“Mit dem Hund kann ich das aushalten“

Erstellt am: Sonntag, 25. August 2024 von Sabine

“Mit dem Hund kann ich das aushalten“

Oliver L. hat 2020 schwer verletzt den Messerangriff eines islamistischen Attentäters in der Dresdner Altstadt überlebt. Sein Partner Thomas L. starb. Im Interview mit unserer Redaktion spricht Oliver L. erstmals aus Opfersicht über die Tat, wie ihm ein Hund namens Bart bei der Verarbeitung half und worüber er sich in Politik und Medien ärgerte.

3st kommunikation GmbH

Ein Gründerzeithaus im Kölner Süden, vor den Fenstern leuchtet herbstroter Ahorn. Hinter den Fenstern steht Oliver L., ein drahtiger 57-Jähriger, in seiner Altbauküche und schenkt Kaffee ein, gekocht mit einer in die Jahre gekommenen Kaffeemaschine.

Herr L., das ist ein richtig guter Kaffee!

Ja, oder? Das war die Maschine meiner Lieblingstante, einer Ordensschwester. Sie lebt leider nicht mehr, sie starb auch 2020. Da an der Wand hängt ihr Foto.

L. zeigt auf das Schwarzweißporträt einer Frau in Schwesterntracht. An der Küchenwand hängen auch Fotos von Thomas, Olivers Partner. Am 4. Oktober 2020, Oliver und Thomas hatten Urlaub und besichtigten die Dresdner Altstadt, griff ein Islamist die beiden Männer von hinten an und stach mit dem Messer auf sie ein. Thomas starb, Oliver überlebte schwer verletzt.

Drei Jahre sind jetzt seit dem Angriff vergangen. Wie geht es Ihnen heute?

Mir geht es gut. Die schweren körperlichen Verletzungen sind verheilt. Neben der tiefen Stichwunde im Rücken hatte mir der Täter das rechte Bein verletzt, ab der Schnittwunde bis hinunter in den Fuß ist es seitdem taub. Aber das beeinträchtigt mich kaum. Ich kann laufen, ich habe keine Schmerzen. Der Tod von Thomas hat mich viel mehr beschäftigt. Ich hatte eine schlimme Zeit. Aber ich würde sagen, dass ich mittlerweile damit zurechtkomme.

Wer oder was hat Ihnen geholfen, zurechtzukommen?

In erster Linie mein Hund.

Vor den Küchenfenstern liegt ein Kissen, und auf dem Kissen liegt Bart. Bart kommt aus Spanien und ist ein Mischlingshund.

Im Krankenhaus wurde ich zuerst von der Polizei vernommen. Ich habe immer wieder gefragt: Wo ist ­Thomas? Was ist mit Thomas? Die hatten mir nur gesagt, Thomas liegt in einem anderen Krankenhaus, und sie hätten keine Infos. Und ich habe immer wieder gesagt, ­Dresden kann doch nicht so groß sein, dass die nicht wüssten, wie es Thomas geht! Die Befragung durch die Polizei ging schnell, ich konnte ja leider nicht viel sagen: Der Täter hat uns von hinten angegriffen, wir haben beide nichts mitbekommen. Nach der Vernehmung kamen dann bestimmt zehn Ärzte ins Zimmer, haben sich nebeneinander aufgereiht und mir mitgeteilt, dass ­Thomas nicht überlebt hat. Und ich wusste instinktiv: Ich schaffe das nur mit Hund.

Aber Sie hatten keinen Hund.

Nein, ich hatte noch nie einen Hund. Thomas hatte einen Hund, aber der war schon vor Jahren gestorben.

Woher kommt dann die Erkenntnis: Ich schaffe das nur mit Hund?

Ich hatte Angst vor der Einsamkeit. Nicht vor dem Alleinsein, ich habe viele Freunde. Alle meine Freunde haben getan, was sie konnten. Eine Freundin hat mir einfach nur Blumen vorbeigebracht. Ein Freund hat mich mit Essen versorgt. Eine andere Freundin hat so sehr mit mir mitgelitten und um Thomas getrauert – das hat mir am besten getan in den ersten Wochen danach. Meine besten Freunde sind nach Dresden ins Krankenhaus gekommen. Ich war nicht allein. Aber ich hatte Angst vor den Wochenenden, vor Ferien, vor dem Sommer. Ich wusste: All das, was ich vorher hatte, war weg und würde mir besonders in diesen Zeiten und in Zukunft fehlen. Und mit dem Hund kann ich das aushalten.

Ein gutes Freunde-Netzwerk funktioniert so: Ein Freund von Oliver L. kannte einen Freund, der wiederum eine Freundin kannte, die eine spanische Vermittlungsagentur kannte. Irgendwann stand L. mit anderen Menschen an einer Autobahnraststätte nach Frechen, ein Bus aus Spanien hielt, Katzen wurden herausgereicht, schließlich drückte jemand Oliver L. Bart in den Arm. Der Bus fuhr wieder ab. „Ich hätte gar keine Chance gehabt zu sagen, er gefällt mir nicht“, sagt Oliver L., „aber er gefiel mir sofort. Sogar sehr.“ Er lacht. „Das war Liebe auf den ersten Blick.“

Möchten Sie uns von Thomas erzählen? Was war er für ein Mensch?

Oliver L. schweigt lange, er kämpft mit den Tränen. Dann schüttelt er den Kopf.

Haben Sie verfolgt, wie Medien über den Angriff auf Sie und Thomas berichtet haben?

Ja, ich habe das verfolgt. Und ich habe mich von der ersten Sekunde an aufgeregt, weil es immer hieß, das sei ein Attentat auf Schwule gewesen. Das stimmte einfach nicht! Danach erfolgte unmittelbar eine Stellungnahme des Lesben- und Schwulenverbandes, der versuchte, die Opferrolle für sich zu vereinnahmen. Das hat mich maßlos gestört.

„Ich hätte einen gesellschaftlichen Aufschrei erwartet: Wie bitte, so ein gefährlicher Mann darf hier einfach frei rumlaufen?“

Oliver L.
Was hat Sie daran gestört?

Erstens beeinflusst die sexuelle Orientierung eines Opfers weder positiv noch negativ die Schwere eines Mordes. Zweitens hatte dieser Täter einfach Hass auf unsere westliche Gesellschaft, und er wollte an diesem Tag morden. Wir waren Zufallsopfer! Wir waren die Dritten, die er im Visier hatte. Andere hatten einfach Glück gehabt, weil sie vorher in einem Hauseingang verschwunden oder in ein Hotel gegangen waren. Drittens wurde die Berichterstattung durch das Statement des Lesben- und Schwulenverbandes so beeinflusst, dass sich Bundeskanzlerin Merkel die Hände reiben konnte.

Das mit dem Händereiben müssen Sie erklären.

Das war der zweite Anschlag durch einen als hoch­gradig gefährlich eingestuften Islamisten in Deutschland. Es ist skandalös, dass so ein Mann hier frei herumlaufen durfte. Aber dann hieß es plötzlich, das war ein Anschlag auf Schwule. Und alle Leute, die nicht schwul sind, haben uns sicherlich bedauert und gesagt: Schlimm – aber ich bin ja nicht schwul, mir kann das nicht passieren. Kann es doch!

Fühlten Sie sich und Thomas durch die Debatte um Ihre sexuelle Orientierung als Opfer nicht hinreichend gesehen?

Nein, wir wurden ja gesehen. Aber wir wurden als Opfer auf unsere sexuelle Orientierung reduziert. Und die Gefahr, die von diesem Täter ausging, die von islamistischen Schläfern im Land ausgeht, wurde dadurch nicht gesehen. Der Täter war jahrelang wegen seiner Gefährlichkeit in Haft, er war gerade erst fünf Tage frei – und dann begeht er einen Mord! Nach dem Anschlag von Anis Amri 2016 auf den Weihnachtsmarkt in Berlin haben sie Betonblöcke vor sämtliche Weihnachtsmärkte gestellt. Und was ist nach Dresden passiert? Gar nichts! Weil es ja zwei Schwule waren. Es betrifft uns aber alle! Es hätte jeden treffen können!

Welche Konsequenzen hätten Sie sich konkret gewünscht?

Ich erinnere mich an ein Interview der „Bild“-Zeitung mit einem Politiker, in dem er sinngemäß sagte, Politik und Behörden hätten alles richtig gemacht in Hinsicht auf den Täter und seine Überwachung. Und dann hat die „Bild“ eine richtig gute Frage gestellt: Wie hätte es denn ausgesehen, wenn Sie Fehler gemacht hätten? Ich meine, ein Mensch ist tot! Wie kann da alles richtig gewesen sein? Ich hätte mir alles in allem eine mutigere Berichterstattung gewünscht. Und dann hätte ich einen ge­­sellschaftlichen Aufschrei erwartet: Wie bitte, so ein gefährlicher Mann darf hier einfach frei herumlaufen? Aber die Schwulen-Debatte hat den Blick darauf komplett verstellt.

Heute, in diesem Gespräch mit dem WEISSEN RING, äußern Sie sich erstmals öffentlich. Mit einer Ausnahme: Sie haben sich in die Diskussion um ein Mahnmal in Dresden eingeschaltet und in der entsprechenden Arbeitsgruppe des Stadtrats ein Statement verlesen lassen, mit dem Sie die Mahnmal-Pläne ablehnen. Was haben Sie gegen ein Mahnmal?

Ich bin gegen den Plan, mit einem Mahnmal in Dresden an die „Opfer homophob und transphob motivierter Gewalt“ zu erinnern, weil das an der Sache vorbeigeht. Ich bin dafür, dass es ein Mahnmal gegen islamistischen Terror gibt. Aber das traut sich anscheinend niemand. Außerdem gibt es leider genug Menschen, die zum ­Beispiel jüdische Grabmäler oder Gedenkstätten schänden. Ich glaube, wenn so ein – wie ich finde – falsches Mahnmal in Dresden stünde, dann könnte das auch oft beschmiert oder verunstaltet werden. Und wenn ich dann gleichzeitig daran denken muss, dass Thomas an genau dieser Stelle gestorben ist, fände ich das un­­erträglich.

Sie sagten, dass die Tat kaum körperliche Folgen für Sie hatte. Hat die Tat Auswirkungen auf Ihr Alltagsleben? Zum Beispiel auf Ihr Verhalten in der Öffentlichkeit?

Nein. Ich gehe überall hin, ich schaue mich nicht ständig um. Ich bewege und verhalte mich ganz normal in der Öffentlichkeit. Mit einer Ausnahme: Ich fahre nie wieder nach Dresden. Dresden ist für mich die Stadt des Horrors.

Und doch sollten Sie gezwungen werden, bereits wenige Monate nach der Tat wieder nach Dresden zu fahren: Dort fand der Prozess gegen den Täter statt, und Sie sollten als Zeuge gehört werden. Wie haben Sie das empfunden?

Mir hat sich der Magen umgedreht, mir war schlecht. Der Sozialarbeiterin, die mich begleiten sollte, habe ich immer wieder gesagt: Ich kann da nicht hinfahren, ich kann nicht in Dresden übernachten! Es gibt vielleicht Betroffene, die haben das Bedürfnis, den Mörder zu sehen oder ihm etwas zu sagen. Ich habe das nicht, ich wollte nichts davon, ich wollte am liebsten nichts mit dem Prozess zu tun haben. Dann fand die Verhandlung auch noch im Hochsicherheitssaal in der Justizvollzugsanstalt statt, weil der Täter so gefährlich ist. Ich hatte Angst, dass der mich sieht. Ich hatte Angst, dass er vielleicht ein Netzwerk von islamistischen Attentätern hat. Ich habe gesagt: Wie kann es sein im deutschen Recht, dass ich in meiner Situation vor Ort aussagen muss? Aber der Angeklagte hat nun mal das Recht, alle Zeugen zu sehen und zu hören.

„Ich sorge dafür, dass Thomas niemals vergessen wird. Auf meine Art.“

Oliver L.
Sie haben dann aber doch nicht vor Ort ausgesagt, sondern wurden live zugeschaltet in die Verhandlung.

Es hieß dann, ich könne vielleicht audiovisuell aus­sagen. Das ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Ich hätte dann nicht mit dem Täter in einen Raum sein ­müssen, aber ich sollte trotzdem nach Dresden kommen. Am Ende hatte ich das Glück, dass ich in Bonn aussagen konnte. Im Landgericht, in einem separaten Raum mit Bildschirm. Die Sozialarbeiterin, die mich unterstützt hat, eine empathische Frau, saß während der Aussage neben mir. Bevor die Verhandlung anfing, hat sich der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats mit mir unterhalten. Er hat mir die Angst genommen, weil er sagte, ich könne nichts Falsches sagen. Ich habe dann während der Aussage auch nur ihn und die Beisitzer gesehen. Mein Anwalt hat hinterher zu mir gesagt, er habe noch nie einen so empathischen Richter erlebt.

Sie loben den Richter, die Sozialarbeiterin – haben Sie weitere Hilfe von staatlicher Seite erlebt?

Ja, es gab Hilfe. Moment.

Oliver L. steht auf und geht in einen Nebenraum, zurück kommt er mit einer Pappschachtel voller Briefe. Er zieht einzelne Briefe aus der Schachtel: zuerst ein Schreiben einer Journalistin, das er nie beantwortet hat, dann das erste Kondolenzschreiben.

Hier, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen hat mir geschrieben, Herr Kretschmer. Der Minister­präsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Laschet. Der Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen, Herr Kuper. Das war das persönlichste Schreiben, fand ich. Er hat mir geschrieben, wenn es Ihre Gesundheit und die Corona-bedingte Lage zulässt, würde ich Sie gern einmal persönlich kennenlernen, ich solle ihm doch ein Signal geben.

Haben Sie sein Gesprächsangebot wahrgenommen?

Oliver L. schüttelt den Kopf. Er nimmt einen weiteren Brief aus der Schachtel.

Der Bundespräsident hat mir geschrieben, Herr Steinmeier. Die Reaktion aus der Politik war da, und ich habe das als sehr positiv wahrgenommen.

Illustration: 3st kommunikation GmbH
Haben Sie auch Post von der Bundeskanzlerin bekommen, von Frau Merkel?

Nein. Und das fand ich unverschämt, ehrlich gesagt.

Der Staat unterstützt Verbrechensopfer bei Bedarf auch materiell, zum Beispiel mit Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. War Ihnen das vor der Tat bekannt?

Ich hätte nichts gewusst davon, wenn mir das keiner gesagt hätte. Warum sollst du dich auch damit beschäftigen, wenn du nicht betroffen bist? Ich hatte Hilfen, mein erster Kontakt damals war der WEISSE RING. Mein Anwalt hat mir auch sehr geholfen. Ich habe das gemacht, was mir von anderen empfohlen wurde. Ich selbst war komplett überfordert, ich fand alles so verwirrend. Ich habe die Unterschiede zwischen den verschiedenen Behörden nicht verstanden, ich wusste nicht, wo ich meine Anträge überhaupt stellen sollte. Von der Unfallkasse Sachsen habe ich dann sehr schnell Geld bekommen. Den Antrag beim LVR (Anm. der Redaktion: Landschaftsverband Rheinland, zuständig für Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz) hätte ich mir sparen können, da bin ich gegen eine Wand gelaufen. Ganz im Gegensatz zum Bundesamt für Justiz, von dem ich unbürokratisch sofort Hilfe bekommen habe und sehr gut betreut wurde. Der Opferschutzbeauftragte Pascal Kober hat sich sogar persönlich mit mir in Verbindung gesetzt.

Betroffene klagen immer wieder über belastende Verfahren und unsensible Behördenkommunikation. Wie haben Sie das empfunden?

Beim LVR als Katastrophe. Und ich bin da wirklich nicht empfindlich. Allein diese Kommunikationswege: Der LVR fragte mich etwas per Brief, ich antworte sofort per E-Mail, etliche Wochen später kommt dann wieder ein Brief, auf Umweltschutzpapier und vermutlich per Postkutsche zugestellt. Irgendwann bekam ich einen fröhlichen Anruf von der Sachbearbeiterin: „Herr L., Sie bekommen in Kürze Post von uns.“ Dann kam die Post: Alles wurde abgelehnt. Es geht mir nicht darum, dass ich kein Geld bekommen habe. Ich habe keine bleibenden Schäden davongetragen, da finde ich es gerechtfertigt, keine Rente zu bekommen. Aber beim LVR ­wissen sie nicht, wie man mit Opfern vernünftig kommuniziert. Mir tun die Menschen leid, die es psychisch und finanziell schwerer als ich haben.

Würden Sie Betroffenen davon abraten, einen Antrag auf Opferentschädigung zu stellen und sich dem damit verbundenen Verfahren auszusetzen?

Nein, auf keinen Fall. Wenn sie bleibende Schäden davongetragen haben, sind sie womöglich auf die Entschädigung angewiesen. Aber sie sollten sich Unterstützung suchen, allein kommen sie da nicht durch. Nein, gar nicht. Das ist meine Geschichte, das muss nicht immer wieder in die Öffentlichkeit. Ich sorge dafür, dass Thomas niemals vergessen wird. Auf meine Art.

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

Erstellt am: Freitag, 13. Oktober 2023 von Sabine

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

In der Theorie ist das Entschädigungsrecht in Deutschland ein gutes Gesetz, in der Praxis leiden viele Antragsstellende jedoch unter den zermürbenden Verfahren. Gudrun Stifter will das ändern. Dafür pendelt die Münchenerin durch das ganze Land – und zwischen Euphorie und Frustration.

Foto: Christian J. Ahlers

Gudrun Stifter hat selbst erfahren müssen, wie der Staat Gewaltopfer allein lässt. Die Münchenerin nimmt das nicht hin – sie kämpft in ganz Deutsch­land für eine bessere Umsetzung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG). Um das zu erreichen, hat sie gemeinsam mit anderen in sämtlichen Bundesländern Petitionen eingereicht. Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat die junge Frau mehr als ein halbes Jahr begleitet und dabei erlebt, wie sie sich auf der politischen Bühne immer weiter professionalisierte und erste Erfolge feierte, aber auch immer wieder Rückschläge hinnehmen musste.

Gudrun Stifter: „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht“

OEG-Petitionen in Deutschland

Es ist längst dunkel, vor dem Haus der Bremischen ­Bürgerschaft herrscht an diesem Freitagabend eisige Kälte, aber Gudrun Stifter scheint das alles gar nicht wahrzunehmen. Sie lächelt nicht, sie lacht, die Anspannung des Tages ist ihr sichtlich von den Schultern ­gefallen. 60 Minuten dauerte ihr Termin vor dem hiesigen Petitionsausschuss, viermal so lange wie ­eigentlich geplant nahm sich die Runde Zeit für das Anliegen der jungen Frau aus München: das Opfer­entschädigungsgesetz, kurz OEG, gerechter zu machen.

Voller Hoffnung war sie nach Bremen gefahren, sieben Seiten hatte sie in der Nacht noch geschrieben und kaum ein paar Stunden geschlafen. Gudrun Stifter wollte gut vorbereitet sein, es war schließlich das erste Mal, dass sie vor Politikern und Politikerinnen im Ausschuss sprechen konnte. Um diese dafür zu gewinnen, die Umsetzung eines Bundesgesetzes in dem kleinen hanseatischen Bundesland zu verbessern.

Gudrun Stifter ist keine Politikerin, keine Juristin, keine Lobbyistin. Sie ist ein einzelnes Gewaltopfer und sie ist eine Aktivistin, die sich nicht nur in Bremen eigen­initiativ mit ihrer „Petition L20-567“ für die Rechte von Betroffenen einsetzt – sondern mit Petitionen in ganz Deutschland. „Wenn ich es nicht mache, macht es ­keiner“, sagt sie.

