Hamburger Messerangriff: Hotline für Betroffene

Erstellt am: Samstag, 24. Mai 2025 von Christiane
Nach dem Messerangriff in Hamburg ist für Betroffene eine Hotline eingerichtet worden.

Nach dem Messerangriff in Hamburg ist für Betroffene eine Hotline eingerichtet worden. Foto: Christian Charisius/dpa

Datum: 24.05.2025

Hamburger Messerangriff: Hotline für Betroffene

Am Freitagabend hatte es am Hamburger Hauptbahnhof einen Messerangriff gegeben. Eine Hotline für Betroffene ist bereits eingerichtet.

Nach dem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof können sich Betroffene an die Hotline 0800/0007558 wenden. Das Telefon steht Hilfesuchenden rund um die Uhr zur Verfügung und ist mit erfahrenen Psychologinnen und Psychologen des Zentrums für Trauma und Konfliktmanagement besetzt. Melden können sich Opfer des Angriffs und ihre Angehörigen ebenso wie Augenzeugen oder Ersthelfer.

Eingerichtet hat die Hotline der Hamburgische Opferbeauftragte. Es wird zudem einen Runden Tisch zu dem Messerangriff geben, an dem auch der WEISSE RING Hamburg teilnehmen wird.

Am Freitagabend hatte laut Polizeiangaben eine 39-jährige Frau gegen 18 Uhr im Bahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende eingestochen. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Die Polizei sprach bereits kurz nach der Tat von „sehr konkreten Hinweisen“ auf eine psychische Erkrankung der Tatverdächtigen. Ein Haftrichter ordnete an, sie in einer Psychiatrie unterzubringen. Wie die Polizei mitteilte, lauten die Tatvorwürfe versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Hinweise auf ein politisches Motiv gebe es nicht.

Die Angreiferin, die wohnungslos ist und aus Braunschweig kommt, war erst am Donnerstagmorgen aus einer psychiatrischen Einrichtung in Niedersachsen entlassen worden. Laut einem Bericht des „Spiegel“ fixierte ein 19-jähriger Geflüchteter aus Syrien die Verdächtige am Bahnsteig, bis die Polizei kurz darauf eintraf und sie festnahm.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll die Frau bereits im Februar auf einem Spielplatz am Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben. Daraufhin seien Ermittlungen wegen des Verdachts der Körperverletzung eingeleitet worden, die noch liefen. Nach dem Vorfall habe die Polizei einen Amtsarzt hinzugezogen, der sie in der Klinik unterbringen ließ. Dort habe eine Mitpatientin die Tatverdächtige im März angezeigt, weil sie sie getreten haben soll. Am Tag vor der Tat soll ein Rettungsdienstmitarbeiter am Flughafen die Polizei informiert haben, nachdem ihm die Frau wegen Wunden im Gesicht aufgefallen sei.

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Retter in Not

Erstellt am: Dienstag, 24. Oktober 2023 von Torben

Retter in Not

Angriffe auf Einsatzkräfte sind ein großes Problem. Wie sollte unsere Gesellschaft ­darauf reagieren? Eine Analyse der Situation.

In einem Raum stehen vier Personen. Eine Frau drückt mit beiden Händen gegen eine Gummimatte, die ihr ein Mann entgegenhält.

Schubsen für den Ernstfall: Mitglieder der Berufsfeuerwehr Mainz haben im März 2023 bei einem Deeskalationstraining des Deutschen Roten Kreuzes geübt, wie sie auf Angriffe reagieren können. Foto: Andreas Arnold/dpa

Nach spektakulären und gewalttätigen Angriffen auf Rettungskräfte wie in der Silvesternacht in Berlin und im Mai 2023 in einem Hochhaus im nordrhein-­westfälischen Ratingen folgen schnell aufgeregte öffentliche Debatten. Genauso schnell ist das Thema Gewalt gegen Einsatzkräfte danach wieder aus den Schlagzeilen ­verschwunden. Übergriffe auf Helfer sind mittlerweile alltäglich und gehen längst nicht nur von gesellschaftlichen Minderheiten oder Randgruppen aus. Wie sollte unsere Gesellschaft ­darauf reagieren? Eine Analyse.

Ein Rettungswagen mit Blaulicht, der unter dem Beschuss mit Pyrotechnik langsam durch eine Berliner Straße rollt.

Die Besatzung eines Feuerwehrwagens, die Randalierer per Lautsprecher auffordert, ihre Angriffe mit Feuerwerkskörpern einzustellen. Und die dann den Rückzug antritt, weil unbeirrt weiter auf sie gefeuert wird.

Diese Bilder aus der Silvesternacht haben Deutschland schockiert und empört. Der Berliner Feuerwehrmann Baris Coban, Vater von drei Kindern, hat im WDR den Hass geschildert, der ihm und seinen Kollegen ent­gegenschlug: „Steine und Flaschen flogen in Unmengen auf uns – und Knaller, Böller. Einige Jugendliche sind aus der Menge herausgerannt, um mit Schreckschuss­waffen in Gesichtshöhe auf uns zu schießen.“

In den Tagen nach Silvester waren Angriffe auf Rettungs­kräfte das große Thema für Politik und Medien. Hitzig wurde über den Migrationshintergrund von Tätern gestritten. Die CDU fragte im Berliner Abgeordnetenhaus die Vornamen der Verdächtigen ab. Dafür gab es breite öffentliche Kritik, die in der parlamentarischen Anfrage eine rassistische Stigmatisierung von Migrantinnen und Migranten erkannte.

Eine „Inszenierung“ von Gewalt

Professor Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni ­Bielefeld, hat die Exzesse der Silvesternacht in einem ZDF-Interview mit einer gefährlichen Gruppen­dynamik bei den jungen Tätern erklärt: „Die Gewalt, die wir gesehen haben, ist für sie ein Erlebnis.“ Gewaltan­wendung stärke in solchen Situationen die Gruppen­zugehörigkeit. Hinzu käme, dass Polizei und Rettungsdienste als Feindbilder angesehen würden. Weil diese in der Wahr­nehmung der Täter einen Staat verkörpern, in dem sie selbst nur eine Außenseiterrolle einnehmen. In ­einer solchen ­Dynamik würden bei gewalttätigen Gruppen Aggression und Gewalt situativ zur Norm, die das ­Handeln bestimmt. Der Konfliktforscher betont, dass nicht nur die Straftäter selbst zur Eskalation beitrugen. Vielmehr wirkten auch jene als Verstärker, die Randalierer anfeuern oder gewaltsame Videos in den sozialen Medien verbreiten. Zick erkannte in den Silvester­krawallen eine regelrechte „Inszenierung“ von Gewalt.

