Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Erstellt am: Mittwoch, 9. August 2023 von Juliane

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Wenn es immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über wahre Verbrechen berichten, dann gibt es auch immer mehr Ver­brechensopfer, deren Geschichte öffentlich erzählt wird – und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden. Ein Lage­bericht zu True Crime in Deutschland.

Auf einer roten Fläche ist mit weißen Kopfhörerkabeln ein Männchen gezeichnet. Es sieht aus wie ein Kreidemännchen das man von Tatorten kennt. Die Kopfhörer sollen auf True-Crime-Podcasts anspielen.

Foto: Alexander Lehn

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

#TrueCrimeReport

Sie dachte, das wäre alles kein Problem für sie, der Überfall lag inzwischen fast zehn Jahre zurück: ein Interview für einen True-Crime-Podcast, seriöser Anbieter, der Reporter würde sich per Video zuschalten Sie hatte sich gut vorbereitet, während der Aufzeichnung lagen ihre Notizen neben ihr. Dass es am Anfang Probleme gab mit dem Ton: geschenkt, so etwas kommt eben vor.

Nur kurz fragte sie sich: Warum bin ich eigentlich so nervös? Will ich das hier überhaupt?

Schon rückte der Reporter ins Bild. Er war freundlich und empathisch, einfühlsam stellte er ihr seine Fragen.

Und sie wunderte sich: Wieso gerate ich so ins Stottern? Weshalb fallen mir die richtigen Worte nicht ein?

Als die Aufnahme für den True-Crime-Podcast beendet war, ging es ihr schlecht. Tagsüber lag sie antriebslos auf dem Sofa, nachts konnte sie nicht schlafen, sie hatte endlose Kopfschmerzen. Genauso wie damals, nach dem Raubüberfall im Flensburger Lidl-Markt.

Der Podcast hatte Claudia Gerds zurückgeworfen in Gefühle, die sie längst überwunden glaubte. Es war nicht das Gefühl während des Raubüberfalls selbst: diese Angst, als die Räuber ihr Klebestreifen auf Mund und Augen drückten; als sie ihre Hände mit Panzertape fesselten, als ihr Herz schlug wie nie zuvor. Nein, es waren die Gefühle nach dem Überfall: als sie den Artikel in der Zeitung sah und zusammenbrach. Als sie danach monatelang krank war, Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS.

„Das war keine gute Idee mit dem Podcast, oder?“, fragte ihr Mann besorgt.

Kapitel 1.

Wer „True Crime Podcast“ in die Suchmaske von Google eintippt, bekommt 1.440.000 Ergebnisse angezeigt. Bei „True Crime“ (ohne Podcast) sind es sogar 59.400.000 Ergebnisse. True Crime gibt es zum Hören, Sehen und Lesen: im ZDF und bei Netflix, in der Lokalzeitung, als Magazin am Kiosk oder als Sachbuch im Bahnhofshandel. Regelmäßig täglich kommen neue Angebote hinzu, True Crime boomt.

Wenn es aber immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über Verbrechen berichten, dann gibt es zwangsläufig auch immer mehr Verbrechensopfer, deren Geschichten öffentlich erzählt werden und die durch True Crime ein zweites Mal verletzt werden könnten. So wie Claudia Gerds aus Flensburg. „True Crime lädt sich medienethisch betrachtet durchaus eine große Verantwortung auf“, sagt der Medienwissenschaftler Jan Harms, der an der Universität Düsseldorf zu True Crime forscht.

,,Heute präsentieren wir euch eine Wahnsinnsfolge – viel Spaß!"

Begrüßung in einem deutschen Podcast

Wie gehen Medien mit dieser Verantwortung um? Dieser Frage geht die Redaktion WEISSEN RINGS in ihrem True-Crime-Report nach, veröffentlicht auf fast 60 Seiten im Magazin „Forum Opferhilfe“. Unsere Reporter haben dazu Daten erhoben, sie haben mit Wissenschaftlern gesprochen, mit Juristen, Psychologinnen, True-Crime-Machern und natürlich immer wieder mit Kriminalitätsopfern, sie haben prominente Autoren gebeten, Gastbeiträge zu verfassen. Ziel war es, ein mosaikartiges Lagebild zu True Crime in Deutschland zu erstellen.

#TrueCrimeReport: Wie alles begann (Eine Mords-Geschichte)

Die Angehörige eines Mordopfers schilderte ihre Erfahrung mit True Crime in einer Nachricht an den WEISSEN RING so: „Stellen Sie sich vor, man sitzt gemütlich zu Hause am Kaffeetisch, der Fernseher läuft mehr oder weniger nebenbei, und plötzlich sieht man […] Bilder von diesem Mordfall, die man mühsam verdrängt hatte. Alles damals Erlebte ist sofort wieder da und belastet.“ Zwar sei das Gesehene in ihrem Fall „sachlich und wahrheitsgemäß“ dargestellt worden, „aber man steht wieder wochenlang gedanklich in dieser schweren Zeit und erlebt alles wieder und wieder.“

Die Fratze der Tat

Ähnlich beschreibt es Johann Scheerer, Sohn des 1996 entführten Millionärs Jan Philipp Reemtsma und Autor des Buches „Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung“: „Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass man von dieser (Berichterstattung) als Beteiligter vorab gar nichts mitbekommt. Alle paar Jahre gibt es eine Berichterstattung, etwa wenn einer der Täter wegen anderer Sachen vor Gericht steht oder so, dann wird der Entführungsfall immer noch mal komplett nacherzählt. Wenn man dann als Betroffener an einem Sonntag bei einem Kaffee die Zeitung liest, guckt man unvermittelt in die Visage dieses Menschen und damit in die Fratze der Tat. Ich will jetzt nicht über Retraumatisierung sprechen, aber man wird doch für einen Moment aus der Bahn geworfen.“

#TrueCrimeReport: Johann Scheerer über die Schaulustigen-Mentalität

Flensburg im Frühling, ein belebtes Keller-Café am Südermarkt. In einer Nische sitzt Claudia Gerds, 56 Jahre alt: kurze graue Haare, rote Brille, im Gesicht ein gewinnendes Lächeln. „Sie müssen unbedingt diesen leckeren spanischen Kaffee probieren!“, sagt sie. Die Aufzeichnung des True-Crime-Podcasts liegt fünf Monate zurück. „Mir geht es wieder gut“, beteuert sie. Sie arbeitet nicht mehr bei Lidl an der Kasse, „ich wollte mich dem nicht mehr aussetzen“. Sie hat eine neue Stelle: Sie arbeitet jetzt mit beeinträchtigten Menschen, „das ist ein ganz toller Job“.

