opfer betreffen. Andererseits können sich Entschädigungsansprüche auch aus Taten ergeben, die in anderen PKS-Kategorien erfasst worden sind oder erst gar nicht in der PKS auftauchen, zum Beispiel weil keine Anzeige erstattet wurde.
  3. Bei der Analyse der Daten sind uns große Unterschiede zwischen den Ländern aufgefallen. Wir haben deshalb Fragenkataloge an die zuständigen Behörden aller Bundesländer geschickt: mit allgemeinen Fragen (zum Beispiel zur Zahl der Sachbearbeiter) und mit spezifischen Fragen zu statistischen Auffälligkeiten (zum Beispiel zu Abweichungen vom Bundesdurchschnitt). Die Antworten zeigen: Die Länder setzen unterschiedliche Maßstäbe bei der Erhebung von Zahlen an.
  4. Es gibt keine aktuellen und langfristigen Untersuchungen, die die Probleme und Chancen des OEG in der Praxis beleuchten. Vor allem fehlen Erhebungen dazu, wie Opfer das OEG-Verfahren erleben, welche Erfahrungen sie im Kontakt mit Behörden, Gerichten und Gutachtern machen.
  5. Ebenso fehlen behördliche oder wissenschaftliche Erkenntnisse, warum vergleichsweise wenige Betroffene Anträge nach dem OEG stellen. Weil wir wissen wollten, was die Menschen in Deutschland über Opferentschädigung wissen und denken, hat unsere Redaktion im Frühjahr 2022 eine bundesweite repräsentative Umfrage beim Meinungsforschungsinstitut Forsa in Auftrag gegeben.
  6. Eine wesentliche Quelle für unsere Recherche waren Erfahrungsberichte. Wir haben mit zahlreichen Betroffenen gesprochen, mit Anwälten, Therapeutinnen, Wissenschaftlern, Behördenmitarbeitern und immer wieder mit ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfern des WEISSEN RINGS. Zum Teil kamen Kontakte zu Interviewpartnern auch über Mitarbeiter des WEISSEN RINGS zustande, einige Gesprächspartner haben beruflich Berührungen mit dem WEISSEN RING. So sind zum Beispiel die im Text zitierten Juristen Christine Obermeier und Bodo Kuhn als Referenten für die WEISSER RING Akademie tätig, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vereins ausbildet.
  7. Von den Gewaltopfern, mit denen wir gesprochen haben, haben einige vorübergehend oder durchgängig Kontakt zum WEISSEN RING gehabt und teilweise Hilfsleistungen in Anspruch genommen. Einige der Betroffenen betonen, gute Erfahrungen mit dem Verein gemacht zu haben, andere äußerten auch Kritik.
  8. Wir haben für die Recherche Fallakten und psychologische Gutachten gesichtet. Dabei ging es uns aber nicht darum, einzelne Verfahren zu bewerten und eventuelle Fehlentscheidungen der Behörden aufzudecken. Im Mittelpunkt standen deshalb zahlreiche Gespräche, teilweise stundenlang am Telefon, für die wir aber auch an die Nordseeküste gefahren sind, in den Harz, nach Franken oder an die Grenze zu Österreich.