Wie so oft nach spektakulären Gewaltausbrüchen ­dominierte sowohl bezüglich der Ursachenforschung als auch bei der Frage nach notwendigen Konsequenzen die Suche nach schnellen Antworten und Lösungen. Zwar wies Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zunächst Forderungen nach Gesetzesverschärfungen zurück: „Gott sei Dank sind die Strafvorschriften in den letzten Jahren verschärft worden, aber das muss jetzt auch angewendet werden.“ Gleichwohl prüfte ihre Behörde intern, ob das „gezielte Locken in einen Hinter­halt“ als besonders gefährlicher Angriff auf Polizei und gesetzlich gleichgestelltes Rettungspersonal gewertet werden solle. In einem internen Papier wird angeregt, die Paragraphen 113, 114 und 115 des Strafgesetzbuches entsprechend zu erweitern. Da beträgt der Strafrahmen für ­besonders schwere Delikte gegen Einsatzkräfte ­bereits sechs Monate bis fünf Jahre, wenn etwa eine ­Gewalttat gegen Polizeibeamte oder Notärztinnen mit einer Waffe oder gemeinschaftlich begangen wird. ­Dieser Katalog sollte ergänzt werden, heißt es in dem Papier.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik registrierte bei Angriffen auf Rettungsdienste (ohne Feuerwehr) allein zwischen 2018 und 2021 eine alarmierende Zunahme der Fallzahlen. Die Anzahl der Fälle stieg von 726 auf 1.241.

Die Diskussion dürfte nach dem erschütternden ­Anschlag von Ratingen in Nordrhein-Westfalen, bei dem im Mai zahlreiche Kräfte von Polizei und Feuerwehr durch eine Explosion in einem Hochhaus zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden und im künstlichen Koma versorgt ­werden mussten, neuen Auftrieb er­halten. Ein 57-Jähriger steht im Verdacht, die Explosion gezielt herbeigeführt und Einsatzkräfte mit einer brennenden Flüssig­keit angegriffen zu haben (siehe Seite 12 / 13). Doch als Beleg für gesetzlichen Korrekturbedarf eignet sich diese furchtbare Attacke gerade nicht. Denn die ­zuständige Staatsanwaltschaft Düsseldorf hat gegen den Tatverdächtigen Haftbefehl wegen versuchten Mor­des in neun Fällen erlassen. Versuchter Mord kann in schweren Fällen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft ­werden. Ein zusätzlicher Straftatbestand wird insofern nicht ­benötigt, um heimtückische Angriffe auf Leib und Leben von ­Rettungskräften hart bestrafen zu können.

Pläne für eine Gesetzesverschärfung zielen also auf ­einen – wenn auch besonders verurteilenswerten – ­Ausnahmefall. In den öffentlichen Debatten bleiben eine gründliche Analyse von Art und Ausmaß der Gewalt gegen Rettungskräfte sowie wirksame Strategien ­dagegen immer wieder in Ansätzen stecken.

Zunahme der Fallzahlen

In welchen Situationen sind Feuerwehrleute oder Rettungs­sanitäterinnen eigentlich Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt? Wie können jene, die anderen Menschen professionell helfen und täglich die eigene Gesundheit riskieren, um Leben zu retten, effektiv ­besser geschützt werden? Diese entscheidenden Fragen sind weiter offen. Wer mit erfahrenen Profis spricht und die Ergebnisse von empirischen Untersuchungen ein­bezieht, gewinnt ein differenziertes Bild. Richtig ist demnach: Rettungskräfte werden in ihrem Arbeitsalltag beleidigt, bedroht, bespuckt, geschlagen oder getreten. Die einfache Antwort, das Problem auf Migrations­biografien oder einzelne soziale Brennpunkte abzuschieben, geht an den Tatsachen vorbei.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik registrierte bei ­Angriffen auf Rettungsdienste (ohne Feuerwehr) allein zwischen 2018 und 2021 eine alarmierende Zunahme der Fallzahlen von 726 auf 1.241. Eindeutige Befunde zu den Ursachen des Anstiegs der Fallzahlen können ­derzeit weder Studien noch Profis aus der Praxis liefern. Wer Experten befragt, erfährt aber zumindest von ­einigen Anhaltspunkten, die, ohne den Anspruch auf Voll­ständigkeit zu erheben, dabei helfen, die Lage ­besser zu verstehen.

„Um das Problem der ­Gewalt gegen Rettungskräfte zu diskutieren, ist ­Silvester in Berlin oder Hamburg das denkbar schlechteste ­Beispiel.“

Maximilian Eggeling

Max Eggeling hat selbst mehrere Jahre lang als Rettungs­sanitäter gearbeitet. Aktuell schult er als selbstständiger Coach Rettungskräfte im Umgang mit Aggressionen im Einsatz. Außerdem ist er ehrenamtlich als Zugführer und Einsatzleiter bei der Freiwilligen Feuer­wehr in Lüneburg tätig. „Um das Problem der ­Gewalt gegen Rettungskräfte zu diskutieren, ist ­Silvester in Berlin oder Hamburg das denkbar schlechteste ­Beispiel“, sagt Eggeling. Die begangenen Straftaten müssten nun ­konsequent verfolgt werden. Silvester sei jedoch ein „absoluter Ausreißer“, eine Ausnahme von der Regel, die davon ablenkt, was sich im Arbeitsalltag der Rettungs­kräfte abspielt. Wo es meistens nicht um verabredeten Krawall geht, sondern um scheinbar ­banale Begeg­nungen, die gefährlich eskalieren. „Man sollte stattdessen darauf schauen, wie man diese Situa­tionen ­verändern kann“, rät Eggeling.

