684 Tage

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

684 Tage

684 Tage saßen Ramona und Thorsten R. unschuldig hinter Gittern. Ihre eigene Tochter behauptete, sie hätten sie über Jahre wie eine Sexsklavin gehalten, an Dutzende Männer verkauft, sie selbst mehrfach sexuell missbraucht und misshandelt. Ihre Lebensgefährtin und Komplizin, Franzi A.*, gestand Vergewaltigungen an Josephine, die es wahrscheinlich nie gab, ging für sie ins Gefängnis und stärkte damit Josephines Glaubwürdigkeit.

Justizirrtum Josephine R.

Das Ehepaar R. hat durch seine Tochter alles verloren. Auch wenn sie offen ihre Geschichte erzählen, wollen sie unerkannt leben.

Josephine R. soll in dem Artikel nicht im Vordergrund stehen. Oder die Menschen, die ihr geglaubt haben. Über sie alle wurde schon in Dutzenden Artikeln und Podcast-Folgen von unterschiedlichen Medien berichtet, etwa „Der Spiegel“ und die „Braunschweiger Zeitung“. Hier soll es um die Menschen gehen, die Opfer geworden sind und alles verloren haben: Ramona und Thorsten R.

Der Ort, an dem alles begann

Der Herbst ist angebrochen, die Blätter färben sich allmählich bunt, und die Spaziergänger genießen die letzten milden Tage. Goslar ist eine Stadt, die vom Krieg verschont blieb. Überall stehen alte Gebäude, die an eine längst vergangene Zeit erinnern. Die Polizeistation gehört nicht dazu. Sie ist ein modernes, wenn auch erblasstes Gebäude. Ramona und Thorsten R. stehen auf dem Parkplatz davor. Früher lebten sie in Goslar, heute an einem unbekannten Ort.

Für ein Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin sind sie nach Goslar zurückgekehrt, dorthin, wo alles begann. Hier wurden sie verhört und mussten sich gegen Vergewaltigungsvorwürfe wehren. Statt in den Verhörraum im Keller geht es dieses Mal ein paar Etagen weiter nach oben, in einen Besprechungsraum. Der Treffpunkt wurde gewählt, um in Ruhe und abseits der Öffentlichkeit sprechen zu können.

Mehr als zwei Stunden lang werden sie von ihren Erfahrungen mit der Justiz erzählen. „Von den ersten falschen Anschuldigungen habe ich im Frühjahr 2021 erfahren. Als ich am Muttertag verhaftet wurde“, sagt Ramona R. fassungslos. Vergewaltigung, Misshandlung und der Verkauf ihrer Tochter werden ihr vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaften in Braunschweig und Stendal ermitteln, da die Tatvorwürfe zwei Orte betreffen.

Nach drei Wochen Untersuchungshaft wird sie entlassen, weil die Ermittlungsbehörde Zweifel an Josephines Aussagen hat und die Ermittlungen einstellt. „Ich lief zu Fuß zum Bahnhof, stieg in den Zug und fuhr nach Hause.“ Sie hat einen Wohnungsschlüssel, aber Thorsten R. ist auf der anderen Seite der Tür. „Es klingelte und plötzlich stand meine Frau vor mir“, blickt er zurück. Sie fallen sich in die Arme, doch viel Zeit haben sie nicht füreinander, Thorsten R. muss zur Nachtschicht.

2022 werden auch in Stendal die Ermittlungen eingestellt, nachdem die Gutachterin Bettina Reinhold zu dem Ergebnis gekommen ist, dass erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Josephine R. bestehen. Josephine R. nimmt Kontakt zu ihrer Mutter auf, entschuldigt sich und behauptet, ihre Lebensgefährtin Franzi A. habe sie zu falschen Anschuldigungen gezwungen. Das Ehepaar verzeiht seiner Tochter. Doch kurz darauf erhebt die Staatsanwaltschaft neue schwere Vorwürfe gegen Ramona und nun auch Thorsten R., gestützt auf Aussagen der mittlerweile verurteilten Franzi A. Sie selbst hat sich bisher zu keinem der Vorwürfe gegenüber den Medien geäußert.

Das Ehepaar weiß nicht, was hinter seinem Rücken passiert. Josephine zieht bei ihren Eltern ein, sie verbringen viel Zeit miteinander. Eines fällt Ramona R. an ihrer Tochter auf: „Sie hatte immer ein Stofftier bei sich, das Franzi gehörte. Einen kleinen Tausendfüßler. Dabei saß diese Frau im Gefängnis, weil sie sie vergewaltigt haben soll“, sagt Ramona R. Manchmal begründet Josephine ihr Verhalten damit, dass nicht alles so sei, wie es aussehe.

Ein Mann mit Glatze schaut gerade aus. Das Bild ist stark belichtet so dass der Mann nicht komplett zu erkennen ist. Auf dem Foto ist Andreas S.. ein Opfer von Missbrauch in der Kindheit.

Der lange Kampf des Andreas S.

Als Kind wurde er mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht, als Erwachsener kämpft er für Aufklärung.

Die zweite Verhaftung

Es ist der 27. Juli 2022, spät am Abend. Josephine ist in ihrem Zimmer und das Ehepaar hat schon geschlafen. „Wir hörten einen lauten Knall und schwere Schritte die Treppen hochkommen. Dann wurde unsere Tür aufgerammt und das SEK stürzte hinein“, schildert Thorsten R. den Einsatz. „Auf den Boden, auf den Boden!“, hallt es plötzlich durch die Wohnung. „Ich musste mich aufs Bett legen und mir wurden Handschellen angelegt“, sagt er.

„Ich wusste sofort, dass das irgendetwas mit Josephine zu tun hatte. Es konnte nur sie gewesen sein“, erinnert sich Ramona R., die auf dem Boden liegt, nachdem das SEK die Wohnung gestürmt hat. Im Urteil zum Freispruch schreibt später das Gericht, dass Josephine R. Tabletten zu sich nahm, um einen Mordversuch durch ihre Eltern vorzutäuschen. Die Eltern kommen für 684 Tage in Untersuchungshaft.

„Im ersten Moment habe ich keine Wut verspürt, sondern eine Ohnmacht. Die Wut kam später, nach dem ersten Verhandlungstag.“

Ramona R.

Der Prozess

Die Vorwürfe sind dieselben wie bei der ersten Verhaftung. „Im ersten Moment habe ich keine Wut verspürt, sondern eine Ohnmacht. Die Wut kam später, nach dem ersten Verhandlungstag“, weiß Ramona R. noch genau. Das Ehepaar hatte bereits beim Verlesen der Anklage den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig, insbesondere Oberstaatsanwältin Beyse, ihr Urteil schon gefällt hatte. „Unsere Taktik bei diesem Prozess war, zu schweigen und auf die Revision zu hoffen. Bei diesen Staatsanwälten hatten wir keine Chance“, sagt Ramona R.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins wollte Beyse keine Stellungnahme zu den Vorwürfen abgeben. Der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Christian Wolters, wies alle Vorwürfe zurück: „Die Staatsanwaltschaft Braunschweig und auch keine Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft Braunschweig haben irgendjemanden vorverurteilt.“

Während des Prozesses stellten viele Medien das Verhalten des Ehepaares als kühl und emotionslos dar. „Ich habe geweint, viel geweint, aber nicht im Gerichtssaal – diesen Gefallen wollte ich niemandem tun“, sagt Ramona R. Besonders gelitten hätten sie unter der Trennung voneinander. „Wir konnten uns nur Briefe schreiben, die Wochen brauchten, um bei dem anderen anzukommen“, sagt Thorsten R. „Weihnachten war besonders schlimm. Es war das schönste Geschenk, als ich eine Karte von ihr bekam, auf der sie einen Weihnachtsmann für mich gemalt hatte“, sagt er und nimmt die Hand seiner Frau. Im Besprechungsraum wirken beide weder emotionslos noch kühl, im Gegenteil.

Damals verlieren sie ihre Wohnung, ihre Katze muss ins Tierheim und fast ihr ganzer Besitz wird entsorgt. „Unsere Familien lagerten so viel, wie sie konnten, aber niemand wusste, wann wir wieder aus dem Gefängnis kommen werden. Wir haben viele Andenken verloren, Sachen mit emotionalem Wert, wie die Milchzähne der Kinder oder die erste Haarlocke“, sagt Ramona R.

Justizirrtum Josephine R.

Ramona und Thorsten R. gingen gemeinsam durch die schwere Zeit und haben sich durch Briefe gegenseitig Halt gegeben.

Die Zeit im Gefängnis ist hart. Ein Mithäftling schlägt Thorsten R. ins Gesicht. „Mehr ist aber nicht passiert“, sagt er. Ramona R. lernt eine Frau kennen, der sie sich anvertraut. „In Untersuchungshaft ist viel Bewegung, Frauen kommen und gehen. Ich gehörte irgendwann zu denen, die lange da waren“, sagt sie. Die Abende beschreiben beide als besonders schwer: Alleine in einer Zelle komme man in der Dunkelheit ins Grübeln.

Besonders schlimm wird es für Ramona R., als ihre Mutter stirbt. Sie hat Demenz und weiß offenbar nichts vom Gefängnisaufenthalt ihrer Tochter. „Wenn ein naher Angehöriger verstirbt, kann man für die Beerdigung einen Antrag auf Ausgang stellen“, sagt sie. Eine Antwort habe sie aber nie erhalten. Was mit dem Antrag passierte, konnte die Staatsanwaltschaft Braunschweig auf Anfrage nicht beantworten. Für Ramona R. gilt zu dem Zeitpunkt die Unschuldsvermutung, trotzdem kann sie sich nicht von ihrer Mutter verabschieden. „Das war wie ein Schlag ins Gesicht“, beschreibt sie den Moment. „Wir haben nach unserer Freilassung den Baum besucht, unter dem die Urne vergraben ist, und konnten Abschied nehmen.“

„Lieber sitze ich vier bis sieben Jahre mit einem reinen Gewissen, als dass ich etwas zugebe, das ich nie gemacht habe.“

Thorsten R.

Während des Prozesses bekommen beide ein Angebot von der Staatsanwaltschaft: Wenn sie gestehen, können sie eine kürzere Haftstrafe erhalten, heißt es. „Da wusste ich, es geht hier um viele Jahre Gefängnis. Aber ich lehnte ab. Ich gestehe nichts, was ich nicht getan habe“, sagt Ramona R. Ihr Mann sieht es genauso und handelt entsprechend: „Lieber sitze ich vier bis sieben Jahre mit einem reinen Gewissen, als dass ich etwas zugebe, das ich nie gemacht habe.“ Auf Anfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft Braunschweig das Angebot nicht: „Sollte ein derartiges Angebot in der Hauptverhandlung erfolgt sein, wäre es in der Hauptverhandlung erwähnt worden.“

Dann das Urteil: Ramona R. erhält 13 Jahre und sechs Monate Haft plus Sicherungsverwahrung, Thorsten R. neun Jahre und sechs Monate. „Wir waren auf die hohe Strafe vorbereitet durch unsere Anwälte. Trotzdem war es hart, als der Schuldspruch kam, aber auch da brach ich nicht vor den Augen der Staatsanwaltschaft zusammen. Ich blieb stark und weinte erst, als ich wieder alleine war“, sagt Ramona R. „‚Aufgeben ist keine Option‘, haben wir uns in Briefen geschrieben. Und: ‚Am Ende wird alles gut und ist es noch nicht gut, dann ist es noch nicht das Ende‘“, erzählt Thorsten R.

Die anderen Opfer

Ihre Anwälte sowie Psychologen und auch das Gericht glauben Josephine R. Aber es gibt auch Menschen, die sagen, dass da etwas nicht stimme und deshalb ignoriert werden. Dazu gehört die Psychologin und Gutachterin Bettina Reinhold, die 2022 für die Staatsanwaltschaft Stendal ein Gutachten über Josephine R. anfertigt und erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des vermeintlichen Opfers äußert, woraufhin die Ermittlungen eingestellt werden.

Im Braunschweiger Prozess wird dieses Gutachten von Oberstaatsanwältin Beyse scharf kritisiert: „Erhebliche handwerkliche Mängel“, attestiert sie. Dabei sei es nicht geblieben, wie Reinhold im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin erzählt: „Frau Beyse rief mich an und wir sprachen 45 Minuten“, erinnert sie sich. Beyse habe da die fachliche Einschätzung von Reinhold ausgeblendet und sich keines Besseren belehren lassen. So etwas sei ihr in all den Jahren noch nicht passiert. Sie habe die Oberstaatsanwältin gewarnt und ihr gesagt: „Ich glaube, Sie setzen auf ein falsches Pferd.“ Auch sei Reinhold nicht vorgeladen worden, was sie als ungewöhnlich empfunden habe.

Das WEISSER RING Magazin hat die Braunschweiger Staatsanwaltschaft und Vanessa Beyse mit den Vorwürfen konfrontiert und gefragt, welche Mängel das Gutachten von Reinhold gehabt haben soll. Daraufhin verwies die Behörde an die Staatsanwaltschaft Göttingen, da diese im Rahmen von Ermittlungen gegen Beyse aktuell die Akte zum Fall habe. Das Ehepaar R. hat sich nämlich nach dem Freispruch juristische Hilfe geholt, um gegen das erste Verfahren und Beyse vorzugehen. Göttingen antwortete: „Es gibt im Verfahren einen Vermerk, in dem Oberstaatsanwältin Beyse dargelegt hat, warum sie das Gutachten von Frau Dr. Reinhold nicht für relevant hält. Zu den näheren Gründen wenden Sie sich bitte an die Staatsanwaltschaft Braunschweig.“ Informationen zu dem Telefonat zwischen Beyse und Reinhold hat Göttingen nicht.

Neben der Gutachterin hat damals noch jemand Zweifel: der leitende Ermittler Lutz Lucht von der Polizei Goslar. „Bereits bei den ersten Ermittlungen stellten wir unplausible und widersprüchliche Angaben von Josephine fest sowie unwahre Aussagen zu behaupteten Taten. Ferner haben wir Manipulationen von Beweismitteln festgestellt“, sagt er im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin. Die Staatsanwaltschaft wie auch das Oberlandesgericht folgen den Ermittlungsergebnissen und Schlussfolgerungen jedoch nicht. Lucht kann auch nicht nachvollziehen, wieso das „aussagekräftige“ Gutachten von Reinhold nicht in das Verfahren eingebracht wird.

„Als der Staatsanwalt in seinem Plädoyer vorlas, was alles im ersten Verfahren schieflief, kamen mir die Tränen.“

Ramona R.

„Uns wurden schwere Vorwürfe gemacht. Wir hätten voreingenommen, einseitig und schlampig ermittelt. Die Anklagevertreterin erklärte in ihrem Plädoyer, dass sie sich für mich schämen würde und die Vertreterin der Nebenklage sprach gegenüber der Presse von einem Polizeiskandal“, sagt der mittlerweile pensionierte Polizist. Über den angeblichen „Polizeiskandal“ berichtete damals die „Braunschweiger Zeitung“. Auf die Frage, wie mit dem Ermittler während des Verfahrens umgegangen wurde, verwies die Staatsanwaltschaft das WEISSER RING Magazin erneut nach Göttingen. Die dortige Staatsanwaltschaft gab an, hierzu keine Informationen zu haben.

Reinhold spricht von einem Justizskandal. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig sieht das anders und erklärt auf Anfrage: „Fakt ist, dass ein Gericht die Schuld von Ramona und Thorsten R. festgestellt hat. Diese Entscheidung wurde durch die Revisionsinstanz aufgehoben und in einem neuen Prozess wurden die Angeklagten freigesprochen. Das ist ein ganz normaler Verfahrensgang in einem Rechtsstaat. Insoweit ist der Fall Josephine R. ein Beispiel für einen funktionierenden Rechtsstaat.“

Die frühere Anwältin von Josephine R., Gabriele Rieke, zeigt sich selbstkritischer. Sie schreibt in einer Stellungnahme: „Mitteilen kann ich Ihnen, dass ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte, dass es jemand schafft, mich derart zu manipulieren.“ Andererseits „bin ich Parteivertreterin und habe daher eine andere Rolle als die Staatsanwaltschaft. Leider ist vieles in diesem Verfahren bis heute unklar.“ Sie habe Josephine R. angezeigt, da diese nun auch sie der Vergewaltigung bezichtige. Wie der Ermittlungsstand ist, hat sie nicht mitgeteilt.

Die Revision

Die Taktik des Ehepaares geht auf: Im Juni 2024 kommt die Freilassung, der Freispruch am 26. September, seit dem 5. Oktober 2024 ist dieser auch rechtskräftig. „Als der Staatsanwalt in seinem Plädoyer vorlas, was alles im ersten Verfahren schieflief, kamen mir die Tränen“, erinnert sich Ramona R. „Ich habe gezittert vor Erleichterung“, so Thorsten R.

Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf, da sich das Verfahren fast nur auf Josephines Aussagen gestützt und ein objektives psychologisches Gutachten gefehlt habe. Im neuen Verfahren werden Ramona und Thorsten R. freigesprochen: „Die Kammer ist nach der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass sich die Anklagevorwürfe, soweit sie über die getroffenen Feststellungen hinausgehen, nicht nur nicht haben nachweisen lassen, sondern dass sie falsch sind und zu Unrecht erhoben wurden.“ Weiter heißt es im Urteil, dass nicht festgestellt werden konnte, ob es überhaupt jemals zu Straftaten gegenüber Josephine R. kam.