Den Podcast habe sie sich nie angehört, „das werde ich auch nie“, sagt Claudia Gerds.

Kapitel 2.

True Crime heißt ins Deutsche übersetzt „wahre Verbrechen“. Für Medienhäuser bedeutet True Crime aber auch „Ware Verbrechen“: Mit True Crime, mit Geschichten über Verbrechen, Täter und Opfer, lassen sich Zeitschriften verkaufen und Werbeblöcke. True-Crime-Podcaster verkaufen Eintrittskarten für True-Crime-Tourneen, Verlagshäuser verkaufen Fan-Artikel wie Fußmatten und Adventskalender mit Fällen zum Selberlösen. True Crime boomt in deutschen Medienhäusern, weil es sich gut verkaufen lässt.

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat einen Fragebogen an 305 Lokal- und Regionalzeitungen in Deutschland geschickt. 42 Prozent der Redaktionen, die sich zurückgemeldet haben, gaben an, dass sie bereits regelmäßige True-Crime-Angebote vorhalten. Elf Prozent teilten mit, dass sie entsprechende Angebote planen.

#TrueCrimeReport: Hauptsache tot (Datenanalyse)

Wie viele True-Crime-Filme und -Podcasts es gibt, ist nicht zu zählen. Die Komikerin Carolin Kebekus sagte in ihrer Sendung, als sie vor einem halben Jahr plötzlich ernst wurde und über Frauenmorde und spekulative True-Crime-Podcasts sprach: „Wer bei Spotify ,True Crime‘ eingibt, der findet über 1000 Podcasts.  Also ganze Podcasts, nicht einzelne Folgen! Das heißt, es gibt da mehr als doppelt so viele True-Crime-Podcasts wie Rolling-Stones-Songs!“

Kapitel 3.

Es gibt Verbrechensopfer, die ein eigenes Interesse an True Crime haben. Ingrid Liebs, deren Tochter Frauke 2006 ermordet wurde, sagt: „Ich brauche die Öffentlichkeit.“ Weil der Mörder ihres Kindes auch 17 Jahre nach der Tat noch nicht gefasst ist, wägt sie bei jeder Medienanfrage ganz praktisch ab: „Was bringt mir das? Kann ich daraus eine Win-win-Situation machen? Denn ich mache nicht mit bei diesen Produktionen, weil ich gerne in der Öffentlichkeit stehe. Für mich ist wichtig, dass mein Fall aufgeklärt wird.“ Auch im Fall von Claudia Gerds, die vor zehn Jahren im Flensburger Lidl-Markt überfallen wurde, sind die Täter bis heute auf freiem Fuß. Sie hofft, dass sie noch gefasst werden, und sie möchte dabei mithelfen. Deshalb sprach sie mit dem Podcast-Reporter.

#TrueCrimeReport: Was dürfen True-Crime-Formate – und was nicht?

Der US-Podcast „Serial“ erreichte, dass ein Mordurteil aufgehoben wurde. Der Podcast „Your Own Backyard“ schob neue polizeiliche Ermittlungen in einem Mordfall an, die zu einer Verhaftung führten.

Aber wie oft geht es bei True Crime überhaupt um Aufklärung? Die meisten Podcasts, Fernsehsendungen und Texte erzählen Kriminalfälle nach, die längst abgeschlossen sind. Medienforscher Harms nennt das „sensationalistische Wiederholung“. Den Trend, für Podcasts lange zurückliegende Kriminalfälle aus dem Archiv zu holen, sieht er entsprechend kritisch: „Da ist die Gefahr groß, dass es ausschließlich um die spannende Geschichte und das Erzählen an sich geht.“

#TrueCrimeReport: Perspektivwechsel bei Mordlust

Manche Journalisten betonen auch einen präventiven Effekt von True-Crime-Berichterstattung oder einen erzieherischen. Aber müsste True Crime dann nicht vor allem solche Verbrechen behandeln, mit denen Hörer, Leserinnen und Zuschauer statistisch gesehen am ehesten in Berührung kommen können? Zum Beispiel häusliche Gewalt, Betrug oder Sexualdelikte? Eine Auswertung des WEISSEN RINGS von deutschsprachigen Podcasts zeigt hingegen, dass drei Viertel der Folgen Fälle behandeln, bei denen jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist. In der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts machen sogenannte Straftaten gegen das Leben nur 0,1 Prozent der erfassten Delikte aus.

Kapitel 4.

Dramatische Musik, ein Martinshorn ist zu hören: Folge 21 des True-Crime-Podcasts einer lokalen Tageszeitung in Norddeutschland beim Streamingdienst Spotify. Es geht um den Tod der elfjährigen Lena, ermordet vor zehn Jahren. Zwei Journalisten sprechen über den Fall, einer der beiden hat damals darüber berichtet. Sie erwähnen auch, wie schlecht es den Eltern des kleinen Mädchens immer noch ging, als der Journalist fünf Jahre nach der Tat mit ihnen sprechen durfte, als erster Journalist  in Deutschland überhaupt. Wie es ihnen heute geht, zehn Jahre nach der Tat, erfahren die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht; die Eltern kommen nicht zu Wort.

Doch zunächst die Werbung. Ein Kreuzfahrtriese wirbt auf Spotify für „Highlights am Polarmeer“.