„Leute in Extremsituationen“

Während seiner Tätigkeit im Rettungsdienst fing ­Eggeling mit dem Kampfsport an, weil er das Gefühl hatte, sich ­besser schützen zu müssen. Bei einem ­Einsatz schleuderte ein Mann ein Fahrrad auf seinen Kollegen. Der musste mit einem gebrochenen Bein in die ­Klinik. Zwar wurde ­Eggeling selbst nie zusammen­geschlagen, aber be­leidigt und bedroht, einmal auch festgehalten und zu Boden gerissen. Mit seinem heutigen Wissen als Coach sagt Eggeling: „Wir müssen uns klarmachen: Da treffen wir auf Leute in Extremsituationen.“ Schließlich rechnet morgens niemand damit, dass der eigene Vater abends einen Herzinfarkt erleidet: „In solchen Mo­menten ist die Zündschnur bei Betroffenen kürzer. Da ­können dann auch ansonsten friedliche Leute aggressiv reagieren.“ Es sei durchaus nachvollziehbar, dass besorgte ­Angehörige mitunter nicht verstehen, warum man ohne Blaulicht zum Krankenhaus fährt oder die Erstver­sorgung vermeintlich so lange dauert. Die ­Erfahrung hat Eggeling gelehrt: Viele Familien sind überhaupt nicht auf die Möglichkeit krisenhafter ­Ereignisse ­eingestellt. „Wenn dann ein Notfall eintritt, löst das eine Überforderung aus, die in Aggression und Gewalt ­umschlagen kann.“ Die Gefahr lauert demnach in ­vermeintlichen Routineeinsätzen.

Die Feuerwehr-Unfallkasse (FUK) in Niedersachsen hat vor zwei Jahren eine Umfrage unter den Freiwilligen Feuerwehren des Bundeslandes veröffentlicht, 2.500 Aktive haben daran teilgenommen. Ein Befund: Jeder Dritte hat schon Gewalt erfahren, sei es verbal oder ­körperlich. Eine aktuelle Folgeuntersuchung kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Durchaus überraschend: 85 Prozent waren Einzeltäter. „Auffällig ist, dass Gewalt in den allermeisten Fällen in Alltagssituationen ausbricht“, sagt der niedersächsische FUK-Direktor ­Thomas Wittschurky. Typischerweise passiere das bei Straßensperren. Da werde beleidigt und bedroht, ohne überhaupt den Grund für den Einsatz zu kennen. „Die Gewalt geht also von scheinbar ganz normalen Leuten aus“, sagt Wittschurky.

„Für uns war überraschend, dass die Gewalt in drei Viertel der Fälle von den Hilfsbedürftigen, also von Patienten selbst oder deren Angehörigen ausgeht.“

Professor Peter Sefrin

Das Spektrum reiche von ­Drohungen über den berühmten Mittelfinger bis zu ­sexuellen ­Belästigungen: „Einige Betroffene haben auch über drastische Gesundheitsschäden durch Verletzungen berichtet.“ Zu körperlicher Gewalt komme es meistens bei einer Straßensperre oder der Brandbekämpfung, so Wittschurky. Oftmals eskalieren Konflikte, wenn sich Menschen in ihrer Alltagsroutine gestört fühlen. Wenn sie nicht den gewohnten Weg zur Arbeit nehmen können oder ein Termin zu platzen droht. Offenkundig fällt es vielen schwer, persönliche Belange für wichtige öffentliche Interessen zurückzustellen. Leben zu retten hat Vorfahrt – dieser eigentlich selbstverständliche Grundkonsens wird offenbar immer häufiger infrage gestellt. Stattdessen wird an Einsatzorten gepöbelt, gespuckt und geschlagen.

Eine bundesweite empirische Untersuchung zum Thema hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) vorgelegt. Körperliche Gewalt erleben die allermeisten Rettungssanitäter oder Notärztinnen demnach seltener als ein- bis zweimal pro Monat, verbale Gewalt hingegen sehr viel ­häufiger. „Für uns war überraschend, dass die Gewalt in drei Viertel der Fälle von den Hilfsbedürftigen, also von Patienten selbst oder deren Angehörigen ausgeht“, sagt Professor Peter Sefrin, Co-Autor der Studie und Spezialist für Notfallmedizin beim DRK. Weil ihnen die Versorgung nicht schnell genug geht oder der Patient kurz Schmerzen verspürt, wenn mit einem Einstich in die Haut ein Zugang zur Versorgung gelegt wird. Sefrin kritisiert eine übergroße Anspruchshaltung in der Gesell­schaft. Im Notfall sollen Schmerzen augenblicklich gelindert oder besser noch beseitigt werden. Wenn nicht, gibt es Ärger.

Mehrere Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr rüsten sich mit Helmen und Schutzmasken aus

11. Mai 2023, 9 Uhr 49: Zu diesem Zeitpunkt werden Rettungskräfte in Ratingen alarmiert, Einsatzort ist ein Hochhaus. Zahlreiche Helfer und Helferinnen werden Opfer einer Explosion, die mutmaßlich von einem 57-Jährigen zu verantworten ist. Foto: David Young/dpa

Weitere wichtige Ergebnisse der nicht repräsentativen DRK-Studie: Angriffe passieren nicht nur in Groß­städten, sondern auch in mittleren und in Kleinstädten. Und nicht nur an sozialen Brennpunkten, sondern auch in bürgerlichen Wohngegenden. Zu Übergriffen kommt es vor allem abends und nachts sowie an den Wochenenden. „Ganz oft spielen Alkohol und Drogen eine Rolle, wenn es zu Gewalt kommt“, sagt Sefrin. „Wir konnten vor allem Jugendliche als Täter ausmachen, fast immer in Verbindung mit dem Konsum von Alkohol und ­Drogen.“ Auch in sogenannten gutbürgerlichen Stadtvierteln sind Täter, die Rettungskräfte attackieren, der Studie zufolge häufig alkoholisiert.

„Beleidigt, belästigt, bedroht“

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Studie „Gewalt gegen Rettungsdienstpersonal“, die im Jahr 2022 im Bundesgesundheitsblatt veröffentlicht wurde. Demnach wurden pro Woche durchschnittlich 29 Prozent des ­befragten Rettungspersonals beleidigt, belästigt oder verbal bedroht. Acht Prozent waren körperlichen ­Angriffen ausgesetzt. Die meisten Angriffe wurden ­ebenfalls Patienten und deren Angehörigen zugerechnet. Zwei Drittel der angreifenden Personen waren nach dem Eindruck der Betroffenen während der Tat alkoholisiert. Die empirischen Befunde zeigen: Es gibt nicht den einen typischen Fall, aber eben doch markante Muster. Einzel­täter und Gruppengewalt – beide Phänomene setzen Rettungskräften zu.