Eine Entschuldigung von den Beteiligten am ersten Prozess erhalten die beiden nicht. Fast ein Jahr dauert es, bis sie die Haftentschädigung ausgezahlt bekommen. Die Haftentschädigung setzt sich aus 75 Euro pro Tag im Gefängnis zusammen. „Für 24 Stunden Freiheitsentzug sind 75 Euro zu wenig“, kritisiert Thorsten R. In der Zeit im Gefängnis haben sich Schulden angehäuft. Rechnungen und Kredite liefen schließlich trotz der Haft weiter, aber es gab in der Zeit kein Einkommen. Sie hätten mit der Entschädigung ihre Schulden und Kredite abbezahlt, mehr als ein Jahr nach der Entlassung fehle jedoch noch das Geld für den Verdienstausfall von Thorsten R.

Das Ehepaar R. hat mithilfe des bekannten Anwalts Johann Schwenn rechtliche Schritte gegen Oberstaatsanwältin Beyse eingeleitet, die Ermittlungen laufen noch. Gegen Josephine R. laufen mehrere Anzeigen, von unterschiedlichen Personen. Sie hat auf Anfrage bislang nicht reagiert. Die Staatsanwaltschaft teilt mit, dass sie von ihrem Schweigerecht Gebrauch macht.

Josephine R. hat vielen Menschen offenbar geschadet, die Beziehung von Ramona und Thorsten R. aber nicht zerstört. Das Ehepaar sitzt seit mehr als zwei Stunden
auf dem Polizeirevier in Goslar. Bei der Frage, ob Josephine je zwischen ihnen gestanden habe, lacht Thorsten R. nur leise. Er nimmt die Hand seiner Frau, blickt ihr in die Augen und sagt: „Nein, niemals. Wir sind stärker als vorher“. Ramona lächelt.

Die Chronologie eines Justizirrtums

2020: Josephine R. behauptet erstmals, von mehreren Männern sexuell missbraucht worden zu sein, zeigt angebliche Verletzungen und beschuldigt Familienangehörige. Heute deutet vieles darauf hin, dass sie sich selbst verletzte. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt gegen Josephines Ex-Mann, die Staatsanwaltschaft Stendal gegen den leiblichen Vater sowie die Mutter Ramona R. In der Psychiatrie lernt Josephine ihre spätere Partnerin und Komplizin Franzi A. (Name geändert) kennen.

2021: Josephine wird gefesselt und verletzt aufgefunden. Sie wurde angeblich überfallen, zudem sollen ihr die Haare abrasiert worden sein. Ramona R. kommt kurzzeitig in Untersuchungshaft, das Verfahren wird wegen Zweifeln an Josephines Aussage eingestellt. Nach angeblichen Gewaltdelikten durch Franzi A. wird diese festgenommen und kommt in Haft. Auch diese Vorfälle hat Josephine R. wahrscheinlich fingiert. Die Akte kommt zu Oberstaatsanwältin Vanessa Beyse in Braunschweig.

2022: Die Staatsanwaltschaft Stendal stellt die Ermittlungen gegen Ramona R. und ihren Ex-Mann ein: Die Gutachterin Bettina Reinhold kam zu dem Ergebnis, dass Josephine nicht glaubwürdig sei. Franzi A. gesteht mehrere Vergewaltigungen an Josephine R., die es wohl nie gegeben hat, und wird zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Nach dem Urteil beschuldigt sie auch Ramona und Josephines Stiefvater Thorsten R. Das Ehepaar wird im Juli verhaftet, und Oberstaatsanwältin Vanessa Beyse erhebt Anklage.

2023: Der Prozess in Braunschweig endet mit harten Urteilen: Ramona R. erhält 13 Jahre und sechs Monate Haft plus Sicherungsverwahrung, Thorsten R. neun Jahre und sechs Monate. Sie beantragen Revision.

2024: Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf. Im neuen Verfahren vor dem Landgericht Braunschweig werden beide im September freigesprochen.

Transparenzhinweis:
Der WEISSE RING wurde von Josephine R. getäuscht und leistete ihr einmalig Soforthilfe, als sie noch als Opfer sexualisierter Gewalt galt. Der WEISSE RING verfolgt das Ziel, allen Opfern von Straftaten unbürokratisch und zeitnah Unterstützung zu leisten. Seitdem die Taten an Ramona und Thorsten R. bekannt wurden, setzt sich der WEISSE RING intensiv für das Ehepaar ein und sammelte mehrere Tausend Euro an Spenden.

Wie viel ist ein Mensch wert?

Erstellt am: Dienstag, 23. Dezember 2025 von Sabine

Wie viel ist ein Mensch wert?

Jeden Tag werden in Deutschland Menschen auf dem Bau, in der Gastronomie und in Reinigungsfirmen ausgebeutet oder zur Prostitution gezwungen. Menschenhandel geschieht mitten unter uns. Im Kampf dagegen gab es in den vergangenen Jahren Fortschritte, die Zahl der abgeschlossenen Verfahren ist gestiegen. Doch viele Fälle bleiben nach wie vor ungestraft oder werden gar nicht erst erkannt. Fachleute fordern einen besseren Schutz für Opfer.

Menschenhandel in Deutschland: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

Szenen aus dem Landgericht Bielefeld

Im schwarzen Ringelpullover und in Handschellen wird die Angeklagte in den großen Saal 1 des Landgerichts Bielefeld geführt. Die 57-Jährige setzt sich auf den Platz ganz links an einem der Tische, die in zwei Reihen vor dem Richtertisch stehen. Mit ihr nehmen neun weitere Beschuldigte im Alter von 29 bis 64 Jahren und rund 20 Verteidigerinnen und Verteidiger Platz. In einem Regal sind Dutzende Aktenordner aufgereiht. Es geht um Menschenhandel, Zwangsprostitution, Geldwäsche. Die Frau im Pullover soll eine zentrale Rolle in einem bundesweiten Schleusernetzwerk gespielt haben, das Frauen und trans Menschen nach Deutschland geschleust und zur Prostitution gezwungen habe.

Mehr als zwei Stunden trägt der Staatsanwalt die Anklage vor. Drei Dolmetscher übersetzen auf Thailändisch und Englisch. Die Beschuldigten, die ihnen per Kopfhörer folgen, sollen bandenmäßig Frauen und trans Menschen aus Thailand mit Touristenvisa nach Deutschland geschleust haben. Hier nahmen sie ihnen demnach die Pässe ab und zwangen sie, die Kosten dafür – zwischen 18.000 und 36.000 Euro – als Prostituierte abzuarbeiten. Es gab Fahrer, die sie vom Flughafen abholten und bundesweit von Bordell zu Bordell fuhren. Sie sollen dafür 15 Cent pro Kilometer bekommen haben. Es gab Kuriere, die das durch Zwangsprostitution erwirtschaftete Geld via Flugzeug nach Bangkok brachten, um es umzutauschen und auf die Konten der Drahtzieher zu überweisen, so der Vorwurf. In einem Fall versteckte ein Kurier 110.000 Euro in einer Süßigkeitenpackung. Die Prostituierten durften demnach keine Freier ablehnen. Egal, wie es ihnen ging.

Evaluation des Prostituiertenschutzgesetz

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat das Prostituiertenschutzgesetz evaluiert und festgestellt, dass es teils Erfolge, aber auch Schwächen aufweist. Es habe die Arbeitsbedingungen verbessert und die staatliche Überwachung gestärkt. Eine Schwäche sei fehlende Akzeptanz des Anmeldeverfahrens. Prostituierte hätten Sorge um die Sicherheit ihrer Daten. Es wurden über 2.300 Prostituierte, 800 Mitarbeitende von Behörden, über 3.000 Kunden und fast 300 Gewerbetreibende befragt. Es gab auch Kritik von außen: Die Evaluation sei methodisch unzureichend und vernachlässige vulnerable Gruppen wie Migrantinnen ohne Papiere.

Kapitel 1: Sexuell ausgebeutet

Was in einem Mehrfamilienhaus an der B 49 in Koblenz geschah, zeigt, was für ein Ende sexuelle Ausbeutung nehmen kann: Vor zwei Jahren wurde hier eine junge Frau tot aufgefunden. „Aufgrund der erheblichen Verletzungen, die der Leichnam aufwies, verständigten die Rettungskräfte die Polizei, die unverzüglich die Ermittlungen aufnahm“, erinnert sich der Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler. „Es war schnell klar, dass das Opfer über einen längeren Zeitraum massiv gequält, misshandelt und regelrecht zu Tode gefoltert worden sein musste.“ Auf Details verzichtet Mannweiler im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin, zu schrecklich seien sie.

Was er erzählen kann: Die Täter, ein Ehepaar, lockten Frauen aus Bulgarien durch Mittelsmänner mit falschen Versprechungen hierher, nahmen ihnen die Ausweise ab, sperrten sie ein, machten sie durch Gewalt und Bedrohungen gefügig: Menschenhandel mit dem Ziel Zwangsprostitution, ein besonders grausamer Fall von vielen.

Das Opfer wurde in Internetportalen angeboten. Trotz massiver Verletzungen durch die täglichen Misshandlungen musste die Frau zahlreiche Freier bedienen, über Jahre. „Da muss man sich schon die Frage stellen, wie eine Gesellschaft beschaffen ist, dass ein solches Martyrium über Monate unbemerkt bleibt. Der Schluss liegt nahe, dass einfach viele weggeschaut haben“, sagt Mannweiler.

Sexuelle Ausbeutung ist ein wesentlicher Bereich des Menschenhandels, Hilfsorganisationen sprechen auch von „Frauenhandel“, da nicht nur, aber vor allem Frauen betroffen sind. Auch der WEISSE RING kümmert sich um die Opfer und verzeichnet mehr als 50 Fälle von Zwangsprostitution allein zwischen Januar und Oktober 2025, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 70 Fälle von Menschenhandel, Tendenz steigend. Drei Jahre zuvor gingen 47 Fälle in die Statistik ein.

Die Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ kämpft seit vielen Jahren gegen Zwangsprostitution. Deutschland ist für Menschenhändler ein lukrativer Ort, da Prostitution legal ist: „Hier werden Betroffene rekrutiert und/oder zum Zweck der Ausbeutung hergebracht“, sagt Sophia Dykmann, Referentin Frauenhandel und Prostitution bei Terre des Femmes.

"Wir machen uns mehr Gedanken in der Gesellschaft über das Recyceln von Joghurtbechern als darüber, dass Frauen hier wie Dreck behandelt werden."

Wolfgang Fink

Ein Großteil seien migrantische Menschen, die unter falschen Angaben aus Westafrika, Rumänien, Bulgarien und Polen nach Deutschland gebracht werden oder vor Armut, Krieg und Klimakatastrophen flüchten. Aber auch deutsche Frauen werden Opfer, etwa durch „Partner“, die sie zur Prostitution zwingen. Wie schwer die Ermittlungen sind, weiß Wolfgang Fink, pensionierter Polizist und ehrenamtlicher Mitarbeiter des WEISSEN RINGS. Er leitete die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Schleuser und Menschenhandel, eine Kooperation zwischen Bundes- und Landespolizei in Baden-Württemberg. „Die Polizei ist auf die Zusammenarbeit mit NGOs angewiesen, um aussagebereite Betroffene zu finden. Ohne Opfer kann nicht gegen Zwangsprostitution vorgegangen werden“, sagt Fink. Da die Betroffenen von den Tätern bedroht würden, sei es schwer, Aussagen zu bekommen. Fink spricht von einer Art Parallelgesellschaft, die ihre eigenen Gesetze habe.

„Viele haben auch schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht“, kritisiert Sophia Dykmann. Sie sei früher in dem Bereich als Sozialarbeiterin tätig gewesen und habe unter anderem sexistische Strukturen erlebt. Fink gibt zu bedenken: „Die Polizei ist ein Spiegelbild der Gesellschaft und auch da gibt es schwarze Schafe“, auch wenn er in seiner Zeit als Polizist zum Beispiel nie erlebt habe, dass Polizisten privat in ein Bordell gingen.

Recht und Gesetz

In Deutschland stellt vor allem Paragraf 232 des Strafgesetzbuches (StGB) Menschenhandel unter Strafe. Wer Menschen zum Zweck der Ausbeutung anwirbt, befördert, weitergibt, beherbergt oder aufnimmt, kann mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden, in besonders schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren, zum Beispiel wenn die Ausgebeuteten psychische oder physische Gewalt erfahren, getäuscht oder entführt werden.

Vor gut neun Jahren erweiterte der Gesetzgeber die Straftatbestände. Seit Oktober 2016 werden die einzelnen Formen der Ausbeutung in den Paragrafen 232a bis 233a StGB explizit genannt: etwa Zwangsprostitution, Zwangsarbeit, Ausbeutung der Arbeitskraft, Ausbeutung durch Bettelei, Begehung von mit Strafe bedrohten Handlungen, rechtswidrige Organentnahme. Zuvor hatte die Europäische Union vorgegeben, Menschenhandel umfassend zu bekämpfen und dadurch sowohl Kinder als auch Erwachsene besser zu schützen.

Bei der Ausbeutung der Arbeitskraft nach § 233 StGB ist nicht entscheidend, ob der Täter Einfluss darauf genommen hat, dass das Opfer die Tätigkeit ausübt. Es reicht, wenn er die wirtschaftliche Not der betroffenen Person kannte, dies ausnutzte und sie ausbeutete – zum Beispiel schlecht bezahlte, Vermittlungshonorare und Mieten verlangte, zu lange oder unter gefährlichen Bedingungen arbeiten ließ, Lohn vorenthielt. Arbeitsausbeutung verfolgen sowohl die Polizei als auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls. Die FKS soll dadurch Opfer von Menschenhandel besser identifizieren und andere Strafverfolgungsbehörden unterstützen können. Neben den genannten gibt es weitere Delikte und Paragrafen, die in Zusammenhang mit Menschenhandel stehen können: Dazu gehören Ausbeutung von Prostituierten (§ 180a StGB) und Zuhälterei (§ 181a StGB) oder auch Menschenraub (§ 234).

Am 1. Juli 2017 trat das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) in Kraft. Es sollte die Strafvorschriften ergänzen und durch eine Regulierung der Prostitution dazu beitragen, Ausbeutung entgegenzuwirken. Kritiker bemängeln, dies sei nicht gelungen.

Ein weiteres Problem sei, dass Behörden Opfer nicht zu 100 Prozent schützen könnten: „Die Täterseite ist gut vernetzt. Wir können im Ausland einen neuen Wohnsitz organisieren und erklären, wie sie sich im Internet zu verhalten haben, um nicht entdeckt zu werden, aber richtig schützen können wir die Frauen nicht“, räumt Fink ein.

Experten schätzen, dass täglich etwa 200.000 Frauen in Deutschland der Prostitution nachgehen. Das Statistische Bundesamt verzeichnete Ende 2024 rund 32.300 gemeldete Prostituierte. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums kaufen täglich etwa 1,2 Millionen Freier Sex. Im Bundeslagebild Menschenhandel sind für das vergangene Jahr 465 Opfer von sexueller Ausbeutung erfasst – ein Plus von 8,6 Prozent gegenüber 2023. Den Angaben zufolge liefen 364 Ermittlungsverfahren, was einen Anstieg um 14,1 Prozent und einen neuen Höchststand bedeutet. Dennoch ist diese Zahl vermutlich viel zu niedrig. „Meine Wahrnehmung war, dass sich nur ganz wenige Frauen freiwillig prostituieren“, sagt Fink.

Seine Arbeit hat ihn desillusioniert. „Männer machen die Gesetze, haben Einfluss, und sie wollen mit Geld Frauen kaufen“, sagt er. „Wir machen uns mehr Gedanken in der Gesellschaft über das Recyceln von Joghurtbechern als darüber, dass Frauen hier wie Dreck behandelt werden“, meint er ernüchtert. Es brauche auch in Deutschland das „Nordische Modell“: Der Kauf von sexuellen Dienstleistungen soll strafbar sein. „Dadurch entsteht auch ein Umdenken in der Gesellschaft: Eine Frau ist nicht kaufbar“, argumentiert Fink.

März 2024

Berlin/Brandenburg. Ermittler durchsuchten am 20. März 2024 in Berlin und Brandenburg 22 Wohn- und Geschäftsobjekte bei neun Beschuldigten. Diese sollen mehr als 20 indische Köche ausgebeutet haben, die bis zu 13 Stunden täglich hätten arbeiten müssen. Einige lebten in den Kellern der Restaurants.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilt das Bundesinnenministerium zu der Forderung mit: „Angesichts der Rolle Deutschlands als Drehscheibe des Menschenhandels wollen die Koalitionspartner Anpassungs- und Umsetzungsbedarfe unter Einbeziehung aktueller Evaluationen, des Prostituiertenschutzgesetzes und des Nordischen Modells prüfen.“

Eine weitere Form von Menschenhandel, die hauptsächlich Frauen trifft, ist die Zwangsverheiratung. „Verlässliche aktuelle Zahlen gibt es kaum, weil dieses Gewaltphänomen meist im Dunkelfeld bleibt – auch deswegen, weil die Betroffenen sich nicht trauen, Hilfe zu holen, oder gar nicht wissen, dass es Beratungsstellen dazu gibt“, erklärt Elisabeth Gernhardt von Terre des Femmes. Aus einer Umfrage der Berliner Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten Petra Koch-Knöbel aus dem Jahr 2022 gehen 496 Fälle von vollzogener oder drohender Zwangsverheiratung hervor. 91 Prozent der Betroffenen waren weiblich. „In der Umfrage war die jüngste Betroffenengruppe bei den zehn- bis zwölfjährigen Mädchen zu finden“, sagt Gernhardt. 88 Prozent der Zwangsverheiratungen fanden im Ausland statt.