Es gibt Menschen, deren Leben wie am Reißbrett gezeichnet verläuft: Karriere, Kinder, ein eigenes Haus, alle Träume erfüllend.

Gudrun Stifters Leben gehört nicht dazu.

Ihr Leben ist über Jahre hinweg immer wieder geprägt von Gewalt, als Zeugin, als Opfer. Traumata statt Träume. So wie an diesem Sommerabend im August 2021, als sie zufällig einem flüchtigen Bekannten begegnet, der die damals 27-Jährige mehrfach vergewaltigt. Heimlich gelingt es Stifter, WhatsApp-Nachrichten an ihre Mitbewohner zu schreiben; die müssten doch noch wach sein? Niemand reagiert. Irgendwann kann sie selbst den Notruf wählen, die Polizei befreit sie aus der Gewalt des Täters. Als dieser Monate später zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt wird, hat Gudrun Stifter fast alles verloren: ihre Ausbildung, ihr Zuhause, Freunde. Die Mitbewohner schmissen sie aus der WG, „weil die nichts mit der Kriminalpolizei zu tun haben wollten“, sagt sie. Zwischenzeitlich ist sie obdachlos, lässt sich aus Verzweiflung selbst in eine Klinik einweisen, kommt später bei Bekannten und einem Freund unter.

Obendrein erhält Stifter eine Rechnung von ihrer ­Krankenkasse über mehrere Hundert Euro: Sie müsse auch als Opfer die Laborkosten für alle Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten selbst tragen. Ebenso für die „Pille danach“, um eine durch die Tat möglicherweise verursachte Schwangerschaft zu verhindern.

Sie ertrage einiges, sagt Stifter, „aber Ungerechtigkeit nicht“.

Sie recherchiert nächtelang, schreibt Briefe an die Kranken­kasse und reicht eine Petition im bayerischen Landtag ein: Der Staat solle diese Kosten übernehmen und nicht auch noch den Opfern aufbürden. Ihre Hartnäckigkeit zahlt sich aus, mittlerweile beschäftigt sich der Bundestag mit dem Antrag, Zeitungen und das Fernsehen berichten über ihren Fall. Schließlich zahlt die Krankenkasse, teilt aber mit, dass es sich um eine ­„Einzel­fallentscheidung“ handele.

Gudrun Stifter hat nach der Tat in ihrem Bundesland einen Antrag auf Opferentschädigung gestellt und merkt schnell: „Da ist ein dickes Fell nötig.“ Als die Redaktion des WEISSEN RINGS im Juni 2022 den „OEG-Report“ veröffentlicht, ist das für sie eine Initialzündung „zum richtigen Zeitpunkt“, wie sie später sagt.

Der Report belegt: Wer in Deutschland von einer Gewalttat betroffen ist, muss oft jahrelang um die Anerkennung seines Leids kämpfen. Die Recherche zeigt auch, dass der Staat bei der Umsetzung des eigentlich gut gemachten Opferentschädigungsgesetzes oftmals scheitert. Mehr noch: dass die Betroffenen die häufig jahrelangen Verfahren als retraumatisierend und zermürbend erleben. Nicht wenige geben irgendwann auf, zu belastend ist die Auseinandersetzung mit Behörden.

Stifter findet ihre Erfahrungen im „OEG-Report“ wieder, erfährt, dass sie nicht allein ist, dass es so viele andere gibt, denen es ähnlich geht. Sie will das, diese „himmelschreiende Ungerechtigkeit“, nicht hinnehmen. Sie will zeigen, dass hinter jeder Zahl, hinter jedem abgelehnten OEG-Antrag ein Schicksal steht. Am besten könnte das gelingen mit Petitionen in allen Bundesländern, denn die sind verantwortlich für die Umsetzung des OEG in der Praxis.

Lange Nächte am Schreibtisch

Was treibt sie an? Sie habe ein empathisches Herz, ­antwortet die junge Frau, „ich bin tatsächlich ein sehr altruistischer Mensch“.

,,Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht."

Gudrun Stifter

Nächtelang quält sie, die sich selbst als Nachteule bezeichnet, sich also am Schreibtisch in ihrer Wohnung, in der sie mittlerweile lebt, durch Gesetzestexte, studiert statistische Auswertungen, tippt erste Bausteine für Petitionen in ihren Laptop, erstellt die Webseite petitionen-oeg.de und richtet Social-Media-Kanäle ein. Sie vernetzt sich virtuell mit anderen Betroffenen, tauscht sich mit Experten aus, darunter Jörg Michael Fegert, einem Psychotherapeuten und Hochschulprofessor, oder mit Münchener Landespolitikerinnen.

Sie erinnert sich, wie schockiert Vertreterinnen und Vertreter von FDP und Grünen gewesen seien, als sie ihnen das erste Mal über die Probleme bei der Umsetzung des OEG berichtete: „Die Missstände waren ihnen nicht bekannt.“ Stifter tat es gut, wahrgenommen zu werden, „dass jemand zugehört hat, dass meine Aussagen und die Fakten ernst genommen wurden. Dass mir geglaubt und ich unterstützt wurde. Das gab mir Auftrieb, weiter­zumachen“.

Gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern reicht Stifter schließlich Petitionen in allen deutschen Landtagen ein. Der Tag ist sorgfältig ausgewählt: Die Aktion startet am 2. Oktober, dem internationalen Tag der Gewaltlosigkeit. Und Mahatma Gandhis Geburtstag, wie Gudrun Stifter auf ihrer Homepage schreibt.

Fünf Ordner voller Unterlagen

Die Reaktionen in Form von Einladungen zu Petitions- und Sozialausschüssen in mehreren Bundesländern ­lassen nicht lange auf sich warten. Stifter versucht, jeden der Termine wahrzunehmen, reist von frühmorgens bis spät in die Nacht quer durch die Republik.

Wie groß das alles werden würde, das habe sie damals „nie geahnt“, wird sie rund ein Jahr später sagen. Und auch nicht, wie anstrengend das werden würde.

Für die junge Frau bricht nach dem Einreichen der Petitionen eine Zeit an, in der sie in wenigen Monaten fünf Ordner mit Petitionsvorlagen, Anträgen, Behörden-Antworten, Rechtfertigungen und Einladungen füllen wird. In der sie eine Homepage ständig aktualisieren wird, einen Instagram-Kanal befüllen und auf Community-Fragen in einer Facebook-Gruppe antworten wird. In der sie Medien Interviews geben, Mails an Wissenschaftler schreiben und Telefonate mit Politikerinnen führen wird.

Eine Zeit, in der Gudrun Stifter von einer Betroffenen zur Projektmanagerin, Pressesprecherin, Ansprechpartnerin und Fachreferentin in Personalunion werden wird. Und dabei zwischen Euphorie und Resignation pendeln wird.

Als der Vorsitzende des Petitionsausschusses Claas ­Rohmeyer (CDU) erwähnt, dass Gudrun Stifter extra von München nach Bremen gereist ist, wird anerkennend auf die Tische geklopft. Es ist ein Freitagnachmittag, die Politikerinnen und Politiker sitzen hier ehrenamtlich, haben gerade eine lange Anhörung hinter sich, Tablets und Smartphones werden bedient, Unterlagen durchgeblättert, gelangweilt, ermüdet wirkt das zum Teil. Stifter, aufgeregt, aber sortiert, legt los: „Ich bin selbst Opfer von zwei Verbrechen geworden.“ Da halten die meisten inne, horchen auf, hören von da an aufmerksamer zu.

25 Minuten, so lange braucht die 29-Jährige, so lange darf sie auch sprechen. Danach nimmt der Leiter des Ver­sorgungsamts Stellung. Ein Wahnsinnsthema sei das, „das sind dicke Bretter, die Sie da bohren“. Er verstehe ihre Ansätze und teile die Kritik des WEISSEN RINGS, auf die sie Bezug nimmt. Es stimme: Das OEG sei bundes­weit wenig bekannt, das sei die Ursache für die niedrige Antragsquote, „das kann nicht sein“. Dann zählt er auf, was auf Bundesebene gerade passiere. „Die Verfahren sind belastend für die Opfer, auch wenn wir versuchen, sie sensibel zu gestalten.“ Der Gesetzgeber sehe vor, dass die Opfer eine Nachweispflicht haben, das sei die Ursache dafür, dass es wenige Anerkennungen und viele Rückzieher gebe. Es folgen Fragen der Ausschuss­mitglieder. Dann kündigt der Vorsitzende an, eine Stellung­nahme des Landesopferschutzbeauftragten einzuholen.

Nach einer Stunde steht Gudrun Stifter also draußen in der Kälte. Der Ausschussvorsitzende kommt dazu, sagt, sie habe ihnen das Feld „sehr eindrucksvoll nahe­gebracht“. Zwar sei im Mai Wahl und es werde dann eine neue Zusammensetzung im Ausschuss geben. Aber das Thema werde der parlamentarischen Arbeit erhalten bleiben, versichert er und unterstreicht: „Das ist eine große politische Herausforderung.“

„Ich muss immer noch tief durchatmen.“ Stifter hatte mit Ablehnung gerechnet, jetzt ist sie „überwältigt“. Davon, dass sie so lange das Wort hatte. Von der Zugewandtheit der Ausschussangehörigen. Vom verständnisvollen ­Auftreten des Amtsleiters. Von der Kontakt­aufnahme von Mustafa Öztürk (Grüne), der ihr Anliegen auf ­Bundesebene heben will. Die Reise in den Norden hat sich ­gelohnt.

Während sich eine pechschwarze Wolkenwand über das prachtvolle Maximilianeum schiebt, den altehr­würdigen Sitz des Bayerischen Landtags, pfeift der Wind durch die Gänge im Südgebäude. In Saal S401, in dem der Sozialausschuss tagt, hat Gudrun Stifter auf der ­vordersten Bank im Zuschauerbereich Platz genommen. Anders als zwei Monate zuvor in Bremen, ist sie ­diesmal nicht allein gekommen. Neben ihr sitzen

… Anne C., die vergeblich Gerechtigkeit für ihren Sohn David beim Freistaat eingefordert hatte. David war ein Gewaltopfer, das nach langem Kampf um Anerkennung nach dem OEG „nicht mehr konnte“, wie seine Mutter sagt, und sich das Leben nahm.

… Monica Gomes, die nach eigenen Worten ständige Retraumatisierungen erleidet durch die Schriftwechsel mit dem Amt, das ihren OEG-Antrag prüft. Das Öffnen des Briefkastens ist für sie längst unerträglich geworden.

… Wolfgang, Monicas Lebensgefährte, der vor Sitzungsbeginn noch DIN A4 große Zettel verteilt, mit der Überschrift: „Das OEG-Verfahren: ein deutscher Skandal.“

… Frau A., die jahrelang mit den Behörden um die Anerkennung ihres OEG-Antrags kämpfen musste.

Verhandelt wird an diesem Donnerstagmorgen der Antrag „Drucksache 18/26435: Wirksamkeit für das Opferentschädigungsgesetz (OEG) erhöhen: Betrof­fenen endlich gerecht werden“. Auf drei Seiten haben Landtagsabgeordnete von FDP, Grünen und SPD – im Bund stellen die Parteien die Regierung, in Bayern die ­Opposition – die Forderungen von Gudrun Stifter ­aufgegriffen, haben bei der Ausarbeitung des Antrags eng mit ihr zusammengearbeitet. Für Stifter ist das eine zuvor „unvorstellbare, große Ehre“.

 

Nur: Wirklich gerecht wird die Diskussion dem Anliegen der Betroffenen nicht, ist sich das Quintett aus der ­ersten Reihe später einig. Über die, um die es in dieser Geschichte geht, sei zwar gesprochen worden, aber nicht mit ihnen. „Das hat mich, ehrlich gesagt, sehr traurig gemacht“, sagt Monica Gomes. Sie habe sich wie Luft gefühlt, „obwohl die Abgeordneten einen natürlich gesehen haben“.

FDP-Politikerin Julika Sandt (Foto: Ahlers): „Die Petitionen gehen unter die Haut.“

Auch Gudrun Stifter macht kein Geheimnis daraus, wie gern sie beim verbalen Schlagabtausch mit CSU, Freien Wählern und AfD mitgemischt und ihr Anliegen persönlich präsentiert hätte. So wie in Bremen. Weil sie weiß, dass Politikerinnen und Politiker Opfern eher zuhören als der Opposition. Dabei hatten die Abgeordneten Julika Sandt (FDP) und Kerstin Celina (Grüne) alle Punkte vorgetragen, die Stifter selbst in ihren Petitionen nennt.

Die Politikerinnen erzählen die Geschichten von Betroffenen aus ganz Deutschland. Menschen wie Alexei Kreis, der nach einer Schlägerei vor einer Diskothek zum Pflege­fall wurde und dessen Familie Jahre auf Anerkennung des OEG-Antrags warten musste, oder  Matthias ­Corssen, der von einem Krankenpfleger fast totgespritzt wurde und dem es mit der Bürokratie anschließend ähnlich erging. Es werden Statistiken und Recherchen des WEISSEN RINGS zitiert, die die sehr unterschiedliche Praxis bei der Umsetzung des OEG in den Bundes­ländern offenbaren. Die Abgeordneten untermauern damit ihre Forderungen, die auch in Stifters Petitionen stehen:

  1. Schaffung einer externen und unabhängigen Monitoringstelle für die Umsetzung des OEG und des Sozialgesetzbuches (SGB) XIV.
  2. Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle für Gewaltopfer und Angehörige von Opfern von Mord- sowie Tötungsdelikten.
  3. Start einer Informations- und Aufklärungs­kampagne über die Ansprüche und Leistungen nach dem OEG und des SGB XIV.

CSU, Freie Wähler und AfD beeindrucken die Schilderungen und Zahlen nicht. Sie argumentieren trocken dagegen: Im SGB XIV, das 2024 das OEG ablösen wird, sei eine bundesweite Evaluierung ja schon vorgesehen. Außerdem gebe es bereits ein ausreichendes, umfassendes Hilfsnetzwerk für Betroffene und der bisherige Rechtsweg sei ausreichend.

„Wir hätten dies in wenigen Sätzen widerlegen können“, sagt Gudrun Stifter. Die Diskussion sei für sie „nahezu unerträglich“ gewesen. Nicht nur, weil einige Politi­kerinnen und Politiker „abgelenkt“ gewirkt hätten. Die „negativen Erfahrungen, die Schwierigkeiten mit dem Rechtssystem, die erlittenen Schäden und so weiter“ seien ihnen, den Betroffenen, abgesprochen worden. „Sie haben sich nicht mit den Petitionen und Hintergründen befasst, oder damit, dass das Gesetz in der Umsetzung scheitert. Sie verstehen es nicht. Und sie befassen sich damit nicht. Das macht mich wütend“, sagt Stifter. Kurz lächelt sie verlegen.

Grünen-Politikerin Kerstin Celina (Foto: Ahlers): „CSU, Freie Wähler und AfD haben den Kern des Antrags nicht verstanden.“

Im nächsten Moment schaut sie wieder ernst: Eine Vertreterin des Staatsministeriums hatte als weiteres ­Gegenargument angeführt, eine Beschwerdestelle sei ja auch belastend für Gewaltopfer. „Das finde ich unglaublich: Wenn wir das nicht wollen würden, würden wir es ja nicht fordern.“ Für Stifter ist das nichts anderes als „Gaslighting“, eine Form gezielter Manipulation, mit der eine andere Person derart verunsichert wird, dass sie an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln beginnt.

Dass der Antrag von FDP, SPD und Grünen ebenso wie die unter Ausschluss der Öffentlichkeit besprochenen Einzelpetitionen schließlich abgelehnt werden, überrascht die Petenten nicht. Enttäuscht sind sie trotzdem.

„Guten Tag, Gudrun Stifter mein Name“, stellt sich die Frau mit dem blonden Pferdeschwanz vor, lächelt, ist aber merklich aufgeregt. „Ich bin die Initiatorin einer deutschlandweiten Petitionsaktion von Gewaltopfern.“

Wenn Politikerinnen und Politiker öffentlich auftreten, etwa bei Bürgerdialogen oder Fachveranstaltungen, können sie nicht oder zumindest nur schwer ausweichen. Das erfährt auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) an diesem ersten Samstag im April, an dem er sich bei einer 24-Stunden-Diskussion des Vereins „Fortschritt, Vision, Diskurs“ Fragen zum Thema Inklusion stellen lässt.

Stifter weiß, dass der Landeschef erst ein paar Monate zuvor bei einer Podiumsdiskussion des WEISSEN RINGS vor rund 300 Menschen versprochen hatte, das Thema OEG in Sachsen zu evaluieren und bundesweit auf die Tagesordnung der Ministerpräsidentenkonferenz im Jahr 2024 zu setzen. Sie will, dass Kretschmer dieses Versprechen nicht vergisst und auch wirklich Wort hält. Dafür ist sie von München in die sächsische Landeshauptstadt gereist – für eine Minute und 44 Sekunden Redezeit.

„Was haben Sie explizit geplant?“

Sie befasse sich mit „Inklusion in einem etwas weiteren Bereich“, sagt sie augenzwinkernd, eben dem OEG, und trägt ihre Forderungen vor. Unterstützung erhalte sie unter anderem vom Dachverband der Opferschutz­organisationen in Europa, Victim Support Europe (VSE). Der sei ebenfalls der Ansicht, dass auch mit der Reform des Gesetzes im Jahr 2024 die „qualitative und quantitative Evaluation nicht ausreichen werde“.

Die 29-Jährige streicht sich durch das Haar, sie wirkt nervös, löst immer wieder die Hände voneinander, um sie kurz darauf wieder ineinander zu legen. „Was haben Sie explizit geplant, um die Evaluation zu ermöglichen und gegebenenfalls auch die Partizipation von Betroffe­nen und Experten wie Anwälten, Ärzten …?“ Kretschmer lässt Stifter nicht ausreden, unterbricht sie mit ­seiner wenig konkreten Antwort. Er habe erst letztens wieder mit dem sächsischen Landesvorsitzenden des WEISSEN RINGS über das OEG gesprochen. Er habe ja versprochen, dass Sachsen sich dort anders aufstellen werde, Beweislastumkehr und so, man wolle da schon etwas erreichen, sagt der Politiker. Und: „Ich teilte die Interessen und die Haltung, die Sie vermitteln, und glaube, dass man da vieles besser machen kann.“

„Vielen Dank“, sagt Gudrun Stifter und strahlt.

Gudrun Stifter weiß, was jetzt kommt.

Es ist kurz vor Mitternacht und der Bayerische Landtag nur noch gut zur Hälfte gefüllt, als die Debatte um den 13. Tagesordnungspunkt beginnt und Stifter, die auf den Rängen oberhalb des Plenums sitzt, ein „Déjà-vu“ erlebt: Dieselben Rednerinnen und Redner tauschen dieselben Argumente zur Wirksamkeit des Opferentschädigungsgesetzes aus, wie schon Monate zuvor ein paar Meter weiter im Saal S401 im Südgebäude. Die FDP konnte den Antrag trotz  Ablehnung im Sozialausschuss in den Landtag einbringen.

Aber auch diese Abstimmung endet so wie die im März: Die Mehrheit ist dagegen.

Noch im Plenum nimmt die Grünen-Politikerin Kerstin Celina ein Selfie auf und postet es auf Instagram, schreibt dazu trotzig: „Dann ändern wir es halt im Bund. Danke Ampel, schon im Voraus.“

Die Uhr zeigt 5 nach 12 an. „Wie passend”, kommentiert Stifter. Was sie meint: Aus Sicht der Betroffenen ist es allerhöchste Zeit, dass sich etwas ändert.