,,Da ist ein bisschen was aus dem Lot geraten."

Prof. Dr. Tanjev Schultz über True Crime

True-Crime-Podcasts heißen „Mord auf Ex“, „Mord im Osten“ oder „Mord im Pott“. True-Crime-Sendungen im Fernsehen tragen Titel wie „Morddeutschland“, „Mördern auf der Spur“ oder „Mordmotiv Liebe“. Zeitungen nennen ihre True-Crime-Angebote je nach Verbreitungsgebiet „Tatort Celle“, „Tatort Niedersachsen“ oder „Tatort Deutschland“.

„Tatort Berlin“, der Podcast des „Tagesspiegels“, liefert laut Eigenwerbung „die spannendsten Kriminalfälle der Hauptstadt“. „Darf’s ein bisserl Mord sein?“, fragt munter ein erfolgreicher österreichischer Podcast im Titel. „Heute präsentieren wir euch eine Wahnsinnsfolge!“, kündigt ein deutscher Podcast an. Und immer wieder wünschen die Moderatoren: „Viel Spaß beim Hören!“ Die Reichweite der True-Crime-Angebote ist enorm: Schon die Videos eines einzelnen YouTube-Kanals wie „Insolito“ kommen auf insgesamt 55 Millionen Aufrufe.

#TrueCrimeReport: Bisher nur Rüge für True-Crime-Formate

Das Interesse an True Crime ist ein „Wohlstandsphänomen“, vermutet Daniel Müller, Chefredakteur des True-Crime-Magazins „Zeit Verbrechen“. „True Crime ist nur da erfolgreich, wo Crime nicht so erfolgreich ist, denke ich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es in Ländern wie Mexiko oder El Salvador, in denen die Gewalt grassiert, einen Markt für True Crime gibt.“

Nutzerdatenanalysen zufolge sind es vor allem Frauen, die sich für True Crime interessieren. Der Podcast „Mordlust“ hat demnach bis zu 80 Prozent weibliche Zuhörerinnen. „Frauen interessieren sich sehr viel mehr für Psychologie und für Motive menschlichen Handelns“, vermutet die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh. Und: „Sie sind in Bezug auf einige wenige Gewaltformen, das betrifft Sexualdelikte und Partnerschaftsgewalt, häufiger Opfer als Männer, und sie sind für emotionale Themen wie Opferleid empfänglicher.“

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat Instagram-Nutzer nach ihrer Meinung zu True Crime gefragt.

„Ich persönlich empfinde die Art und Weise, wie über real passierte Gewaltverbrechen in den meisten Formaten gesprochen wird, als sehr befremdlich und respektlos“, antwortete eine Nutzerin. „Als Angehöriger ist man traumatisiert und möchte nicht hören, wie ,spannend‘ ein ,Fall‘ ist. Nein. Es ist das reale Schicksal eines Menschen, seiner Familie, seiner Angehörigen und seiner Freunde.“

„Ich lehne True-Crime Formate ab, weil sie mir zu voyeuristisch sind“, schrieb eine zweite Nutzerin. „Man schlachtet die Schicksale echter Menschen für kommerzielle Zwecke aus. Ich finde es außerdem grenzwertig, dass über einen Toten berichtet wird, der nicht mehr sein Einverständnis geben kann, da ich finde, dass die Menschenwürde nicht mit dem Tod endet.“

#TrueCrimeReport: Warum Ingrid Liebs die Öffentlichkeit braucht

Es gibt aber auch Antworten wie von dieser Nutzerin: „Ich bin selbst Gewaltopfer, und ,Zeit Verbrechen‘ hat mir unglaublich bei der Verarbeitung geholfen. Ich habe nun ein besseres Verständnis für die Justiz, die Geschichten anderer Opfer und Täter:innen und letztlich auch für mich.“

Und: „Ich habe durch Zufall meine Geschichte bei einem Podcast gefunden. Diese Geschichte war aber so verfälscht, dass ich lange nicht sicher war, ob es meine war“, berichtete eine vierte Nutzerin. „Mich hat’s sehr entlastet, und ich hab‘ mich nicht mehr so alleine gefühlt, und ich war mir ziemlich sicher, dass niemand meine Geschichte so wiedererkennt …“

Kapitel 5.

Ein ehrenamtlicher Opferhelfer des WEISSEN RINGS aus Hessen sagt, er habe „ausnahmslos schlechte Erfahrungen“ gemacht, wenn Medien Kriminalfälle aufgegriffen hätten: Die Opfer würden nicht einbezogen und häufig nicht einmal gefragt. Das ist natürlich eine Einzelaussage. Nicht repräsentativ sind auch die wenigen Rückmeldungen, die der WEISSE RING von den Redaktionen regionaler Tageszeitungen erhalten hat, die regelmäßig True Crime anbieten. Auf die Frage, ob sie vor True-Crime-Veröffentlichungen mit den Betroffenen in Kontakt treten, meldeten sich nur sechs Redaktionen zurück. Vier von ihnen sprechen nicht mit den Betroffenen, eine gelegentlich. Nur eine gab an, regelmäßig Kontakt aufzunehmen.

Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein Teil der Redaktionen für True-Crime-Inhalte tatsächlich auf Archivmaterial zugreift. In Podcasts interviewen sich oft Journalisten gegenseitig, Recherche außerhalb der Redaktion ist dafür nicht notwendig. True Crime ist für Medienhäuser nicht nur attraktiv, weil es sich gut verkaufen lässt. Es lässt sich auch kostengünstig produzieren.