Gernhardt weist darauf hin, dass viele Minderjährige potenzielle Opfer sind. Es sei wichtig, in der Schule früh auf das Problem aufmerksam zu machen – bevor es zu spät ist. Viele Opfer wüssten nicht, dass es Schulsozialarbeiter mit Schweigepflicht gibt, an die sie sich wenden könnten. „Das bedeutet: Nur weil in der Schule keine Fälle bekannt sind, heißt das nicht, dass es keine Zwangsverheiratungen gibt.“ Wenn Lehrkräften etwas auffalle, sollten sie nicht mit den Eltern sprechen, weil dies die Situation verschärfen und das Kind gefährden könnte. Eine häufige Masche sei, Mädchen in den Sommerferien unter falschem Vorwand in ihr Herkunftsland zu „verschleppen“ und zu verheiraten. Einige kehren nach Deutschland zurück, andere bleiben. Auch Jungen und Männer sind betroffen, daher sollten sie beim notwendigen Ausbau der Hilfssysteme nicht vergessen und Schulen stärker bei der Prävention unterstützt werden, fordert die Frauenorganisation.

Menschenhandel: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

2011 erschien die bisher einzige bundesweite Studie zu Zwangsverheiratungen in Deutschland. Im Jahr 2008 wurden 3.443 Betroffene erfasst. 93 Prozent waren Mädchen und Frauen.

„Wenn ich nicht wollte, schlug er mich.“

Eine Frau erzählt, wie sie in die Zwangsprostitution kam und es wieder herausgeschafft hat.

„Ich komme aus Paraguay und habe dort 1995 ein deutsches Ehepaar kennengelernt. Sie boten mir eine Arbeit in Deutschland an. Ich war damals 35 Jahre alt. Es hieß, in Deutschland kann man Geld verdienen und ein besseres Leben führen. Angekommen, hat mir der Mann meine Papiere abgenommen – ich besitze auch einen deutschen Pass, da meine Großeltern Deutsche waren. Erst sollte ich mich um eine ältere Frau kümmern. Nachdem sie verstorben war, fing ich als Zimmermädchen im Hotel des Mannes an. Er hatte damals ein Stundenhotel direkt am Bahnhof eröffnet.

Erst sollte ich nur die Zimmer putzen, später war ich für die Sauna zuständig. Ich musste auf einer Matratze auf dem Dachboden des Hotels schlafen und leben. Irgendwann fing er an, in meinem Namen im Internet mit Männern zu schreiben, und zwang mich schließlich, mit ihnen in der Sauna Sex zu haben. Wenn ich nicht wollte, schlug er mich. Meine Nase war gebrochen, auch meine Rippen. Die Freier sahen die Wunden nicht richtig, es war zu dunkel in der Sauna. Ich hatte nichts, kein Geld, keine Papiere, wusste nicht, wohin. Mein damaliger Chef drohte mir: Er meinte, ich brauche nicht zur Polizei zu gehen, da sie mir nicht glauben würde. Auch weil er genug Geld hätte und alles machen könne, was er wolle.

Elf Jahre ging das so. Im Jahr 2006 vertraute ich mich einem Ehepaar an, das unter dem Hotel eine Bar hatte. Sie haben es einem gemeinsamen Freund erzählt. Er war wütend, als er erfuhr, was ich in dem Hotel erleide, und ging zu meinem Chef. Sie prügelten sich. Dabei verlor mein Freund sein Handy. Der Mann, der mich zur Prostitution zwang, rief die Polizei und meldete den Vorfall als Überfall. Die Polizei fand das Handy meines Freundes und machte ihn dadurch ausfindig. Er erzählte ihnen alles. Unter dem Vorwand, sie bräuchten meine Zeugenaussage, lud mich die Polizei ein. Damit ich mich ausweisen konnte, gab mir mein Chef meinen Ausweis zurück. Ich glaube, nach all den Jahren hat er einfach nicht daran geglaubt, dass ich ihn noch verraten würde. Aber ich nutzte die Chance, die sich für mich ergeben hatte, und sagte aus.

Anders als es der Ausbeuter dargestellt hatte, behandelte mich die Polizei gut, bestärkte mich darin, auszusagen, und brachte mich in ein Frauenhaus. Er hatte auch erzählt, das sei nur ein Ort für Suchtkranke, damit ich keines aufsuche. Er setzte sich bald nach Paraguay ab, da das Land keine Deutschen auslieferte.

Im Frauenhaus blieb ich 14 Monate und bekam viel Unterstützung, vor allem von der Hilfsorganisation ALDONA. Ich kann heute immer noch hingehen, wenn ich Probleme habe. Ich bekam psychologische Hilfe, ging in Therapie und kann jetzt offen über das Erlebte sprechen. Und genau dazu möchte ich andere Betroffene ermutigen: Verdrängt nicht, was euch passiert ist. Sprecht offen darüber und sucht euch Hilfe bei Organisationen.“

Kapitel 2: Menschenhandel 2.0

Menschenhandel passt sich aktuellen Entwicklungen an. Das zeigt eine Studie zur Digitalisierung des Menschenhandels in Deutschland im Auftrag des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel (KOK) aus dem Jahr 2022. Autorin der Studie ist die Wissenschaftlerin Dorothea Czarnecki. Im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin bestätigt sie, wie aktuell die Ergebnisse drei Jahre später noch sind. Sie sprach mit zuständigen Behörden, Organisationen, sammelte Fallbeispiele, wertete Statistiken aus. Das Ergebnis: Technologische Hilfsmittel sind in allen Stadien der sexuellen Ausbeutung gegenwärtig.

Die Täter finden ihre Opfer vor allem im Internet über Plattformen wie Instagram, TikTok, Snapchat sowie Videospiele mit Chatfunktion. Das Prinzip ist oft das gleiche: Ein Mann schreibt eine junge Frau an, und sie beginnen miteinander zu chatten. Er baut ein Vertrauensverhältnis auf. Eine Liebesbeziehung entsteht. Die sogenannte Loverboy-Methode führt dazu, dass die angeblichen Partner ihre Opfer in die Zwangsprostitution hineinmanipulieren. Dorothea Czarnecki beschreibt Social Media als „Fluch“ für den Menschenhandel.

März 2024

Osnabrück/Niedersachsen. Polizei und Staatsanwaltschaft durchsuchten am 5. März 2024 Wohnungen in Dissen
und Borgholzhausen. Laut den Ermittlern sollen drei Beschuldigte moldauische Staatsangehörige zur Arbeit und zum Betteln gezwungen haben, darunter Minderjährige. Ein 45-Jähriger kam in U-Haft.

Auch den Transport zu Freiern organisieren Menschenhändler meist digital. Frauen werden in Apartments mit digitalen Türcodes
untergebracht, so dass keine Übergabe an Mittelsmänner nötig ist. Bei anderen Betroffenen kommt es zur digitalen Zwangsprostitution, sie sollen auf Plattformen wie Onlyfans sexuelle Inhalte veröffentlichen, für die Nutzer zahlen. Die Täter müssen dadurch weder den Transport noch die Treffpunkte aufwändig organisieren, fast alles geht online von einem Ort aus.

Opfer von Zwangsprostitution können sich aufgrund der Digitalisierung kaum der Kontrolle der Zuhälter entziehen. Häufig werden sie durch ihr Handy überwacht und sind mithilfe von Tracking-Apps oder Stalkerware, die Freier installiert haben, aber auch durch ihre Social-Media-Accounts schnell auffindbar. Und wenn eine Frau aus der Zwangslage entkommen kann, üben Menschenhändler digitale Gewalt aus. Über Social Media kontaktieren sie die Opfer, bedrohen sie und ihre Familien, damit sie nicht zur Polizei gehen.

Könnte Digitalisierung nicht auch eine wichtige Hilfe bei den Ermittlungen sein? In der Theorie schon, sagt Expertin Dorothea Czarnecki: „Das Problem ist aber, dass in Deutschland Abteilungen der Strafverfolgungsbehörden getrennt sind: Cybercrime, Menschenhandel, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Jetzt ist die Abteilung Cybercrime technologisch gut ausgerüstet, aber die Abteilung Menschenhandel nicht – eine enge Zusammenarbeit ist daher nötig.“ IT-Analystin Czarnecki leitet beim Sachverständigenbüro FORENSIK.IT die Abteilung für Menschenhandelsbekämpfung und Kinderschutz. Ihre Auftraggeber sind Strafverfolgungsbehörden, wo es oft an Digitalisierung mangelt.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilt das Bundeskriminalamt mit, die Onlinedimension von Menschenhandel und Ausbeutung nehme in allen Phasen zu, weshalb das BKA mit nationalen und internationalen Partnern innovative Lösungsansätze entwickle. Livestreams spielten bei Zwangsprostitution eine Rolle, konkrete Zahlen lägen jedoch nicht vor. Zu organisatorischen Strukturen und technischen Ressourcen äußere sich die Behörde aus „kriminaltaktischen Gründen“ nicht.

Dezember 2024

Tübingen/Baden-Württemberg. Das Landgericht Tübingen verurteilte am 12. Dezember 2024 einen 41-Jährigen zu sechs Jahren und neun Monaten Gefängnis. Der Mann hatte die 15-jährige Tochter seiner Ex-Lebensgefährtin zur Prostitution gezwungen, sie mit Drogen gefügig gemacht und selbst vergewaltigt.

Auch an Hilfsorganisationen geht der technologische Wandel nicht spurlos vorbei. Betty Kneisler von „Projekt Schattentöchter“ betreut Opfer von Zwangsprostitution. „Vor allem die Online-Plattformen, auf denen die Frauen angeboten werden, haben einen hohen Zulauf erhalten“, beobachtet sie. In Freier-Foren werden Frauen bewertet, selbst bei Google-Bewertungen, meist schreiben die Verfasser abwertend über sie. Die Frauen werden dadurch „viel breitflächiger verkauft, und auf den Plattformen ist nicht ersichtlich, ob Zwang dahintersteckt oder nicht.“ Die enorme Kontrolle durch die Menschenhändler ist in der Beratung ebenfalls ein Thema: „Wir fanden in den Klamotten Tracking-Tools.“

Ein neues Leben zu beginnen, ist schwer. Fotos und Videos, die einmal im Internet sind, bleiben in der Regel für immer dort: „Die Betroffenen werden das nie wieder los, deshalb ist das Rauskommen so schwer.“

„Wir müssen das Strafrecht so anpassen, dass Menschenhandel effektiv verfolgt werden kann. Bislang kommen Menschenhändler zu oft ohne Strafe davon.“

Stefanie Hubig

Kneisler empfiehlt Ermittlern, in Foren von Freiern unterwegs zu sein. Viele davon würden mit Klarnamen kommentieren, offen Gewaltfantasien beschreiben oder von Zwangsprostitution berichten.

Um digitaler zu werden, schlägt Dorothea Czarnecki Behörden vor, auch frei verfügbare Open-Source-Intelligence-Tools zu nutzen: „Dafür muss man keine tiefe IT-Expertise mitbringen. Die Tools können vor allem Verknüpfungen erstellen zwischen Personen und Telefonnummern oder zwischen bestimmten Nicknames im Internet. Auch die Geolocation kann dadurch ermittelt werden – statt alles händisch suchen zu müssen.“

Kapitel 3: Bei der Arbeit ausgepresst

Außer den Bewohnern, der Polizei und den Sozialarbeitenden darf niemand die Adresse erfahren. Auch keine Details zur Wohnung, Umgebung oder den Männern, die hier leben. Sie sind Opfer von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung geworden und haben in der schlicht eingerichteten Schutzwohnung, die der Internationale Bund (IB) in Berlin seit einem halben Jahr betreibt, Zuflucht gefunden. Es ist die einzige Einrichtung dieser Art in Deutschland. Hier wohnt ein Mann, der pro Woche etwa 80 Stunden arbeiten und an seinem Arbeitsplatz schlafen musste, aber kaum Geld bekam. Ein anderer wurde von seinem Chef nicht nur ausgebeutet, sondern auch schwer misshandelt. Wieder ein anderer ist sowohl Opfer von Arbeitsausbeutung als auch von Identitätsklau.

Der konspirative Umgang mit der Wohnung hat Gründe: Oft versuchen die Täter, die Opfer zu finden, unter Druck zu setzen und so von einer Aussage bei der Polizei oder vor Gericht abzubringen.

Januar 2025

Flensburg/Schleswig-Holstein. Das Landgericht Flensburg verurteilte am 28. Januar 2025 einen Mann unter anderem wegen besonders schwerer Zwangsprostitution zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten. Der Mann hatte eine 16-Jährige zur Prostitution gebracht. Als sie aufhören wollte, bedrohte er sie.

Viele Fälle ähneln sich, sagt Stefan Ehrhardt vom Internationalen Bund, der das Hilfsangebot als Bereichsleiter mit aufgebaut hat: „Die Opfer werden in ihrer Heimat online oder durch Bekannte mit falschen Versprechungen vom großen Geld nach Deutschland gelockt. Hier müssen sie etwas anderes machen als vereinbart, bekommen gar kein oder wenig Geld, müssen Vermittlungshonorare, Ausbildungs- oder Unterkunftskosten abarbeiten.“

Die Betroffenen gerieten in einem fremden Land in eine Abhängigkeit, aus der sie sich schwer befreien könnten. In der Einrichtung des vom Berliner Senat beauftragten IB, die zehn Plätze bietet, sollen die Opfer zur Ruhe finden und mit Hilfe von Beratung eine Zukunftsperspektive entwickeln. Es besteht die Möglichkeit, dass sie Deutsch lernen und eine neue, nicht-prekäre Arbeitsstelle finden. Sie haben Anspruch auf eine dreimonatige Bedenk- und Stabilisierungsfrist sowie Sozialleistungen. Unter bestimmten Voraussetzungen, etwa bei einer Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden, kann die Frist verlängert werden.

Mitunter sei es schwierig, die Betroffenenrechte durchzusetzen, wegen der bürokratischen Hürden und der Unerfahrenheit von Sachbearbeitenden beim Thema Menschenhandel. Es gebe aber auch positive Beispiele, betont Ehrhardt, wie „das für uns zuständige Bezirksamt, es ist dafür sensibilisiert und kooperativ, ebenso wie die Ermittlungsbehörden.“ Zu den Strategien der Täter gehört es, die Betroffenen mit Falschinformationen zu füttern. Etwa zu sagen, die Polizei sei korrupt und arbeite mit ihnen zusammen. Die Sozialarbeiter des IB versuchten, dem mit Aufklärung entgegenzuwirken. Die Entscheidung, ob sie aussagen oder nicht, liege jedoch bei den Opfern, so Ehrhardt.

März 2025

Hannover/Niedersachsen. Ein 37-Jähriger wurde im März 2025 vom Amtsgericht Hannover wegen Menschenhandels zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Er hatte 2021 mindestens vier Arbeitskräfte mit falschen Versprechungen angeworben und bei Flut-Aufräumarbeiten im Ahrtal ausgebeutet.

„Wenn sie von der Polizei oder vom Zoll entdeckt werden, sind sie emotional am Anschlag“, sagt der Bereichsleiter. Sie haben Angst vor einer Abschiebung. Vor möglichen Racheaktionen der Täter. Und vor Geldnot. Die meisten wollen so schnell wie möglich wieder eine Arbeit finden, weil sie ihren Familien Geld schicken wollen.

Zunächst gehe es darum, psychologisch Erste Hilfe zu leisten, ihnen Sicherheit zu vermitteln und sie zurück ins „normale Leben“ zu begleiten, etwa mit Spaziergängen oder Gruppenangeboten. Unter den Bewohnern erlebe er eine „große Solidarität“, lobt Ehrhardt. Sie würden gemeinsam kochen, sich unterstützen und Halt geben. Der Bewohner, der die massivste Gewalt erfahren habe, sei fest entschlossen auszusagen, damit die Täter bestraft werden.

Wie aus dem Bundeslagebild Menschenhandel hervorgeht, ist die Zahl der abgeschlossenen Verfahren im Bereich Arbeitsausbeutung 2024 im Vergleich zu 2023 um 10,8 Prozent gestiegen, auf 41 – so viele wie noch nie. Dass das Hellfeld größer geworden ist, hängt auch mit Fortschritten auf staatlicher Seite zusammen: Seit 2019 kontrolliert der Zoll, ob Arbeitskraft ausgebeutet wird, und hat Opferbeauftragte in seinen Reihen. Polizei, Staatsanwaltschaften und BKA widmen dem Thema mehr Aufmerksamkeit als früher, decken bei vielen Durchsuchungen Missstände auf. Doch der Weg ist noch weit: Unter den Fällen sind Großverfahren, dennoch ist die Zahl weiterhin relativ klein.