„Noch mehr als eine Stunde Zeit“, stellt Stifter an einem Mittwoch um kurz vor 10 Uhr fest, als sie auf den grauen Magdeburger Bahnhofsvorplatz tritt. „So viel Zeit habe ich sonst nie“, sagt sie und lacht. Sie sieht erschöpft aus. Seit kurz nach vier Uhr in der Früh ist die junge Frau schon unterwegs, viel geschlafen hatte sie schon die Nacht zuvor nicht. Anders als vor einem halben Jahr in Bremen, muss sie den heutigen Termin in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts aber nicht mehr vorbereiten, sie weiß genau, was sie sagen wird.

Um 11:20 Uhr soll sie sich beim Landtag anmelden, der Weg führt durch die Altstadt, vorbei am Faunbrunnen, hin zur exzentrischen „Green Citadel“ von Friedensreich Hundertwasser. Ein paar Schritte weiter liegt das weniger spektakuläre, aber doch eindrucksvolle Landtagsgebäude, das früher einmal als Sitz einer Ingenieurs­schule fungierte.

Vorbei, bevor es begonnen hat?

Drinnen tauscht Stifter ihren Personalausweis gegen einen gelben Tagesausweis und postet das obligatorische Selfie vor den Landesflaggen auf Instagram, so wie sie es in jeder Landeshauptstadt macht, um ihre Follower in den Sozialen Medien mitzunehmen.

„Wir hatten hier schon ähnliche Anträge“, sagt die Vorsitzende des Petitionsausschusses ein paar Minuten später. Sie meint die OEG-Petitionen von Stifters Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die wenige Monate zuvor am selben Ort besprochen und zur juristischen Prüfung weitergegeben wurden. Da die Einordnung des Rechtsausschusses noch aussteht, schlägt eine Angehörige des Ausschusses vor, die heutige Besprechung zu verschieben.

Gudrun Stifter sitzt schräg rechts hinter der Frau, hat die Beine übereinandergeschlagen und presst die Hände ineinander. Ist es schon vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat? Und dafür der ganze Aufwand, das frühe Aufstehen, die lange und teure Fahrt, wo ihre finanzielle Situation eh schon schwierig ist? „Nein“, entscheidet die Vorsitzende und bittet Stifter in das Plenum.

Politiker hören ihr zu

Also legt die Aktivistin los. Sie referiert über die Probleme in OEG-Verfahren, zitiert routiniert Gesetze, belegt ihre Ausführungen aus dem Gedächtnis mit Zahlen und Studien. Einen Spickzettel wie in Bremen benötigt sie nicht mehr. Aus der einzelnen Betroffenen Gudrun Stifter aus Süddeutschland ohne Erfahrung auf dem politischen Parkett, die im Januar sagte, es koste sie Überwindung, in der Öffentlichkeit zu stehen, ist in den vergangenen Monaten eine erfahrene Kämpferin für die Belange von Gewaltopfern geworden.

Dass hier ein Opfer Opferinteressen vertreten kann, wirkt: Anders als im März in München hören die Ausschussangehörigen aufmerksam zu, stellen Nachfragen.

Auch wenn die Abstimmung über den Antrag dann doch verschoben wird, bis die Empfehlung des Rechtsausschusses vorliegt, ist Stifter zufrieden. Gerade, als sie den Stuhl nach hinten rückt, um aufzustehen, dreht sich die Vorsitzende zu ihr und fragt neugierig. „Sie sind ja auch in anderen Bundesländern aktiv. Wie war da denn so die Resonanz?“

Gudrun Stifter schmunzelt und antwortet: „Sehr unterschiedlich!“

Manchmal sitze sie nachts vor dem Laptop und könne einfach nichts mehr schreiben, sagt Gudrun Stifter. Die letzten Monate seien sehr anstrengend gewesen. Und dann sind da noch die Ablehnungen ihrer Petitionen, in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Hamburg und Bayern. In anderen Ländern wie Bremen oder Sachsen-Anhalt steht die Entscheidung noch aus. Frustrierend sei das, sagt die Münchenerin.

Neulich hat Stifter bei Facebook eine Nachricht erhalten: Ihr Engagement hat die Angehörigen eines Mordopfers ermutigt, ihre Probleme mit dem OEG öffentlich zu machen. Stifter zieht Kraft aus Nachrichten wie diesen.

Die benötigt sie auch. Hier unterstützt sie die Uniklinik Ulm bei der Auswertung einer wissenschaftlichen Umfrage zu Gewaltopfern, dort plant sie den Schritt in Richtung Bundesebene. Und, und, und. Es bleibt noch viel zu tun für Gudrun Stifter.

Transparenzhinweis:
Die Kosten für Gudrun Stifters Reisen nach Bremen und zur VSE-Konferenz nach Berlin hat der WEISSE RING übernommen, Der Verein hat ihr auch Unterstützung für ihr Vorhaben auf Bundesebene zugesagt.

„Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will“

Erstellt am: Donnerstag, 1. Dezember 2022 von Karsten

„Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will“

Als im Mai 2022 Betroffene in Berlin gegen die Zumutungen des Opferentschädigungsgesetzes demonstrierten, gedachten sie öffentlich David – einem verstorbenen Gewaltopfer, das nach langem Kampf um Anerkennung „nicht mehr konnte“. Nach Davids Tod setzt seine Mutter den Kampf fort.

Foto: Matthias Balk/dpa

Wie er war, ihr David?

Seine Mutter lächelt kurz, dann beginnt sie zu erzählen.

„Er war sehr anständig“, sagt sie.

„Wissen Sie, ich meine diesen alten Anstand.“ Sie sucht nach passenden Worten dafür. „Edel“ fällt ihr ein. Und „hehr“.

„Ich glaube, er hat noch nie gelogen. Dazu war er nicht fähig.“

„Er konnte wunderbar zeichnen. Und er konnte so gut schreiben! Er hatte all diese idealistischen Geschichten in seinem Kopf, in denen Helden gegen das Böse kämpfen.“

„Schon als kleines Kind wollte er beim Spielen immer der Weiße Ritter sein, der den anderen hilft.“

„Was er aber überhaupt nicht ertragen konnte, das war Ungerechtigkeit.“

Sie hält inne.

„Ich kann das auch nicht“, sagt sie.

***

Anneliese C. gegen den Freistaat Bayern, so steht es im Sozialgericht München auf dem Schild vor Sitzungssaal IV. Im Saal sitzt Anne C., Rechtsnachfolgerin des verstorbenen David C., vor der Richterbank und fragt: „Ich habe etwas aufgeschrieben, darf ich das vorlesen? Seit dem Tod meines Sohnes leide ich sehr unter Wortfindungsstörungen.“

„Selbstverständlich“, antwortet die Richterin, „dafür sind wir heute hier.“

Julisonne schwappt durch große Fenster und tunkt den Saal in mildes Licht: das Kreuz an der einen Wand, das bayerische Staatswappen an der anderen Wand, den Monitor in der Ecke mit Herrn K. im Bild. Herr K. ist aus seinem Büro zugeschaltet, „im Dienstgebäude in Bayreuth“, wie die Richterin fürs Protokoll vermerkt. Herr K. vertritt die Landesbehörde Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS), die wiederum den Beklagten vertritt, den Freistaat Bayern.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Die Klägerin, Anne C., ist eine zarte Frau in Hosenanzug und Blümchenbluse, 76 Jahre alt. Lange hat sie in Wien gelebt, vielleicht haben ihre Worte daher manchmal dieses warme Ausderzeitgefallene; später am Tag wird sie den Kellner im Café mit „Herr Ober“ ansprechen. Aber jetzt spricht sie zunächst zum Gericht, 45. Kammer, eine hauptamtliche Richterin und zwei ehrenamtliche Richter, und erklärt mit fester Stimme: „Ich stehe hier als Mutter, die für ihren Sohn um Gerechtigkeit kämpfen will.“

Der Sohn, David, war im Jahr 2010 Opfer einer Gewalttat geworden. In einer Augustnacht lief er laut Polizeibericht durch Schwabing, als er ein Paar bemerkte, das auf einer Gaststättenterrasse öffentlich Geschlechtsverkehr hatte. David ging erst weiter, doch dann kehrte er um, in seinem Anstandsgefühl verletzt, und rief: „Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, rufe ich die Polizei!“ Das Paar hörte auf, der Mann zog die Hosen hoch und ging auf David los. Er schlug ihm die Faust ins Gesicht. Er prügelte ihn zu Boden. Er trat auf ihn ein. Er schrie: „Ich bring Dich um! Ich schlag Dich tot!“ Die Liste von Davids Verletzungen in den Arztberichten gerät lang: Nasenbeinbruch, Gehirnerschütterung, Platzwunde am Kopf, Prellungen, Schürfwunden, Zahnabsplitterungen, kurze Bewusstlosigkeit. Der Täter wurde nie gefasst und zur Verantwortung gezogen, für David war das eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Der Fall David S.: Eine Mutter kämpft um Gerechtigkeit

David ging es auch schon vor der Tat schlecht. Er litt seit seiner Jugend an Zwangsstörungen, er hatte Depressionen, in seiner Krankenakte finden sich Berichte von Dutzenden Klinikaufenthalten. Nach der Gewalttat ging es ihm schlechter, er klagte über ständige Flashbacks, tägliche Schmerzen und Schwächeanfälle, er berichtete von der Zerstörung seines Sicherheitsgefühls und jedes Selbstwertgefühls.

Noch 2010 stellte David einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), er hoffte auf eine Rentenzahlung, er hoffte auf bessere Behandlungsmöglichkeiten. Das ZBFS lehnte ab. 2017 versuchte es David erneut, er fügte neue Arztberichte bei, wieder lehnte das ZBFS ab. Seine seelischen Störungen seien keine Folge der Gewalttat, befand das Amt. David empfand auch das als himmelschreiende Ungerechtigkeit. Er legte Widerspruch ein, er reichte Klage ein.

Im August 2020 gab das Gericht ein weiteres nervenärztliches Gutachten in Auftrag. Am 8. April 2021 informierte die Richterin David darüber, dass das Gutachten jetzt vorliege und dass sich laut diesem Gutachten keine Schädigungsfolgen der Gewalttat feststellen ließen. „Die Klage hat damit keine Aussicht auf Erfolg. Es wird angeregt, die Klage zurückzunehmen“, schrieb sie. Mit freundlichen Grüßen, die Vorsitzende der 45. Kammer.

Eine Nacht im August 2010

Eine letzte Nachfrage bei einem Anwalt: Könnte David vielleicht ein eigenes Gutachten in Auftrag geben? Der Anwalt macht ihm keine Hoffnung. Er schreibt am 17. April, dass er „wenig Erfolgsaussichten“ sehe. Zudem sei es schwierig, einen Fachgutachter zu finden, „der nicht vorbelastet ist und der vor allen Dingen unabhängig von öffentlichen Stellen“ arbeite.

David starb am 20. April 2021, Anne C. fand ihren toten Sohn am nächsten Nachmittag. Der Abschiedsbrief war nicht lang. David erklärte darin, dass er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte handele und auf keinen Fall wiederbelebt werden wolle. Seinen Eltern und Freunden wünsche er „alles erdenklich Gute“. Er wurde 40 Jahre alt.

Im Gerichtssaal trägt seine Mutter vor: „Mein Sohn war schon lange vor dieser schrecklichen Tat psychisch krank. Aber er konnte immer noch einigermaßen seinen Alltag händeln, mal mehr, mal weniger und auch mit Unterstützung seiner Klinikaufenthalte. Er konnte zu dieser Zeit noch Geschichten schreiben.“ Ihr bricht die Stimme, aber sie liest weiter: „Es tut mir im Herzen weh, dass diese Geschichten nicht die Chance hatten, von meinem Sohn zu Ende geschrieben worden zu sein.“

Davids Geschichten. Da gab es zum Beispiel die von den „World Greatest“: sieben Jugendliche, die zusammenfinden, ihre jeweiligen Fähigkeiten entdecken und gemeinsam das Böse bekämpfen. „Wenn es schon keinen Helden gibt, der einem die größten Probleme vom Hals hält, ist es eindeutig an der Zeit, selber Held zu werden“, schrieb David.

Nein, entschied Anne C., Davids Rechtsnachfolgerin, die Klage würde sie nicht zurücknehmen! An Davids Stelle beantragte nun sie, den Ablehnungsbescheid aufzuheben, eine Posttraumatische Belastungsstörung als Folge der Gewalttat anzuerkennen und eine Beschädigtenrente zu gewähren. Die Rente will sie im Erfolgsfall spenden, „für Kinder, für Tiere, so etwas wäre ganz im Sinne von David“.

Die 45. Kammer hält die Köpfe gesenkt, während Davids Mutter vorträgt. Eine Stellungnahme von 22 Seiten hatte sie zuvor bereits eingereicht, um Fehler und Irrtümer in den Gutachten und Arztberichten anzuprangern. „Ich setze voraus, dass meine Entgegnung gelesen worden ist“, sagt sie. Jetzt verurteilt sie noch einmal „tendenziöse Behauptungen“ und einen „erstaunlichen Umgang mit Fakten“, beschreibt ihren Zorn über die „Betrugsabsichten“, die ihrem Sohn unterstellt würden. „Das war keine Rauferei“, sagt sie, „mein Sohn war in einer äußerst lebensbedrohlichen Situation. Das war eine Grenzsituation, die sein ganzes Wesen veränderte und sein Leben schließlich zur Hölle machte.“ Bitte, schließt Davids Mutter nach sieben Schreibmaschinenseiten: Haben Sie den Mut und die Empathie, Ihre Fehleinschätzung zu korrigieren und meinem Sohn Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!

Herr K.? Möchten Sie dazu etwas sagen?, fragt die Richterin den Monitor. „Wir lassen das jetzt mal so stehen“, sagt Herr K. im Dienstgebäude in Bayreuth.

Anne C. hat eine Schachtel mit Bildern mitgebracht. „Darf ich Ihnen Fotos von meinem Sohn zeigen, wie er sukzessive abgebaut hat?“, fragt sie die Richterin.

„Nein“, sagt die Richterin, sie schüttelt den Kopf, „jetzt nicht.“ Das Gericht wolle sich nun zur Beratung zurückziehen.

„… bis David nicht mehr konnte“

Viele Gewaltopfer, deren OEG-Anträge abgelehnt wurden oder die in jahrelangen OEG-Verfahren festhängen, haben sich über soziale Netzwerke wie Facebook vernetzt. Auch David suchte kurz vor seinem Tod Kontakt zu anderen Betroffenen. Sein Suizid sprach sich schnell herum. Als Betroffene im Mai 2022 zu einer Demo und Mahnwache vor dem Bundessozialministerium aufriefen, erinnerten sie in einer Pressemitteilung auch an David: „Im vergangenen Jahr nahm sich ein junger Mann das Leben. Zuvorgegangen war ein jahrelanger Druck durch die Behörden, bis David nicht mehr konnte.“

Seine Mutter sagt, dass David auch vor dem Brief aus dem Gericht schon häufiger von Suizid gesprochen habe. „Aber das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, sagt sie. „David hatte Hoffnung – danach hatte er keine Hoffnung mehr.“

Wer infolge eines tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält Versorgung. So steht es in Paragraf 1 des Opferentschädigungsgesetzes. Aber Gewalttäter treffen nicht nur auf gesunde Opfer. Manchmal trifft die Gewalt einen Menschen, der auch vorher schon verletzt war. Der vielleicht schon häufiger Gewalt erfuhr, der krank ist, der verwundbarer ist als andere Menschen. Wenn es so einem Menschen nach der Gewalttat schlecht geht und er Versorgung beantragt, muss er beweisen, dass es ihm wegen der Gewalttat schlecht geht und nicht etwa wegen möglicher früherer Verletzungen.

EXKLUSIV: Der #OEGreport – Alle Recherchen im Überblick

Die 45. Kammer hat die Beratung beendet und kehrt zurück in den Sitzungssaal. Die Klage wird abgewiesen, verkündet die Vorsitzende Richterin. Ihr Tonfall ist sanft, sie weiß, dass sie zu einer trauernden Mutter spricht. „Wir sind an Recht und Gesetz gebunden“, erklärt sie. „Wir können einen Antrag nicht genehmigen, wenn die Voraussetzungen nicht vorliegen. Auch wenn wir noch so empathisch sind.“

Für eine Anerkennung nach dem Opferentschädigungsgesetz braucht es zweierlei, erstens: den Nachweis, dass eine Gesundheitsstörung vorliegt. Zweitens: den Nachweis, dass diese Störung durch die Gewalttat ausgelöst wurde. Beides, so steht es später in der schriftlichen Urteilsbegründung, erkennt das Gericht im Fall David nicht. „Die gerichtliche Beweisaufnahme hat ergeben, dass Schädigungsfolgen der Gewalttat vom 29. 08. 2010 nicht mehr festzustellen sind“, heißt es nüchtern. Darüber hinaus sei „die geltend gemachte Gesundheitsstörung auch nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Gewalttat vom 29. 08. 2010 zurückzuführen“.

„Aber“, sagt die Richterin freundlich zu Anne C., „Sie können in Berufung gehen.“

Nein, sagt Anne C. nach dem Gerichtstermin in einem Münchner Café, das könne sie nicht. Sie sei 76 Jahre alt, ihr fehle die Kraft, sie habe die Mittel nicht, sie vermisse Davids Wortgewalt für einen weiteren Kampf. Sie werde nun nach Hause fahren und aufräumen. Alles liege voll mit Papieren: Davids Nachlass aus zwölf Jahren Hoffnung auf Anerkennung. Sie selbst hat zwei Taschen mit ins Gericht gebracht, darin sind unter anderem: ihre 22-seitige Abrechnung mit den Gutachten, „das Gericht ist nicht einmal darauf eingegangen“, die sieben Schreibmaschinenseiten für die heutige Anhörung, Davids schönste Geschichten, die Fotos von David.

***

Nach der Urteilsverkündung sagte die Richterin zu Anne C.: „Wenn Sie mir die Fotos von Ihrem Sohn noch zeigen wollen, können Sie das gern tun.“

„Nein“, antwortete Davids Mutter, „das möchte ich nicht mehr.“

„Ich wünsche mir bei der Opferentschädigung einen Wettstreit der Bundesländer“

Erstellt am: Donnerstag, 1. Dezember 2022 von Torben

„Ich wünsche mir bei der Opferentschädigung einen Wettstreit der Bundesländer“

Mit Kerstin Claus hat zum ersten Mal eine Frau das Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) übernommen, die selbst Missbrauch erlebt hat. Im ausführlichen Interview spricht sie über das Recht der Opfer auf Sichtbarkeit, über die Blindheit der Gesellschaft und über einen Wettstreit der Bundesländer um die beste Opferentschädigung.

Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Frau Claus, Sie sind die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, kurz UBSKM. Wie erklären Sie jemanden, der zum ersten Mal über die sperrige Abkürzung stolpert, was sich dahinter verbirgt?

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gab es in der Vergangenheit, gibt es heute – und wird es trotz meines Amtes auch morgen noch geben. Unser aller Ziel muss aber sein, Kinder künftig besser zu schützen oder mindestens frühzeitig die Gewalt aufzudecken und zu beenden. Damit das gelingt, braucht es das Engagement von ganz vielen. Dazu gehört die Politik, weil sie Schutz und Hilfen ermöglichen muss. Dazu gehört aber auch die Gesellschaft. Denn jede und jeder von uns kann dazu beitragen, Kinder besser zu schützen. Und dann geht es auch um die vielen Betroffenen, die heute erwachsen sind. Auch sie haben ein Recht auf bedarfsgerechte Hilfe, ein Recht, heute gesehen und gehört zu werden. Wenn wir im Rahmen von Prävention Hilfe, Schutz und Beratung verbessern wollen, ist das Erfahrungswissen Betroffener immer wieder ein Schlüssel zum Verständnis auch und gerade im Blick auf Täterstrategien.  All das beschreibt ganz gut, worum es in meinem politischen Amt geht. Das UBSKM-Amt bin ich natürlich nicht allein, dafür arbeiten hier fast 30 Kolleginnen und Kollegen mit vielfältigster fachlicher Expertise.