#TrueCrimeReport: Medienanwalt Schertz: „Die Opferrechte bleiben auf der Strecke“

Es geht aber auch anders. Für Daniel Müller, den Chefredakteur des Magazins „Zeit Verbrechen“, gibt es „nichts Schwereres und Anstrengenderes als die Kriminalreportage. Niemand will mit dir reden. Und wer mit dir spricht, will dich vereinnahmen. Man darf nicht alles glauben.“ Natürlich gehe es auch bei „Zeit Verbrechen“ „um die Story“, so Müller. „Aber nicht um jeden Preis.“

Was also darf True Crime, was nicht? Den Rahmen gibt zunächst das Recht vor, allen voran das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Opfern und Täter, dem wiederum das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit entgegenstehen kann. Der Pressekodex, eine freiwillige Selbstverpflichtung, untersagt Journalisten zudem eine „unangemessen sensationelle Darstellung“.

Tanjev Schulz, Professor am Journalistischen Seminar der Gutenberg-Universität Mainz. (Foto: JS Mainz)

Professor Dr. Tanjev Schultz ist Medienethiker am Journalistischen Seminar der Universität Mainz und selbst ein preisgekrönter Journalist. Er hat den Verdacht, dass im True-Crime-Bereich „ein bisschen was aus dem Lot geraten ist“. In Anlehnung an den Pressekodex müssten sich Journalisten vor jeder True-Crime-Berichterstattung neu die Frage stellen, was der Anlass sei, einen Fall aus der Vergangenheit erneut zu erzählen. „Was ist das öffentliche Interesse daran?“, fragt Schultz. „Ein Fahndungsinteresse vielleicht? Wenn der Fall aber nur des Erzählens wegen neu ausgebreitet wird, nur zu Unterhaltungszwecken, dann ist das ein Problem.“ Schultz fragt: „True Crime boomt – welchen gesellschaftlichen Bedarf haben wir daran, den es vor 30 Jahren noch nicht gab?“ Am Ende, so vermutet Schultz, gehe es vor allem um ein Geschäftsmodell.

#TrueCrimeReport: Nahlah Saimeh erklärt, warum True Crime Menschen fasziniert

Eine Lokalzeitung im deutschen Norden berichtet auf einer ganzen Seite über den Mord an der elfjährigen Nelly. Der Reporter erzählt den Fall chronologisch, er beschreibt den weißen Sarg und das Lieblingslied des Kindes, das in der Kirche gespielt wurde. Zehn Fotos zeigen die damaligen Schlagzeilen der Zeitung. Die Berichterstattung endet mit dem Urteil gegen den Mörder im Jahr 1999.

Den Anlass für die Berichterstattung verrät die Zeitung in der Überschrift: „25 Jahre nach dem Mord an ,Nelly‘“. Ein Jahrestag.

Wie Journalistinnen und Journalisten arbeiten sollten

Drei Forderungen an True-Crime-Journalistinnen und -Journalisten lassen sich aus Presserecht, Pressekodex und den Überlegungen von Tanjev Schultz ableiten:

  1. Prüfe, ob es tatsächlich ein öffentliches Interesse gibt, den Fall erneut in die Öffentlichkeit zu bringen!
  2. Setze dich ernsthaft mit dem Thema auseinander, schlachte es nicht aus, betreibe keinen Sensationsjournalismus!
  3. Binde die Betroffenen sensibel mit ein!

Der WEISSE RING hat nicht nur Lokalzeitungen angeschrieben. Er hat auch erfolgreiche überregionale True-Crime-Macherinnen und -Macher gefragt, wie sie bei der Berichterstattung vorgehen und ob sie Opferfamilien mit einbinden. Fünf von ihnen füllten den ausführlichen Fragebogen aus. Die Antworten zum Umgang mit Betroffenen fallen unterschiedlich aus: „Stern Crime“ zum Beispiel kontaktiert sie „meistens“, „Verbrechen von nebenan“ „in einzelnen Fällen“. Die YouTuberin Kati Winter schreibt: „Nein! Ich möchte die Privatsphäre der Opfer und deren Angehöriger wahren und ihnen durch meine Fragen keinen weiteren Schmerz zufügen. […] Ich bin mir der Macht meiner Reichweite sehr bewusst und lege Wert auf eine verantwortungs- und respektvolle Darstellung. […] Daher werden meine Kommentare streng moderiert, um Retraumatisierung, Beleidigungen der Opfer-Familien o.Ä. zu vermeiden, da ich mir bewusst bin, dass gerade bei deutschen Fällen Angehörige jederzeit meine Videos sehen könnten.“

#TrueCrimeReport: Wie halten es True-Crime-Macher mit den Opfern?

Klar ist, dass bereits die Ansprache von Betroffenen Verletzungen auslösen kann. Das gilt für True Crime, das gilt für aktuelle Kriminalitätsberichterstattung, das gilt für die Redaktion des WEISSEN RINGS, wenn sie in ihren Publikationen Opferperspektiven beleuchten möchte.

Daniel Müller von „Zeit Verbrechen“ sagt: „Für mich fängt der korrekte Umgang mit Betroffenen bei der Ansprache an. Ich finde, als Kriminalreporter sollte man nie aus der kalten Hand beim Opfer anrufen oder – noch schlimmer – überraschend vor der Tür stehen und sagen: Sie sind doch die, deren Mann umgebracht wurde, wollen wir nicht mal darüber reden?“ Er empfiehlt „das gute alte Briefeschreiben“.

Kapitel 6.

Im Keller-Café im Flensburg listet Claudia Gerds auf, welche drei Forderungen sie aus ihrer Erfahrung mit dem True-Crime-Podcast ableitet:

  1. Reporter sollten solche Gespräche mit Betroffenen persönlich führen, nicht per Video oder Telefon.
  2. Reporter sollten Betroffenen im Vorfeld die möglichen Fragen zuschicken, damit sie sich auf das Gespräch vorbereiten können.
  3. Wenn Betroffene das Gefühl haben, dass sie das Gespräch lieber doch nicht führen möchten, dürfen sie es jederzeit absagen. Reporter müssen das akzeptieren, egal wie kurzfristig die Absage erfolgt.