Laut BKA sind fast 85 Prozent der Opfer männlich, haben ein Durchschnittsalter von 34 Jahren und kommen hauptsächlich aus Osteuropa und Südostasien. Sie seien oft bei Zeitarbeitsfirmen mit wechselnder Tätigkeit beschäftigt oder in der Logistik, auf dem Bau, in der Gastronomie und in Nagelstudios. Die Täter gehörten zum Teil der Organisierten Kriminalität an.

Menschenhandel: Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Arbeitsausbeutung

Im Bundeslagebild 2024 registrierte das BKA 209 Ermittlungsverfahren mit minderjährigen Opfern, davon 195 wegen sexueller Ausbeutung.

Eliane Friess, Projektreferentin bei der Servicestelle gegen Zwangsarbeit, die unter anderem Behörden schult, sagt: „Die Missstände hängen auch mit dem Fachkräftemangel und der großen Ungleichheit zusammen: Viele Betroffene kommen aus Ländern, in denen die wirtschaftlichen Bedingungen viel schlechter sind. Deshalb nehmen sie viel in Kauf, um in Deutschland zu arbeiten.“ Dass eine solche Ausbeutung hier möglich  ist, hätten sie sich vorher nicht vorstellen können.

Manche sehen sich nicht als Opfer, weil sie noch schlimmere Bedingungen kennen, und sagen dementsprechend nicht aus. „Um Ausbeutung vorzubeugen, sollten die Menschen schon in ihrem Heimatland so viele Informationen wie möglich etwa über faire Arbeitsbedingungen und Anlaufstellen in Deutschland bekommen“, schlägt Friess vor. Hier seien „alle Akteure, die vor Ort sind und kontrollieren, wie zum Beispiel der Arbeitsschutz, gefragt, Hinweise auf Menschenhandel zu erkennen.“

Die Berliner Oberstaatsanwältin Christine Höfele gehört zu den wenigen in Deutschland, die auf Ermittlungen wegen Menschenhandels spezialisiert sind. Berlin ist hierbei eine zentrale Drehscheibe. Auch deshalb gibt es in der Hauptstadt eine Gemeinsame Ermittlungsgruppe Arbeitsausbeutung, an der Polizei und Zoll beteiligt sind. Höfele und ihre Kolleginnen und Kollegen waren in einer ganzen Reihe Verfahren erfolgreich. Die Juristin weiß um den Aufwand, der damit einhergeht: „Es handelt sich oftmals um Großverfahren mit zahlreichen Opfern und Beschuldigten, die Ermittlungsgruppen über Jahre beschäftigen können. Hinter den Taten, die oft einen Bezug zu mehreren Bundesländern und zum Ausland haben, stehen dabei oft organisierte Firmengeflechte mit zehn Unternehmen und mehr.“ Wobei auch die Täter sich fortbilden würden, indem sie zum Beispiel Gerichtsurteile studieren, um daraus zu lernen. Ermittlungen auf der Grundlage der Paragrafen zum Menschenhandel im Strafgesetzbuch seien sehr schwer und aufwendig.

März 2025

Kiel/Neumünster Schleswig-Holstein. Ermittler durchsuchten am 20. März 2025 Wohn und Geschäftsräume in Neumünster. Laut Staatsanwaltschaft wurde eine Person aus menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen befreit, ein 52-Jähriger festgenommen. Der Mann soll mehrere Opfer zur Arbeit gezwungen haben. Das Landgericht Kiel verurteilte ihn im Oktober zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und elf Monaten.

Anna Schmitt berät im Berliner Beratungszentrum für Migration und Gute Arbeit Betroffene von Zwangsarbeit, Arbeitsausbeutung und Menschenhandel. Die Ratsuchenden kommen entweder über die Sicherheitsbehörden zu ihr, mit denen sie kooperieren, oder über andere Anlaufstellen. Was sie am meisten beschäftige? „Ungewissheit und Angst. Etwa vor einer Abschiebung, weil sie keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Vor möglichen Racheaktionen der Täter nach einer Aussage. Und vor Geldnot, weil sie ihre Arbeit und damit die finanzielle Grundlage für sich und ihre Familie verloren haben, häufig auch ihre Unterkunft“, entgegnet die Sozialarbeiterin, die den Betroffenen hilft, ihre Rechte durchzusetzen. „Auch Gewalt spielt bei der Arbeitsausbeutung eine Rolle. Damit werden die Betroffenen eingeschüchtert.“

Im Hinblick auf die Opfersensibilität der Behörden fällt Schmitts Fazit geteilt aus. Es sei zum Beispiel gut, dass der Zoll Ansprechpersonen für Opfer habe. Andererseits würden die Betroffenen teilweise als Beschuldigte geführt, weil sie etwa keine Arbeitserlaubnis haben. Grundsätzlich gebe es Beamtinnen und Beamte mit einem guten Willen – die aber auf zu viele rechtliche Hürden stießen. So könnten beispielsweise Ausländerbehörden lediglich eine Grenzübertrittsbescheinigung ausstellen.

Schmitt spricht sich dafür aus, den Ausgebeuteten über längere Zeit einen sicheren Aufenthalt zu gewähren – auch wenn sie zumindest vorerst keine Aussage machen wollen – und sie besser zu schützen, etwa durch Anonymisierung in Verfahren. Das sei aus menschenrechtlichen Gründen geboten – und würde die Verfolgung von Menschenhandel erleichtern.

Kapitel 4: Politische Pläne

Menschenhandel ist in ganz Europa ein großes Problem, weshalb die EU ihre Richtlinie dagegen 2024 erweitert hat, unter anderem um Ausbeutung durch Leihmutterschaft und illegale Adoption. Alle Mitgliedsstaaten müssen bis Juli 2026 ihre Gesetze zur Bekämpfung von Menschenhandel überarbeiten.

Neben den relevanten Paragraphen im Strafgesetzbuch gibt es in Deutschland einen im Herbst 2024 veröffentlichten „Nationalen Aktionsplan zur Prävention und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz der Betroffenen“ (NAP), der aus 126 Maßnahmen besteht, eine Laufzeit von vier Jahren hat und vor allem mehr Hilfen für Opfer, konsequentere Strafverfolgung und internationale Kooperation ankündigt. Zu den weiteren Plänen gehören eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie Digitalisierung und eine verbesserte Datensammlung zu Menschenhandel.

Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins zum aktuellen Stand antwortete das Bundesministerium des Inneren allgemein: „Etliche Maßnahmen sind bereits in der Umsetzung oder befinden sich in der konkreten Vorbereitung. Weitere Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“

„Eine Schweinerei“

Ein Bauarbeiter aus Rumänien berichtet, wie ein Vermittler seinen Pass und einen Teil seines Lohnes einbehielt.

„Ich bin Anfang 20 und trage schon viel Verantwortung. Vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben. Ich habe eine Freundin und ein Kind, muss für meine Familie sorgen. In Rumänien kann ich nicht genug Geld verdienen, deswegen komme ich nach Westeuropa, um auf dem Bau zu arbeiten. Das letzte Mal in Deutschland war schlimm – was ich nicht ahnen konnte. Ein Kumpel aus meinem Dorf in Transsylvanien hatte mir den Job empfohlen und den Kontakt zu einem Vermittler hergestellt, mit dem ich mich am Telefon auf zwölf Euro netto pro Stunde einigte. Ich sollte zunächst vier Monate in Bayern arbeiten, unter der Woche etwa zehn Stunden, am Samstag um die fünf. Nachdem wir angekommen waren, behielt der Vermittler, der auch die Unterkunft organisierte, unsere Ausweise ein. Er sagte, wir würden sie zurückbekommen, wenn wir die Summe, die wir ihm unter anderem für die Anreise schuldeten, abgearbeitet hätten. Er sprach von zwei Wochen. Tatsächlich erhielten wir unsere Dokumente erst nach einem Monat.

Außerdem zahlte er nur zehn Euro pro Stunde statt zwölf. Und die Hälfte des Lohns behielt er nach dem ersten Monat ebenfalls ein, als eine Art Garantie. Er wollte uns in der Hand haben, vielleicht sicherstellen, dass wir ordentlich arbeiten und nicht abreisen. Später habe ich gehört, dass er das Geld für eine Hochzeit brauchte. Eskaliert ist es, als wir an Ostern nach Hause fahren wollten, zu unseren Familien. Er wollte uns zum Bleiben zwingen und weigerte sich, uns – acht Leute waren betroffen – unser Geld zu geben. Ich bin wütend geworden. Angst hatte ich nicht, wollte unbedingt mein Geld.

Wir haben uns Hilfe geholt und schließlich mit Hilfe der Beratungsstelle Faire Mobilität und des Peco Instituts erfolgreich unsere Löhne eingefordert. Gezahlt hat nicht der Vermittler, sondern der Arbeitgeber.

Das war eine Schweinerei, wie mit uns umgegangen wurde. Erniedrigend. So etwas muss aufhören. Als Opfer von Ausbeutung sehe ich mich aber eigentlich nicht. Für mich ist es normal, bis zu zwölf Stunden pro Tag zu arbeiten. Ich bin jung und stark. Wer schwach ist, wird aussortiert. So ging es einem älteren Mann, der einmal vermutlich einen epileptischen Anfall auf der Baustelle hatte. Er zuckte; der Rettungsdienst musste kommen. Als der Arbeiter nach etwa zwei Wochen zurückkam und wieder anfangen wollte, wurde er weggeschickt. Das war schlimm für ihn.

Ich arbeite inzwischen in Frankreich, regulär mit Arbeitsvertrag, und bin bislang zufrieden. Das Geld kommt pünktlich und die Arbeitsbedingungen sind in Ordnung.“

Seit 2022 berichtet das Deutsche Institut für Menschenrechte im Auftrag der Bundesregierung unabhängig darüber, ob und wie Deutschland die EU-Menschenhandelsrichtlinie umsetzt, und spricht Empfehlungen aus. Die Leiterin der Berichterstattungsstelle, Naile Tanış, rät, die Richtlinie vollständig umzusetzen und den Fokus noch stärker auf den Schutz der Betroffenen zu richten. Im Zuge einer Reform des § 232 StGB soll Menschenhandel etwa um nicht wirtschaftlich motivierte Ausbeutungsformen wie Zwangsheirat ergänzt werden. Außerdem gilt derzeit das schwer nachweisbare Merkmal der „Zwangslage“, das der Gesetzgeber laut EU-Richtlinie in „Missbrauch von Macht“ umwandeln soll.

Darüber hinaus fordert die Berichterstattungsstelle, dass Ermittlungsbehörden bei Bedarf Telekommunikationsüberwachung einsetzen dürfen, um Betroffene zu entlasten. Im Hinblick auf den Nationalen Aktionsplan mahnt sie weiteren Handlungsbedarf an: Viele Maßnahmen seien finanziell nicht gesichert, etwa die Förderung zivilgesellschaftlicher Akteure. Planungssicherheit und Kontinuität seien bei Prävention aber entscheidend. Hinzu komme: „Der NAP enthält keine Maßnahmen zum Aufenthaltsrecht, obwohl Deutschland durch europäische und internationale Normen dazu verpflichtet ist, Betroffenen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit umfassende Hilfe zukommen zu lassen.“ Das BMI erklärte hierzu: „Nach Ablauf der vier Jahre soll der NAP Menschenhandel überprüft und gegebenenfalls aktualisiert werden. So wird Kontinuität auch über die Laufzeit des derzeitigen NAP Menschenhandel hinaus sichergestellt.“

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD spielt das Thema keine große Rolle, das Wort Menschenhandel kommt lediglich ein Mal vor: „Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, steht in dem Papier. Die Opfer seien fast ausnahmslos Frauen. „Im Lichte der Evaluationsergebnisse zum Prostituiertenschutzgesetz werden wir mit Unterstützung einer unabhängigen Experten-Kommission bei Bedarf nachbessern.“

April 2025

Chemnitz/Sachsen. Hunderte Polizisten nahmen am 9. April 2025 bei Durchsuchungen in Deutschland und Tschechien mehrere Verdächtige fest. Sie sollen vietnamesische Frauen mit falschen Visa nach Deutschland eingeschleust, sie hier zur Prostitution gebracht und ausgebeutet haben.

Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) hat Ende Oktober Stellung bezogen. Als „moderne Sklaverei“ bezeichnete sie Menschenhandel und Deutschland als Tatort. „Wir müssen das Strafrecht so anpassen, dass Menschenhandel effektiv verfolgt werden kann. Bislang kommen Menschenhändler zu oft ohne Strafe davon“, sagte Hubig.

Ein Gesetzentwurf aus ihrem Ministerium, der die europäische Richtlinie gegen Menschenhandel umsetzen soll, sieht eine Änderung der Menschenhandelsdelikte (§§ 232 bis 233a StGB) und der Gesetze zur sexuellen Ausbeutung (insbesondere §§ 180a, 181a StGB) vor. So will Hubig die Strafen bei den erstgenannten Delikten erhöhen – grundsätzlich auf bis zu zehn Jahre Haft, nicht nur bei besonders schweren Fällen – und die Möglichkeit eröffnen, mehr Kunden von Ausgebeuteten zur Verantwortung zu ziehen.

Bisher griff die „Nachfragestrafbarkeit“ nur bei Freiern, die wussten, dass sie Dienstleistungen von Zwangsprostituierten in Anspruch nahmen. Künftig soll dies für alle Formen der Ausbeutung gelten, etwa wenn jemand bei einem Bauprojekt Arbeiter beschäftigt, obwohl er weiß, dass sie ausgebeutet werden.

Mai 2025

Frankfurt/Hessen und weitere Bundesländer. Ermittler durchsuchten am 8. Mai 2025 in acht Bundesländern 40 Wohn und Geschäftsräume sowie Bordellbetriebe, unter anderem in Frankfurt. Laut Staatsanwaltschaft ging es um den Vorwurf des bandenmäßigen Einschleusens von Frauen aus China zur Prostitution. Drei Tatverdächtige wurden festgenommen.

Auch plant das Justizministerium, wie von der EU gefordert, beim Menschenhandel durch Leihmutterschaft, bei Adoption und
Zwangsheirat gesetzlich nachzubessern. Kinder und Jugendliche sollen ebenfalls besser geschützt werden, durch neue Tatbestände und einen höheren Strafrahmen bei der sexuellen Ausbeutung gegen Entgelt.

Babette Rohner von Ban Ying, der in Berlin angesiedelten Koordinations- und Beratungsstelle gegen Menschenhandel, mahnt: „Solange der Opferschutz, für den es mehr Geld braucht, zu kurz kommt, wird sich nicht viel ändern.“ Die wenigen Schutzwohnungen seien meistens voll, die Beratungsstellen ausgelastet. „Bei vielen Betroffenen ist die Aussagebereitschaft gering, weil sie weder einen vernünftigen Aufenthaltstitel noch ausreichend Schutz bekommen“, sagt Rohner.

„Menschenhandel ist eine schwere Verletzung von Kinderrechten."

Martina Döcker

Sophia Wirsching, Geschäftsführerin des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel (KOK), sagt, es fehle an Bewusstsein dafür, dass der „riesige Niedriglohnsektor in Deutschland Menschenhandel begünstigt“.

Darüber hinaus mangele es am politischen Willen sowie an Kapazitäten bei den Kontrollbehörden, die „Wirtschaft stärker zu durchleuchten“. Die Missstände würden eher stiefmütterlich behandelt und Betroffene von Ausbeutung noch oft als illegale Arbeiterinnen oder illegale Ausländerinnen betrachtet, die abgeschoben werden müssten. Fälle von Menschenhandel würden somit nicht erkannt.

Die Berliner Oberstaatsanwältin Christine Höfele erklärt, es brauche nicht unbedingt schärfere Gesetze. Auch sie sieht ein Kernproblem darin, dass es „keinen vernünftigen Schutz von Opferzeugen in Deutschland gibt“. Weder „können wir sie zum Beispiel anonymisieren“, damit sie nicht in Gefahr geraten, noch würden die Betroffenen, etwa bei Zwangsarbeit, pauschal entschädigt. Hinzu kämen Probleme beim Non Punishment-Prinzip für Opfer, die sich strafbar gemacht haben: „Wenn wir auf eine Bestrafung verzichten, etwa bei Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz, können wir nicht sicher sein, dass die Ausländerbehörde dies auch so hält.“

Höfele spricht sich für eine bundesweit bessere Vernetzung und Zusammenarbeit der für Menschenhandel zuständigen Behörden, mehr Ressourcen und eine höhere Sensibilität aus: „In vielen Staatsanwaltschaften ist noch nicht angekommen, dass Menschenhandel in Deutschland ein Thema von großer Brisanz ist. Es benötigt viel mehr Aufmerksamkeit und vor allem eine Spezialisierung auf diesem Gebiet.“

Häufig würden Fälle heruntergebrochen auf Delikte wie Schleppen und Schleusen nach § 96 Aufenthaltsgesetz, weil dies viel einfacher nachzuweisen sei als Ausbeutung und Menschenhandel. Was sie bei ihrem Kampf dagegen antreibe? „Als eine Verfechterin der Menschenrechte finde ich: Ein Staat wie Deutschland sollte es sich nicht leisten, dass die Menschenrechte von bestimmten Gruppen mit Füßen getreten
werden. Menschenhandel ist nichts anderes als ein Verstoß gegen das oberste Gebot des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Menschenhandel

2024 wurden laut BKA 83 Opfer durch die „Loverboy- Methode“ zur Prostitution gebracht, meist junge Frauen, die Täter zunächst emotional abhängig machten, um sie später finanziell auszubeuten.