Würden Sie sagen, dass es Ihre wichtigste Aufgabe ist, die Betroffenen und ihr Leid sichtbarer zu machen in der Gesellschaft?

Ich sehe es als Herausforderung, das Thema sexueller Missbrauch an Menschen heranzutragen, ohne dass sie sagen: „Oh je, schon wieder, damit habe ich nichts zu tun.“ Ich will dieses Tabu aufbrechen, damit wir alle in diesem Themenfeld handlungsfähiger werden.

Was meinen Sie mit „Tabu“?

Wir haben letztes Jahr eine Befragung zu sexualisierter Gewalt gemacht: Über 90 Prozent der Befragten bejahten die Aussage: „Sexualisierte Gewalt passiert überall an Kindern und Jugendlichen, vor allem in der Familie.“ Auf die anschließende Frage, ob diese Taten auch in ihrer Nähe stattfinden, lautete die Antwort: „Nee, nee, nicht hier.“

Woran liegt das?

Wir müssen wissen, wie Täterstrategien funktionieren, damit unsere Gesellschaft nicht blind bleibt. Wir Erwachsenen ziehen viel zu schnell den Schulterschluss zu anderen Erwachsenen und sagen: „Moment, wenn mir jemand eine Täterschaft vorwerfen würde, das wäre ja mein Ende, etwa im Job oder als Trainer im Sportverein. Mit so einem Vorwurf würde ich auch nicht konfrontiert werden wollen.“ Aber jede und jeder von uns sollte den Gedanken zulassen, dass auch Kinder in unserer nächsten Umgebung — in unserer eigenen Familie, in unserer Nachbarschaft — potenziell einer solchen Gefahr ausgesetzt sind und viele von ihnen diese ganz real erleben müssen. Wir müssen auch den Gedanken zulassen, dass jede und jeder von uns mit großer Wahrscheinlichkeit auch Täter und Täterinnen kennt. Erst wenn wir das begreifen, werden wir tatsächlich in die Verantwortung gehen und Partei für betroffene Kinder und Jugendliche ergreifen, ob als Eltern, Nachbarn, Lehrkräfte oder Politik. Ich sehe es als meine wesentliche Aufgabe, hier wachzurütteln.

Wie machen Sie das: wachrütteln?

Einmal ganz konkret über Interviews, in öffentlichen Vorträgen und Diskussionen. Wie alle müssen verstehen, worum es geht und dass wir individuell und als Gesellschaft in der Verantwortung stehen. Und dann natürlich politisch-fachlich: Wir sind eingebunden in Gesetzgebungsverfahren, befassen uns sowohl mit Prävention als auch mit Hilfen, Forschung, der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Wir entwickeln Kooperationen wie „Schule gegen sexualisierte Gewalt“, um in allen Bundesländern Schutzkonzepte in Schulen zu verankern. Wir vernetzen und ermöglichen Expertise gemeinsam mit dem Betroffenenrat und der Aufarbeitungskommission. Konkrete Strategien und Handlungsleitfäden beispielsweise zu kindgerechter Justiz werden im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen entwickelt, dem Bundesfamilienministerin Paus und ich gemeinsam vorsitzen. Und vieles ist schlicht politischer Austausch und Vernetzung: Hier geht es beispielsweise um den Austausch mit der Kinderkommission und dem Familienausschuss, aber auch allen interessierten Ministerinnen und Ministern und Abgeordneten, im Bund, aber auch in den Ländern.

Was erwarten Sie von der Politik? Auf welcher Ebene muss sie sich mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche befassen?

Ich möchte die politische Verantwortungsübernahme auf Bundes- und auf Landesebene. Als jemand, die selbst kommunalpolitische Erfahrung mitbringt, weiß ich aber sehr wohl, dass es am Ende die kommunale Verantwortung braucht, Bürgerinnen und Bürger, Eltern, Fachkräfte. Kommunale Netzwerke können dazu beitragen, dass zum Beispiel Vereine Wege finden, Schutzkonzepte zu entwickeln. Dass in einer Gemeinde oder einem Landkreis Schutzprogramme entstehen für alle Bereiche, in denen sich Kinder und Jugendliche bewegen. Es reicht bei der Prävention nicht, wenn es nur heißt: „Wir machen Kinder stark“ oder „Mein Körper gehört mir“, so wichtig diese Bausteine auch sind. Mein Ziel ist es, bundesweit immer wieder vor Ort zu sein, nicht nur mit Landespolitik, sondern auch mit Kommunalpolitik und dortige Initiativen einzubeziehen, um Räume zu öffnen und zu zeigen: Wir alle können was verändern und damit Gefahren abwehren, denen Kinder ausgesetzt sind.

Wie rütteln Sie Menschen außerhalb der Politik wach?

Wir müssen Orientierung und Handlungskompetenz in die Fläche bringen. Solange ich hilflos bin, versuche ich zu vermeiden, etwas zu tun. Das erleben wir bei Autounfällen: Liegt der Erste-Hilfe-Kurs schon ewig zurück, ist man froh, wenn es jemanden anderen gibt, der bei einem Unfall beherzt erste Hilfe leistet. Deswegen sage ich, nicht alle müssen Fachleute im Kinderschutz sein, aber wer ein komisches Bauchgefühl hat, weil ihm oder ihr etwas seltsam vorkommt, muss wissen, wo es Hilfe und Unterstützung gibt –  zum Beispiel beim bundesweiten Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch, aber auch bei Fachberatungsstellen vor Ort, die erst einmal Orientierung geben, beraten und unterstützen können. Man muss also nicht sofort vor der Frage stehen, ob man jetzt zur Polizei oder zum Jugendamt muss. Es geht um gute erste Schritte, die Möglichkeit, aktiv zu werden – und hierfür die Hürden zu senken.

Sie sagten, dass noch immer 90 Prozent der Menschen meinen, in ihrem eigenen Umfeld gebe es keinen Missbrauch von Minderjährigen – hat das Amt der UBSKM bisher zu wenig erreicht?

Allein meine Berufung zeigt, dass viel erreicht worden ist. Noch vor einigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass jemand mit eigener Betroffenheit dieses Amt übernimmt. Auch medial wäre das ganz anders aufgenommen worden als heute, denn Opfer-Stigmatisierung greift gerade im Kontext sexualisierter Gewalt schnell. Meine Fachlichkeit wurde nie in Frage gestellt, ich durfte von Anfang an beides sein: kompetent und betroffen. Dies ist gelungen über die vielfältige Arbeit meiner beiden Vorgänger im Amt, auch weil sie Strukturen geschaffen haben, die für unsere Arbeit wichtig sind ­– etwa den Betroffenenrat, die Aufarbeitungskommission, den Nationalen Rat. Vieles was erreicht wurde, hat hier seinen Ausgangspunkt, daran knüpfe ich an.

Das U in UBSKM steht für unabhängig, Sie sind selbst Betroffene. Wie unabhängig können Sie da sein?

Ich habe sicher eine Parteilichkeit: Ich bin parteilich für die Belange von Betroffenen, und ich verstehe mich als jemand, die noch mal anders aufzeigen kann, warum etwas notwendig ist. Unabhängig bin ich, weil ich den Finger in die Wunde legen und Initiative ergreifen darf und mir niemand vorschreiben darf, wie ich das tue. Und natürlich haben Betroffene eine sehr spezifische Fachlichkeit: Sie haben erlebt, wie Täterstrategien funktionieren. Sie haben Wissen, was damals geholfen hätte, wie es hätte verhindert werden können, was heute gebraucht wird. Eine solche Expertise in fachliche Diskurse und in Fragen der Weiterbildung einzubringen, ist ein Plus und schadet der Unabhängigkeit in keiner Weise.

Wurde Ihnen die Parteilichkeit schon einmal zum Vorwurf gemacht?

Ich habe meinen Vorgänger Johannes-Wilhelm Rörig als sehr parteilich empfunden, und ich glaube, ohne diese Parteilichkeit hätte er weder den Betroffenenrat noch die Aufarbeitungskommission politisch durchsetzen können. Diese Parteilichkeit ist Teil des Amtes, und ich erlebe sie immer eher als Türöffner. Weil ich nicht an die Politik herantrete und sage: „Ihr wisst doch schon alles, jetzt macht endlich“, sondern weil ich erklären kann, warum etwas ein wichtiges politisches Ziel ist.

Was hören Sie von anderen Betroffenen, seitdem Sie das Amt übernommen haben?

Sie haben mehr Erwartungen und einen höheren Anspruch an mich. Ich merke, dass ich in einer Rechenschaftspflicht bin. Ich habe weder meine Telefonnummer geändert, noch bin ich sonst irgendwie abgetaucht, und daher stehe ich im Austausch mit anderen. Aber es gibt auch Social Media, und ich brauche nur bei Twitter mitzulesen, um zu sehen, dass Erwartungen an mich anders formuliert werden, als sie es bezogen auf meinen Vorgänger waren.

Was lesen Sie da heraus — mehr Ungeduld?

Es ist eine Mischung. Teilweise bekomme ich viel Rückendeckung, mit dem Tenor: gut, dass da jemand „von uns“ ist (lacht). Ungeduld lese ich auch heraus. Neulich habe mich mal bei Twitter eingeschaltet und versucht zu erläutern, dass UBSKM ein politisches Amt ist und dass es politische Prozesse sind, in denen es vor allem um Gesetze und fachliche Diskurse geht. Zum Beispiel um zu schauen, wie in der Ausbildung für pädagogische oder medizinische Berufe Grundkenntnisse zu sexualisierter Gewalt verankert werden können. Das geht erstens nicht schnell. Zweitens muss ich immer wieder mal erklären, dass ich nicht die Fürsprecherin von individuellen Belangen sein kann oder die persönliche Ansprechstelle für Betroffene. Trotzdem hilft es mir, auch mit Betroffenen vernetzt zu sein. Das, was ich da sehe und lerne, vervollständigt das Bild, mit dem ich auch in politische Verhandlungen gehe oder aber in Gespräche, beispielsweise mit dem Deutschen Olympischen Sportbund, mit der katholischen oder evangelischen Kirche oder der Jugendhilfe.

„Unabhängig und nicht weisungsgebunden“ steht in der Amtsbeschreibung der UBSKM. Sie sind an ein Ministerium angebunden, wir sitzen hier in Ministeriumsräumen. Sie sind Mitglied der Grünen. Wie unabhängig können Sie politisch sein?

Ich bin zwar organisatorisch angedockt an das Familienministerium, und das macht an vielen Stellen natürlich auch Sinn. Aber eine Ministerin kann nicht bei mir anrufen und sagen: „Ich möchte, dass Sie die Position unterstützen, die wir hier vertreten.“ Natürlich kann und werde ich, wenn es notwendig ist, Entscheidungen des Ministeriums oder der Bundesregierung kritisieren – oder sie eben unterstützen, wenn ich das fachlich für richtig halte. Das Thema sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige braucht alle demokratischen Parteien, wenn wir etwas verändern wollen. Deswegen spreche ich selbstverständlich auch mit allen – überparteilich und ressortübergreifend.

Kerstin Claus im Gespräch mit Nina Lenhardt und Karsten Krogmann. (Foto: Christoph Soeder)

Für Betroffene von sexuellem Missbrauch ist staatliche Opferentschädigung ein großes Thema, das entsprechende Gesetz wurde novelliert und tritt 2024 in Kraft. Ist 2024 endlich alles gut?

Das ist ein absolut wichtiges Thema, bei dem ich weiterhin Forderungen aufstellen werde. Das Gesetz ist zwar reformiert, das heißt aber nicht automatisch, dass alles besser wird und man nichts mehr anfassen muss. Ich bin der festen Meinung, dass die Neuerungen konsequent evaluiert werden müssen. Auch gibt es bisher gibt es keine Feedbackschleifen, in denen Betroffene im Verfahren gefragt werden: „Wie können Verfahren verbessert werden oder war die Beratung durch das Versorgungsamt hilfreich?“ Die quantitative und qualitative Evaluation ist aus meiner Sicht bei der Reform nicht ausreichend berücksichtigt worden. Für Betroffene sind das aber ganz wesentliche Fragen. Hier sehe ich die Länder in der Pflicht, zu erfassen und auszuwerten, was in ihren Behörden passiert.

Haben Sie als Betroffene persönlich Erfahrungen mit dem Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) gemacht?

Ja, ich habe einen OEG-Antrag gestellt und in der Folge auch spezifische Leistungen beantragt. Ich kann mich aufgrund meines journalistischen Hintergrunds ziemlich in Themen verbeißen und habe mir so schrittweise eine recht hohe Kompetenz rund um das OEG angeeignet. Das hat nicht unbedingt für mein eigenes Verfahren geholfen — aber dabei, eine klare und vielleicht auch in Teilen wichtige Stimme in diesem Reformprozess zu sein.

Betroffene kritisieren nicht so sehr das Gesetz, sondern vor allem dessen Umsetzung durch die Behörden: langwierige Verfahren, belastende Befragungen und Begutachtungen, zu viele Ablehnungen. Was müsste sich tun, damit das Gesetz dieser Kritik in der Umsetzung gerecht wird?

Betroffene berichten immer wieder, dass sie sich nach ihrem Antrag beispielsweise auch einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung aussetzen mussten, dabei hat die im Opferentschädigungsrecht nichts zu suchen. Zum anderen ist die Anerkennung ja nur ein erster Schritt. Um konkrete Leistungen geht es erst nach der Anerkennung als Opfer einer Gewalttat und der mit der Tat einhergehenden Schädigungsfolgen. Wenn es dann darum geht, welche Hilfen gibt es konkret, beispielsweise um einen Schulabschluss oder eine Ausbildung nachzuholen, die aufgrund der häufig jahrelangen sexuellen Gewalt damals nicht möglich war, beginnt oft immer wieder eine neue Mühle im Verfahren. Viele Betroffene geben da irgendwann auf.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

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Welche Rolle spielt dabei die Verfahrensdauer?

Die langen Zeitabläufe in den Verwaltungsbehörden können sehr belastend sein. Das war auch für mich immer wieder so. Ich weiß von sehr vielen Betroffenen, die schon ganz früh gescheitert sind, denen es nach der Antragstellung schrittweise immer schlechter ging, weil sie auf Hilfe hofften und stattdessen einem unkalkulierbaren und oft nicht verständlichen Verfahren ausgesetzt waren. Genau hier liegt meine Motivation. Es braucht endlich betroffenenzentrierte Verfahren, das sage ich als Unabhängige Beauftragte und auch als Kerstin Claus, die diese Verfahren selbst durchlaufen hat.

Wie sähe ein solches betroffenenzentriertes Verfahren aus?

Menschen in Versorgungsverwaltungen brauchen ein Grundverständnis zu komplexen Traumatisierungen aufgrund sexualisierter Gewalt. Das heißt, sie benötigen eine Qualifikation im Umgang mit Menschen, die massive sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt haben. Sie müssen Betroffene einbeziehen, ernstnehmen und Teil des eigenen Hilfeplanverfahrens werden lassen, so dass gemeinsam auf Augenhöhe der Bedarf festgestellt wird. Ideal wäre, wenn es jemanden als Ansprechpartner im Verfahren gäbe, der oder die alles weitere steuert. Betroffene als Kunden zu sehen, dafür braucht es in den Behörden eine spezifische Haltung, die letztlich gelernt werden muss. Das hat auch etwas mit Qualifizierung und Fortbildung zu tun.

Exklusiv: Der #OEGreport – Alle Recherchen im Überblick

Betroffene beklagen immer wieder, dass sie zu wenig über die Verfahrensschritte erfahren, nicht wissen, was passiert, wo gerade nachgefragt wird, in welchem Zeitrahmen sie eine Antwort erwarten können. Ohne externe Hilfe, etwa durch die wenigen spezialisierten Anwälte und Anwältinnen, fehlen oftmals Erklärungen und Transparenz. Fachberatungsstellen, die viele Berichte von gescheiterten Verfahren hören, raten deswegen oft von einer Antragstellung ab. Verständlich, aber ich finde das total frustrierend, weil das Opferentschädigungsrecht eigentlich sehr viel bietet, wenn es nach solchen massiven Gewalterfahrungen in Kindheit oder Jugend darum geht, gute eigene Wege zu finden.

Ab 2024 soll es laut Gesetz in jedem Bundesland Fallmanagerinnen und -manager geben, die für die Behörden arbeiten. Wird damit alles besser?

Eine Frage ist, ob Fallmanager deutschlandweit gleich qualifiziert werden. Es kann ja nicht vom Glück abhängen, in welchem Bundesland ein Antrag bearbeitet wird. Eine Lösung für die Entwicklung und Implementierung für Qualifizierungsstandards in allen Bundesländern wäre E-Learning. Zu diesem Thema bin ich bereits in Gesprächen mit dem Sozialministerium. Im Nationalen Rat haben wir uns zudem Handlungsleitfäden für die Abwicklung von OEG-Verfahren auf unseren Arbeitszettel geschrieben, über die eine solche Vergleichbarkeit auch erreicht werden kann. Das von Ihnen angesprochene Fallmanagement ist, und das muss man sich klar machen, geplant als Teil der Versorgungsverwaltung — und darin sehe ich ein Problem.

#OEGreport: Interview mit einem Sonderbetreuer

Vielleicht sollte das Fallmanagement bewusst extern aufgestellt sein, beispielsweise in Kombination mit Kooperationsverträgen, die zusätzlich externe, unabhängige Fachberatungsstellen einbezieht. Hessen etwa hat hier gerade spannende Ansätze entwickelt, im Rahmen der Aktualisierung des Landesaktionsplans. Ich bin überzeugt, dass massiv Kosten und Verwaltungsressourcen eingespart werden könnten, wenn über solche Wege die Verfahren fokussierter auf die Belange Betroffener und vor allem auch zügiger gestaltet werden. Damit will ich nicht dem Ausgang von Verfahren vorgreifen: Aber zügig Klarheit über Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen von OEG-Verfahren zu haben, hilft am Ende allen, insbesondere den Betroffenen. So können zusätzliche Verletzungen und Retraumatisierungen verhindert werden.

Hintergrund: Der #OEGreport im Überblick: Sieben Fakten zum OEG.

Ist es ein Hemmnis, dass das OEG ein Bundesgesetz ist, für die Umsetzung aber die Länder verantwortlich sind?

Dem Bund sind ein Stück weit die Hände gebunden, etwa was Ausbildung und Qualifizierung von Mitarbeitenden in Landesbehörden angeht. Es wird beständig Prozesse brauchen, in die auch Betroffene mit ihrer Expertise eingebunden werden müssen. Auch dies ist ein Grund, warum ich Betroffenenräte auf Landesebene fordere, damit eine solche politisch beratende Struktur politische Entscheidungen fundiert begleiten kann. Das hat sich seit Jahren im Bund bewährt. Und ich wünsche mir bei der Opferentschädigung einen Wettstreit der Bundesländer. Es wird Bundesländer geben, die vorangehen und die betroffenenzentrierter arbeiten, die Kooperationsverträge zur externen Begleitung Betroffener schließen — und dann wird es mein Job sein, den anderen Ländern zu sagen: „Hey, wenn die das können, könnt ihr das doch auch!“

Das UBSKM-Amt gibt es seit zwölf Jahren. Sind Missbrauchsopfer in der Gesellschaft sichtbarer geworden?