Notfallmediziner Sefrin benennt Risikofaktoren: „Die Zunahme von Gruppengewalt gegen Rettungskräfte ist ganz und gar nicht auf Silvester beschränkt. Auch ­Großveranstaltungen sind gefährliche Orte.“ Da bilden sich Gruppen, die miteinander in Streit geraten, immer auch unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen. „Das ­Gewaltpotenzial rund um Volksfeste oder Sportver­anstaltungen ist hoch“, sagt Sefrin. In der Vergangenheit seien Gewalttäter fast aus-schließlich männlich ­gewesen. Mittlerweile greifen Sefrin zufolge aber auch Frauen zu massiver Gewalt, werfen Flaschen oder ­ziehen an den Haaren. Als eine weitere Gefahrenzone benennt er die Bahnhöfe in Großstädten, wo vor allem an den Wochenenden gewaltbereite Menschen aufeinandertreffen. Außerdem sei fast immer Alkohol im Spiel, wenn Jugendliche nachts auf der Straße unterwegs sind.

Die Illustration zeigt einen Feuerwehrhelm mit zerbrochenem Schutzvisier.

Illustration: Alexander Lehn

Deeskalationstrainer Eggeling kennt beide Situationen aus eigener Erfahrung: die Eskalation bei einem Routine­einsatz, aber auch dynamische Gruppengewalt. Im ­vergangenen Sommer wurde sein Löschzug zu einem Kellerbrand in Lüneburg gerufen. Vor der brennenden Gaststätte stand eine große Menschenmenge auf der Straße. „Als ich, zuerst allein, am Einsatzort ankam, stand eine Gruppe von etwa zehn Leuten um mich rum und hat dann gegen den Einsatzwagen geschlagen. Da konnte es nur eine richtige Entscheidung geben: Rückzug“, sagt Eggeling. In solchen Momenten könnten auch professionelle Feuerwehrleute allein nichts ausrichten: „Da geht Eigenschutz vor.“ Dann ist es die Aufgabe der Polizei, Straftäter zu stoppen und Gewalttaten zu ­ermitteln. Allerdings, so Notfallmediziner Sefrin, verzichten Rettungskräfte nach Angriffen häufig auf eine Anzeige, weil viele der Zeitaufwand abschrecke. Oder weil sie davon ausgingen, dass es ohnehin nicht zu einer Verurteilung kommt. „Nur bei ganz massiver Gewalt wird überhaupt eine Tat angezeigt. Das ist die Praxis“, so Sefrin. Daher sei „von einer ganz hohen Dunkelziffer auszugehen“.

Experten halten härtere Strafen, die immer wieder ­gefordert werden, für ungeeignet, um die Gewalt zu stoppen. Die Autorinnen und Autoren der Studie ­„Gewalt gegen Rettungsdienstpersonal“ um die Soziologin ­Friederike Leuschner von der Kriminologischen ­Zentralstelle in Wiesbaden analysieren, dass die bereits erfolgten Erhöhungen des Strafrahmens für Angriffe auf Einsatzkräfte „in der Praxis nicht relevant“ seien. Die entsprechenden Delikte, deren schärfere Sanktionierung speziell die Berufsgruppen Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste schützen soll, seien nämlich ­bereits durch andere Straftatbestände abgedeckt, deren Strafrahmen höher ist. So liegt die Höchststrafe für ­versuchten Mord – siehe den Fall in Ratingen – bei ­einer lebenslangen Haftstrafe. Gefährliche Körper­verletzung kann mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden. Massive Gewalt gegen Rettungspersonal kann also nach geltendem Strafrecht effektiv verfolgt ­werden. Zudem fehlt Leuschner zufolge ein wissenschaftlicher Nachweis, ob Strafverschärfungen überhaupt eine ­abschreckende Wirkung erzielen. Durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2017 wurden Rettungskräfte mit der Polizei gleichgestellt. Seither sind auch nach Angriffen auf eine Rettungssanitäterin oder einen Feuerwehrmann Ermittlungen wegen tätlichen Angriffs bei einer Dienst- oder Vollstreckungshandlung möglich. Dadurch können wie beschrieben schon jetzt schwere Gewalt­taten, die von einer Gruppe oder mit einer Waffe verübt werden, mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. Doch das sind absolute Ausnahmen. Da viele Taten wie beschrieben unter Alkoholeinfluss erfolgen, werden Strafen in der Praxis ohnehin sehr viel eher gemindert als ausgereizt.

„Je früher ich das Potenzial zur Eskalation erkenne, desto größere Chancen bestehen, dass es nicht zum Äußersten kommt.“

Max Eggeling

„Weder allgemeine Appelle noch Gesetzesverschär­fungen werden das Problem lösen“, sagt Notfall­mediziner Sefrin. „Die gesetzlichen Regelungen sind absolut ausreichend, sollten aber auch konsequent ­angewendet werden.“ Wie bei vielen anderen Delikten dauert es auch bei Angriffen gegen Rettungskräfte ­mitunter lange, bis es zu einem Gerichtsprozess kommt – wenn überhaupt. Um Gewalt zu verhindern, bringe eine weitere Strafverschärfung gar nichts, ­ergänzt Eggeling. In seinen Seminaren schult er auch Feuerwehren in Deeskalation. Mit seinem praktischen Ansatz sorgt er bei Schulungen regelmäßig für ­Empörung unter den Kollegen. Einigen gilt er sogar als Nestbeschmutzer.