Kapitel 5: Die dunkelsten Felder

Immer wieder werden Kinder einer Familie in Berlin und anderen Bundesländern straffällig, sie begehen zahlreiche Einbrüche und Diebstähle, vor allem in Mobiltelefongeschäften. Die Minderjährigen sind ohne ihre Eltern unterwegs und werden in den jeweiligen Städten und Landkreisen in Obhut genommen – verlassen die Jugendhilfeeinrichtungen aber kurz darauf wieder.

Nach und nach erreichen das zuständige Berliner Jugendamt wiederholt Meldungen von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ämtern und Polizeidienststellen.

IN VIA Berlin, die Fachberatungs- und Koordinierungsstelle bei Handel mit und Ausbeutung von Minderjährigen, ist die einzige dieser Art in Deutschland und kümmerte sich um den Fall. Dieser führt in eines der dunkelsten Felder: IN VIA hat die Minderjährigen als Opfer von Menschenhandel identifiziert, die offenbar durch den Zwang, Straftaten zu begehen, ausgebeutet werden. Die Beratungsstelle brachte Hilfen für den Kinderschutz auf den Weg. Das Landeskriminalamt ermittelt.

3.155

Betroffene von Menschenhandel haben Ermittlungsbehörden im Zeitraum 2020 bis 2022 identifiziert, wie die Berichterstattungsstelle Menschenhandel angibt.

3.704

Personen, bei denen der Verdacht auf Menschenhandel oder Ausbeutung vorlag, haben Fachberatungsstellen oder arbeitsrechtliche
Beratungsstellen im gleichen Zeitraum verzeichnet. Die Beratungsstelle vermutet, dass die Dunkelziffer viel höher liegt, bisher gebe es keine einheitliche Statistik in Deutschland.

15.000

Menschen wurden laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) bereits vor 20 Jahren in Deutschland zur Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen gezwungen.

Die Zahl der Betroffenen nimmt zu. Das Bundeskriminalamt hat in seinem Lagebild Menschenhandel und Ausbeutung für das vergangene Jahr 209 Ermittlungsverfahren mit minderjährigen Opfern (plus 2,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr) erfasst, 195 davon wegen sexueller Ausbeutung (plus 7 Prozent), jeweils zwei Verfahren wegen Arbeitsausbeutung und Ausbeutung durch den Zwang, Straftaten zu begehen, sowie zehn Verfahren wegen Entziehung Minderjähriger, Kinderhandel und Zwangsverheiratung. Insbesondere bei den ausgebeuteten Kindern und Jugendlichen, die sich strafbar machen mussten, gehen Fachleute – ebenso wie bei erwachsenen Betroffenen, wo 2024 lediglich zwei Verfahren abgeschlossen wurden – von einer hohen Dunkelziffer aus. Auch der Menschenhandel in Zusammenhang mit Bettelei – insgesamt ein Verfahren im Jahr 2024, fünf im Jahr zuvor – trifft Minderjährige.

Martina Döcker, Leiterin der auf minderjährige Opfer spezialisierten Fachberatungsstelle von IN VIA, sagt: „Wir stellen immer wieder fest, dass die Ausbeutung hinter den vordergründigen Straftaten nicht erkannt wird, weil die betroffenen Kinder und Jugendlichen keine Aussage hierzu machen. Das Erkennen und Ermitteln der Hintergründe ist in solchen Fällen wesentlich.“ Döcker verweist darauf, dass in solchen Fällen gemäß der Europaratskonvention und der EU-Menschenhandelsrichtlinie von einer strafrechtlichen Sanktion abgesehen werden kann, es gilt das „Non-Punishment-Prinzip“, das in Deutschland in Paragraf 154 c Abs. 2 der Strafprozessordnung verankert ist, aber kaum angewendet wird.

Martina Döcker und ihr Team kümmern sich besonders häufig um sexuell ausgebeutete Minderjährige, etwa um einen verwaisten Jugendlichen: Als er 16 war, machte ein ausländischer Geschäftsmann ihm in seinem Heimatland in Subsahara- Afrika das Angebot, für eine angeblich gut bezahlte Arbeitsstelle nach Deutschland zu kommen. Mit gefälschten Ausweisdokumenten, die ihn als volljährig auswiesen, kam er in der Wohnung des Mannes unter. Dieser sperrte ihn ein und nötigte ihn, mit weiteren Männern Sex zu haben. Wochen später gelang dem Jungen die Flucht. Mit Hilfe von IN VIA, WEISSEM RING und Jugendamt bekam er eine Therapie und einen Platz in einer Wohngruppe. Er entschloss sich, Anzeige zu erstatten. Und will bald eine Ausbildung beginnen.

Aus dem Gericht: Bis zu 50 Freier an einem Tag

Zwei Verfahren, ein Muster der Ausbeutung: Vor dem Landgericht Münster haben im Oktober zwei große Prozesse wegen schwerer Zwangsprostitution begonnen. Sie zeigen exemplarisch, wie systematisch Täter junge Frauen in Abhängigkeit bringen, isolieren und zur Prostitution zwingen. Teils unter massiver Gewalt.

Im ersten Verfahren stehen fünf Angeklagte vor Gericht: drei Männer und zwei Frauen, darunter ein Elternpaar. Ihnen wird vorgeworfen, zwei junge Frauen – eine davon minderjährig – über Jahre unter Drohungen und Gewalt zur Prostitution gedrängt zu haben. Die Eltern stellten demnach ihre Wohnung bereit, und die Familie bestritt mit den Einnahmen ihren Lebensunterhalt. Der 33-jährige Sohn habe mehrfach versucht, eine der Betroffenen zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, was an deren Gegenwehr scheiterte. Der ältere Bruder soll zudem versucht haben, eine weitere, damals 17-Jährige zur Prostitution zu drängen. Die Angeklagten hatten sich bis Redaktionsschluss vor Gericht nicht zu den Tatvorwürfen eingelassen. Die Geschädigten sagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Ein Urteil sollte am 10. Dezember gesprochen werden.

In der zweiten Verhandlung geht es laut Anklage um 80 Taten zwischen Ende 2022 und Anfang 2025. Eine 26-Jährige und zwei Männer (36 und 32) sollen Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren zur Prostitution angeworben und ausgebeutet haben. Während die Angeklagte, die sich zu den Vorwürfen äußerte, die Abläufe plante, Hotels buchte, Anzeigen schaltete und sich auch selbst prostituierte, fuhren die Männer die Frauen laut Anklage zu ihren Einsätzen und sammelten das Geld ein. Die Angeklagte räumte ein, gewusst zu haben, dass mehrere der Mädchen minderjährig waren. Als die Polizei schon gegen sie ermittelte, sollen sie ihre Opfer weiter zur Prostitution gezwungen haben. Dies belegen Aufnahmen der Telefonüberwachung. In einem Fall zeichneten Ermittler auf, wie die Angeklagte ihre Opfer zwang, Fotos von ihren Handys zu löschen. Um den Geschädigten zu drohen, kam eine Schreckschusspistole zum Einsatz. Die Beschuldigte berichtete von einer der Frauen, die bis zu 50 Freier am Tag geschafft habe, ihr „bestes Pferd im Stall“. Besonders erschütternd: In einem Fall zwang die Angeklagte eine Schwangere in der 14. Woche zur Abtreibung in den Niederlanden, um ihren Körper weiter verkaufen zu können. Die Betroffenen sagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Bis Redaktionsschluss hatten sich die männlichen Angeklagten nicht geäußert, kündigten jedoch umfassende Geständnisse an. Ein Urteil wird für Februar 2026 erwartet.

Auch viele in Deutschland aufgewachsene Kinder und Jugendliche sind von sexueller Ausbeutung betroffen, vor allem Mädchen. Die Anwerbung finde oft im digitalen Raum statt, so Döcker. Und stehe manchmal in Verbindung mit Drogenkonsum. Phänomene wie Cyber-Grooming oder Sextortion hätten die Gefahr erhöht, auch weil schnell Bilder produziert und sie damit unter Druck gesetzt werden können. Die Auswirkungen wiegen schwer: „Menschenhandel ist eine schwere Kinderrechtsverletzung, mit lebenslangen psychischen und physischen Folgen.“

Insgesamt hat IN VIA nach eigenen Angaben allein von Januar bis September dieses Jahres 57 minderjährige Opfer von Menschenhandel, 53 davon weiblich, beraten. Und damit deutlich mehr als in den vergangenen Jahren in den Statistiken erfasst waren. Ein Hinweis darauf, dass das Dunkelfeld tatsächlich groß ist. Bei einem größeren Teil handelt es sich um Minderjährige aus Drittstaaten und unbegleitete Geflüchtete. Manche werden sexuell ausgebeutet, andere zu Straftaten gezwungen, etwa bei Betrugsdelikten oder als Drogenkuriere. Die meisten Opfer sind zwischen 14 und 17 Jahre alt, das jüngste war acht.

Die Fachberatungsstelle will das Bewusstsein für das Thema schärfen, dafür sorgen, dass das Hellfeld größer wird und mehr Betroffene Hilfe bekommen. „Sensibilisierung und Schulung“ etwa von Jugendämtern, freien Trägern, Streetworkern oder Familiengerichten sind laut Döcker mit die wichtigsten Aufgaben. „In der fachlichen Diskussion fehlt oft der kindspezifische Blick“, so Döcker. Die Kinder selbst wiederum seien sich in vielen Fällen nicht der Tatsache bewusst, dass sie ausgebeutet werden, etwa aufgrund einer emotionalen Abhängigkeit. Oder sie gäben sich aus Angst vor den Tätern, die Teil der Familie sein können, nicht als Opfer zu erkennen. Manchmal werden sie als solche erkannt, verlassen Jugendhilfeeinrichtungen nach kurzer Zeit aber wieder. Es komme darauf an, sie für die eigene Situation zu sensibilisieren, ihnen auf sie zugeschnittene Hilfen und Schutz zu bieten.

Was bei Minderjährigen auf Menschenhandel hinweisen könne? Jeder Fall sei vielschichtig und einzeln zu betrachten, betont Döcker, nennt aber einige mögliche Anzeichen: Wenn im Umfeld von Kindern oder Jugendlichen zum Beispiel häufig eine unbekannte Person auftaucht, die sie zu kontrollieren scheint. Wenn sie plötzlich immer wieder straffällig werden, über viel Geld und Wertsachen verfügen oder wenn oft unklar ist, wo sie sind.

August 2025

Heilbronn/Baden-Württemberg. Der Zoll durchsuchte am 5. August 2025 einen landwirtschaftlichen Betrieb im Raum Heilbronn. Nach Angaben des Hauptzollamts bestand unter anderem der Verdacht auf Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte. Elf Erntehelfer untermauerten die Vorwürfe mit ihren Aussagen.

Am Landgericht Bielefeld legt ein Justizbeamter der 57-Jährigen, die eine führende Rolle im Schleusernetzwerk gespielt haben soll, auch während einer Prozesspause Handschellen an. 13 Justizbeamte sichern den Saal. Zum Prozessauftakt sind drei Vertreter der Nebenklage anwesend, die betroffenen Frauen sind bis zu ihrer Aussage als Opferzeuginnen in Schutzwohnungen untergebracht.

Laut BKA wird jedes zehnte Opfer nach seiner Anzeigenerstattung unter Druck gesetzt, um bei einer späteren Gerichtsverhandlung seine Aussage zurückzuziehen oder zu relativieren. Rechtsanwältin Petra-Maria Borgschulte kennt das: „Die Frauen haben Angst. Solche Verfahren scheitern häufig daran, dass die Frauen sich nicht mehr trauen, auszusagen.“ Sie vertritt eine der betroffenen Frauen vor Gericht. Vom Prozess erhofft sich Borgschulte, „dass es ein angemessenes Urteil gibt – und das man Hintergründe darüber erfährt, wie das Netzwerk zum Beispiel an so viele Touristenvisa kommen kann. Es muss Menschen in den EU-Botschaften in Thailand geben, die die Visa erteilen. Da profitiert auch wieder jemand. Das sind keine Menschenfreunde.“ Ein Urteil wird am 30. April 2026 erwartet.

Bundesrat dringt auf härtere Strafen bei Verstößen gegen Gewaltschutzgesetz

Erstellt am: Freitag, 12. Dezember 2025 von Gregor
Mehr als 265.000 Opfer Häuslicher Gewalt hat die Polizei im Jahr 2024 registriert. Rund 70 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Illustration: Emmanuel Polanco/Sepia

Mehr als 265.000 Opfer Häuslicher Gewalt hat die Polizei im Jahr 2024 registriert. Rund 70 Prozent der Betroffenen sind weiblich. Illustration: Emmanuel Polanco/Sepia

Datum: 12.12.2025

Bundesrat dringt auf härtere Strafen bei Verstößen gegen Gewaltschutzgesetz

Die Bundesregierung hat bereits eine Reform des Gewaltschutzgesetzes auf den Weg gebracht. Die Bundesländer sehen Lücken im Entwurf und wollen diese schließen.

Um den Gewaltschutz zu verbessern, hat der Bundesrat einen Gesetzentwurf mit dem Titel „Effektivierung des Gewaltschutzes in Hochrisikofällen“ eingebracht. Dieser sieht unter anderem einen größeren Strafrahmen für besonders schwere Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz vor. So sollen zum Beispiel Täter, die Waffen tragen, die betroffene Person stark gefährden oder deren Lebensgestaltung massiv beeinträchtigen, mit Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden können. Auch soll eine vorbeugende „Deeskalationshaft“ nach Paragraf 112a Strafprozessordnung ermöglicht werden.

Darüber hinaus streben die Länder nach eigenen Angaben einen besseren Informationsfluss zwischen Familiengerichten und Polizei an. Letztere soll in Zukunft schon informiert werden, wenn ein Antrag auf eine Schutzanordnung nach dem Gewaltschutzgesetz eingegangen ist. Dadurch soll sie Gefährdungslagen frühzeitig beurteilen und Schritte zur Gefahrenabwehr vorbereiten können.

Polizei soll bei Antrag auf Gewaltschutz früher informiert werden

In seiner Begründung für den Entwurf schreibt der Bundesrat, dass es gerade in Hochrisikofällen „wirksamer und abschreckender Interventionsmöglichkeiten“ bedarf, „durch die gewalttätige Personen frühzeitig konsequent gestoppt und aktiv zur Verantwortung gezogen werden können“. Hochrisikofälle können demnach eskalierenden Stalking-Fällen ähneln. Maßnahmen wie etwa Ordnungsgelder würden entweder zu lange dauern oder gar nicht greifen, so dass Täter, von denen weiterhin eine Gefahr ausgehe, sich nicht effektiv aufhalten lassen würden: „Zivilrechtlicher Gewaltschutz hat einen unvermeidlichen zeitlichen Vorlauf und ist deshalb nicht immer das optimale Schutzinstrument. Die Familiengerichte verfügen auch nicht über dasselbe Ermittlungsinstrumentarium wie die Polizei, wenn der Sachverhalt streitig ist oder tatverdächtige Personen manipulativ vorgehen“, heißt es in dem Papier.

Die Bundesregierung teilte mit, sie stehe dem Vorschlag für einen schnelleren Informationsfluss grundsätzlich positiv gegenüber und prüfe die vorgeschlagenen Änderungen. Gleichzeitig verweist sie auf ihren Gesetzentwurf, der schon „wesentliche Verbesserungen“ enthalte und den das Bundeskabinett im November bereits beschlossen hat. Bundestag und Bundesrat entscheiden noch darüber. Ihre eigenen Pläne für eine Ordnungshaft bei Verstößen gegen Gewaltschutzanordnungen betrachtet die Regierung im Vergleich zur Forderung der Länder als zielführender.

Fußfessel nach spanischem Modell geplant

Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) will im Zuge ihrer Gesetzesänderung etwa eine bundesweit einheitliche Regelung dafür schaffen, Täter zum Tragen elektronischer Fußfesseln nach dem „spanischen Modell“ zu verpflichten. Der WEISSE RING setzt sich seit Jahren dafür ein. Außerdem haben Familiengerichte laut dem Entwurf beispielsweise die Möglichkeit, „soziale Trainingskurse“ anzuordnen und Auskünfte aus dem Waffenregister einzuholen. Der Strafrahmen für Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz soll sich bei Freiheitsstrafen von zwei auf drei Jahre erhöhen.