Ja und nein. Das Aufdecken bestimmter Strukturen — ausgelöst durch Fälle wie Lüdge, Bergisch Gladbach, Münster oder Wermelskirchen— hat geholfen, einen Scheinwerfer auf Gewalt zu richten, die es vorher schon gab. Und von der Betroffene auch berichtet haben, denen vielfach aber nicht geglaubt wurde. Auch Bild- und Tonaufnahmen gab es früher schon, aber das Internet macht jetzt sichtbar, was im monströsen Sinne möglich ist. Ja, wir sind weitergekommen, und wir sprechen auch nicht mehr nur von lauter Einzelfällen, sondern endlich auch von strukturellen Problemen, die Missbrauch begünstigen. Leider geht das in der Berichterstattung aber viel zu häufig einher mit einer Reduktion auf vermeintlich krankhafte Störungen. Selbst öffentlich-rechtliche Medien sprechen dann von den sogenannten pädophilen Tätern. Das ist einerseits zutiefst ungerecht gegenüber Menschen mit sexuellen Präferenzstörungen, die nie Täter oder Täterin werden. Wenn wir diese Taten nur in die Krankheitsecke schieben, verkennen wir, dass Täter und Täterinnen vor allem Macht- und Abhängigkeitsstrukturen ausnutzen. Dass sie also massiv manipulative Strategien anwenden, die immer wieder nicht erkannt werden, selbst in Strafprozessen nicht. Auch wir als Gesellschaft entlasten uns über diese Sichtweise immer wieder ein Stück weit, weil wir davon ausgehen, krankhafte Täter könne man erkennen – und deswegen den Gedanken nicht zulassen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche eine verstörende Realität inmitten unseres vermeintlich unauffälligen Umfeldes ist. Wenn wir aber etwas verändern wollen, Taten verhindern wollen, müssen wir uns klarmachen, dass diese Taten überall in unserer Umgebung passieren können und passieren.

Wenn in den Medien von sexuellem Missbrauch die Rede war, schien es seit Bekanntwerden der Vorgänge am Canisius-Kolleg 2010 häufig, als sei Missbrauch vor allem ein Problem der katholischen Kirche. Hat diese Berichterstattung möglicherweise den Blick verstellt auf die vielen anderen gesellschaftlichen Bereiche, in denen es ebenfalls zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kam und kommt?

Natürlich hat sich mit 2010 die Wahrnehmung sexualisierter Gewalt in der Gesellschaft verändert, auch wenn der Ausgangspunkt Kirche und elitäre Schulstrukturen waren. Für die öffentliche Wahrnehmung des Themas war auch ausschlaggebend, dass erstmals erwachsene Männer gesprochen haben, die oftmals aus gut situierten Familien kamen und oft auch beruflich erfolgreich waren. Damit gelang ihnen, was den vielen Frauen, die schon seit Jahrzehnten vor allem auf sexuellen Missbrauch im familiären Kontext hingewiesen hatten, verwehrt geblieben war: Das Thema gelangte in den medialen und gesellschaftlichen Fokus. Allerdings ging damit einher, dass bis heute der Fokus auf institutionellen Strukturen – also sexueller Missbrauch im Kontext von Sport, der Schule oder der Kirchen – liegt. Staat und Kirche stehen seit diesem sogenannten Missbrauchsskandal von 2010 in einem neuen Spannungsfeld, weil plötzlich der Staat – und in diesem Prozess sind wir aktuell – sein Wächteramt auch im Verhältnis zur Kirche neu definieren muss. Das sind lange Debatten und Lernprozesse, gerade wenn es um die staatliche Verantwortung im Kontext von Aufarbeitung geht, und es ist eine sehr grundlegende Frage, die alle Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend einschließen muss, also gerade auch die Betroffenen im Kontext Familie.

Wann werden wir so viel gelernt haben, dass die Aufgabe der UBSKM erledigt ist?

Solange sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ausgeübt wird, wird dieses Amt gebraucht werden. Aktuell arbeiten wir an der gesetzlichen Verankerung der Aufgaben dieses Amtes. Nach meinem Verständnis ist diese Gewaltform tief gesellschaftlich verwurzelt. Nicht nur allein in Institutionen wie Kirche oder Sportverein, sondern auch und gerade im sozialen Nahfeld, besonders im familiären Kontext. Wird es möglich sein, diese Gewalt zu überwinden? Ich setze zumindest all meine Kraft ein, damit Kinder und Jugendliche besser geschützt, diese Gewalt besser verstanden und schneller gehandelt wird und Betroffene konsequent bedarfsgerecht unterstützt werden. Nur so können wir die individuellen Folgen und die traumatischen Belastungen für Betroffene reduzieren. Betroffene brauchen ein Recht auf Aufarbeitung jenseits von Gerichtssälen. Es geht um ein Recht auf Sichtbarkeit heute, denn es ist auch eine Generationenaufgabe: Die einen Betroffenen sind jetzt vielleicht in ihren Zwanzigern, die anderen mittlerweile über 70 Jahre alt. Es ist notwendig, sich diese Dimension bewusst zu machen, weil die Folgen sexualisierter Gewalt gerade nicht enden, wenn die Taten aufhören, sondern eine ganze Lebensspanne umfassen. Erst dann anerkennen wir die tatsächliche Dimension sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige in unserer Gesellschaft.

Foto: Christoph Soeder

Schlechte Erfahrungen mit dem Staat – Das schildern Betroffene

Erstellt am: Mittwoch, 30. November 2022 von Torben

Schlechte Erfahrungen mit dem Staat – Das schildern Betroffene

„Skandal“, „Folter“ und der Staat als „Mittäter“: Hunderte Nachrichten und Kommentare haben die Redaktion des WEISSEN RINGS nach der Veröffentlichung des #OEGreports in den sozialen Medien erreicht. Eine Auswahl.

Foto: Ahlers

Wut, Enttäuschung, Ohnmachtsgefühl: Hunderte Nachrichten und Kommentare haben die Redaktion des WEISSEN RINGS nach der Veröffentlichung des OEG-Reports in den sozialen Medien erreicht. Viele Nutzerinnen und Nutzer berichten auf Instagram, Facebook und Twitter von ihren zermürbenden Kämpfen in Verfahren um Opferentschädigung – und von retraumatisierenden Erfahrungen mit den Behörden. Ein Überblick über Reaktionen, in denen von „Skandal“, „Folter“ und dem Staat als „Mittäter“ die Rede ist.

Recherche, die wirkt: Was seit der Veröffentlichung des #OEGreports passiert ist

Gewaltopfer kennen Recht auf Entschädigung nicht

„Was nützt es, das OEG zu kennen, wenn dann doch der Großteil der Anträge abgelehnt wird? Im Falle eines Kindesmissbrauchs, der leider verjährt und bei dem es selten Zeugen gibt?“

„Ging mir leider ähnlich, bei mir waren es zehn Jahre und Revision. Hätte ich nicht so eine tolle Anwältin gehabt, hätte ich das nicht durchgestanden.“

„OEG ist ein qualvoll langer Weg. Mein Antrag läuft seit 2017, leider ist mein Anwalt verstorben. Nun bin ich auf der Suche nach einem neuen.“

„Das OEG ist ja schön und gut. Es hilft aber kaum jemandem, weil die Hürden so hoch sind und die Verfahren für die Opfer retraumatisierend und entwürdigend sind. In vielen Fällen werden damit mehr die Täter als die Opfer geschützt.“

„Manchmal schreckt es aber auch nur ab zu wissen, dass man schon wieder Fragen zur Tat beantworten muss, im kleinsten Detail. Mein Gutachter war schlimmer als der gegnerische Anwalt, da lässt man es eben bleiben und verzichtet.“

„Du bekommst nur was, wenn du auch eine Anzeige gemacht hast. Ich habe keine Beweise, war leider zu klein dafür. Das finde ich nicht fair.“

„Ich kenne das OEG. Nach neun Jahren (!) habe ich kürzlich dieses (teilweise unmenschliche) Verfahren letztendlich vor Gericht gewonnen.“

„Die Form der Ablehnungen, die Beurteilung der internen Gutachter und letztlich die Ablehnungen bei Gericht mit ihren Begründungen (…) sind schwerst retraumatisierend. Das Recht auf Opferentschädigung heißt nicht, dass man Recht bekommt. (…) Und solche Ablehnungen führen auch zu Angst, überhaupt einen Antrag (…) zu stellen.“

„Recht haben und Recht durchsetzen sind zwei verschiedene paar Schuhe. Nicht wenige Menschen, die Opfer wurden, entscheiden sich bewusst gegen das OEG, um sich die teilweise sehr schwierigen Behördengänge zu ersparen. Und das ist aus traumatologischer Sicht in vielen Fällen richtig.“

„Wer retraumatisiert werden will, der fordert Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz.“

„Ich kenne jemanden, die seit Jahren Angst hat, den Antrag zu stellen. Durch Missbrauch und Vernachlässigung ist sie seit Jahren psychisch krank. Es gab zwei Gerichtsprozesse (…), bei denen die Eltern nur Bewährung erhielten und vieles gar nicht erst zur Sprache kam. Manches war verjährt. (…) Wie soll sie das heute noch beweisen können? Außerdem hat sie Angst, dass die Eltern davon erfahren, wenn sie einen Bescheid bekommen, da sie in gleicher Stadt wohnen. Sie leidet noch immer unter Retraumatisierung. Diese Fragen und die Angst hindern sie, einen Antrag zu stellen.“

„Als Betroffene wurde mir mehrfach geraten, einfach meiner Wege zu gehen. Nicht ein Wort von einem solchen Gesetz. Weder von Kliniken, Ärzten noch von der Polizei.“

„Wer in Deutschland durch einen vorsätzlichen tätlichen Angriff unverschuldet gesundheitlich geschädigt wird, hat eigentlich Anspruch auf Opferentschädigung. Rente bekommt man aber erst, wenn nach einem halben Jahr noch gesundheitliche Einschränkungen da sind. Dass das gerade bei psychischen Problemen stark retraumatisierend ist und oft leider nicht bewiesen werden kann, dass Ängste, Depressionen etc., aber auch körperliche Beschwerden in der Straftat begründet sind, ist frustrierend, sollte aber niemanden abhalten, einen Antrag zu stellen, wenn die Probleme tatsächlich seitdem da sind.“

„Wir haben elf (!) Jahre prozessiert! (…). Ich finde es nach wie vor unerträglich, dass einem anerkannten Opfer jegliche Unterstützung verwehrt wird, das erlittene Trauma keinerlei Berücksichtigung findet! Warum müssen Opfer von Gewalttaten in der Beweislast sein?“

„Ich habe es so erlebt: Nervenaufreibende, immer wiederholende Fragen. Nach einiger Zeit habe ich mich wie eine Bittstellerin gefühlt. Die Sachbearbeiterin war unmöglich. Das Trauma wurde durch dieses Prozedere noch verstärkt. Und am Ende wurde abgelehnt.“

„Ich wusste es durch einen Betroffenen.“

„Ich hatte das Glück, eine sehr gute Polizistin zu haben, sie hat mich sofort (über das OEG, Anm. der Redaktion) informiert.“

„Mein Antrag wurde auch abgelehnt; am 4. Februar 2015 wurde ich tagsüber überfallen und beraubt. Ich hatte keine Zeugen, also gibt es auch keine Entschädigung. Kommt meine PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung, Anm. d. Red.) aus dem Nichts?“

„Die Masse an Anträgen. Immer wieder berichten, was geschehen ist. Das nie endende ‚Nachbohren‘ ist mehr als quälend (gerade nach einem langen Gerichtsverfahren – eventuell noch mit Glaubwürdigkeitsgutachten etc.). Die Anträge werden abgeschmettert.“

„Das viel größere Problem ist (…) die Anerkennung und Entschädigung von erlittenem Ungemach. Die Schäden, die oft am nachhaltigsten wirken, die psychischen, sind ausgerechnet diejenigen, die meistens am schlechtesten berücksichtigt werden.“

„Ich habe auch schon mal versucht, eine Entschädigung zu bekommen, nur leider ist es schon verjährt. Ich konnte mich als Kind nicht selbst darum kümmern. Ich verstehe solche Gesetze einfach nicht.“

„Ich hatte den Anwalt meines Betreuten darauf angesprochen. Es war ihm kein Begriff (!), nur Schmerzensgeld, was sinnlos war, weil der Angreifer mittellos war. Die Opferrente habe ich dann für meinen Betreuten beantragt.“

Sieben Fakten zum Opferentschädigungsgesetz

„Ich habe meinen Antrag zurückgezogen. Er war zu traumatisierend. Noch dazu wurde mir gesagt, dass der Täter ‚selbstverständlich‘ auch befragt wird und im Prinzip alles wie damals bei der Polizei sein wird, aber keine Unterstützung für mich. Man müsse ja sicher sein, dass keine Steuergelder unrechtmäßig ausgegeben werden. Ich habe denen nach dem dritten Telefonat, bei dem ich geheult habe, empfohlen, sich weiterbilden zu lassen.“

„Das OEG-Verfahren ist eine Zumutung. Ich habe über drei Jahre das Verfahren durchlaufen. War bei zwei Gutachtern, da dem Versorgungsamt das Gutachten nicht gepasst hat, wurde es dann nicht anerkannt. Mir ging es nach den Gutachten so schlecht, dass ich in die Klinik musste. Nach dem zweiten Gutachten habe ich das ganze Verfahren dann abgebrochen, da mich das ganze Verfahren so getriggert und fertiggemacht hat, dass ich einfach nicht mehr konnte. Sowas nennt man Folter!“

„Alle zwei Jahre Begutachtung = alle zwei Jahre Retraumatisierung. Geht es einem an diesem Tag gut, wird der GdS (Grad der Schädigung, Anm. der Redaktion) aberkannt, ohne Chance auf ein Gutachten eines anderen Psychiaters.“

„Ich bin leer ausgegangen, da ich bei meinem Überfall nicht verletzt wurde, bzw. die Pistole mich nicht berührt hat … Dass sich in diesem Augenblick das Leben von null auf 100 verändert, ist für die nicht nachvollziehbar.“

„Unser Sohn kämpft seit 6 Jahren. Es werden immer wieder neue Gutachten angefordert. Täter wurde zur Haftstrafe verurteilt und müsste jetzt entlassen worden sein.“

„12. Jahr jetzt, inzwischen wegen Therapiekosten hoch verschuldet. Wer das ohne Hilfe schaffen würde, bräuchte nicht, was beantragt wird. Ich kann nicht anders als zu denken: Das ist Absicht, in der Hoffnung auf das Ableben der Antragstellenden.“

„Bei mir war es ähnlich. Eine einzige Katastrophe.“

„Ich warte bereits drei Jahre darauf, dass mein Antrag endlich mal bearbeitet wird. Ständig kommt angeblich irgendwas dazwischen …“

„Das OEG ist erniedrigend, viel zu bürokratisch und viel zu langsam … ein Trauerspiel! (…) Traurig, dass der Staat nicht dazu fähig ist, traumatisierten Gewaltopfern adäquat und un-bürokratisch schnell zu helfen … stattdessen eine jahrelange Odyssee …“

„Wir haben den Antrag für unser Kind gestellt; Opfer jahrelangen Mobbings & gemeinschaftlicher Körperverletzung, Staatsanwaltschaft hat ermittelt. Nach drei (!) Jahren ablehnender Bescheid vom Amt, in dem man sich noch über Diagnosen lustig gemacht hat. Das ist eine Schande.“

„Dieses OEG ist ein Witz. Wie soll ein erwachsener Mensch Zeugen für den Missbrauch in der Kindheit benennen??? Die haben alle damals schon geschwiegen und wissen heute noch nichts davon!!! Folglich hat auch kein Verfahren stattgefunden. Das ist Triggern auf höchstem Niveau, was hier wieder einmal den Opfern angetan wird.“

„Es muss sich endlich etwas ändern beim OEG. Es kann nicht sein, dass Betroffene bis zu einem Jahr auf eine Entscheidung warten müssen. Es kann nicht sein, dass Betroffene alles noch einmal erzählen müssen, obwohl es Gerichtsakten gibt. Und wir müssen Betroffenen endlich Glauben schenken und sie nicht noch einmal missbrauchen, indem wir sie wie Täter behandeln.“

„Täterschutz ist immer noch vorrangig. Einfach katastrophal.“

„Das Verfahren dauerte fünf Jahre, zwischenzeitlich wurde die Papierakte geschreddert. Die digitale Akte war ohne Sinn und Verstand gescannt, wichtige Unterlagen waren verschwunden … Die dann festgelegte Entschädigung ist dafür ordentlich und erleichtert mir das Leben mit den Tatfolgen schon erheblich, besonders die Anerkennung der Tatfolgen hat mir psychisch SEHR geholfen. Das Verfahren hätte ich niemals ohne zwei Betreuerinnen und eine Anwältin schaffen können.“

„Alles, was ich bei meinem OEG-Antrag seit vier Jahren erlebe, ist Entwürdigung, Demütigung, Retraumatisierung. Hilfen? Gar keine. Ohne ärztliche Versorgung auf mich gestellt.“

„Es ist tatsächlich ein Trauerspiel, an dessen Ende die Menschen desillusionierter und mit Grundsicherung lebend dastehen. Jahre für eine mögliche Rehabilitation/Eingliederung in allen Bereichen des Lebens verpasst, stattdessen gibt es Kränkungen und Hindernisse.“

„Mein Antrag, den ich 2019 gestellt hatte, wurde 2020 abgelehnt. Begründung: Da das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde, wird auch der Antrag auf OEG abgelehnt. Weiterer Aufwand und ein weiterer Schlag ins Gesicht!“

„Jetzt, nach vier Jahren, haben die Zeugen Briefe erhalten. Ich bin gespannt, ob da jemals etwas raus kommt.“

„Versorgungsämter sind Retraumatisierungsämter. Ich bin zwar anerkannt, aber schlage mich trotzdem seit nun sieben Jahren mit deren geballter Inkompetenz herum wg. jeder Kleinigkeit. Ich bekomme nicht die Hälfte dessen, was mir gesetzlich zusteht, weil ich keine Kraft für jahrelange Verfahren vor dem Sozialgericht habe.“

„Selbst bei diesem Formular brauchte ich die Hilfe einer Fachberatungsstelle. Ohne deren Hilfe und psychische Unterstützung hätte ich das nicht hinbekommen.“

„Die Prozesse sind nicht dazu da, es den Geschädigten leichter zu machen. Ganz im Gegenteil. Als müsste man zweimal nachweisen, dass man Opfer eines Verbrechens ist, wobei dies die Sachlage allein bestätigen sollte.“

„Da läuft so gut wie alles falsch, zum Nachteil der Betroffenen. Es zieht sich über Jahre hin, man bekommt wieder die Schuld zugewiesen, die Gutachter negieren ohne Ende usw. usf. Gerichte haben kaum Ahnung von dieser Misere. Meine Meinung.“

„Es wird alles getan, um den Tätern Hilfe anzubieten (Therapien, Ausbildungen und Jobs im Gefängnis). Aber NICHTS für die Opfer. Therapieplätze sind rar, Ausgleichszahlungen werden umgangen oder mit solchen Hürden versehen wie beim OEG. Unfassbar.“

„Diejenigen, die am übelsten dran sind, haben keine Chance, vom OEG Gebrauch zu machen. Erst wenn sie in ihrem therapeutischen Prozess weit fortgeschritten sind, könnten sie es in Anspruch nehmen. Grund sind die Voraussetzungen.“

„Ich habe meinen Antrag aufgegeben.“

„Wir haben gute Erfahrungen gemacht, auch wenn die Antragstellung sehr langwierig ist …“

„Kann man den Staat auf Schmerzensgeld wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen? Ich bin am Ende.“

„Das OEG-Verfahren ist nichts anderes als Retraumatisierung!“

Die OEG-Entscheidungen der Bundesländer im Vergleich

„Das Verfahren zu durchlaufen ist schon fast unmenschlich. Man wird von Gutachter zu Gutachter geschickt, retraumatisiert und wenn das Ergebnis dem Amt nicht passt, dann wird es halt nicht anerkannt. Habe weiter eine Rechtsanwältin beauftragt, um das vor Gericht zu bringen, aber irgendwann ging es einfach nicht mehr. Habe es nicht mehr ausgehalten, nach Terminen immer wieder in der Klinik zu landen und ständig alles wieder zu durchleben. Täterschutz vor Opferschutz … Leider …“

„Wenn ich von meinen Traumata und Erfahrungen erzähle, schlagen Therapeuten die Hände über dem Kopf zusammen. Alleingelassen von Vater Staat, retraumatisiert vom Gutachter, der mir sagte, dass meine Sitzung bei ihm ein Kinderspiel im Gegensatz zur Verhandlung sei, etc. Unfassbar, wie unsere Justiz und Vater Staat agieren.“

„Na toll. Ich lebe in Niedersachsen. Kämpfe seit fast fünf Jahren.“

„Ich würde sagen: Nicht am Bundesland, sondern an den Sachbearbeiter/innen.“

„Das Problem beginnt doch schon, wenn die Anzeige nicht ernst genommen wird.“

„Dieses Gesetz ist völlig sinnlos und nur da, um den Schein zu wahren. Echte Hilfe für Opfer gibt es da nicht. In diesem Verfahren werden Opfer wieder zu Opfern gemacht und immer wieder aufs Neue retraumatisiert. Völlig inakzeptabel für einen Sozialstaat.“

„Ich habe mich gegen das Verfahren entschieden und wurde von meiner Betreuerin verhöhnt … Ich kann mich bis heute nicht überwinden, darüber zu sprechen, und finde es unmenschlich, wie man behandelt wird.“

Was ist eigentlich das OEG? Und wer hat Anspruch darauf?