Denn Eggeling setzt bei seinem Deeskalationstraining nicht bei den Tätern an, sondern bei eigenen Handlungs­optionen. „Erst mal ist schwer zu verstehen, dass man als Opfer etwas ändern soll“, erklärt Eggeling. Aber aus der systemischen Psychologie sei bekannt, dass man das Verhalten anderer nur indirekt beeinflussen kann – nämlich durch sein eigenes Verhalten. Nur so lässt sich ein Konflikt entschärfen, wenn sich Ärger und Wut hochschaukeln. Der Coach sensibilisiert die Teil­nehmenden seiner Seminare dafür, frühzeitig zu ­erkennen, wo und wie Gewalt entsteht. Er rät Einsatzkräften, immer auch die Umgebung im Blick zu haben, wo Angehörige und Schaulustige stehen: „Je früher ich das Potenzial zur Eskalation erkenne, desto größere Chancen bestehen, dass es nicht zum Äußersten kommt.“ Wenn jemand beispielsweise alle Ansagen ­ignoriere und trotzdem versuche, Absperrungen zu überwinden, empfiehlt Eggeling, unverzüglich die ­Polizei einzuschalten.

„Wir müssen uns immer klarmachen, warum es zur ­Gewalt kommt.“

Max Eggeling

In seinen Kursen lernen die Kollegen, dass es im ­Einsatz durchaus Handlungsspielräume gibt, die sie anfangs nicht erkennen. „Wenn ich selbst aggressiv an einer ­Absperrung auftrete, werde ich eben nicht deeskalieren, sondern im Gegenteil schaukelt es sich dann hoch“, ­erklärt Eggeling. In jedem Löschzug gebe es immer auch Kollegen, die schnell hochfahren. „Wichtig ist, sich klarzumachen: Wir sind die Profis und müssen ­angemessen damit umgehen, wenn Menschen in Extrem­situationen überreagieren und aggressiv ­werden.“ Viele Situationen lassen sich mit kleinen ­Korrekturen in der eigenen Ansprache entschärfen. An Straßenabsperrungen, wo regelmäßig Frust in Gewalt umschlägt, sollte nicht einfach gesagt werden: Hier ist gesperrt. Besser ist es zu erklären: Die Ortsdurchfahrt ist zwar wegen eines Einsatzes gesperrt, aber es gibt eine Umleitung. Die dauert zwar länger, führt aber ­sicher zum Ziel.

Hilfreich sei es, sich als Rettungskraft zu fragen: Was kann ich den Leuten in einer Stresssituation anbieten? „Wir müssen uns immer klarmachen, warum es zur ­Gewalt kommt“, sagt Eggeling. Der Dialyse-Patient, der regelmäßig nach ihnen geschlagen habe, weil er schwer an Alzheimer erkrankt war, konnte sein Verhalten ebenso wenig steuern wie der Drogenabhängige im ­kalten Entzug. „Es ist unsinnig, bei diesen Patientengruppen moralische Kriterien anzulegen oder nach ­härteren Strafen zu rufen“, sagt Eggeling. Damit seine Kollegen nicht panisch reagieren, wenn es trotz aller Bemühungen um Deeskalation doch zu Angriffen kommt, bringt Eggeling ihnen auch Befreiungs- und Ausweichtechniken zum Selbstschutz bei. In Umfragen äußern Betroffene immer wieder den Wunsch nach ­solchen Schulungen. Denn die Folgen von Gewalt­erfahrungen wirken auch ohne sichtbare Verletzungen lange nach: mit Schlaflosigkeit oder Flashbacks, bei ­denen traumatische Erlebnisse in Gedanken immer ­wieder quälend durchlebt werden. Trotz der großen Nachfrage wird Deeskalationsmanagement längst noch nicht flächendeckend für Rettungskräfte angeboten. Hier kann Prävention konkret ansetzen.

Eine Person in Feuerwehrkleidung hält eine andere Person bei einer Übung am Kragen fest. Die hintere Person schaut zu einer anderen Person, die im Vordergrund des Fotos von hinten zu sehen ist.

Deeskalationstrainer Max Eggeling bei einer Übung mit Feuerwehrkräften. Foto: Sebastian Heinatz

Aber es braucht auch Aufklärung in der Bevölkerung. Immer wieder kommt es vor, dass Eltern ihren Kindern das Feuerwehrfahrzeug zeigen möchten, während ein Brand gelöscht wird. Kitas und Schulen können vermitteln, dass Rettungseinsätze kein Familienspektakel sind. Darüber hinaus braucht es auch Aufklärung darüber, wer nach einem Notruf eigentlich zum Einsatzort eilt. Viele in seiner Region, so Zugführer Eggeling, wüssten gar nicht, dass es in Lüneburg keine Berufsfeuerwehr gibt. Der Kollege, der aktuell einen Brand bekämpft, hat womöglich gerade eben noch als Klempner ein defektes Rohr ausgewechselt. „In Deutschland sind über 90 Prozent der Feuerwehrleute ehrenamtlich tätig“, sagt ­Eggeling. „Das sind alles Profis, aber keine haupt­amtlich Angestellten. Das weiß kaum jemand.“ Angefeindet werden also ganz häufig ausgerechnet diejenigen, die ihre Freizeit dafür opfern, um anderen zu helfen. Die Kommunen sind gefragt, sehr viel besser darüber zu informieren und auf diese Weise größeres Verständnis zu schaffen.

Aus seinen Erfahrungen bei der Feuerwehr regt ­Eggeling eine weitere Maßnahme an, von der er sich eine deutlich größere Akzeptanz für Rettungskräfte in der Bevölkerung erhofft. Er selbst hatte bei Einsätzen in der lokalen Heavy-Metal-Disco nie Probleme, weil er da viele Leute kennt. Und bei Notrufen in Stadtteilen mit einem hohen Migrationsanteil war er immer froh, wenn der türkischstämmige Kollege dabei war: „Der hat eine ganz andere Ansprache und einen besseren Zugang zu den Anwohnern gehabt.“ In der Region Lüneburg habe die Feuerwehr sowohl Geflüchtete als auch viele Frauen aufgenommen. Das wirke sich spürbar ­positiv aus und sei ein gutes Vorbild. Eggeling ist davon überzeugt: „Je breiter wir bei den Rettungskräften aufgestellt sind, umso besser.“

Wie der WEISSE RING nach der Flut im Ahrtal hilft

Erstellt am: Mittwoch, 16. Februar 2022 von Sabine

Wie der WEISSE RING nach der Flut im Ahrtal hilft

Am 14. Juli rast die Flut durch das Ahrtal, mehr als hundert Menschen sterben, ganze Dörfer sind verwüstet. Auch Opferhelfer des WEISSEN RINGS wurden zu Betroffenen. Seitdem organisiert Außenstellenleiter Gerd Mainzer den Ausnahmezustand in seinem Heimatdorf. Wie gelingt ihm das?