Eine Frage noch, Frau Gerds: Hören, schauen, lesen Sie selbst True Crime? Claudia Gerds lacht. „Nur!“, sagt sie. „Ich schaue Dokumentation auf Netflix, ich lese Bücher, ich mag Krimis und Thriller. Ich kann nicht verstehen, warum Menschen anderen Menschen so viel Leid antun.“

Eine Mords-Geschichte

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Juliane

Eine Mords-Geschichte

Woher stammt die Faszination für True Crime? Unser Report zeigt, dass der mediale Boom historischen Vorbildern folgt, deren klassische Erzählweise bis heute aktuell ist. Und dass Medien gleich doppelt von True Crime profitieren: Einerseits bedienen sie mit entsprechenden Angeboten einen überaus populären Trend für hohe Klickzahlen, Quoten und Auflagen, andererseits sparen sie bei der Nacherzählung von ausermittelten Fällen viel Recherche-Zeit.

Am 14. November 1959 ereignete sich im kleinen Holcomb im US-Bundesstaat Kansas ein monströser Mehrfachmord. In dem beschaulichen, von Weizenfeldern umgebenen Ort wurde eine Farmerfamilie mit den Eltern und zwei ihrer vier Kinder in ihrem Wohnhaus getötet. Hinweise auf die Täter fanden sich zunächst nicht.

Der junge Truman Capote hat den aufsehenerregenden Mordfall seinerzeit akribisch recherchiert und zu einem Tatsachenroman verarbeitet, der im Jahr 1966 seinen Durchbruch als Schriftsteller markierte: „In Cold Blood“, die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Kaltblütig“. Mithilfe unterschiedlicher Erzählperspektiven leuchtet Capote das Leben der Opfer aus und erzählt vom entscheidenden Hinweis eines Häftlings im Staatsgefängnis von Kansas, der seinem Zellennachbarn Dick verhängnisvollerweise von seinem Job bei der wohlhabenden Farmerfamilie berichtet hatte. Der Autor schildert den Plan der Straftäter Dick und Perry: Sie wollen die Familie töten und mit reicher Beute, die sie in einem Safe auf der Farm vermuten, in Mexiko ein luxuriöses Leben beginnen.

Schaurige Details

Der Schriftsteller lässt seine Leserschaft die Kriminalermittlung nachempfinden – mit schaurigen Details wie den blutigen Schuhabdrucken am Tatort. Die Lektüre enthüllt, dass die Mörder statt des erhofften Geldsegens gerade mal 50 Dollar erbeuten, bevor sie ihre Opfer töten, um nicht überführt zu werden. Beim Lesen begleitet man die Täter nach Mexiko, wo sich ihr vermeintlicher Sehnsuchtsort als persönliche Hölle erweist, bis das Duo nach einer rastlosen Odyssee in Las Vegas verhaftet wird – der Hinweisgeber hatte sich inzwischen an die Gefängnisleitung gewandt. Schließlich legen die beide Männer ein Geständnis ab.

Capote hat für seinen wahrheitsbasierten Roman zahllose Dokumente wie Tagebuchnotizen, Zeugenaussagen und Briefe ausgewertet und daraus ein vielschichtiges Mosaik zusammengesetzt, das sowohl Krimi als auch Psychogramm und Milieustudie ist.

Mit seinem literarischen Klassiker, der einen echten Mordfall zu einer beklemmenden Erzählung verdichtet, gilt Truman Capote nicht nur als Wegbereiter des sogenannten New Journalism mit einer subjektiven Erzählstimme, die beim Lesen Kopfkino erzeugen soll. Vielmehr ist „Kaltblütig“auch ein Meilenstein des True-Crime-Genres, an dem sich die Medienbranche bis heute handwerklich orientiert. Erstaunlicherweise prägt nämlich ein entscheidendes Stilmittel von Capote das Genre bis heute: die minutiöse Rekonstruktion. Also die detailgenaue Nacherzählung der Tat, beziehungsweise der Mordermittlung, die weitgehend der Chronologie der Ereignisse folgt. Auch die dafür verwendete Montagetechnik, die anhand Dutzender Quellen und Aussagen mosaikartig die Geschichte zusammensetzt, gehört weiterhin zum Standardrepertoire.

Der aktuelle Hype um reale Kriminalfälle, Mörder und Mordermittlungen wird maßgeblich von medialen Transformationsprozessen befeuert. Ohne die Digitalisierung gäbe es keine Streaming-Dienste wie Netflix, die etwa den Kult um Serienmörder mit Serien wie „Dahmer“ weiter anheizen. Ein Kult, der übrigens ebenfalls in einem weltweiten Bucherfolg wurzelt: „Helter Skelter – The true Story oft the Manson Murderers“ aus dem Jahr 1974, in dem der damalige Leitende Staatsanwalt Vincent Bugliosi gemeinsam mit einem Co-Autor minutiös die Suche nach dem Serienmörder Charles Manson rekonstruiert.

Ohne die digitale Revolution gäbe es heutzutage auch keine Podcasts, in denen bisweilen im Plauderton historische Kriminalfälle recycelt werden. Das Medium mag wechseln, aber die beschriebe Urform des Genres ist immer noch aktuell. „Der reale, konventionell erzählte Krimi, wie man ihn hierzulande seit Jahren auf Privatsendern im TV sehen kann, ist zwar nur noch eine von vielen Erzählweisen“, sagt Jan Harms, der am Institut für Medien und Kulturwissenschaft der Universität Düsseldorf zu True Crime forscht. Gleichwohl sei diese „nach wie vor eine dominante Erzählform“.