„Mein Verfahren wurde eingestellt, und damit folgte auch die Ablehnung. Also trotz der ganzen gesundheitlichen Schäden hilft das tolle OEG rein GAR NICHT.“

„Also, ich habe es beantragt, 2016, und habe es bekommen. Und vor dem Antrag wusste ich gar nicht, dass es sowas überhaupt gibt. Aber es dauert halt, bis es bearbeitet ist.“

„Das OEG richtet sich danach, ob ein Verfahren anhängig ist und wie dieses ausgeht. So war es jedenfalls bei mir. Nachdem man einmal alles schildern musste, war ein Jahr Stille, u. dann kam die Ablehnung, Begründung: da das Verfahren eingestellt wurde. Sieht so Hilfe aus? Das ist ein Witz!“

„Schade, dass die Praxis absolut nicht funktioniert. Die Umsetzung würde so viele Brücken bauen, von denen wir erst beim Eintreffen der negativen Folgen bewusst Kenntnis nehmen, sie gebraucht haben zu können. Im besten Fall bedingungslos. We need an update!“

„So, wie die Zustände gerade sind, sollte NIEMAND einen Antrag stellen. Man verliert zu viel Lebenszeit zusätzlich zu der bereits verlorenen.“

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

„Opfer werden im Stich gelassen – so ist es.“

„Möglicherweise liegt es auch daran, dass sich immer noch zu viele Beamtinnen/Beamte zu wichtig nehmen. Und gerne so entscheiden, als müssten sie das den Opfern zustehende Geld aus ihrer eigenen Tasche finanzieren.“

„Wie soll man da noch an Gerechtigkeit glauben?“

„Ich habe letztendlich aufgegeben … Der Gutachter hat voll gegen mich gearbeitet und hat dann geschrieben, meine Aussagen würden nicht stimmen. Dabei ist mein Leben so zerstört.“

„Ja, der Umgang mit den Opfern im OEG ist ein Skandal!“

Monica Gomes: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

„Das ist so gemein …“

„Meine damalige Therapeutin hat mir damals eindringlich vom OEG abgeraten. Sie hatte eine andere Klientin, die sie durch diesen Prozess begleitet hat, und es war die absolute Hölle … Diese Klientin hat es sehr bereut, dort einen Antrag gestellt zu haben, und würde auch jedem davon abraten. Täter-Opfer-Umkehr vom Feinsten. Schrecklich … Zum Glück gibt es noch den Fonds Sexueller Missbrauch.“

„Das klingt alles danach, als wäre es eher ein Opferbelastungsgesetz!“

„Ich hab’s auch nicht mehr ausgehalten. Hätte meinen Anspruch gerichtlich einklagen müssen (zu dem Zeitpunkt, als die Nachricht meiner Anwältin kam, war ich schon wieder in der Klinik). Nach 1,5 Jahren war da ein Punkt für mich erreicht, an dem ich psychisch nicht mehr weitermachen konnte, weitermachen wollte, weil es mir so schlecht ging …“

„Auch nach der Bewilligung der Opferentschädigung hört es nie auf … Immer wieder kommt Post, es werden wieder Fragen gestellt …“

„Es ist einfach tragisch, dass die wirkliche Hölle mit der Bürokratie erst beginnt.“

„Bin seit über vier Jahren im Verfahren. Jetzt sogar mit Anwältin. Es ist nichts anderes als Retraumatisierung auf Retraumatisierung. Aber ich habe leider keine andere Wahl, da ich medizinische Behandlungskosten erstattet bekommen muss. Und das läuft nur, solange ich weiter diesen Antrag laufen lasse.“

„So erging es mir auch und ergeht es mir noch. Den Antrag werde ich abbrechen.“

„Ja leider interessiert es niemanden, was man aushält oder auszuhalten hat und was nicht!“

„Für mich als Opferhelfer ist es manchmal kaum auszuhalten, wenn man begründet den Hinweis auf einen Antrag nach dem OEG gibt und sieht/weiß, was auf das Opfer damit nochmals zukommt! Noch unverständlicher wird es, wenn man Opfer mit tatsächlichen lebenslangen physischen Beeinträchtigungen aufgrund einer Straftat betreut, bei denen keinerlei Hilfen und/oder Unterstützungen vom Versorgungsamt gewährt werden, weil das Strafverfahren gegen den/die Täter eingestellt wurde! Die Verletzungen/Beeinträchtigungen bleiben …“

„Davor habe ich Angst. (…) Und jetzt muss ich diesen Antrag stellen für meinen Sohn, und wenn ich das hier lese habe ich das Gefühl, alles fängt von vorne an“

„Das ist die Realität. Aber wer will das hören? Das Amt jedenfalls nicht. Man hat ja mit dem Täter zu tun, dass der wieder auf die Beine kommt. Schlimm, es macht wütend.“

„Retraumatisierung und es aushalten müssen haben mich die ersten drei Jahre nach der Antragstellung begleitet, ich wollte den Antrag auch erst nicht stellen, aber wurde von der Krankenkasse dazu aufgefordert.“

Flora-Nike Göthin: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt“

„Mich hat der Staat nur weiter traumatisiert, das geht jetzt bald fünf Jahre so. Und OEG habe ich noch nie erhalten. Stattdessen musste ich mir über die Opferhilfe eine Anwältin nehmen.“

„Mir wurde nicht geglaubt, dass ich letztes Jahr fast umgebracht worden bin, da der Täter meine Aussage umgedreht hatte und meinte, es sei Notwehr gewesen. (…) Ich habe aus dieser Sache gelernt: Als Opfer bist du auf dich allein gestellt, und man sollte lieber alles über sich ergehen lassen …“

„Bin seit 1993 betroffen. Nur durch Zufall wusste ich seit ca. 2001 vom OEG. Seither bin ich nicht nur tatgeschädigt, sondern auch von der Behörde. Was nützen einem Möglichkeiten, wenn man oftmals allein gegen den Wahnsinn und die Unterstellungen der Behörden kämpfen muss. Aufgeben war jedoch nie eine Option, denn es geht schließlich um die notwendige Unterstützung der Lebensqualität für den Rest meines Lebens. Never give up!“

„Der Staat als Mittäter.“

„Die deutsche Justiz ist für weibliche Opfer von Gewalt FATAL!“

„Das Sch***system tritt eher auf am Boden Liegende ein, als dass es sie auffängt.“

„Ich finde, wer Opfern nicht hilft oder deren Probleme nicht ernst nimmt, macht sich selbst mitschuldig.“

„Frau Göthin berichtet, in einem katholischen Kinderheim sexuell missbraucht worden zu sein. #EhemaligeHeimkinder haben es bei Verfahren zur staatlichen Opferentschädigung besonders schwer.“

Wie Maria Hagelkorn das OEG-Verfahren erlebte

„Ich bin seit fast fünf Jahren in diesen Antragsverfahren. Ich hätte es längst hingeworfen, wenn ich nicht darauf angewiesen wäre, weil bestimmte medizinische Therapien mir sonst nicht bezahlt werden, die ich aber zum Überleben brauche.“

„Ich bin ein Opfer der Kirche. Das OEG-Verfahren dauert schon seit 2017 und immer noch an. Der Verlauf? Eine Katastrophe.“

„Ein Prozess, in dem das Opfer noch mehr an Selbstvertrauen verliert. Und dabei dachte es, es hätte längst schon alles davon verloren. Nein. Es geht noch tiefer. Man muss sich über Dunkelziffern nicht wundern. Wer solche Prozesse durchlebt, erlebt die Hölle noch etliche Male wieder. Am Ende steht eine eventuelle Entschädigung gegenüber einer kaputten Seele. Wem ist es das wert?“

„Dieses Rechtssystem bringt aus meiner Sicht mehr Unglück als Glück.“

„Die Justiz handelt hier eindeutig nicht im Sinne der Opfer und stiehlt sich auf politische Weisung hin aus der Verantwortung.“

„Tja, hier in Deutschland steht Täterschutz vor Opferschutz. Und nicht zu vergessen: Die Täter-Opfer-Umkehr …“

„Mir hat man überhaupt nicht geholfen, und da es einmal abgelehnt wurde, hat man selbst als mehrfach Traumatisierte und Jahrzehnte lang Erkrankte keine Chance.“

„Eine Bekannte von mir hat mit viel Hilfe jetzt ein dreiviertel Jahr gebraucht um das Formular auszufüllen! Zu viel schlechte Gedanken. Jetzt ist fraglich, ob sie es bekommt.“

„Versorgungsämter versuchen immer, dem Staat Geld zu sparen. Der Umgang ist entwürdigend, der Ton drohend, das Ziel ist das Abwimmeln.“

„Insgesamt hat die Verachtung für Opfer von Straftaten in Deutschland eine besondere Tradition. Wenn es um Sexualstraftaten geht, wirken sich die vielen Fehlannahmen über Opfer und Täter*innen besonders negativ aus. Davon profitieren u. a. die Kirchen.“

Matthias Corssens Kampf um Anerkennung (Video)

„Das kenn ich sehr gut. Opfer haben wohl keine Rechte. Ich habe es aufgeben, das OEG ist ein Witz.“

„Mir geht es darum zu überleben. Ich habe in meinem Antrag klargemacht, dass ich kein Geld möchte, sondern nur die Übernahme einer überlebenswichtigen Therapie. Auch diese wird mir seit über vier Jahren verweigert. Meine Therapeutin hat mir gesagt, dass sie das zu 99% genau so bei jedem Fall erlebt. Sie hat mich jetzt gebeten, darüber nachzudenken, ob ich nicht davon Abstand nehmen möchte, weiter um das OEG zu kämpfen. Sie glaubt, dass das für mich eine immer wiederkehrende Retraumatisierung ist, dass ich es lassen sollte. Und das tut sehr weh, denn das ist nämlich genau das, was auch Matthias meint: Es wird nicht anerkannt, was man er- und überlebt hat.“

„Im Zweifel immer für das Opfer, damit sie nicht ein zweites Mal eins werden!“

„Mein Antrag wurde auch abgelehnt, trotz meiner offensichtlichen Verletzungen und Langzeitfolgen.“

„Es ist für Opfer bereits ein Kampf, überhaupt eine kleine Opferentschädigungsrente zu erhalten. 4,5 Stunden wurde ein Missbrauchsopfer im Auftrag des Landesamtes für Soziales in Oldenburg von einer Gutachterin befragt. Jetzt hat das Opfer gerade zwei, drei Jahre diese kleine (Rente, Anm. der Redaktion), jetzt kommt die Behörde aus Oldenburg schon wieder und möchte Auskunft der Fachärzte über den aktuellen Gesundheitszustand.“

„Damit wir uns nicht falsch verstehen: Hier geht es um Anträge auf Leistungen, die den Opfern von Gewalttaten z-u-s-t-e-h-e-n, nicht um Leistungen aus Gnade und Billigkeit. (…) Das bedeutet konkret, dass eine Ablehnung nur aufgrund klarer, transparenter und auch für Laien verständlicher Gründe erfolgen darf bzw. dürfen sollte. Und das vor allem zeitnah. Von daher erscheint es mir schwierig, wenn von den ja nicht unbedingt häufig gestellten Anträgen (…) so viele abgelehnt werden.“

„Meine PatientInnen haben es nach einigen Versuchen aufgegeben, weil es für sie Retraumatisierung bedeutet hätte. Was für einen Sinn macht das Ganze also?“

„Niemand kann nachvollziehen, was in den vier Wänden bei den Ämtern abgeht. Wird ja auch nicht überprüft. Gibt keine Evaluation, keine Statistik über die Umsetzung der Gesetze. Und selbst wenn der Amtsschimmel Fehler macht, denen passiert doch nix, die haben ihr Gehalt pünktlich jeden Monat auf dem Konto.“

„Das ist echt lächerlich. Mein Antrag wurde abgelehnt, weil das Gerichtsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Ich habe 2019 meine Aussage bei der Polizei gemacht. Aber das Opfer soll halt so lange nicht in Behandlung, bis das Verfahren durch ist. Auch wenn die Staatsanwaltschaft die Akte verlegt.“

„Es ist einfach tragisch, dass die wirkliche Hölle mit der Bürokratie erst beginnt.“

„Ich wurde mehrmals vergewaltigt und bat um psychische Hilfe. Da ich zwar genau sagen konnte, wer wann in meiner Kindheit Täter war und was mein damaliger Ehemann tat, aber diese Menschen schwiegen, wurde mir nach einigen Stunden sehr schnell mitgeteilt: ‚Das war’s!‘“

„Die Sachbearbeiter der OEG zwingen einem förmlich die Rücknahme des Antrages auf. Es ist demütigend.“

„Habe den ersten Antrag kurz nach der Tat gestellt. Weil die psychische Belastung zu groß war, habe ich wieder zurückgezogen. Jahre später nochmal gestellt. Nach dem amtsärztlichen Gutachten Bescheid bekommen, dass die Tatfolgen nicht ausreichend seien, etc. Mit Fachanwältin Widerspruch eingelegt, das Versorgungsamt hat daraufhin den Bescheid komplett zurückgezogen und meinte, ich hätte gar keine Ansprüche. Zuletzt hätte ich gegen das Versorgungsamt klagen müssen … und das war zu viel für mich. Zu dem Zeitpunkt war ich wieder in einer Klinik, weil es mir so schlecht ging. Ich hatte und hab keine Kraft mehr …“

„Es waren auch staatliche Stellen, die mir als Kind vor über 30 Jahren nicht glauben/helfen wollten. Mit meinen Steuern bezahle ich deren Arbeit. Die verstehen nicht einmal ansatzweise, welche und wie viele Schäden, Ängste u.v.m. persistieren, jahrelang, Tag und Nacht, immer wieder.“

„Ich kämpfe seit mehreren Jahren um Entschädigung, verklage das Land Berlin – dieses System ist traurig und schockierend zugleich. Es ist nicht zu glauben, wie schwer traumatisierte Menschen behandelt werden. Wir sind Nummern und Zahlen, die unterm Strich nichts kosten dürfen. Geld, es geht nur ums Geld!“

„Diese Tatsache ist eine Schande für unser Land! Die Betroffenen werden ein zweites Mal zum Opfer! Das muss sich sofort ändern, verdammt!“

„Ich kann nicht mal mehr wütend sein vor lauter Enttäuschung. Wie können die noch in den Spiegel schauen?“

„Bearbeitungszeit laut Website: 295 Tage. Wirklich hilfreich. Wir müssen erstmal alle Kosten selber tragen. Sohn wurde unverschuldet im Bus geschlagen, zwei Zähne kaputt, Gehirnerschütterung, Kieferprellung. Täter gefasst, aber mittellos.“

„Und es ist eine so unfassbare Kraftanstrengung, das zu überstehen und ggf. auch eine Klage anzustrengen. Zahlt in die Gesundheitsfolgen ein.“

„Opfer werden fallen gelassen. Das OEG ist ein Witz, ich warte seit vier Jahren auf den Widerspruch, es passiert nix.“

„Es kann und darf nicht länger angehen, dass Opfer, Geschädigte und Angehörige mit all ihren Sorgen und Belangen im Stich gelassen werden.“

„Mein Antrag wurde auch abgelehnt. Wenn man sich auf den Staat verlassen soll, ist man verlassen. Es ist traurig, zermürbend und hoffnungslos.“

„Es ist einfach nur noch entwürdigend, wie wenig Hilfe man bekommt, wie wenig man scheinbar wert ist, dass man richtig um seine Gerechtigkeit kämpfen muss. Also warum soll man alles wieder so detailliert hochholen und offenlegen, wenn es dann eh abgelehnt wird? Man selbst ist dann wieder voll von Erinnerungen, Flashbacks und dieser schrecklichen Angst. Aber keinen von denen juckt es, was sie uns Überlebenden damit antun. Und dann wird sich ewig Zeit gelassen, nur um am Ende nicht zuzustimmen.“

„Das sind erschreckende und traurige Zahlen, aber auch leider die erschreckende Realität, die sprachlos macht.“

„Wenn wir ein Opferentschädigungs-Gesetz besitzen, müssen Opfer auch im zumutbaren Rahmen geprüft werden und ihren Anspruch erhalten. (…) Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Opfer und auch für den Steuerzahler, der sich darauf verlässt, im Ernstfall Hilfe zu erhalten und nicht noch zusätzlich belastet wird, nur um ihn los zu werden.“

Interview mit einem Sonderbetreuer

„Habe es aufgegeben, OEG zu beantragen. Warte seit drei Jahren auf meinen Widerspruch. Opfer werden so gedemütigt. (…) Ich frage ewig nach und bekomme keine Antwort.“

„Als Beispiel, ich beantrage das seit fünf Jahren, werde immer wieder abgewiesen. Ich beantrage nur weiter, weil ich ohne therapeutische Hilfe sterben werde. Ich will kein Geld in der Tasche, ich will leben!“

„Ich hatte vor einem Jahr das Gespräch beim Psychiater. Um ehrlich zu sein, kam ich mir eher vor wie ein Täter als ein Opfer. Denn es wurden mir nur Fragen zu meinen Schwächen gestellt und nichts zur Tat und den Schäden, die ich durch den Missbrauch erlitten habe. Dann ist es zudem noch so schrecklich, dass die Täter bei einer Anzeige oft mit einer Geldstrafe davonkommen – so wie in meinem Fall. Das ist doch echt ungerecht, dass wir Opfer unser Leben lang mit den Schäden zu kämpfen haben und die Täter sich mal eben mit einem läppischen Betrag freikaufen können und weitere Taten begehen können im schlimmsten Fall.“

Hinweis der Redaktion: Die Reaktionen veröffentlichen wir ohne Namen, sprachlich haben wir außer Kürzungen und Tippfehlerkorrekturen keine Änderungen vorgenommen.