Als die Flut kam, stand für Gerhard Mainzer fest: Er muss helfen, mit anpacken.

Als Betrüger wäre Gerd Mainzer eine große Nummer. Nach wenigen Minuten würde man ihm Passwörter, Autoschlüssel und die eigenen Kinder anvertrauen. Ein 66-Jähriger mit gepflegten grauen Haaren, der nüchtern und interessiert zugleich durch seine Brille, Typ Kassengestell, blickt. Zum Glück ist Gerd Mainzer kein Betrüger. Was er allerdings an diesem Tag gerade ist, das ist gar nicht so einfach zu sagen. Pensionierter Leiter einer Polizeiwache? Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS? Stadtbeauftragter der Malteser Bonn? Gerd? Jedenfalls auch einer, der sich freut, dass der Apfelschnitz so „schön sauer“ schmeckt.

Fest steht schon mal, wo er an diesem Vormittag ist: Walporzheim, Rheinland-Pfalz. Ein Dorf mit nicht mal 700 Einwohnern, das zu Bad Neuenahr-Ahrweiler gehört. Es ist einer der guten Herbsttage, der Himmel ist blau, auf der einen Seite die Weinberge, auf der anderen die bewaldeten Hügel. Mainzer steht zwischen einem großen weißen Zelt und der Dorfkirche und plaudert mit einigen Bewohnern. Er ist angezogen wie für einen Katastropheneinsatz: Jacke mit viel Orange und reflektierenden Streifen, Cargo-Hose, schwere Schuhe, die Arbeitskleidung der Malteser. Nur der Rucksack verleiht ihm etwas Jugendliches. Ein Modell, das man auf eine leichte Wanderung mitnehmen würde. Er möchte aber bloß seine Runde durch den Ort machen. Noch ist er nicht aufgebrochen, da sagt schon einer über ihn: „Er war einer der Ersten mit Uniform hier.“

,,Alle haben sich irgendwo eingebracht."

Gerhard Mainzer

Lang her ist die Katastrophe noch nicht. Am 14. Juli erhält Mainzer gegen 22 Uhr einen Anruf seiner Schwester aus Walporzheim. Sie wohnt im Elternhaus, er knapp 50 Kilometer entfernt in Königswinter bei Bonn. Das Wasser stehe im Erdgeschoss, sagt die Schwester, der Hund wolle nicht hochkommen in die erste Etage und das Handy sei auch bald leer. Der Strom sei ausgefallen. Nachts schickt sie eine SMS. Vor dem Haus hänge eine Frau im Baum. Dann erreicht Mainzer seine Schwester nicht mehr. Hinfahren ist unmöglich. Wie denn auch? In den Nachrichten ist zu erfahren, dass keine Region so stark vom Regen betroffen ist wie der Landkreis Ahrweiler. 134 Menschen sterben durch das Hochwasser, eine tote Frau wird erst in Rotterdam aus dem Wasser gezogen. Wie hoch die Ahr am Ende stand, weiß niemand, weil die Messgeräte dafür nicht ausgelegt waren. Schätzungen gehen von mehr als sieben Metern aus, doppelt so viel wie der bisherige Höchststand von 2016. 17.000 Häuser sollen verlorengegangen sein oder erhebliche Schäden erlitten haben. Nach ein paar Tagen schafft es Mainzer mit dem Auto bis in seinen Heimatort, die Schwester lebt, aber überall ist Chaos. Es gibt Fotos von Walporzheim nach der Flut, die aussehen, als habe jemand am Computer einen Müllberg in die Straße hineinkopiert – allerdings einen Müllberg, in dem Autos stecken. Für Mainzer steht fest: Er muss helfen. Im Auftrag der Malteser baut er als Ehrenamtler die nächsten Wochen eine medizinische Versorgung auf. Die erste Zeit fährt er fast täglich ins Dorf, 760 Arbeitsstunden in drei Monaten, schätzt er. Gegenüber dem großen weißen Zelt, in dem Helfer und Bewohner kostenlos essen können, steht nun ein Container, der mit einem Sanitäter besetzt ist.

Vor Ort vermischen sich seine verschiedenen Ehrenämter beim WEISSEN RING und bei den Maltesern schon mal.

Wer mit Mainzer durchs Dorf geht, stellt schnell fest, dass die Flut zwar durch ist, das Thema Flut aber noch lange nicht, auch wenn sich die Öffentlichkeit mehr als drei Monate danach wieder anderen Themen zugewandt hat. So vieles ist noch immer nicht wie vorher. Züge fahren erst mal keine. Es gibt Häuser, die bereits von außen völlig zerstört aussehen, es gibt Lücken, in denen mal Häuser standen, Fassaden sind mit Schlamm bespritzt. Man wird in Walporzheim kein Erdgeschoss finden, das nicht betroffen ist. Die meisten stehen noch leer. Alle Weinlokale sind geschlossen.

Obwohl Mainzer die Flut nicht selbst gesehen hat, weist er beim Rundgang regelmäßig daraufhin, wie hoch das Wasser in diesem und jenem Haus gestanden hat – ein Zeichen dafür, wie sehr sich die vergangenen Monate bei ihm eingeprägt haben. Er läuft vorbei an einer provisorischen Tür, auf der steht „We Ahr Together“, unterschrieben von sehr vielen Menschen. Auch sein Name steht da irgendwo mit drauf. Er betritt das Gemeindehaus, das früher mal eine Grundschule war, seine Grundschule. Hier werden Sachspenden gesammelt und ausgegeben. Von Dosensuppe bis zu alten Schuhen gibt es hier alles. Kinderkleidung haben sie viel zu viel. Gebraucht werden gerade besonders Taschenlampen, Kaffeepulver und Spülmittel. Eine Frau fragt Mainzer nach Trocknern. Er kümmert sich, verspricht er. Ein paar Minuten später erreicht er den Platz, an dem gerade das winterfeste Versorgungszelt aufgebaut wird. Bald bekommt er hier sein eigenes Büro, einen Container, momentan organisiert er seine Projekte noch „vom Rucksack“ aus, wie er sagt. Der Container sollte längst da sein. Er ärgert sich.