Gewaltschutz durch Fußfessel: „Wir brauchen möglichst schnell eine wirksame Lösung“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Oktober 2025 von Gregor
Zwei elektronische Fußfesseln liegen auf einem braunen Boden. Fußfessel nach spanischem Modell

Die elektronische Fußfessel soll künftig mehr zum Einsatz kommen. Foto: Christoph Klemp

Datum: 02.10.2025

Gewaltschutz durch Fußfessel: „Wir brauchen möglichst schnell eine wirksame Lösung“

Für das geplante neue Gewaltschutzgesetz gibt es inzwischen einen Referentenentwurf. Fachorganisationen, darunter der WEISSE RING, haben während einer Anhörung des Justizministeriums Lob und Kritik geäußert.

Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) will das Gewaltschutzgesetz ändern und unter anderem bundesweit die Möglichkeit schaffen, Täter zum Tragen elektronischer Fußfesseln nach dem „spanischen Modell“ zu verpflichten.

Dafür setzt sich der WEISSE RING seit etwa zehn Jahren auf Bundes- und Landesebene ein, etwa mit Brandbriefen an die Bundesregierung und einer Petition. Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hat in einer Langzeitrecherche untersucht, wie der Staat Menschen besser vor häuslicher Gewalt schützen könnte und wie erfolgreich die elektronische Fußfessel in Spanien ist.

Seit Sommer liegt ein Referentenentwurf aus Hubigs Ministerium vor, der in Hochrisikofällen die elektronische Aufenthaltsüberwachung im „Zwei-Komponenten-Modell“ vorsieht: Dabei kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer bei sich trägt. Sie löst einen Alarm aus, falls sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern. Die Sperrzonen sind nicht fest, sondern dynamisch.

Höhere Freiheitsstrafen

Darüber hinaus können Familiengerichte laut dem Gesetzentwurf „soziale Trainingskurse“ anordnen. Der Strafrahmen für Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz erhöht sich bei Freiheitsstrafen von zwei auf drei Jahre. Zudem dürfen die Gerichte in Gewaltschutz- und Kindschaftsverfahren Auskünfte aus dem Waffenregister einholen.

Fachorganisationen – zum Beispiel das Deutsche Institut für Menschenrechte, der Deutsche Frauenrat, die Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt und der WEISSE RING – sind an dem Verfahren für das neue Gesetz beteiligt; sie konnten zu dem Entwurf schriftlich Stellung nehmen und sich Anfang dieser Woche während einer Online-Anhörung noch einmal äußern. Viele Rednerinnen und Redner sahen Fortschritte in dem Entwurf und lobten den Ansatz, den Gewaltschutz auf Bundesebene auszuweiten, gaben aber auch kritische Hinweise.

Fallkonferenzen gefordert

Claudia Igney vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) forderte Fallkonferenzen, um Fälle mit hohem Risiko erkennen zu können. Die notwendige Täterarbeit sollte im Gesetz klarer formuliert sein, nicht nur als Option. Igney sprach sich zudem für eine statistische Erfassung und Qualitätskontrolle der Maßnahmen zum Gewaltschutz aus. Und nicht zuletzt, so Igney, müsse der Schutz aller Betroffenen sichergestellt werden, auch von Frauen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung.

Carolin Weyand von UN Women Deutschland bewertete das Gesetzesvorhaben grundsätzlich positiv, einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung müsse aber ein von der Gefährdeten gestellter Antrag vorausgehen. Auch brauche es unbedingt eine „ressortübergreifende Gesamtstrategie“ beim Gewaltschutz sowie flächendeckende Beratungs- und Schutzangebote, die mit dem Gesetz verknüpft werden müssten. Nur dann könne es richtig wirken.

Fußfessel als strafrechtliche Sanktion

Eike Eberle, Geschäftsleiter Öffentliches Eintreten und Justiziar des WEISSEN RINGS, sagte: „Eine bundesweite Regelung für eine Fußfessel bei häuslicher Gewalt ist schon seit dem Jahr 2016 eine offizielle Forderung des WEISSEN RINGS, die seitdem ständig von uns verfolgt wird.“ Der WEISSE RING begrüße die aktuelle Gesetzesinitiative ausdrücklich. Eine ganze Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung des Gesetzes seien sinnvoll. Wichtig sei aber, möglichst schnell zu einer wirksamen Lösung zu kommen. Eberle rief in Erinnerung, dass an fast jedem Tag ein (Ex-)Partner versucht, eine Frau zu töten, und dies an etwa jedem dritten Tag auch gelingt. „Jeder weitere Tag ohne eine Regelung ist nicht zu rechtfertigen.“ Es sei zu überlegen, ob die vorgeschlagenen weiteren Maßnahmen in einem zweiten „Paket“ nachgeschoben werden sollten, wenn sie das Verfahren stark verzögern. Die Verbesserungen müssten jedoch in absehbarer Zeit erfolgen, das Thema dürfe keinesfalls als „einstweilen erledigt“ gelten und von der politischen Agenda verschwinden.

Eberle verwies auf die Stellungnahme des WEISSEN RINGS. Darin heißt es unter anderem, die elektronische Aufenthaltsüberwachung nach spanischem Modell im Gewaltschutzgesetz zu verankern, wäre ein Fortschritt. Für einen wirksamen Schutz von Betroffenen seien allerdings „weitere Maßnahmen, die wir fordern, unverzichtbar – vor allem die Möglichkeit, die elektronische Fußfessel als strafrechtliche Sanktion anzuordnen“. Das familienrechtliche Gewaltschutzverfahren sei nur in seltenen Fällen geeignet, die gravierenden Voraussetzungen der Aufenthaltsüberwachung festzustellen. Die Befristung auf sechs Monate mit einer Möglichkeit, um drei Monate zu verlängern, werde der Gefahrenkonstellation in vielen Fällen nicht gerecht. „Die Praxis zeigt auch, dass die Familiengerichte bei Zuwiderhandlungen zwar eine erneute Gewaltschutzanordnung erlassen, aber so gut wie nie eine Anzeige gemäß § 4 GewSchG bei der Staatsanwaltschaft erstatten“, ergänzte Eberle.

Gesetz könnte Ende 2026 in Kraft treten

Nach eigenen Angaben wertet das Bundesjustizministerium jetzt die Hinweise der Organisationen aus, zum Beispiel zur Risikoanalyse, und prüft, ob und inwieweit sie die Vorschläge in den Referentenentwurf aufnimmt. Der Entwurf der Regierung soll in diesem Herbst oder Winter im Kabinett beraten werden, das parlamentarische Verfahren im Frühjahr oder Sommer des kommenden Jahres beendet sein und das neue Gesetz bis Ende 2026 in Kraft treten. So lautet jedenfalls der Plan.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten Union und SPD bereits angekündigt: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“

Nach der Einführung der Fußfessel in Spanien wurde dort keine Frau, die damit geschützt wurde, getötet. Insgesamt sank die Zahl der getöteten Frauen um 25 Prozent.

Fallzahlen steigen

Häusliche Gewalt nimmt zu. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, wurden im vergangenen Jahr 61.406 Taten erfasst – ein Plus von zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut dem Lagebild der Polizei waren mehr als 66.000 Menschen Opfer von Gewalt in ihrem häuslichen Umfeld. Bei gut 70 Prozent der Fälle waren die Opfer weiblich, bei 30 Prozent männlich. Den Angaben zufolge wurden 32 Menschen durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet, 29 davon waren Frauen.

Einige Bundesländer setzen die neue Variante der Aufenthaltsüberwachung schon ein, darunter Sachsen, Schleswig-Holstein und Hessen, das die Fußfessel zuletzt in neun Fällen im Einsatz hatte. Versuchte Übergriffe auf Opfer seien bislang nicht bekannt.

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

Erstellt am: Mittwoch, 1. Oktober 2025 von Gregor
Das Cover der aktuellen Ausgabe.

Datum: 01.10.2025

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

In der aktuellen Ausgabe setzt sich das WEISSER RING Magazin mit Rechtsextremismus, aber auch mit anderen Formen der Politisch motivierten Kriminalität auseinander. Die Entwicklung ist alarmierend.

Rechtsmotivierte Straftaten werden zunehmend von Jugendlichen und Heranwachsenden begangen, bundesweit. In Bayern zum Beispiel ist die Zahl der Tatverdächtigen in diesen Altersgruppen von 291 im Jahr 2023 auf 517 im vergangenen Jahr gestiegen, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Hauptsächlich handelt es sich um Propagandadelikte, teilweise aber auch um Gewalttaten: In Nordrhein-Westfalen etwa wurden hierbei im vergangenen Jahr 30 Verdächtige zwischen 14 und 20 Jahren ermittelt, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Diese Zahlen gehen aus einer exklusiven Umfrage des WEISSER RING Magazins bei den Landeskriminalämtern und Innenministerien hervor.

Kritische Medienbildung gegen rechte Tendenzen bei jungen Leuten

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, sagte dem Magazin: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen.“ Es gehe „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“. Zu den Ursachen erklärte der Politikwissenschaftler: „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“ Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert deshalb für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit.

Die Recherche ist Teil eines Schwerpunkts in der aktuellen Ausgabe des WEISSER RING Magazins zu Politisch motivierter Kriminalität (PMK). Für die Titelgeschichte sprach der auf Rechtsextremismus spezialisierte Autor Michael Kraske mit Betroffenen, Experten sowie Sicherheitsbehörden. Politisch motivierte Kriminalität ist 2024 so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488.

Ausweitung der Gefahrenzonen

Zu den Folgen rechtsextremer Gewalt sagte Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Das Gewaltpotenzial sei stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern. „Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, so Kleffner. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. Andererseits habe sich etwa in Sachsen kaum etwas zum Positiven verändert.

In anderen Bereichen der PMK, etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die PMK ebenfalls gestiegen, wenn auch nicht so stark. Im Interview warnt Heike Pooth, Referatsleiterin im Polizeilichen Staatschutz des Bundeskriminalamtes: „Entspannung ist nicht in Sicht.“ Konflikte und Ereignisse im Ausland wirkten sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren seien der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Nahostkonflikt.

Religiöse Repräsentanten am häufigsten von Attacken betroffen

In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts hätten sie stark zugenommen. Das BKA ergreife deshalb verschiedene Maßnahmen, tausche beispielsweise intensiv Informationen mit nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden aus und bewerte permanent die Gefährdungslage, vor allem für die besonders bedrohten jüdischen und israelischen Einrichtungen.

Aus der Antwort des BKA auf eine Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den häufigsten Angriffszielen der Politisch motivierten Kriminalität geht hervor, dass die Opfer 2024 in 7.504 Fällen religiöse Repräsentanten waren, in 4.332 Fällen Polizeiangehörige, in 4.027 Fällen Amtsträger, in 3.541 Fällen Mandatsträger (ein Delikt kann mehrere Ziele haben). Asylsuchende wurden ebenfalls besonders häufig attackiert, insgesamt 2.369-mal.

Hilfe für Missbrauchsopfer: „Der Fonds muss endlich gesetzlich verankert werden“

Erstellt am: Dienstag, 30. September 2025 von Gregor
Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Kerstin Claus engagiert sich seit vielen Jahren für Menschen, die von Missbrauch betroffen sind. Foto: Christoph Soeder

Datum: 30.09.2025

Hilfe für Missbrauchsopfer: „Der Fonds muss endlich gesetzlich verankert werden“

Die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, fordert in einem Gastkommentar im WEISSER RING Magazin die Politik auf, das endgültige Aus des Fonds Sexueller Missbrauch zu verhindern.

Nach dem Ende des Fonds Sexueller Missbrauch hat die Unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, den Bundestag in die Pflicht genommen, zeitnah für Ersatz zu sorgen. In einem Gastkommentar für das WEISSER RING Magazin schreibt Claus: „Selten gelingt es der Politik, so etwas wie nachholende Gerechtigkeit zu schaffen. Der Fonds Sexueller Missbrauch war eine solche Erfolgsgeschichte. Jetzt ist es an den Abgeordneten, das endgültige Aus dieses niedrigschwelligen Hilfesystems zu verhindern. Er hat Belastungen im Alltag verringert und Perspektiven möglich gemacht, wo vergangene Gewalt oft das Leben prägt.“

Rückwirkender Stopp

Darüber hinaus kritisiert Kerstin Claus, es sei ein „verheerendes Signal“ für Betroffene gewesen, als die Ampelregierung im vergangenen Jahr „stillschweigend“ das Aus des Fonds zum 31. August 2025 beschlossen und die aktuelle Bundesregierung später sogar einen rückwirkenden Antragsstopp ab dem 19. März zugelassen habe. „Das ist ein Akt der Entsolidarisierung. Eine Regierung, die sich dem Schutz von Kindern und Jugendlichen verschreibt, darf so nicht handeln“, so Claus. „All dies jetzt preiszugeben – nur weil eine Bundesregierung nach der anderen daran scheitert, dieses Hilfesystem verlässlich finanziell und strukturell abzusichern –, ist ein Armutszeugnis.“

Die Bemühungen der früheren Familienministerin Lisa Paus (Grüne), den Fonds über das neue „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ abzusichern, seien kraftlos gewesen. Das Veto der FDP habe Paus stillschweigend akzeptiert und öffentliche Debatten vermieden. Ihre Nachfolgerin Karin Prien (CDU) habe zwar eine gesetzliche Verankerung des Hilfesystems gefordert, jedoch keinen konkreten Vorschlag eingebracht.

Jetzt liege die Verantwortung beim Bundestag und damit bei den Abgeordneten. Claus fordert: „Ab 2026 müssen die nötigen Mittel dauerhaft gesichert und perspektivisch der Fonds endlich gesetzlich verankert werden. Denn: Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen mit lebenslangen Folgen. Wer das ignoriert, riskiert, dass Betroffene erneut verstummen.“

Ministerium prüft Ersatz

Ob und welchen Ersatz es für den Fonds gibt, ist weiter ungewiss. Auf Anfrage des WEISSER RING Magazins teilte das Bundesfamilienministerium mit, es setze sich dafür ein, dass Betroffene auch künftig wirksame Hilfen erhalten. Dies hatten Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart. Die „Möglichkeiten der Umsetzung“ würden weiterhin geprüft, sagte eine Sprecherin des Ministeriums von Karin Prien (CDU), die sich unter anderem mit dem Betroffenenrat austausche. Der Prozess werde noch „einige Zeit in Anspruch nehmen“, damit die Lösung den Vorgaben des Bundesrechnungshofs entspreche.

Der Fonds, der zum Ergänzenden Hilfesystem gehörte, war im Sommer – rückwirkend zum 19. März – eingestellt worden. Der WEISSE RING und weitere Fachorganisationen kritisierten das Ende des Fonds. Dieser konnte einspringen, wenn Behandlungen, etwa Physio- oder Ergotherapie, oder andere Leistungen nicht von Kranken- und Pflegekassen oder dem Sozialen Entschädigungsrecht abgedeckt werden. Nach jüngsten Angaben des zuständigen Bundesfamilienministeriums wurden bislang etwa 165,2 Millionen Euro ausgezahlt.

 

Sensationsgier statt Sensibilität

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

Sensationsgier statt Sensibilität

Sandra Epps Eltern wurden ermordet. Doch anstatt in Ruhe zu trauern, stürzen sich die Medien auf den Fall, da der Täter der Nachbar des Ehepaars war. Monatelang muss die Familie private Fotos, despektierliche Überschriften und falsche Angaben in Zeitungen ertragen. Jetzt möchte sie ihre Wirklichkeit erzählen, um die Würde ihrer Eltern wiederherzustellen.

True Crime Kritik: Sandra Epp ist eine blonde Frau, mit einer sportlichen Figur. Ihre Eltern wurden vom Nachbarn ermordet.

Vor drei Jahren wurden Sandra Epps Mutter und Stiefvater vom Nachbarn erschossen.

Kilometerlange Alleen führen zum Haus von Sandra Epp, es ist eine ruhige Gegend. Ein Bus kommt nur selten vorbei. Jedes Haus hat seinen eigenen Charakter, keines gleicht dem anderen. Alle Zäune sind aber auf einer Höhe, die Gärten millimetergenau gemäht, jede Hecke ist perfekt gestutzt. Das Haus der 37-Jährigen fällt durch die rosa Fassade auf. Eine kleine Bank steht vor der Eingangstür.

Genau hier wartete vor drei Jahren ein Polizist darauf, dass Sandra Epp ihm die Tür öffnete, wie sie im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin erzählt. Sie wusste damals nicht, was los ist. Dann die Nachricht: Ihre Mutter (61) und ihr Stiefvater (62) wurden erschossen. Der Täter, ein Jäger, war der Nachbar des Ehepaares. Er hat sich nach der Tat das Leben genommen. Sie informierte ihre 21-jährige Schwester, die gerade Nachtdienst hatte.

Ein Gewaltdelikt, das unzählige Medien auf den Plan rief. „85-jähriger Jäger erschießt Nachbar-Ehepaar: ‚Es ärgerte ihn, dass das Paar nackt durch den Garten lief‘“ betitelt der „Merkur“ seinen Bericht. Andere Medien greifen das Narrativ des „nackten Ehepaares im Garten“ auf. Mehrere Anfragen an die „Merkur“-Redaktion, wieso diese Überschrift gewählt wurde, blieben ohne Antwort.

Wie haben Sie die mediale Berichterstattung wahrgenommen, Frau Epp?