Staatliche Hilfe für Gewaltopfer auf Rekord-Tiefstand

Erstellt am: Montag, 15. August 2022 von Torben

Staatliche Hilfe für Gewaltopfer auf Rekord-Tiefstand

Der WEISSE RING dokumentiert jährlich die Zahlen zu den Anträgen nach dem Opferschutzhilfegesetz. Demnach wurde 2021 fast jeder zweite Antrag auf Unterstützung abgelehnt.

Wer als Gewaltopfer Hilfe braucht, sollte besser nicht auf den Staat bauen: Fast jeden zweiten Antrag auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz haben die Ämter im vergangenen Jahr abgelehnt (46,6 Prozent). Das ist der schlechteste Wert seit mehr als 20 Jahren, wie aus der jährlichen Dokumentation des WEISSEN RINGS hervorgeht, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer. „Das bestätigt unsere schlimmsten Befürchtungen“, sagt Prof. Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS. „Die Bürokratie lässt Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind, immer öfter hilflos zurück.“

Prof. Jörg Ziercke. Foto: Christoph Soeder

Eine Ablehnungsquote von 46,6 Prozent bedeutet allerdings nicht, dass mehr als die Hälfte der Opfer Hilfe bekommen hat: Nur 27,6 Prozent der Entschädigungsanträge wurden von den Ämtern genehmigt – auch das ist fast ein historischer Tiefstand. Einzig im Jahr 2019 lag die Anerkennungsquote noch niedriger. Die übrigen Antragsteller blieben ohne Hilfe: 25,8 Prozent der Anträge bekamen in den Behörden den Stempel „erledigt aus sonstigen Gründen“. Sonstige Gründe können zum Beispiel der Tod des Antragstellenden, die Weitergabe des Falls in ein anderes Bundesland oder die Rücknahme des Antrags durch den Betroffenen sein.

Zermürbende OEG-Verfahren

Der Anteil der „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Die 25,8 Prozent aus 2021 sind der dritthöchste Wert in der Statistik des WEISSEN RINGS, 2020 und 2019 lag die Zahl sogar noch höher. „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich dahinter zum großen Teil Fälle verbergen, in denen Gewaltopfer ihre Anträge zurückgezogen haben – weil sie durch die Bürokratie und die langen Verfahren zermürbt sind“, sagt Ziercke. Warum Opfer ihre Anträge zurücknehmen, wird bislang bundesweit nicht einheitlich erfasst.

Mit dem 1976 verabschiedeten Opferentschädigungsgesetz (OEG) verpflichtet sich der Staat, Opfer von Gewalttaten, wie etwa Körperverletzung, häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch, zu unterstützen. Sie sollen vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Nachteilen durch die Tat geschützt werden, der Staat soll laut Gesetz zum Beispiel Kosten für medizinische Behandlungen oder Rentenzahlungen übernehmen.

Wie das OEG in der Praxis umgesetzt wird, hat die Redaktion des WEISSEN RINGS umfassend recherchiert und im Juni im Magazin „Forum Opferhilfe“ und online veröffentlicht. Die Ergebnisse zeichnen ein erschütterndes Bild, welches durch die Zahlen für das Jahr 2021 gestützt wird.

Die wichtigsten Erkenntnisse:

  1. Viel zu wenige Gewaltopfer stellen einen Entschädigungsantrag. Das Gesetz ist weitgehend unbekannt.
  2. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern bei den Anerkennungs- und Ablehnungsquoten.
  3. Gewaltopfer empfinden die Verwaltungsverfahren als unsensibel, belastend und vielfach sogar als retraumatisierend. (Betroffenenbericht: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“)

„2021 war ein sehr schlechtes Jahr für Opfer, die von Gewalt betroffen waren. Das OEG ist ein gutes Gesetz, aber der Staat hält sein Hilfsversprechen nicht. Die Unterstützung kommt nicht bei den Betroffenen an“, sagt Ziercke. Bezogen auf die Analyse der Zahlen, betont der Bundesvorsitzende: „Wer um die Schwachstellen weiß, kann auch etwas ändern.“ Vor allem brauche es jetzt einen Kulturwandel in den Ämtern: „Die Behörden müssen auf Anerkennung prüfen, nicht auf Ablehnung. In Deutschland muss der Leitsatz gelten: Im Zweifel für das Opfer!“

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Monica Gomes aus Unterfranken.

Foto: Ahlers/WR

Ihr Kopf und ihr Körper sollten endlich wieder Ruhe geben, also schluckte sie Tabletten, viele Tabletten. Sie krampfte. Ihre Atmung setzte aus. Das Herz gab nach. Der Notarzt kam, erst auf der Intensivstation wachte Monica Gomes wieder auf.

Monica Gomes: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten“

(Sie finden die Audiostory auch auf SpotifyApple Podcast und Deezer)

Ebern, Unterfranken, eineinhalb Jahre später. Draußen vor den Fenstern schlägt die Landschaft sanfte Wellen, darauf Grün und Gold und graue Streifen: Wälder, Felder, kurvige Straßen, hin und wieder weist ein Schild den Weg zur nächsten Burgruine. Drinnen sitzt Wolfgang, der Lebensgefährte von Monica; seine Stimme bebt vor Empörung, wenn er über den Tag spricht, an dem er sie bewusstlos fand. „Die Monica“, sagt er, „wäre fast gestorben!“ Neben Wolfgang sitzt Monica, sie sagt: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten.“

Was sie nicht mehr ausgehalten hatte, das erklärte ihr anschließend eine Ärztin, eine Psychiaterin: Es waren die ständigen Retraumatisierungen durch die Schriftwechsel mit dem Amt, das ihren Antrag auf Unterstützung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) prüft. Schreiben, die Monica „martialisch“ nennt. Schreiben mit Fragen und Forderungen, die Monica immer wieder zurückzwangen: in ihre Kindheit, die damals erlebte Gewalt, „die ständige Ohnmacht und die kaum aushaltbare Angst“, wie sie sagt. Die Ärztin riet ihr dringend, das OEG-Verfahren zu beenden.

Zum ersten Mal vom OEG hörte Monica Gomes 2018. Ihr jüngster Aufenthalt in einer Nervenklinik lag noch nicht lange zurück, es war bereits der sechzehnte, als sie Kontakt zum WEISSEN RING aufnahm. Helmut Will, Leiter der Außenstelle Ebern, fragte sie: „Kennen Sie eigentlich das Opferentschädigungsgesetz?“ „Nein“, sagte Monica; wie die meisten Deutschen hatte sie nie davon gehört. Will erklärte ihr, dass sie als Gewaltopfer möglicherweise Anspruch auf Unterstützung nach dem OEG habe, vielleicht sogar auf eine lebenslange Rente. Monicas Krankheitsliste war lang: Posttraumatische Belastungsstörung, Agoraphobie, also Platzangst, Depressionen, es bestand Suizidgefahr. Arbeiten konnte sie schon lange nicht mehr, bereits mit 33 Jahren wurde sie unbefristet berentet. Heute ist sie 46.

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Im Amt füllte sie den OEG-Antrag aus. Sie nannte die Täter, „Eltern, Adresse unbekannt“, sie nannte den Tatort, „Elternwohnung“, sie nannte die Tatzeit, „bis zum 19. Lebensjahr“. Sie beschrieb die Taten, „jahrzehntelange Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Psychoterror“. Sie kreuzte „Nein“ an bei der Frage, ob sie Strafanzeige erstattet habe, „Hauptgrund war, dass das Jugendamt mir von einer Strafanzeige abgeraten hat“.

Das Amt antwortete mit Schreiben in Amtsdeutsch. „Die Bearbeitung Ihres Antrags wird einige Zeit erfordern“, hieß es in einem ersten Brief. „Die zur Bearbeitung erforderlichen Unterlagen und Beweismittel sind einzuholen und mit Ihrer Mitwirkung zu vervollständigen.“ Das Amt hatte auch einen ersten Mitwirkungsauftrag für Monica: „Umgehend einzureichen“ seien Namen und Anschrift aller Hausärzte „ab Kindheit bis laufend“, außerdem Kopien sämtlicher Zeugnisse.

Weitere Schreiben folgten. Das Amt mahnte: Der Anspruchsteller oder die Anspruchstellerin, also Monica, habe den Nachweis zu erbringen über „das Vorliegen eines tätlichen vorsätzlichen Angriffs“. Das Amt forderte weitere Angaben „im Rahmen der behördlichen Sachverhaltsaufklärung“, zum Beispiel: Welche „konkreten Körperverletzungshandlungen (auf den Körper zielende gewaltsame Einwirkungen)“ hätten die Eltern an Monica vorgenommen? Was könne Monica vorbringen, damit „das Vorliegen eines sexuellen Missbrauchs“ geprüft werden könne?

Ohnmacht. Kaum aushaltbare Angst.Monica wusste, sie brauchte nun einen Anwalt.

Wo finden Gewaltopfer einen Anwalt, der sich mit dem Opferentschädigungsrecht auskennt? Monica suchte im Internet, das Suchergebnis war ernüchternd. Oben im Norden fand sie ein paar Namen. Gemeinsam mit Wolfgang stieg sie frühmorgens in Bayern in den Zug, um nach Hamburg zu reisen, erst spätabends kamen sie zurück, erschöpft. Eine Frau, arbeitsunfähig, agora­phobisch, kauft ein Zugticket für eine Fahrt quer durchs Land und setzt sich in ein Zugabteil voller Menschen. Monicas Kopf und Körper waren unruhig.

Im Norden fand Monica eine Anwältin, Ruhe fand sie dadurch nicht. Jetzt kam die Post nicht aus dem Amt, sondern aus der Anwaltskanzlei. „Nehmen Sie Stellung hier, nehmen Sie Stellung da“, so beschreibt es Monica.

Das Amt suchte Zeugen für die Körperverletzungen an Monica. Sie möge bitte den vollständigen Namen und die Anschrift ihrer Schwester übermitteln. Die Schwester war vor Jahren nach Portugal gezogen, Monica hatte keine Ahnung, wo sie lebt; die beiden hatten keinen Kontakt. „Jeder geht auf seine Weise mit dem Erlebten um“, sagt Monica. Sie setzte lange Antwortschreiben auf. Ja, antwortete das Amt, dann möge sie doch bitte den vollständigen Namen der Schwester und ihre zuletzt bekannte Anschrift mitteilen.

Monicas Kopf und Körper rotierten. Würde das Amt jetzt jahrelang nach der verschollenen Schwester suchen? Müssten zuerst die portugiesischen Behörden um Amtshilfe ersucht werden? Wieso glaubte ihr niemand? Monica spricht bis heute nur von der „Gegenseite“, wenn sie von der Behörde spricht. Jede Stellung­nahme, die sie schreibt, wird von der Gegenseite „mit Macht“ auseinandergenommen, so empfindet sie es. „Permanent steht die Behauptung der Gegenseite im Raum, dass meine Schilderungen nicht wahr seien!“, empört sie sich. „Das ist erniedrigend!“ Monica schlief kaum noch. Sie fragte: „Was bringt mir das alles?“ Sie recherchierte im Internet zu aktiver Sterbehilfe. Sie griff zu den Tabletten.

Nach der Entlassung von der Intensivstation stoppte Monica das OEG-Verfahren, das Amt setzte die Bearbei­tung ihres Antrags bis auf Weiteres aus.

„Wenn ich das alles gewusst hätte, hätte ich niemals den Antrag gestellt“, sagt sie eineinhalb Jahre später in Ebern, Unterfranken. Vor einigen Wochen entschied sie sich dennoch, das Verfahren wieder aufzunehmen: „Wir haben schon so viel investiert.“ Sie hat eine Thera­peutin, die sie durch das Verfahren begleitet. Eine neue Anwältin. Ihre Schwester hat sich gemeldet, ein erster E-Mail-Kontakt besteht jetzt. Unterm Tisch kauert Kimi, eine Königspudeldame, Monicas Assistenzhund, finanziert mit Unterstützung des WEISSEN RINGS. Mit Außenstellenleiter Helmut Will hat Monica verabredet, dass alle Post vom Amt zum WEISSEN RING geht. „Die Monica kriegt keinen Brief mehr zu sehen“, sagt Wolfgang, ihr Lebensgefährte. Sie soll davon so gut es geht verschont bleiben.

Wenn sie doch mal eine Frage beantworten muss, dann stelle sie sich dem, sagt Monica, aber nicht allein. „Meine Therapeutin fängt mich auf.“ Gemeinsam laufen die beiden durch die Natur, lange Spaziergänge, lange Gespräche. Die Therapeutin sagt: „Wer so etwas erlebt hat, sollte nicht in einen Raum eingepresst werden.“

In Ebern drängelt Kimi, sie zupft an Monica, die Hündin will raus. „Sie will mich hier rausholen“, erklärt Monica, „das Gespräch dauert ihr schon zu lange.“

Aber zuerst möchte Wolfgang noch etwas sagen, er räuspert sich. Das hier, kündigt er an, sei ihm wichtig. Er sagt, er habe sein altes Haus in Unterfranken verkauft und eine neue Wohnung in Bayreuth gekauft, für die Monica und ihn. Behindertengerecht, mit Notfallknopf, betreutes Wohnen. Für die Monica, sagt er. Für ihn gebe es einen tollen Blick auf das Festspielhaus, er sei ja ein großer Wagner-Fan. Seine Stimme bebt, diesmal vor Entschlossenheit: „Niemals“, sagt er, „niemals werde ich die Monica im Stich lassen!“

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Matthias Corssen aus Niedersachsen.

Foto: Ahlers/WR

An einem Wintermorgen im Jahr 2019 reiht sich Matthias Corssen mit Dutzenden anderen in die Warteschlange vor dem Saal ein, in dem der größte Mordprozess in der jüngeren deutschen Geschichte verhandelt wird. Er hofft, dass er früh genug dran ist, um hinten im Saal noch einen Platz zu finden.

Vor Gericht steht der sogenannte Todespfleger, angeklagt wegen 100-fachen Mordes. Vorn im Saal gibt es reservierte Plätze für die 126 Nebenkläger: Angehörige der mutmaßlichen Mordopfer. Es gibt auch Plätze für 17 Rechtsanwälte, für Ersatzrichter und Ersatzschöffen, für Gutachter, für 80 Journalisten. Für Matthias Corssen ist kein Platz reserviert. Er ist der einzige bekannte Überlebende der größten Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er ist der einzige Mensch im Saal, dem selbst Gewalt angetan wurde durch den Todespfleger. Aber hier gehört er nicht dazu.

Matthias Corssen: „Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

Fünf Jahre lang tötete der Todespfleger kranke und verletzte Patienten. Er spritzte ihnen tödliche Medikamente, um sich bei Wiederbelebungsmaßnahmen als Retter zu inszenieren. Er tat das auch bei Matthias Corssen: Als er im Juni 2004 einen schweren Verkehrsunfall hatte, war der Pfleger als Rettungssanitäter vor Ort. Er spritzte Corssen eine Medikamentenüberdosis, anschließend reanimierte er ihn, so ergaben es die Ermittlungen der Polizei. Corssen überlebte die Tat.

Im Gerichtssaal richten sich alle Blicke auf den Täter. Corssen, der seit Jahren darum kämpft, als sein Opfer anerkannt zu werden, sieht niemand.

Strafrechtlich hat Corssens Überleben die Sache verkompliziert. Wenn niemand stirbt, kann kein Mord geschehen sein. Zwar ist auch der Versuch des Mordes strafbar, aber dem stand im Fall Corssen Paragraf 24 des Strafgesetzbuches entgegen, „Rücktritt vom Versuch“: Weil der Todespfleger Corssen wiederbelebte, ist er rechtlich vom Mordversuch zurückgetreten. Bleibt der Vorwurf Körperverletzung. Aber im Fall des Todespflegers verschleppte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen jahrelang. Seine Taten kamen erst Jahre später ans Licht, im Fall von Matthias Corssen Ende 2014. Corssen bekam Post, „aufgrund der Verjährungsfrist ist diese Tat nicht mehr verfolgbar“. So wurde der einzige bekannte Überlebende der Mordserie bei ihrer juristischen Aufarbeitung zum Zuschauer. „Das ist der Witz des Jahrhunderts“, findet Corssen.

Krampfanfälle, Panikattacken, Schlaflosigkeit. Eine tiefe Angst vor Spritzen. Träume von Mord und Tod. Corssen ging es schlecht. Er begann eine Traumatherapie, bezahlte sie selbst. Wenn er im Bekanntenkreis über die Tat sprach, hieß es oft, naja, so schlimm war das ja nicht. Wenn Journalisten über seinen Fall berichteten, schrieben ihm fremde Leute, er wolle sich doch nur wichtigmachen.

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Der Staat konnte Matthias Corssen nicht vor der Gewalttat schützen. Er schützte ihn auch nach der Gewalttat nicht: Der Staat ermittelte zu spät und zu langsam, er legte Paragraf 24 des Strafgesetzbuchs gegen Corssen aus, er legte die Verjährungsfrist gegen ihn aus. Er weigerte sich, Corssen als Opfer anzuerkennen.

Corssen ging zu einer Anwältin, die er von früher kannte. Die Anwältin drückte ihm den Antrag zum Opferentschädigungsgesetz in die Hand. Corssen hatte noch nie davon gehört. „Den nimmst du mit und füllst ihn aus“, sagte die Anwältin. „Da habe ich dann zu Hause gesessen mit dem Antrag“, sagt er. „Ich war absolut überfordert.“ Zum nächsten Termin bei der Anwältin nahm er den unausgefüllten Antrag wieder mit. „Das musst du mal in Ruhe machen“, sagte die Anwältin. Corssen schaffte es auch in Ruhe nicht.

Die Medien berichteten groß über den Todespfleger. Die Menschen in Corssens Umgebung sprachen über die Morde. Über die Toten. Über ihre Angehörigen. „Ich war immer unterm Radar“, sagt Corssen. Er sagte sich: Ich muss den OEG-Antrag ausfüllen! Wenn mein Anspruch auf Opferentschädigung anerkannt wird, dann bin ich doch ein Opfer!

Jemand wies ihn auf die Stiftung Opferhilfe hin. Corssen machte einen Termin. In Oldenburg war die Stiftung Opferhilfe im Gebäude der Staatsanwaltschaft untergebracht. Das Gebäude steht direkt neben dem alten Gefängnis: hohe Mauern, Stacheldraht, vergitterte Fenster. Corssen saß vor dem Gefängnis in seinem Auto und konnte nicht aussteigen. Sitzt da der Todespfleger?, fragte er sich. Steht er vielleicht am Fenster? Als er nach langem Ringen endlich im Büro der Stiftung saß, sagte er: „Wisst ihr eigentlich, wie es den Leuten geht, die hierherkommen?“

Die Stiftung half ihm mit dem Antrag. Zeit verging, Corssens Therapeut bekam Post, „dreimal das gleiche Schreiben von drei verschiedenen Sachbearbeitern“, sagt er. Auch Corssen bekam Post, es sei die „Durchführung einer speziellen psychiatrischen Begutachtung unbedingt erforderlich“, stand in dem Schreiben vom Amt. Der Einladung zur Begutachtung solle er „in Ihrem eigenen Interesse bitte unbedingt folgen“, andernfalls könne das „nachteilige Auswirkungen“ haben.

„Das klingt doch drohend, oder?“, fragt Corssen. Er folgte der Einladung. Herzklopfen. Schweißausbrüche. „Wie vor einer Prüfung“ habe er sich dabei gefühlt: „Ich soll mich rechtfertigen für das, was mir geschehen ist.“

Der Gutachter hob an: „Sie sind ja hier, weil Ihnen vermutlich diese Tat passiert ist…“ Corssen unterbrach den Mann: „Vermutlich?“ Es geschah schon wieder: Alles nicht so schlimm, du willst dich nur wichtigmachen, du lügst doch.