Dann wird der Mörder vorgestellt

Wie dieser typische Reality-Krimi bis heute medienübergreifend auch im Fernsehen funktioniert, zeigt bespielhaft eine Produktion des Hessischen Rundfunks (HR) aus der Reihe „ARD True Crime“: „Auf den Spuren des eiskalten Szenewirts“. Die Eingangssequenz zeigt Drohnenbilder von einem Flug über Baumwipfel. Schnitt. Ein Mann sagt im Interview: „Ein dahingemetzelter Mensch im hohen Gras.“ Schnitt. Eine Nachrichtensprecherin fragt: „Wer ist die junge, blonde Frau, die im Frankfurter Niddapark aufgefunden wird?“ Schnitt. Eine Polizeibeamtin sagt: „Man sah vielfache Stichverletzungen.“ Später wird ein Foto aus der Ermittlungsakte mit den Füßen einer Frauenleiche eingeblendet. Dazu erklären die Mordermittler in Interviews, welche Schlüsse sie seinerzeit aus dem ungewöhnlichen Verteilmuster des Blutes am Tatort zogen und wie sie bei der Suche nach dem Täter vorgingen. Man erfährt, dass das weibliche Opfer Teilhaberin einer Bar in Frankfurt war. Im Verlauf des Dreiteilers wird dann der Mörder vorgestellt: ein Szene-Wirt und Partner der Ermordeten. Authentische Dreh-Orte, Original-Fotografien und Interview-Sequenzen mit Beteiligten an der Mordermittlung, die von Verhören und Arbeitshypothesen berichten, werden zu einem hochprofessionellen, aber in seiner Machart eben doch konventionellen True-Crime-Krimi montiert.

,,Auffällig ist, dass bei True Crime schon immer die Grenzen zwischen fiktional und non-fiktional fließend waren."

Jan Harms, Medienforscher

Der Dreiteiler ist aufwendig und modern produziert, was etwa Kameraarbeit und rasante Schnitttechnik angeht. Gleichwohl haben Redaktionen mit der Umsetzung solcher Filmstoffe leichtes Spiel. Für die Medien liegt der Reiz von True Crime nämlich nicht nur im attraktiven, quotenstarken Inhalt, sondern auch darin, dass dieser mit einem überschaubaren Aufwand zu realisieren ist: Denn die Ermittlungsakten, die beispielsweise beteiligte Prozess-Anwälte zur Verfügung stellen, servieren den Recherchierenden alle notwenigen Fakten für eine detailgenaue Nacherzählung komprimiert wie auf dem Silbertablett: Informationen über Opfer und Täter, Abläufe, Orte, Beweismittel, forensische Untersuchungsergebnisse, Zeugen. Die Medien profitieren also doppelt von True Crime: Einerseits bedienen sie mit entsprechenden Angeboten einen überaus populären Trend für hohe Klickzahlen, Quoten und Auflagen, andererseits sparen sie bei der Recherche viel Zeit – eine immer knapper werdende redaktionelle Ressource.

Fließende Grenzen zwischen Fiktion und Realität

Bei der Produktion dieser Inhalte ist für Medien die gängige Praxis der Sicherheitsbehörden überaus hilfreich. Staatsanwaltschaften und Polizei geben zwar während laufender Ermittlungen nur spärlich Informationen an die Öffentlichkeit weiter, um Fahndungserfolge nicht zu gefährden. Bei abgeschlossenen Fällen können Mordermittler von Redaktionen und Produktionsfirmen jedoch sehr viel leichter für Interviews gewonnen werden. Auch die Dramaturgie dieser medialen Massenware ist aufgrund des inhaltlichen roten Fadens weitgehend ein Selbstläufer und folgt in der Regel chronologisch der Mordermittlung, ähnlich wie in einem ARD-„Tatort“. „Auffällig ist, dass bei True Crime schon immer die Grenzen zwischen fiktional und non-fiktional fließend waren“, sagt Medienforscher Harms. True Crime bleibe insofern eine unscharfe Kategorie, unter dessen Label sowohl investigative Recherche und Dokumentation als auch dramatisierte Film- und Serienstoffe wie eben „Dahmer“ auf Netflix laufen. Kein Zufall also, dass parallel zum Erfolg realer Kriminalgeschichten auch die Produktion fiktionaler Krimis explodiert ist. Abgründige Verbrechen sind – in welcher medialen Form auch immer – ein Mega-Markt.

Die Ursprünge von True Crime reichen übrigens noch viel weiter zurück als zu Capotes Tatsachenroman „Kaltblütig“. Medienforscher Harms datiert die historischen Vorläufer gar ins frühe 19. Jahrhundert. Seit den 1820er-Jahren erschienen in den USA schnelle, billig produzierte Zeitungen: die sogenannte Penny Press. Im Boulevard-Stil wurden schon in diesen Blättchen spektakuläre Verbrechen nacherzählt. 100 Jahre später, in den 1920er-Jahren, folgten dann Magazine wie „True Detective Mysteries“. „Das kann mit seinen auf wahren Begebenheiten basierenden Detektivgeschichten als früher Vorläufer heutiger Formate gelten“, sagt Harms. „In dieser Zeit wurde auch der Begriff True Crime geprägt.“ In den 1970er- und 1980er-Jahren knüpfen weitere Bucherfolge wie Ann Rules „The Stranger Beside Me“ an Capotes Standardwerk „Kaltblütig“ an. Nach und nach bekam diese erfolgreiche Kriminalliteratur dann durch den Siegeszug des Fernsehens Konkurrenz.

Netflix setzt auf investigative Recherchen

Einen regelrechten Boom löste Ende der 1980er-Jahre die US-Fernsehserie „Unsolved Mysteries“ aus. „Seither wurden Rekonstruktionen realer Kriminalfälle stilprägend“, sagt Harms. Die Kombination von nachgestellten Szenen mit Interviews, in denen Nachbarn und Angehörige zu Wort kommen, wurde nun erstmals in Serie produziert, dramaturgisch angelehnt an fiktionale Polizeiserien. Dadurch konnte das Publikum an vertraute Sehgewohnheiten anknüpfen. Die Sender schöpften dafür aus dem unerschöpflichen Fundus ausermittelter Mordfälle. Der grobe Ablauf einzelner Folgen ist dabei stets identisch: Wie kam es zum Mord, wie wurde dieser begangen, wie wurde der Mörder überführt und verurteilt? „Seit einigen Jahren gibt es aber auch einen neuen Trend: nämlich die offiziellen Darstellungen kritisch zu hinterfragen und wenn möglich sogar zu widerlegen“, erklärt Harms. Der Klassiker dieses neuen Formats ist die Netflix-Produktion „Making a Murderer“. In einigen Fällen, so etwa beim Podcast „Serial“, seien Verurteilte daraufhin tatsächlich freigekommen, so Harms. Solche investigativen Recherchen sind extrem aufwendig und damit auch teuer – weil sie aufklären anstatt aufwärmen. Daher sind sie auch eher Ausnahme als die Regel.