Uns war es zu viel. So viele Bilder wurden veröffentlicht. Warum immer so viele Fotos? Das Haus, der Garten, der Wohnwagen, die Blutlache und auch ein Bild meiner Mutter wurden veröffentlicht. Reicht nicht ein Titelbild? Auch wurde der Name meiner Mutter falsch geschrieben oder das Alter, Tatsachen wurden verdreht. Beispielsweise durch das Zitieren von Nachbarn, die angaben, meine Eltern hätten den Täter provoziert.

Indem sie laut Musik gehört hätten und nackt im Garten herumgelaufen seien.

Ich kann mir bei den beiden nicht vorstellen, dass sie nackt im Garten gewesen wären. Und selbst wenn: Es ist ihr Garten, sie dürfen machen, was sie für richtig halten. Das ist kein Grund, jemanden zu ermorden. Die Polizei vor Ort konnte uns den Ablauf der Tat anfangs nicht sagen. Erst hieß es, ihnen wurde in den Bauch geschossen – aber es war der Brustkorb.

Sandra Epp macht eine kleine Pause. Sie ist eine sportliche Frau mit blondem Haar. Ihre hellbraunen Augen wirken kraftvoll. Und so erzählt sie auch weiter.

Das war für uns damals ganz schwierig, wir wussten nicht, was wir glauben sollten. Wir wurden gefragt, ob wir die Leichen sehen möchten und machten den Fehler, nein zu sagen. Der Schock saß noch zu tief. Jetzt fehlt uns das reale Bild, um die Tatsache besser begreifen zu können: Dass sie plötzlich einfach weg sind.

In den Artikeln wurde immer wieder von einem Nachbarschaftsstreit geschrieben, der aufgrund der Lautstärke ihrer Eltern entstanden sei und weil der Nachbar einen Baum auf seinem Grundstück fällen sollte. Frau Epp, Sie meldeten sich beim WEISSER RING Magazin, weil Sie erzählen wollten, wie es wirklich gewesen sei. Wie sieht die Wahrheit aus Ihrer Sicht aus?

Es gab immer wieder Schwierigkeiten. Vieles ärgerte den Mann. Die Polizei fand sogar einen Hefter, in dem er jedes seiner Meinung nach falsche Verhalten mit Datum und Uhrzeit notierte. Während eines Sturms stürzte ein Baum auf ein Häuschen im Garten meiner Eltern, das neben dem Haupthaus stand. Die Feuerwehr warnte sie vor einem Baum auf seinem Grundstück; beim nächsten starken Sturm könnte er ihr Haus treffen, hieß es. Der Täter weigerte sich aber, den Baum entfernen zu lassen, und so gingen sie vor ein Schiedsgericht.

True Crime Kritik

Der Wohnort von Sandra Epp ist ruhig, Felder schmücken die Gegend. In der Idylle lässt es sich leicht vergessen, was die junge Frau erlebte.

Die 37-Jährige steht auf und kommt mit einem großen weißen Ordner zurück. Sie lässt ihn auf ihr Sofa fallen. Zwischen Dutzenden Unterlagen kramt sie ein Schreiben von der zuständigen Staatsanwaltschaft hervor. Es beinhaltet eine achtseitige Zusammenfassung des Ermittlungsverfahrens und bestätigt ihre Aussagen.

Eine polizeiliche Erkenntnis waren Anrufe des Täters bei der Polizei. Von 2018 bis 2020 beschwerte er sich insgesamt dreimal wegen Ruhestörung. Immer, weil das Ehepaar laute Musik gehört habe. 2022, genau drei Monate vor der Tat, rief er die Polizei, weil er glaubte, sein Nachbar habe sein Brennholz manipuliert. Die Polizei stellte nichts fest. Die Schwester des Täters sagte gegenüber der Polizei, er sei über die Jahre depressiv geworden. Seine langjährige Partnerin verließ ihn 2021.

Im Jahr 2023 erschien ein Podcast der „BILD“-Zeitung über den Fall. In einem eher lockeren Ton besprechen die Moderatoren die Tat. Es werden Nachbarn zitiert, die Epps Eltern als provokant darstellen, und der Sprecher beschreibt den Tattag auf Grundlage von Vermutungen. „Lasst uns also Folgendes spekulieren: Sie setzen sich zu Mittag raus, vielleicht wird bei dem schönen Wetter der Grill angeschmissen. Dazu ein kühles Bierchen oder ein kleines Sektchen geöffnet. Die beiden unterhalten sich angeregt. Lachen laut. Ein Hohn in den Ohren des Täters“, erzählt er.

„Ich habe das Gefühl, etwas richtigstellen zu müssen, um die Würde unserer Eltern wiederherzustellen“

Sandra Epp

Besonders dieser Podcast macht Sie wütend. Wieso?

Sie haben in dem Podcast eine Geschichte erzählt, die nicht stimmen kann. Ich hatte an dem Tag mit meiner Mutter telefoniert. Um 11:40 Uhr habe ich sie angerufen und mit ihr über die geplante Geburtstagsfeier meines Sohnes gesprochen und wann sie dafür zu uns kommen wollen. Sie erzählte nichts von einem erneuten Streit mit dem Nachbarn. Sie sagte zu mir, dass sie bei dem schönen Wetter gleich die Bettwäsche zum Trocknen aufhängen wird – dann trocknet sie schneller.

Sandra Epp atmet kurz durch.

Wir wissen den genauen Hergang auch nicht, aber mein Stiefvater muss am Wohnwagen gebastelt haben; sicher, um ihn für die Fahrt zu uns vorzubereiten. Nachbarn sahen ihn kurz vorher noch im Garten. Gegen 12 Uhr haben wir das Telefonat beendet, und um 12:15 Uhr wurden sie erschossen. Als ich am Haus ankam, sah ich noch die Blutlache. Das sind Bilder, die wird man nie wieder los. Auf einem Stuhl lag ein Teil der Bettwäsche, ein anderer hing an der Leine.

Im Ermittlungsbericht, der dem WEISSER RING Magazin vorliegt, steht, dass die Leiche des Stiefvaters an der Vorderseite des Gebäudes gefunden wurde, in der Nähe des Carports. Ihre Mutter wurde im hinteren Bereich des Wohnhauses gefunden. Das Telefonat erwähnte Epp auch gegenüber der Polizei. Eine Nachbarin sagte aus, kurz vor der Tat mit dem Ehepaar gesprochen und eine angespannte Situation wahrgenommen zu haben. Bei dem Gespräch ging es laut Aussage auch um den Nachbarschaftsstreit. Vom Grillen oder Alkoholkonsum steht im Bericht nichts. Den genauen Tathergang kennt aber nur der Täter.

In dem „BILD“-Podcast fanden sich weitere für Sandra Epp unerträgliche Stellen. Die Moderatorin zieht Parallelen zu einem bekannten Nachbarschaftsstreit wegen eines Maschendrahtzauns. Der Moderator Stefan Raab produzierte damals dazu einen gleichnamigen Song, der im Podcast fröhlich gesungen wurde. Hinzu kamen Stellen, die für Epp eine Mitschuld der Opfer an der Tat suggerierten: „Ich denke, es ist auch ein Appell an uns alle, dass wir mehr aufeinander achtgeben müssen“, sagt der Sprecher.

Die WR-Redaktion hat den Verlag mit Epps Vorführen konfrontiert. „Der Persönlichkeitsschutz von Opfern hat bei unseren True-Crime-Produktionen höchste Priorität. Wir achten stets darauf, die dahingehenden Rechte aller beteiligten Personen zu wahren und die Fakten der Fälle wahrheitsgemäß wiederzugeben. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir redaktionelle Prozesse und Entscheidungen darüber hinaus nicht kommentieren“, antwortet eine „BILD“-Sprecherin.

Epp zweifelt an der Priorität. Es reiche nicht aus, einfach die Namen der Opfer zu ändern.

Warum haben Sie sich nicht schon damals gemeldet, um Ihre Sicht der Dinge darzustellen?

Damals war ich völlig überfordert durch die ganzen unterschiedlichen Medienberichte, die Fotos und den Polizeibericht. Es gab Presseanfragen, aber wir lehnten alle ab. Jetzt gehe ich schon lange in Therapie, bin gestärkt und habe den Mut gefasst. Ich habe das Gefühl, etwas richtigstellen zu müssen, um die Würde unserer Eltern wiederherzustellen. Ich bin eine Hinterbliebene, daher würde ich mir mehr Gerechtigkeit für Hinterbliebene wünschen. Wir sind auch Opfer, wir müssen lernen, damit zu leben, mit den ganzen Bildern und Reportagen. Es macht mich wütend, dass Gaffer teilweise 5.000 Euro Strafe zahlen müssen, aber am Ende wird alles im Internet freigegeben. Betroffene kennen die Gesetzeslage nicht, um sich richtig wehren zu können. Hätte ich vieles früher gewusst, hätte ich früher gehandelt.

Sandra Epp klappt den weißen Ordner zu. Dann steht sie auf und geht eine Zigarette rauchen.

Was Angehörige bei rechtswidriger Berichterstattung machen können

Wenn ein Bild einer verstorbenen Person innerhalb von zehn Jahren nach ihrem Tod ohne die Zustimmung der Angehörigen veröffentlicht wurde, können diese rechtlich dagegen vorgehen. In solchen Fällen besteht ein Unterlassungsanspruch, der gerichtlich durchgesetzt werden kann. Angehörige können zudem verlangen, dass bereits veröffentlichte Bilder entfernt werden, etwa aus Artikeln, TV-Beiträgen oder Internetseiten. In besonders schweren Fällen – etwa bei entstellender oder menschenunwürdiger Darstellung – kann auch eine Geldentschädigung gefordert werden. Darüber hinaus ist es möglich, Beschwerden bei Landesmedienanstalten, dem Presserat oder Datenschutzbehörden einzureichen. Generell ist es schwer, gegen True-Crime-Formate vorzugehen, da mit dem Tod das allgemeine Persönlichkeitsrecht endet. Danach gilt nur noch ein postmortaler Achtungsanspruch. Dieser verbietet lediglich grobe Verzerrungen oder würde verletzende Darstellungen.

Eine Collage mit dem Anwalt Alexander Stevens und der Moderatorin Jacqueline Belle, die ein gemeinsamen True-Crime-Format haben. Zur Collage gehört noch ein Richterhammer, ein Mikrofon und große Menschenmengen in einem Stadion.

Ungefragt ausgenutzt

True Crime boomt – das Publikum ist fasziniert, doch für Hinterbliebene wird der Hype oft zum Albtraum.

Fehlender Opferschutz bei Kriminalberichterstattung

Erstellt am: Montag, 1. September 2025 von Selina
Pressekodex des Presserats über Opferschutz in Berichterstattungen.

Der Presserat kommt regelmäßig in einem Plenum zusammen, um über Verstöße gegen den Pressekodex zu sprechen. Foto: Verena Brüning/Presserat

Datum: 01.09.2025

Fehlender Opferschutz bei Kriminalberichterstattung

Der Presserat musste erneut Rügen aussprechen, weil es Verstöße gegen den Opferschutz und das Persönlichkeitsrecht bei Kriminalberichterstattungen gab. Vor allem eine Zeitung hat dafür mehrfach Rügen erhalten.

Der Deutsche Presserat hat in diesem Jahr 67 Rügen bis August ausgesprochen. Darunter waren wieder Verstöße gegen den Opferschutz und das Persönlichkeitsrecht bei Kriminalberichterstattungen. So zeigten „BILD“ und „BILD.DE“ im Zusammenhang mit dem Anschlag in Aschaffenburg das zweijährige getötete Opfer unverpixelt. Ein Verstoß gegen den Pressekodex, der die Identifizierbarkeit von Kindern bei der Berichterstattung von Straftaten untersagt. Auch „BILD AM SONNTAG“ verletzte den Persönlichkeitsschutz, indem sie unverpixelte Fotos früherer Opfer von Attentaten, darunter Kinder, ohne Zustimmung der Angehörigen veröffentlichte.

„BILD.DE“ und „WAZ.DE“ wurden zudem gerügt, weil sie im Fall einer mutmaßlich vergewaltigten Frau ein Foto veröffentlichten, das die Betroffene nackt und in hilfloser Lage zeigte. „Baden Online“ wurde gerügt, weil in einem Mordbericht der volle Name und private Details des Opfers veröffentlicht wurden.

Der Deutsche Presserat ist die freiwillige Selbstkontrolle für Print- und Online-Medien in Deutschland. Er prüft anhand von Beschwerden die Einhaltung des Pressekodex.

Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Erstellt am: Freitag, 11. Juli 2025 von Gregor
Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Datum: 11.07.2025

Nach Aus für Missbrauchsfonds: „Stille und Entsetzen“ bei den Betroffenen

Der rückwirkende Antragsstopp beim Fonds Sexueller Missbrauch hat bei Opfern und Beratenden Empörung ausgelöst.

Sabrina Lange* wurde mehrfach missbraucht und ist dadurch schwer traumatisiert. So schwer, dass sie unter anderem an Krampfanfällen leidet. Um ihren Alltag zu erleichtern und ihrer Belastungsstörung besser entgegenwirken zu können, wollte sie ihren dafür gut geeigneten Hund zum Assistenzhund ausbilden lassen. Sie hoffte dabei auf eine Finanzierung durch den Fonds Sexueller Missbrauch (FSM). Zusammen mit Ingeborg Altvater, die ehrenamtlich für den WEISSEN RING arbeitet, hatte sie in den vergangenen Wochen einen Antrag vorbereitet, gewissenhaft Informationen gesammelt und Formulare ausgefüllt.

Vor wenigen Tagen, kurz vor dem Fertigstellen des Antrags, rief Altvater Sabrina Lange an, um ihr eine schlechte Nachricht zu überbringen: Der Fonds wird zumindest vorerst kein Geld mehr auszahlen. Als Lange das hörte, schwieg sie. Nach einer langen Pause fragte sie: „Was mache ich jetzt?“ Altvater konnte ihr keine zufriedenstellende Antwort geben. Denn einen Assistenzhund etwa über das Soziale Entschädigungsrecht zu finanzieren, ist nur schwer möglich, und wenn, dann dauert es jahrelang.

Nach dem Stopp beim Fonds – rückwirkend zum 19. März – hat Altvater wiederholt Reaktionen wie die von Sabrina Lange erlebt, wie sie im Gespräch mit dem WEISSER RING Magazin erzählt. Sie berät zum Ergänzenden Hilfesystem (EHS), dessen Teil der Fonds ist, und begleitete Opfer hierbei in mehr als 100 Fällen. Altvater bezeichnet die aktuelle Entwicklung als „Katastrophe“. Dass sie die Betroffenen nach und nach anrufen und informieren musste, habe ihr „in der Seele wehgetan“. Am anderen Ende der Leitung habe „Stille und Entsetzen“ geherrscht. Alleine in Hessen, wo die ehrenamtliche Mitarbeiterin im Einsatz ist, hätten in acht bis zehn Fällen Beratungstermine kurzfristig abgesagt werden müssen. Und dass, obwohl bei denen der Antrag fast fertig gewesen sei. Andere Verfahren – bei denen die Betroffenen teils weite Wege und die erneute Konfrontation mit dem Missbrauch auf sich genommen hätten – liefen schon und nach jetzigem Stand vergeblich.

Fonds ist wichtige niedrigschwellige Hilfe

Die Sprachlosigkeit sei für einen Teil der Missbrauchsopfer typisch, sie gehörten zu den Schwerstbetroffenen, fühlten sich wehrlos und könnten nur schwer ihre Stimme erheben, um sich für ihre Belange einzusetzen. Umso schlimmer sei der Umgang mit ihnen – zumal es nicht um Milliardensummen gehe, kritisiert Altvater.

Vor zwei Wochen hatte die Geschäftsstelle des FSM auf ihrer Webseite mitgeteilt, dass sie Erstanträge, die ab dem 19. März dieses Jahres eingegangen sind, voraussichtlich nicht mehr annehmen könne. Die Mittel im Bundeshaushalt reichten nicht, hieß es.

Der Fonds ist für viele Betroffene eine niedrigschwellige Unterstützung, auf die sie nicht verzichten können. Er kann einspringen, wenn Behandlungen, etwa Physio- oder Ergotherapie, oder andere Leistungen nicht von Kranken- und Pflegekassen oder dem Sozialen Entschädigungsrecht abgedeckt werden. Nach Angaben des zuständigen Bundesfamilienministeriums haben bislang 36.000 Betroffene einen Antrag gestellt, ausgezahlt wurden 165,2 Millionen Euro.

Ministerin Prien kündigt an, sich für mehr Geld einzusetzen

Ministerin Karin Prien (CDU) kündigte an, sie werde sich im Bundestag für zusätzliche Haushaltsmittel für Opfer von Kindesmissbrauch engagieren und das System neu aufstellen. Doch ob und wann die Reform kommt, und wie viel Geld dafür zur Verfügung steht, ist ungewiss.

Bereits im Frühjahr war bekanntgeworden, dass der Fonds auslaufen soll. Das damals von Lisa Paus (Grüne) geführte Familienministerium führte haushaltsrechtliche Bedenken des Bundesrechnungshofes als Grund an und sah die künftige Regierung in der Pflicht, für Ersatz zu sorgen. In seinem Koalitionsvertrag versicherten Union und SPD zwar: „Den Fonds sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort.“ Aber es kam anders.