Vor einem Haus fragt er ein altes Paar, ob sie ihr Geld schon bekommen haben. Ja, haben sie. „Es wird“, sagt die Frau zum Abschied. Das Geld, das ist die Soforthilfe von 2.500 Euro, die jedem vom Hochwasser betroffenen Haushalt auf Antrag bei diversen Hilfsorganisationen zusteht. Mainzer hat auch die besucht, die es nicht zur Info-Veranstaltung geschafft hatten. Da hilft es, wenn man die Leute kennt. Wenn er auf Bekannte trifft, verändert sich seine Sprache. Mit Fremden spricht er eher formell. Fragt man Mainzer nach den Toten und ob sie ertrunken oder von Bäumen oder Autos erschlagen wurden, sagt er: „Tot waren sie halt.“ Was soll die blöde Frage?, heißt das. Das ändert sich, wenn er mit den Leuten aus dem Dorf spricht. Dann wird er lockerer, weicher. „Na, wie isset?“ In Walporzheim ist er immer auch Walporzheimer.

,,Das, was die Leute berichten liegt ihnen am Herzen und belastet sie. Wenn ich helfen kann, tue ich das."

Gerhard Mainzer

Er erreicht nun die Ahr, das Ufer ist aufgerissen. Hier steht nicht nur ein großes Zelt, in dem ein für die Bewohner kostenloser Baumarkt untergebracht ist, sondern auch ein Containerdorf für Helfer. Verantwortlich dafür ist ein Gartenbauunternehmer aus Hessen. Und genau dem läuft Mainzer jetzt über den Weg. Mit einem weiteren Mann geht dieser gerade durch den Ort und verteilt Geld und Gutscheine, die sie in einem Korb tragen. Ob er noch Leute kenne, die Bedarf hätten? Mainzer will darüber nachdenken. Er lässt sich nicht anmerken, dass ihm der Mann nicht ganz geheuer ist. Er findet es eher ungeschickt, die Zuwendungen zu verteilen wie der Weihnachtsmann. Mainzer will da nicht falsch verstanden werden, die Helfer von außen waren wichtig für den Ort. Überall hängen Dankesplakate an Zäunen und Fenstern. Doch er findet, so allmählich müsse das Dorf wieder mehr für sich selbst sorgen. Der Gartenbauunternehmer ist ein ganz anderer Helfer-Typ als Mainzer. Herr Hartmann trägt einen Kapuzenpullover mit dem Aufdruck „Mach es wie die Hartmanns – sei ein HARTmann!“ Man hat ihm auch eine lebensgroße Holzfigur geschnitzt und eine provisorische Straße im Containerdorf nach ihm benannt. Mainzer, der ohnehin eher aussieht wie in Stein gehauen, hätte den Leuten vermutlich einen Vogel gezeigt. Später wird ein Schreiner Mainzer erzählen, bei ihm hätten die Helfer schon Unkraut pflücken wollen. Bei einem anderen hätten sie die Kieselsteine gereinigt.

Auch Mainzer erzählt gern von dem, was er leistet. Später auf der Rückfahrt hört man die Geschichten aus seiner Zeit als Polizist, Erster Hauptkommissar war er, mehr geht nicht im gehobenen Dienst. Wie er über den Zugriff bei einer Kindesentführung entscheiden musste. Wie er einen Kaiserschnitt anordnete, um Leben zu retten. Wie er einer Frau 50 Mark lieh, die gerade Pfandgeld gestohlen hatte, aber Essen für ihre Kinder brauchte. Der Kollege sagte, das Geld sehe er nie wieder. Er sah es wieder. Solche Dinge erzählt er aber eher weniger, um damit anzugeben, sondern um einen Punkt zu machen: Dass er schwierige Entscheidungen treffen kann. Dass er Vertrauen in Menschen hat.

Hört zu: Außenstellenleiter Gerd Mainzer.

Wenn Mainzer durch sein Heimatdorf geht, trägt er zwar die Uniform der Malteser, aber er ist auch immer Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS Ahrweiler. Das Telefon hat er immer dabei. „Das ist ja ein Mobiltelefon“, sagt er trocken. 2018 übernahm er den Posten, ein Jahr nach seiner Pensionierung. Wie leitet man nun eine Beratungsstelle für Kriminalitätsopfer, wenn plötzlich ganz andere Opfer im Vordergrund stehen, die Betroffenen der Flut? Am Tag zuvor hat er eine Videokonferenz mit seinen Leuten gemacht, um zu schauen, wie die Lage bei ihnen ist. Nach dem Hochwasser dauerte es eine Weile, bis er alle 15 überhaupt erreicht hatte. Betroffen waren sie alle irgendwie. Am schlimmsten der Mitarbeiter, der sein Haus verlor. Wen es selbst nicht so stark erwischt hatte, kümmerte sich um Familienangehörige, half im eigenen Ort mit. „Alle haben sich irgendwo eingebracht“, sagt Mainzer. Zum Beispiel jene Mitarbeiter, die das Glück haben, auf einem Berg zu wohnen. Sie kochen nun für alle, die dazu gerade nicht in der Lage sind. Die Hilfe vor Ort hatte Vorrang vor der Arbeit für den WEISSEN RING. Mainzer versteht das. Wer sich ehrenamtlich engagiert, neigt dazu, sich auch dann zu kümmern, wenn es an anderer Stelle Probleme gibt.

Auch mehr als drei Monate später stehen Mainzer nur zwei bis drei Helfer wieder so zur Verfügung wie vor dem Hochwasser. Die Anrufe hatte ohnehin immer er entgegengenommen, dann die Fälle aber häufig weiterverteilt. Im Juli wurde klar, dass er sich bis auf weiteres allein um die Fälle kümmern musste. „Ich war ja eh hier.“ Auch wenn er mal nicht ans Telefon gehen kann, zurückgerufen hat er immer innerhalb von 24 Stunden, sagt er. Auch wenn die Not, die er selbst vor Augen hatte in Walporzheim, häufig größer war. Man müsse es halt bearbeiten – auch dann, wenn es „nur“ um Betrug geht. „Schlimmer geht immer. Aber das, was die Leute berichten, liegt ihnen am Herzen und belastet sie. Wenn ich helfen kann, tue ich das. Es gibt aber Fälle, die so lebensfremd sind, die lehne ich ab.“ In den vergangenen Monaten hat es aber auch schwere Fälle gegeben, ein Tötungsdelikt, 16 Messerstiche, das Opfer überlebte schwerverletzt. Eine Flut-Helferin wurde vergewaltigt.