Häufig scheitere das Genre allerdings am eigenen journalistischen Anspruch, befindet Harms. Den Trend, dass neuerdings auch viele Lokalzeitungen eigene Podcasts produzieren, für die sie lange zurückliegende Kriminalfälle aus dem Archiv holen, sieht der Medienforscher jedenfalls kritisch: „Da ist die Gefahr groß, dass es ausschließlich um die spannende Geschichte und das Erzählen an sich geht.“ Der Medienwissenschaftler bezeichnet das als eine „sensationalistische Wiederholung“. Dabei stelle sich schon die Frage, warum diese Nacherzählungen heutzutage noch relevant sein sollten, wenn es doch allein um die Rekonstruktion des Verbrechens und der Ermittlung gehe. „True Crime lädt sich medienethisch betrachtet durchaus eine große Verantwortung auf“, betont Harms. Er sieht die Redaktionen in der Pflicht zu hinterfragen, ob und wann es überhaupt gerechtfertigt ist, bei längst abgeschlossenen Fällen die Namen der Angehörigen oder Unbeteiligter in aktuellen Medienbeiträgen zu verwenden. „Trotz qualitativ hochwertiger Formate gibt es weiterhin kritikwürdige Inhalte, denen man zurecht eine Banalisierung brutaler Gewalt vorwerfen kann“, so Harms. Allzu oft machen Medien aus brutalen Morden lediglich erfolgreiches Entertainment.

,,True Crime lädt sich medienethisch betrachtet durchaus eine große Verantwortung auf."

Jan Harms, Medienforscher

Dass es auch anders geht und True Crime sogar auf gesellschaftliche Missstände hinweisen kann, zeigt die Podcast-Serie „Schwarz-Rot-Blut“. Produziert wird das Hörfunkformat von WDR, Radio Bremen und dem RBB. Die einzelnen Folgen arbeiten deutsche Kriminalfälle auf, bei denen das Tatmotiv Rassismus während der Ermittlungen und vor Gericht ausgeblendet wurde. Ein Beispiel ist der Fall des iranischen Geflüchteten, der im Jahr 1987 in Tübingen von einem Supermarkt-Angestellten so lange zu Boden gepresst und gewürgt wurde, bis er starb. Ein Jahr lang haben investigative Journalistinnen wie Lena Kampf für die siebenteilige Serie recherchiert, um aufzudecken, wie es überhaupt zu unterschiedlichen Bewertungen einer Tat durch Angehörige und Sicherheitsbehörden kommen kann. Immer wieder beklagen nämlich Opferberatungsstellen und Betroffene, dass selbst offenkundiger Rassismus bei Ermittlungen ignoriert oder in Abrede gestellt wird. Die Podcast-Serie zielt demnach auf einen anhaltenden Skandal und ist dadurch hochaktuell. „Solche Ansätze, also beispielsweise rassismuskritische Aufklärungsarbeit über Missstände in der Strafverfolgung, lassen sich seit fünf oder sechs Jahren beobachten“, analysiert Harmes.

Komplexe Wirtschaftskrimis

Kritische Recherchen zu fragwürdigen Ermittlungsergebnissen nehmen die journalistische Wächterfunktion wahr und tragen im besten Fall sogar zu einer erhöhten gesellschaftlichen Sensibilität bei. True Crime kann also mehr als ein kalkulierter Nervenkitzel mit schaurigen Zutaten aus der Wirklichkeit sein. Mittlerweile nutzen Medien das populäre Etikett sogar, um komplexe Stoffe abseits von Mord und Totschlag publikumswirksam zu erzählen. So bereitet die Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ den Skandal um den Finanzkonzern Wirecard mit dem Podcast „Handelsblatt Crime“ als Wirtschaftskrimi auf – um auf diese Weise auch jene zu erreichen, denen Wirtschaft ansonsten zu trocken und kompliziert scheint.

In den vergangenen Jahren hat sich das Genre immer weiter ausdifferenziert. Einerseits bleibt zwar der chronologisch nacherzählte Reality-Krimi sowohl in gedruckten Magazinen wie “Stern Crime“ als auch in Podcast- und TV-Serien ein erfolgreicher Dauerbrenner. Andererseits wechseln beständig Modetrends rund um die Themen Mord und Mördersuche. Um die Jahrtausendwende gab es Harms zufolge einen „Forensik-Boom“. Sowohl Wissensformate wie „Forensic Files“, die anhand konkreter Fälle erklärten, wie Forensik funktioniert, als auch fiktionale Serien wie „CSI“ suggerierten mit ihren Darstellungen der modernen Spurensuche eine Eindeutigkeit dieser Beweiskraft, die es im kriminalistischen Alltag oftmals gar nicht gibt. DNA-Beweisen sei dadurch eine objektive Macht zugeschrieben worden, so Harms, in der es weder Zweifel noch Irrtümer gibt: „True Crime hat also durchaus Wirkungen und Effekte auf die Gesellschaft.“

Ture Crime: ein Dauerbrenner

Der Medienwissenschaftler ist davon überzeugt, dass das Genre mittlerweile fest in der Medienkultur etabliert ist. Kritik an dem Phänomen bleibt momentan vor allem auf Feuilleton-Debatten beschränkt. Die Fans von Podcasts, TV- und Streaming-Serien scheinen sich hingegen weder an grausamen Serienmörder-Darstellungen noch an der Veröffentlichung der Namen und Fotos von Opfern und Angehörigen spektakulärer Mordfälle zu stoßen. „Vom Publikum wird True Crime weitgehend unkritisch rezipiert“, sagt Harms. Er wagt eine Prognose: „Das Genre hat sich als so vielseitig und anpassungsfähig erwiesen, dass es uns noch viele Jahre begleiten wird.“

Christian Schertz: „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Christian Schertz: „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“

Mörder haben mehr Rechte als ihre toten Opfer. Die aktuelle Rechtslage ist kaum zu ertragen, meint der Medienanwalt Christian Schertz.