Im niedersächsischen Magelsen, auf dem flachen Land zwischen Bremen und Hannover, praktiziert auf einem jahrhundertealten Meierhof Klaus Römer, Corssens Therapeut. Corssen fährt eineinhalb Stunden zu seinen Traumatherapiestunden, sein Auto parkt er unter wuchtigen Bäumen. Hier ist alles ruhig, hier hört ihm jemand zu. Römer erklärt: „Damit jemand den Opferstatus verlassen kann, ist es unglaublich wichtig, dass eine dritte Instanz sagt: Du bist das Opfer, das ist der Täter. Es geht darum, gesehen zu werden.“ Corssen sagt, die Polizei habe ihn nicht gesehen nach der Tat, die Staatsanwaltschaft nicht, die Anwältin nicht, die Krankenkasse nicht, das Gericht nicht, der Gutachter nicht.

Im Juni 2019 spricht das Landgericht Oldenburg den Todespfleger schuldig wegen Mordes in 85 Fällen. Corssen war zweimal als Zuschauer im Prozess dabei, danach ging er nicht mehr hin, er habe dort keine Antworten erhalten.

Ende 2021 kommt der Anerkennungsbescheid. „Als Schädigungsfolgen werden anerkannt: ,Depressive Anpassungsstörung‘“, so steht es schwarz auf weiß im Bescheid über die „Gewährung von Beschädigtenversorgung“. Matthias Corssen, 46 Jahre alt, ist jetzt offiziell ein Opfer des Todespflegers: 17 Jahre nach der Tat, sieben Jahre nach der polizeilichen Ermittlung, sechs Jahre, nachdem ihm seine Anwältin den OEG-Antrag in die Hand gedrückt hatte.  Für die Jahre 2017 bis 2019 wird ihm eine niedrige Rente zugesprochen, danach fließt kein Geld mehr.

Corssen legt keinen Widerspruch ein. „Es ging mir nie um Geld“, sagt er. Er hat einen Beruf, er ist Fluggerätbauer. „Es ging mir immer nur um eines: Anerkennung!“

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Maria Hagelkorn aus Niederbayern.

Foto: Ahlers/WR

An einem Esszimmertisch in Niederbayern sitzt Maria Hagelkorn* und sagt: „Es wäre schön, wenn man einfach die Reset-Taste drücken könnte und wieder ganz beschwingt wäre.“ Unter dem Tisch bewegt sie unruhig ihre Beine hin und her, eine Nervenkrankheit plagt sie. „Es ist einfach ein Teil vom Leben“, sagt Maria Hagelkorn. Sie meint die vielen Jahre der Angriffe, der Gerichtsprozesse und des OEG-Verfahrens. Und sie meint auch die Spuren, die diese Jahre bei ihr hinterlassen haben, bemerkbar an den Bewegungen unter dem Holztisch.

Maria Hagelkorn: „Ich habe mich oft gefragt, ob ich selbst schuld bin“

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Es begann vor 20 Jahren als Stalkingfall, wie so viele ähnlich gelagerte Fälle. Der Nachbar ist das Problem: Er schikaniert Maria Hagelkorn, platziert tote Tiere oder ein Grabkreuz, das für ihren Tod stehen soll, an der Grundstücksgrenze, beschimpft, bedroht. Mit harmlosen Streichen oder einem Nachbarschaftsstreit hat das nichts mehr zu tun. Das ganze Dorf bekommt das mit, schaut im Vorbeigehen neugierig, was jetzt schon wieder los ist bei der Hagelkorn, einer Zugezogenen, es gibt Gerede.

Maria Hagelkorn schreibt Tagebuch, „wenn es mal wieder eskaliert ist“, hat Angst, fühlt sich als Opfer alleine gelassen. Und die Polizei? „Die kam, sprach den Täter an und sagte mir dann, sie könnte erst was machen, wenn er mir was antut.“ Genau das passierte dann auch: Der Mann wird gewalttätig, greift sie mit Gartengeräten an, gibt der Polizei einen Grund, nicht mehr nur zu zuschauen. Für Maria Hagelkorn aber ist das zu spät: Fünf Jahre, nachdem alles anfing, „da bin ich zusammengeklappt“. Die Taten haben nicht nur psychische Folgen für die Betroffene: Sie muss ihren Job aufgeben, kann seitdem nicht mehr arbeiten.

Drei Mal muss Maria Hagelkorn im Strafprozess erscheinen und aussagen, „ich hätte mir das gerne erspart.“ Das Urteil in zweiter Instanz: Bewährungsstrafe mit Annäherungsverbot.

Irgendwann, der Strafprozess läuft noch, kommt sie in Kontakt mit einem Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, der ihr vom OEG erzählt: „Vorher habe ich nichts, überhaupt nichts vom OEG gewusst.“ Sie, ihr Mann und auch ihre Anwältin, eine Strafrechtlerin, „wir hätten niemals gedacht, dass ich einen Rechtsanspruch auf Entschädigung habe.“ Die Strafrechtlerin macht klar: Ein OEG-Verfahren wird sie nicht begleiten. Also füllt Hagelkorn den Antrag alleine aus. Der Antrag wird abgelehnt.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

„Ich hätte das einschlafen lassen, wenn ich keine Anwältin vermittelt bekommen hätte. Mich alleine hinstellen und sagen: Schaut mich an, ich bin Opfer und hätte gerne Entschädigung, das hätte ich nicht gemacht.“ So landet Hagelkorn schließlich in einer Regensburger Kanzlei, weit weg vom Dorf. Weil es in der Nähe einfach niemanden gibt, der sich mit Sozialrecht auskennt, geschweige denn mit dem Teilbereich OEG. Die neue Anwältin habe gesagt, das machen wir jetzt, das könnte funktionieren. Zusammen legen sie erst Widerspruch ein, dann reichen sie Klage ein.

„Man musste immer irgendwo hin, aufs Amt, ins Gericht, das war der Horror. Weil man sich wieder damit beschäftigen muss“, sagt Maria Hagelkorn. Der Gang zum Postkasten wird zur Qual, sofort reißt Maria Hagelkorn die Schreiben der Anwältin auf, „jedes Mal war das wieder ein Urknall, alles wurde wieder aufgewühlt.“ Maria Hagelkorn bekommt in dieser Zeit Lähmungserscheinungen: „Ich dachte, meine Füße tragen mich nicht mehr.“ Bis heute hat sie bei schwierigen Gesprächen Spannungsgefühle, auch jetzt, wenn sie davon erzählt, wackeln ihre Beine unter dem Esszimmertisch hin und her.

Das Gericht entscheidet, dass die Klägerin zu einem Gutachter gehen muss. „Ich habe den Mann gegoogelt. Es gab viele negative Bewertungen, dass er sehr streng und direkt sei. In mehreren Rezensionen stand: ‚entspricht nicht der Wahrheit.‘“ Sie habe sich sehr viele Gedanken gemacht vor dem Termin. Eines der Tagebücher, in denen sie die Geschehnisse festgehalten hat, nimmt Maria Hagelkorn mit, der Sachverständige kopiert es sich in Auszügen.

„Ich habe mich oft gefragt, wieso sich der Täter mich als Opfer ausgesucht hat und ob ich selbst schuld bin.“ Als sie im OEG-Verfahren steckt, stellt sie sich die Frage, warum sie sich das überhaupt antut: „Man fühlt sich, als ob man beweisen muss, dass man selbst nicht der Schuldige ist, dass man sich rechtfertigen muss, dass einem das passiert ist.“

Irgendwann kommt der Tag des Prozesses am Sozialgericht. Die Richterin sei sehr nett gewesen. Aber sie fragt auch, ob Maria Hagelkorn ihre Klage nicht zurücknehmen wolle, schließlich lebe sie in unmittelbarer Nachbarschaft zum Täter. „Der Anwalt des Versorgungsamts sagte: Es ist ja nur ein Nachbarschaftsstreit. Das klingt mir bis heute nach. Das zu hören war ganz schrecklich. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass er anders über die Sache gesprochen hätte.“

Nach knapp sieben Jahren endlich bekommt Maria Hagelkorn eine Anerkennung nach dem OEG. Aber es folgen dann noch vier weitere Jahre, in denen mit den Behörden um Dauer und Umfang der Leistungen gestritten wird. Am Ende zahlt der Staat über einen befristeten Zeitraum eine Rente und übernimmt die Kosten für eine Psychotherapie. „Auf keinen Fall schafft man das OEG-Verfahren ohne Unterstützung, es kostet Kraft, aber die ist durch den Strafprozess schon aufgebraucht“, sagt Maria Hagelkorn, heute Anfang 50. Ihre Unterstützer waren eine Psychologin, die Hausärztin, die Anwältin und vor allem ihr Mann, der ihr immer Mut machte. Die Anwältin betont, Hagelkorns Partner habe „wie eine Eins hinter ihr“ gestanden.

Das Paar ist nicht weggezogen aus dem Dorf: „Wir hätten nicht gewusst, ob es woanders besser gewesen wäre.“ Momentan ist die Situation vor Ort ruhig, der verurteilte Nachbar hält sich fern. Vor dem Gespräch über ihre Erfahrungen mit dem OEG hatte Maria Hagelkorn eine schlaflose Nacht. Sie sagt: „Mir persön­lich nützt das jetzt nichts mehr. Aber anderen hilft es vielleicht zu sehen: Ich kann mich trauen, andere haben das auch überstanden.“

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Juni 2022 von Torben

„Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich“

Wer Opfer einer Gewalttat wird, kann Hilfe vom Staat beantragen. Für Betroffene bringt das Verfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz allerdings viele Probleme mit sich – zum Beispiel für Flora-Nike Göthin.

Foto: Ahlers/WR

Die Würde von Flora-Nike Göthin* umfasst 108 DIN-A4-Blätter. „Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk ever“, sagt die 62-Jährige über das psychologische Gutachten, das sie hat ausdrucken und binden lassen, weil es ihr so wertvoll ist. Auf den roten Kartondeckel hat sie geschrieben: „100 Seiten zurückbekommene Würde: 1965-2021“. Kurz vor dem letzten Heiligabend las sie das Schriftstück über ihre „Aussagetüchtigkeit“, so steht es auf Seite 1, zum ersten Mal. Sie weinte vor Glück und dachte im ersten Moment, „dass es mir ab jetzt vollkommen egal sein würde, was das Gericht entscheidet“. Dann kam der zweite Moment.

Flora-Nike Göthin: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt“

(Sie finden die Audiostory auch auf SpotifyApple Podcast und Deezer)

„1965“ auf dem Cover steht für das Jahr, in dem Göthin in ein Kinderheim im unterfränkischen Würzburg kam, das von katholischen Nonnen geführt wurde. Das, was sie als Sechsjährige dort erlebte, nennt Göthin heute rituellen sexuellen Kindesmissbrauch durch Geistliche, was von mehreren Priestern beobachtet und fotografiert worden sei. Sie verließ das Heim und die Bilder verblassten. Göthin wurde erwachsen, erlernte einen Beruf, ging arbeiten. Als sie Anfang 30 war, merkte sie, dass sich etwas veränderte. Sie bekam plötzlich Flugangst, konnte nicht weiter als Flugbegleiterin arbeiten, fiel immer wieder krankheitsbedingt aus, „alles kam wieder hoch“, so Göthins Schilderung: Ein Auf und Ab, das sie erst viel später verstanden habe, als sie sich in Therapie begab, wie sie erzählt: „Das hängt alles zusammen.“

Traumafolgestörung, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen und Schlafstörungen: Diese Schädigungsfolgen stellte Göthin bei sich fest und schickte 2013 den Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) an die zuständige Behörde. Diese bestellte sie zur persönlichen Anhörung ein, weil es „keine ‚neutralen‘ Beweismittel“ gebe, also „keine Unterlagen oder Zeugenaussagen“, wie es in einer Mail  heißt. Göthin schrieb zurück: Sie spreche nur mit einer Frau, und auch nur dann, wenn diese nachweislich traumaspezifisch qualifiziert sei im Umgang mit Betroffenen von Gewalttaten, um sich selbst vor einer Retraumatisierung zu schützen. Das Amt antwortete, dass „kein hierfür geschultes Personal zur Verfügung steht, das Ihren Vorgaben gerecht werden könnte“. Der Anhörungstermin kam nicht zustande, der Antrag wurde abgelehnt.

Göthin legte Widerspruch ein und klagte. Das Gericht wies die Klage ab und bezog sich unter anderem auf fehlende Nachweise, etwa Zeugen, Ermittlungs- oder Strafverfahren. Gerade mal 20 Minuten habe der Prozess gedauert. Sie findet, es sei gar nicht ermittelt worden, ärgert sich Göthin.

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Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Dass die Nachweispflicht aus Sicht des Staates bei den OEG-Antragstellenden liegt, empört die 62-Jährige. Sie sei im Laufe des OEG-Verfahrens aufgefordert worden, Anzeige zu erstatten, dem sei sie auch nachgekommen. Allerdings seien die Taten verjährt und das Verfahren eingestellt worden. Göthin versteht das nicht: „Warum muss ich Anzeige erstatten, wenn das eh verjährt ist? Es ist jedes Mal belastend, wenn ich aufs Neue davon erzählen muss.“ Nach Verfahrensbeginn seien zudem nicht nur der letzte beteiligte Pfarrer, sondern auch Schwestern, die sie als Zeugen benannt habe, gestorben. Diese Personen seien nicht befragt worden, man habe sie „wegsterben“ lassen.

Wenn die Aussagen eines Opfers die einzigen Beweismittel sind, ist nach Ansicht des Bundessozialministeriums ein aussagepsychologisches Gutachten „sinnvoll“, heißt es in einem Schreiben an die zuständigen Landesbehörden aus dem Jahr 2014. Aber erst als Flora-Nike Göthin in Berufung ging, beauftragte das Landes­sozialgericht eine Psychotherapeutin mit einem Gutachten. Das Gericht wollte wissen: „Können die Angaben der Klägerin (…) aus aussagepsychologischer Sicht mit relativer Wahrscheinlichkeit (hierbei genügt die gute Möglichkeit) als erlebnisfundiert angesehen werden?“

Für den Termin mit der vom Gericht beauftragten Gutachterin ließ sich Göthin 2018 in eine Klinik einweisen, weil sie hier schon wegen Traumata behandelt worden war und damit sie aufgefangen werden könnte, falls das Gespräch schwierig würde. Sie ließ die Befragung auf Video aufzeichnen. Weil sie befürchtete, „wie in Watte gepackt“ zu sein und nicht mitzubekommen, was sie gesagt hat, Fachleute nennen das dissoziieren. Göthin sagt: „Die Begutachtung hat mich wieder voll in die Traumatisierung getrieben.“ Der Chefarzt der Klinik, Alexander Jatzko, spricht von einer „Aktualisierung des Traumas“ und „massiven Triggern“ für Göthin. Sie habe mehrere Tage benötigt, bevor sie die Klinik wieder habe verlassen können.

Psychotherapeut Jatzko macht das Dilemma seiner Patientin bei der Begutachtung deutlich: einerseits die unangenehme, belastende Situation, alles wieder hochkommen zu lassen. Andererseits: „Es war ihr wichtig, beweisen zu können, dass ihr etwas ganz Schlimmes passiert ist“, sagt der Chefarzt. Über die angewandte Methode sagt er: „Ob die Aussagepsychologie das richtige Mittel ist, um Ergebnisse zu erhalten, ist umstritten.“ Hier brauche es noch einiges an Forschung.

Die Gutachterin schlussfolgerte: „Trotz vorliegender schwerwiegender psychischer Symptomatik“ könne nicht belegt werden, dass sich die Geschehnisse im Kinderheim wie berichtet zugetragen haben. Flora-Nike Göthin hat das 145 Seiten lange Gutachten akribisch durchgearbeitet, Kommentare an die Ränder geschrieben, Ausrufezeichen gesetzt, Sätze unterstrichen. Sie findet es „mangelhaft“.

Göthin hat verstanden: Wenn es keine „neutralen“ Beweise gibt, dann „ist die Glaubhaftigkeit das A und O“. So startete sie einen neuen Versuch, um zu belegen, dass ihre Schilderungen glaubhaft sind. Das Sozialgerichtsgesetz gestattet es Antragstellenden, sich selbst einen zweiten Gutachter zu suchen. Göthin fand einen, der schon andere Heimkinderfälle begutachtet hatte. Allerdings musste sie die Kosten vorschießen: Das Gericht forderte sie auf, 11.000 Euro zu zahlen, und zwar innerhalb von etwas mehr als einem Monat. „Das haut einen um“, sagt die 62-Jährige, das sei Geld gewesen, das sie nicht gehabt habe: „Es interessiert die Behörden nicht, wie man da durchkommt, psychisch, wirtschaftlich.“ Der Kostenvoranschlag des zweiten Gutachters fiel dann aber deutlich geringer aus. Sie habe ihn gebeten, dies dem Gericht mitzuteilen. So habe sich der Betrag dann verringert und der WEISSE RING am Ende die Zahlung übernommen.

2021 musste Göthin wieder von 1965 erzählen, dieses Mal dem zweiten Gutachter. Dieser kam zu einem ganz anderen Schluss als die erste Sachverständige, seine Beurteilung endet mit dem Satz: „Im Rahmen der Glaubhaftmachung ist die Möglichkeit, dass ihre (Göthins, d. Red.) Angaben zutreffen, als die wahrscheinlichste anzusehen.“ Ein Satz, der dokumentiert, was für Flora-Nike Göthin größte Bedeutung hat: Sie hat ihre Würde zurück! Seit 2013 habe man ihr sagen wollen, dass das, was sie sagt, nicht stimmt. Nach neun Jahren, endlich, hat sie die Bestätigung: „Ich bin glaubwürdig!“

Zum Gesprächstermin im Frühjahr 2022 kommt Göthin mit einem hellgrünen Rollköfferchen, darin ein Teil ihrer Unterlagen zum OEG-Verfahren. Die Worte, mit denen die 62-Jährige ihre Empfindungen über Kontakte mit Behörden und Gericht beschreibt: Kampf. Demütigung. Ausgeliefertsein. Ständige Warteposition. Was wird sie machen, wenn das Verfahren abgeschlossen ist? Göthin blickt auf das aufgeklappte Köfferchen auf dem Fußboden, auf das Erstgutachten in einem zerfledderten Umschlag, die Gerichtsbeschlüsse: „Erstmal alle Akten verbrennen. Damit diese Papierflut aufhört.“

„Es kostet unendlich viel Kraft“, sagt Göthin über das Verfahren. Wann es abgeschlossen sein wird, ist offen. Bei Redaktionsschluss wartete sie noch auf Rückmeldung von Behördenseite: Das Amt muss mitteilen, ob es aufgrund des Zweitgutachtens eine grundsätzliche Anerkennung ausspricht oder ob es zu einer Berufungsverhandlung vor Gericht kommt. Göthins Anwalt Kai Nissen sagt: „Wir haben zwei gegensätzliche Gutachten. Sollte es zum Prozess kommen, wird das Gericht entscheiden müssen, welchem es folgt.“ Falls Göthin eine Anerkennung bekommt, bedeutet das nicht automatisch, dass sie auch eine Entschädigung erhält. Laut Nissen müsste im nächsten Schritt dann ein entsprechend hoher „Grad der Schädigung“ nachgewiesen werden.

Es ist Flora-Nike Göthin nicht egal, wie das Verfahren ausgeht. Sie findet, dass sie einen Anspruch auf Entschädigung hat, deswegen wolle sie „wie ein Stachel im Fleisch sein“, wie sie kämpferisch sagt. Immer wieder habe sie nicht arbeiten können, sei krank gewesen, sie sei auf sich allein gestellt und erwarte eine nur kleine Rente. Sie müsse weitermachen, sagt Göthin, schon aus wirtschaftlichen Gründen: „Sonst hätte ich längst aufgegeben.“