Einige Straftaten wurden durch die Flut begünstigt. Einmal warnten Betrüger vor dem nächsten Hochwasser, damit die Leute die Häuser verließen und sie in Ruhe die Wertgegenstände rausräumen konnten. Es gibt auch Betrüger, die den Anschein erwecken, sie würden kostenlos bei Reparaturen helfen, und dann erhöhte Rechnungen ausstellen. Das Hochwasser bringt bei manchen auch verdrängte Traumata wieder hoch. Da kann es sein, dass Mainzer jemanden in seiner Funktion als Malteser besucht, und dann geht’s plötzlich nicht nur um die Soforthilfe. „Da brach alles über die Frau herein, und sie sagte: ‚Jetzt weiß ich gar nichts mehr.‘ Dann schalte ich auf WEISSER-RING-Modus um und dann ist das so.“

,,Ich bin nicht erstaunt, dass ich das geschafft habe. Ich traue mir das schon zu. Meine Aufgabe ist es zu organisieren."

Gerhard Mainzer

Mainzer hat Erfahrungen mit Katastrophen, „aber nicht mit so einer Katastrophe. Solche großen Katastrophen kennt niemand.“ Dennoch sagt er: „Ich bin nicht erstaunt, dass ich das geschafft habe. Ich traue mir das schon zu. Meine Aufgabe ist es zu organisieren.“ Situationen nicht zu sehr an sich heranzulassen, das gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten eines Helfers – aber wie will man das machen, wenn die Heimat, wenn Freunde und Familie betroffen sind? Das war auch für Mainzer eine besondere Belastung. Er hat geweint, aber nicht hier vor Ort als Helfer, dafür ist er zu professionell. Seine Frau hat ihn schon mal gebeten, jetzt nicht wieder nach Walporzheim zu fahren. Nicht weil sie den Einsatz in Zweifel zieht, sondern bloß, weil es ihr zu viel erschien. Dann blieb er zu Hause.

Was er jetzt im Ort macht, dafür nutzt er zwar nicht die Mittel des WEISSEN RINGS, sondern der Malteser, aber es ist ganz im Sinne des WEISSEN RINGS: Prävention. Die Leute haben Schlimmes erlebt und überlebt. Das hinterlässt Spuren. Deshalb hat jetzt Bolle seinen Auftritt. Labrador Bolle ist ein sogenannter BBD-Hund, BBD steht für Besuchs- und Begleitdienst. Mainzers Idee ist, dass man in Anwesenheit eines Hundes leichter mit Menschen ins Gespräch kommt, die schwerer zu erreichen sind: alte Menschen, Kinder zum Beispiel. Zusammen mit Besitzerin Birgit Buchloh besuchen sie am Freitagnachmittag das Altenheim. Im Erdgeschoss wird noch renoviert, in der ersten Etage sitzt eine Frau auf dem Balkon und raucht. Wer sich fragt, was ein Hund denn ausrichten könne, sollte sich das unbedingt einmal anschauen. Der eben noch sehr stürmische Bolle wird ruhig. Nach wenigen Minuten überlässt Buchloh der Rentnerin die Leine, der Hund legt sich hin. Sie drückt der Frau noch ein paar Leckerli in die Hand. Ein zweiter Bewohner setzt sich dazu, nimmt auch mal den Hund, dasselbe Spiel. Viel geredet wird nicht, Mainzers Fragen werden mit höchstens einem Satz beantwortet. Aber da ist plötzlich so eine Art Frieden in einem Ort, der noch lange nicht zur Ruhe kommt. Für den nächsten Besuch vereinbaren sie einen Spaziergang mit Hund.

Mainzer macht sich Sorgen, weil jetzt der Winter kommt. Ausgerechnet in der Zeit, in der es kälter und dunkler ist, müssen die Überlebenden mit den psychischen Folgen umgehen. Viele haben noch keine neue Heizung, können das Erdgeschoss nicht nutzen, kämpfen um ihre Existenz. Manche sitzen allein zu Hause. Die Leute hätten sich schon gegenseitig geholfen, sagt Mainzer, aber er beobachte, dass nun auch die Konflikte losgehen. Warum hat mein Nachbar mehr als ich, woher hat er den Trockner? Belastungen, die zur Gefahr werden können. Häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch hätten während der Pandemie zugenommen in der Region, sagt Mainzer. Was nach der Flut passiert ist, da fehlen ihm noch die Zahlen. Deshalb sind Projekte wie der Begleithund gut. Er, der vor seiner Zeit als Polizist Kindergärtner war, ist auch mit Kindern in die Reithalle gegangen. Treffpunkte wie die Kirche will er wieder beleben. Die Leute sollen nicht gezwungen sein, zu Hause zu hocken. Dafür nutzt er auch die Kontakte des WEISSEN RINGS. Wenn er zum Beispiel beim Jugendamt anruft, sagt er: Sie kennen mich vom WEISSEN RING, aber heute rufe ich als Malteser an.

Am späten Nachmittag kehrt Mainzer zurück auf den Zeltplatz. Schon ist wieder sein Typ gefragt. Eine Frau sucht eine neue Wohnung, die alte ist wegen des Hochwassers gerade nicht bewohnbar. Sie will unbedingt hier bleiben, damit die Tochter nicht die Schule wechseln muss. Sie klingt verzweifelt, beginnt zu weinen. Mainzer sagt gar nicht viel, aber er verspricht sich umzuhören. Die Frau schreibt ihren Namen und ihre Telefonnummer auf seinen Notizblock. Fragen kann er zum Beispiel die Ehrenamtlerin, die auch beim WEISSEN RING arbeitet und sich in der Gegend momentan um Wohnraum für Flutopfer kümmert. Den Antrag auf Soforthilfe hat die Frau auch noch nicht ausgefüllt. Kann sie gleich hier machen. Mainzer setzt sich mit ihr auf eine Bank. Zum Abschied umarmt sie ihn, und zum ersten Mal an diesem Tag wirkt Mainzer ein klein wenig unbeholfen.