Nach dem angekündigten Auslaufen des Fonds im März rief Ingeborg Altvater Betroffene, die bereits erste Kontakte wegen einer Antragstellung zu ihr aufgenommen hatten, an und klärte sie darüber auf. Daraufhin wurden einige von ihnen aktiv und stellten noch einen Antrag. Manche machten sich nun den Vorwurf, sie hätten zu lange gewartet. Zu Unrecht, sagt Altvater. Sie könnten nichts für den Stopp, der auch noch rückwirkend erfolgt sei. Manche Opfer kämpften jahrzehntelang mit den Folgen des Missbrauchs, sie bräuchten viel Kraft und Zeit, um sich zu einem Antrag auf Unterstützung durchzuringen.

Schlag ins Gesicht für traumatisierte Menschen

Susanne Seßler, die sich für den WEISSEN RING vor allem in Südbayern als EHS-Beraterin engagiert, macht derzeit ähnliche Erfahrungen wie Altvater und spricht von einem Schlag ins Gesicht. „Erschüttert“ seien die Betroffenen. Sie hätten sich überwunden und würden nun wieder „hinten herunterfallen“, was bei traumatisierten Menschen besonders schlimm sei. „Manche sagen bitter enttäuscht: ,Sehen Sie, ich wusste, dass ich nichts bekomme‘“, berichtet Seßler. In den vergangenen Monaten habe sie zusammen mit Betroffenen knapp 20 Anträge fertiggestellt, etwa fünf weitere seien geprüft und noch mehr vorbereitet worden.

Dass das Geld nicht reiche, kann Seßler nicht nachvollziehen: Zum einen hätten die Verantwortlichen nach ihrer Mitteilung im März damit rechnen müssen, dass aufgrund der Befristung mehr Anträge kommen. Zum anderen lägen diese geschätzt im vierstelligen Bereich, so dass sich die Ausgaben bei einer Unterstützung von in der Regel 10.000 Euro in Grenzen hielten.

Zwei Frauen, die Seßler beriet, wurde eine Reittherapie genehmigt, die allerdings von der Therapeutin verschoben werden musste. „Was jetzt? Wird das Geld noch ausgezahlt?“, fragen sich die Betroffenen.

Neuer Missbrauchsfonds gefordert

Seßler fordert, kurzfristig die entstandenen Lücken mit zusätzlichem Geld zu schließen und mittelfristig einen neuen Fonds aufzusetzen. Das neue Soziale Entschädigungsrecht, das seit 2024 gilt, sei nicht umfassend genug, um die „wichtigen Komplementärtherapien“ abzudecken.

Der WEISSE RING und vier weitere Fachorganisationen – die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Feministischer Organisationen gegen Sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen – haben den Stopp kürzlich in einer gemeinsamen Erklärung scharf kritisiert. Sie forderten, die Hilfen zu erhalten und das dafür nötige Geld im Etat des Bundes bereitzustellen.

Auch Ingeborg Altvater hofft noch. Sie hat die Opfer gebeten, ihre Unterlagen aufzuheben.

*Name geändert

 

 

„Ich war wie in einer Schockstarre“

Erstellt am: Dienstag, 1. Juli 2025 von Gregor

„Ich war wie in einer Schockstarre“

In Ludwigshafen tötete ein psychisch kranker Geflüchteter 2022 zwei Männer und verletzte einen weiteren Mann schwer. Nach der Tat wurde seine frühere Partnerin so massiv angefeindet, dass sie mehrfach umziehen musste. Das WEISSER RING Magazin hat die Frau zum Gespräch getroffen.

Foto: NÓI CREW

Eines sei ihr besonders wichtig, hat Ayana Ibrahimi (Name geändert) vor dem Treffen betont: Ihr neuer Wohnort dürfe auf keinen Fall bekannt werden. Das Gespräch findet in einem weitläufigen Park statt, an einem sonnigen Tag, an dem viele Menschen unterwegs sind. Ibrahimi ist pünktlich, nimmt auf einer Bank Platz. Während sie die Fragen beantwortet, schaut Ibrahimi oft kurz auf die Leute, die vorbeigehen.

Wie geht es Ihnen heute?

Mir geht es so weit gut. Ich lebe nicht mehr in der „Gefahrenzone“, sondern in einer anderen Stadt. Ich fühle mich hier sicherer, habe aber noch mit dem Trauma zu kämpfen. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn ich jemanden sehe, der nicht bei Sinnen ist, vielleicht Drogen genommen hat und unberechenbar wirkt. Dann denke ich, jetzt kann alles passieren, und bekomme manchmal Panikattacken. In Ludwigshafen hat mich alles an die Tat erinnert, die Straßen, die Wohnung, der Tatort. Das hat mich aufgewühlt und mir Angst gemacht. Ich habe fünf Jahre in Ludwigshafen gelebt und die Stadt und viele Menschen gemocht. Doch schon kurz nach dem Attentat wusste ich, dass wir wegmüssen. Es ging um unsere Sicherheit. Für meine Kinder war es besonders schlimm. Sie wurden entwurzelt, haben geweint und in der neuen Umgebung lange gebraucht, um sich einzugliedern und Vertrauenspersonen zu finden. Sie mussten für etwas bezahlen, das sie nicht getan hatten.

Ihr früherer Partner hat in der Nähe Ihrer Wohnung im Stadtteil Oggersheim zwei Handwerker mit einem Messer getötet, einem der Männer den Arm abgetrennt und auf Ihren Balkon geworfen. Danach wurden Sie angefeindet. Welche Erfahrungen haben Sie in dieser Zeit gemacht?

Ich habe Trauer und Leere gefühlt. Und Wut auf mich. Nachbarn sagten nicht mehr „Hallo“, guckten weg, wenn sie mich sahen. Wahrscheinlich, weil sie die Tat mit mir verbunden und mir eine Mitschuld gegeben haben.

Psychisch kranke und Gewalt

Psyche & Gewalt

Sind psychisch kranke Menschen gefährlicher als andere? Das WEISSER RING Magazin hat nach Antworten gesucht.

Ibrahimi weint und bittet um Verzeihung: Sie sei nah am Wasser gebaut. Die Frau, die vor einigen Jahren aus Afrika flüchtete, möchte die Ereignisse aus ihrer Perspektive schildern, auch weil dies bislang zu kurz gekommen sei, ringt aber nach wie vor mit dem, was passiert ist.

Als ich in einer Statusmeldung auf meinem Handy mit der Farbe Schwarz zum Ausdruck bringen wollte, dass ich auch traurig bin, Anteil nehme und an die Hinterbliebenen denke, antwortete mir eine Bekannte, ich könne mir das sonst wo hinstecken. Und das war noch harmlos. Andere sagten, ich müsse mit Racheaktionen rechnen, auch von Rechtsextremen, und damit, dass jemand in unsere Wohnung einsteigt. Irgendwann hatte ich panische Angst.

Auch aus dem Umfeld der Opfer soll es Kritik an Ihnen gegeben haben. Und im Netz wurde gegen Sie gehetzt.

Wenn Angehörige Vorwürfe machen, nehme ich es ihnen nicht übel. Der Verlust, den sie haben … Das tut mir unheimlich leid. Als Mutter kann ich mir vorstellen, wie groß ihre Trauer ist. Ich habe in den Monaten vor den Morden aber mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass der Täter gefährlich ist. Vieles, was online über mich geschrieben wurde, habe ich aus Selbstschutz nicht gelesen. Eigentlich hätte ich damals mentale Unterstützung gebraucht. Ich war wie in einer Schockstarre und wollte mit jemandem darüber sprechen. Aber kaum jemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Bis auf ein, zwei Freunde, die zu mir hielten.

Foto: NÓI CREW

Zu Ihrer Lage beigetragen hat die Berichterstattung. Zum einen war in Beiträgen die auf Ihrem Wohnhaus stehende Adresse zu sehen und ihr Name nicht richtig anonymisiert. Zum anderen konnte man den Eindruck gewinnen, Sie seien auch schuld an der Tat. Es hieß unter anderem, Sie hätten dem Attentäter den Zugang zu Ihrer Wohnung und den Umgang mit den Kindern verwehrt. Wie sind die Medien mit Ihnen umgegangen?

Einige Inhalte waren falsch, andere Halbwahrheiten. Damit wurde ein falsches Bild erzeugt. Wir waren getrennt – und er ist nicht der Vater meiner Kinder. Wenige Stunden nach der Tat waren Kameras vor meinem Fenster und in der Umgebung, Fotografen versteckten sich im Gebüsch. Bis heute triggert es mich, wenn jemand eine Handykamera in meine Richtung hält. Ich denke dann: Ist das jemand von der Presse, der mich erkannt hat? Reporter befragten Nachbarn und klopften immer wieder an meine Tür. Sie fragten nach einem Interview, obwohl ich total fertig war. Ich fühlte mich verfolgt, konnte nicht raus.

Haben Sie damals darüber nachgedacht, Kontakt zu den Medien aufzunehmen oder sogar gegen Inhalte vorzugehen?

Nein. Dazu hätte ich auch nicht genug Kraft und Geld gehabt. Außerdem stand für mich die Angst davor, dass uns jemand angreifen könnte, im Vordergrund. Ich wünsche mir, dass Medien in solchen Fällen die Privatsphäre respektieren und nichts Falsches berichten. Dass sie nicht so auf die schnellste und „beste“ Schlagzeile aus sind, sondern menschlich handeln und einen nicht unter Druck setzen.

Wie sind Sie aus der Situation herausgekommen?

Am zweiten Tag nach der Tat habe ich die Polizei angerufen und gesagt, ich kann hier nicht mehr bleiben. Auf dem Balkon waren noch Blutflecken. Die Polizei versuchte, mich zu beruhigen: Die Gefahr sei vorbei, er sei nicht mehr da. Als ich klarmachte, weshalb ich wegmuss, stellten sie den Kontakt zum WEISSEN RING her. Dieser half mir erst, ein Hotel in der Nähe zu finden. Dort hatte ich auch nicht genug Abstand. Dann bekam ich Unterstützung beim Umzug.

Laut der Kriminologin und Rechtswissenschaftlerin Britta Bannenberg, die an der Universität Gießen zu Amok, Terror und Tötungsdelikten forscht, sind vor solchen Taten oft Warnsignale zu erkennen. Wie war das in diesem Fall?

Es gab Polizeieinsätze und Signale, die Fachleute hätten sehen müssen. Ich habe darauf hingewiesen, dass er eine Gefahr ist, doch er wurde nicht in die Psychiatrie zwangseingewiesen und behandelt. Er konnte aggressiv werden, hatte Wahnvorstellungen und trug häufig ein Messer bei sich. Ich dachte, dass er auf mich fixiert ist, wusste nicht, dass er anderen etwas antun würde. Die Polizei, die ich gerufen habe, hat mir zugehört und auch gehandelt, aber teilweise gesagt, ihre Möglichkeiten seien aus gesetzlichen Gründen begrenzt. Wobei ich den Beamten keine Vorwürfe machen möchte. Sie haben mich ernstgenommen und aufgefordert, mich zu melden, wenn ich ihn wiedersehe. Einige Wochen vor der Tat habe ich nach einem langen Hin und Her entschieden, Schluss zu machen, um mich und meine Kinder zu schützen. Als ich merkte, dass er einen Kontaktabbruch nicht akzeptiert, habe ich weiter mit ihm kommuniziert und mich mit ihm getroffen. Ich wollte das aber auf keinen Fall in der Wohnung machen, weil ich dachte, hier ist die Gefahr für uns am größten. In den Jahren davor habe ich immer wieder versucht, ihn dazu zu bringen, sich psychiatrisch behandeln zu lassen. Aber er hat das verweigert.

Eines der Alarmzeichen kam eine Woche vor dem Attentat. Wie im Prozess berichtet wurde, hatten Sie eine Bedrohungslage gemeldet, aus Angst, Ihr Ex-Partner könnte Sie töten. Sie erzählten demnach auch von den Wahnvorstellungen. Der Kommunale Vollzugsdienst schritt ein, woraufhin der Mann psychiatrisch begutachtet wurde. Die erste Ärztin äußerte einen Verdacht auf eine Psychose, doch die zuständige Klinik kam zu einer anderen Einschätzung und ließ ihn schließlich gehen.

Das verstehe ich nicht. Man hätte ihn sich länger anschauen müssen. Wenige Tage vor der Tat war er in meine Wohnung eingedrungen und hatte einen Schlüssel mitgenommen. Kurze Zeit später trafen wir uns in der Nähe, weil er ihn mir wiedergeben wollte. Er wollte dann eine Aussprache, aber ich nicht. Wir stritten, er lief mir hinterher und wurde lauter, aggressiver. Ich rief die Polizei. Er wurde schließlich fixiert.

 

"Es geht nicht darum, die Erkrankten zu bestrafen, sondern ihnen zu helfen und andere zu schützen. Vielleicht müssen dafür Gesetze geändert werden."

Ayana Ibrahimi (Name geändert)
Weil er Sie schlug und würgte, war der Attentäter schon vorher verurteilt worden und musste für drei Monate in Haft.

Ja, das war nach einem weiteren Fall von Gewalt. Ich glaube, im Gefängnis ist seine Schizophrenie schlimmer geworden. Er fühlte sich und uns verfolgt, auch vom deutschen Staat. Er erzählte, im Gefängnis sei er mit Schlafentzug und Ungeziefer, das nachts rausgelassen worden sei, gefoltert worden. Nach der Entlassung hatte er abends Schübe, redete wirres Zeug, was ich manchmal auf Video dokumentiert habe. Ich denke, psychisch war er familiär vorbelastet. Die Krankheit wurde bereits in Somalia nicht therapiert. Das geschieht dort selten, statt auf medizinische wird meistens auf „spirituelle“ Behandlung gesetzt, die nichts bringt.

Was muss Ihrer Ansicht nach geschehen, damit solche Taten eher verhindert werden können? Wenn Menschen psychisch krank und gefährlich sind, ist schnelles Handeln gefragt.

Das Thema wird noch nicht ernst genug genommen. Es wäre gut, wenn Polizei, Psychiatrie und andere Stellen in solchen Fällen mehr kooperieren würden. Und wenn Ärzte noch genauer, länger hinschauen würden, damit Leute, bei denen es notwendig ist, zwangseingewiesen werden können. Freiheit ist wichtig, aber sie hört dort auf, wo andere geschädigt werden können. Es geht nicht darum, die Erkrankten zu bestrafen, sondern ihnen zu helfen und andere zu schützen. Vielleicht müssen dafür Gesetze geändert werden.

Das Attentat

Am 18. Oktober 2022 erstach Liban M. in Ludwigshafen-Oggersheim zwei Handwerker. Einem von ihnen trennte er den Arm ab und warf ihn auf den Balkon seiner Ex-Partnerin. Kurze Zeit später wählte diese den Notruf. In den Tagen zuvor habe er ein „Geschenk“ auf dem Balkon angekündigt, doch sie habe nicht mit einer solchen Tat gerechnet, sagte sie aus. Nachdem er die Maler getötet hatte, verletzte M. in einem Markt einen weiteren Mann lebensgefährlich. Polizisten schossen ihn nieder. Dem forensischen Gutachter sagte er später, er habe bewusst deutsche Männer angegriffen und sei überzeugt gewesen, sie wollten „seiner Familie“ etwas antun. Im Mai 2023 sprach das Landgericht Frankenthal den Somalier frei, weil er zur Tatzeit wegen einer paranoiden Schizophrenie schuldunfähig war. Er wurde im Maßregelvollzug untergebracht und ist offenbar weiter gefährlich. Anfang Februar soll er einen Mitpatienten mit einem Messer angegriffen haben.

Dass neben direkt Betroffenen auch die Ex-Partnerin des Täters Geld von einem Spendenkonto erhielt, das die Stadt eingerichtet hatte, sorgte für Kritik. Die Stadt begründete die Entscheidung damit, dass die Frau ebenfalls Opfer sei. Der WEISSE RING unterstützte diese Haltung. Letzten Endes bestand ein Drittel der Spender auf einer Neuverteilung, sodass die Hinterbliebenen 640 Euro zusätzlich erhielten.

Haben Sie eine Therapie gemacht, um das Erlebte besser verarbeiten zu können?

Nein. Ich habe gesucht, doch es war schwierig, die richtige Therapie zu finden. Gespräche in der Gruppe kamen für mich nicht infrage. Später habe ich nicht mehr nachgefragt, sondern pflanzliche Medikamente genommen und versucht, die Ängste, die in Schüben kamen, selbst in den Griff zu kriegen. Was wünschen Sie sich für die Zukunft, und was gibt Ihnen Kraft? Meine Kinder. Und das Wissen, dass man das, was passiert ist, nicht ändern kann. Vergessen werden wir es nicht, aber wir können versuchen, so gut wie möglich damit umzugehen. Ich hoffe, dass ich bald wieder in meinem Beruf arbeiten kann und meine Kinder ihren Weg gehen.

Transparenzhinweis:
Der WEISSE RING hat die frühere Partnerin des Täters unterstützt, unter anderem mit Geld für den Umzug und den Rechtsbeistand.