Foto: Jens Kalaene / dpa

True-Crime-Formate, sei es als Podcast oder im Fernsehen, gehen durch die Decke. In den letzten Jahren erfreuen sich serielle Formate in Film und Fernsehen oder auch Podcasts, die unter dem Label „True Crime“ rangieren, höchster Beliebtheit. Dabei gibt es die mediale Darstellung wahrer Verbrechen als populäre Gattung bereits seit längerer Zeit. Auffällig ist aber, dass gerade öffentlich-rechtliche Fernsehsender oder auch Qualitätszeitungen und Magazine wie „Stern“ und „Zeit“ in den letzten Jahren derartige Formate unter eigenen Marken wie „Zeit Verbrechen“, „Stern Crime“ oder Podcasts wie „Sprechen wir über Mord?! Der SWR 2 True Crime Podcast“ anbieten. In der ARD Mediathek sind unzählige True-Crime-Fälle unter dem Label „ARD Crime Time“ zum Streamen abrufbar. Nicht weiter erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch noch die zahlreichen Formate, die von privaten Dienstleistern angeboten werden, auch für bezahlte Streamingdienste. Den Erfolg, aber auch den Markt für die mediale Vermarktung wahrer Verbrechen, kann man nur ahnen, wenn etwa auf der Webseite von RTL+ sogar die „RTL+ True-Crime-Offensive“ angekündigt wird.

Wie verhält es sich aber mit dem Leid der Opfer und ihren Persönlichkeitsrechten? Dieses beziehungsweise diese werden im Ergebnis zur Unterhaltung des Publikums und zur Generierung von Klickzahlen und Einschaltquoten ausgeschlachtet, ohne dass sie aufgrund des geradezu zynischen Umstandes, dass sie verstorben sind (und damit ihr Schicksal für das Format überhaupt erst in Betracht kommt), gar nicht gefragt werden konnten. Die Antwort lautet klar und eindeutig: Die Opferrechte bleiben bei diesen Formaten auf der Strecke. Das liegt zum einen an der Gesetzeslage, aber auch an der Rechtsprechung in Deutschland, insbesondere was den postmortalen Persönlichkeitsschutz angeht:

Solange die Opfer am Leben sind, ja glücklicherweise am Leben geblieben sind, ist die Sache noch relativ eindeutig und einfach. Opfer, auch Opfer spektakulärer Verbrechen, sind grundsätzlich nicht als Personen der Zeitgeschichte anzusehen. Sie genießen daher den besonderen Schutz der Rechtsordnung. Ein besonderes Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Abbildung von Opfern ist daher überhaupt nur in ganz besonderen Ausnahmefällen anzuerkennen. Opfer von Sexualstraftaten etwa sind besonders schützenswert, so dass eine Veröffentlichung ihrer Fotos einer ausdrücklichen Einwilligung bedarf, wie etwa das Kammergericht entschied.

Überlebende genießen besonderen Schutz

Ebenso erkannte das Hanseatische Oberlandesgericht, dass das Opfer eines Mordversuches grundsätzlich Anspruch darauf hat, dass das an ihm begangene Verbrechen nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens und der Berichterstattung in der Presse nicht auch noch zum Gegenstand eines Fernsehfilms gemacht wird.

Anders ist die Rechtslage, wenn die Opfer verstorben sind. Dies dürfte die meisten True-Crime-Formate betreffen, da es regelmäßig um „spektakuläre Mordfälle“ geht.

Das Recht am eigenen Bild steht zunächst einmal nur Lebenden zu. Zu Lebzeiten bedarf nämlich die Verbreitung eines Bildnisses in den Medien der Zustimmung des oder der Abgebildeten, es sei denn, es handelt sich um Personen der Zeitgeschichte. Dies ist bei Opfern in der Regel nicht der Fall. Nach dem Tod der abgebildeten Person bedarf es lediglich während weiterer zehn Jahre für eine Bildnisveröffentlichung der Einwilligung der Angehörigen, also des Ehegatten, der Eltern oder der Kinder. Im Ergebnis heißt das, dass die Rechte der Opfer an ihrem Bildnis und damit auch an der bildlichen Darstellung ihres Schicksals nach der aktuellen Gesetzeslage nach zehn Jahren erlöschen.

Gesetzgeber muss reagieren

Hier ist gerade in Anbetracht der beschriebenen Entwicklung, ja insbesondere der wirtschaftlichen Ausschlachtung derartiger Fälle durch Medienkonzerne, der Gesetzgeber aufgerufen, diese Fristen zu verlängern. Eine summarische Sichtung der aktuell angebotenen True-Crime-Formate betrifft Fälle, die zumeist länger als zehn Jahre zurückliegen, so dass hier bildliche Darstellungen ohne weitere Zustimmung naher Angehöriger der Mordopfer möglich sind – ein im Ergebnis nicht hinnehmbarer Zustand.

Das gilt umso mehr, als die Persönlichkeitsrechte von Tätern, also auch zumeist der Mörder, von höchster Stelle, nämlich dem Bundesverfassungsgericht, geschützt werden. Bereits im Jahre 1973 entschied das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Lebach-Fall, dass selbst in Fällen besonders schwerwiegender Taten, die in die Kriminalgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingegangen sind, die Täter nach geraumer Zeit die Eigenschaft als sogenannte relative Person der Zeitgeschichte verlieren und beanspruchen könnten, dass nicht mehr identifizierend in Wort und Bild über sie berichtet wird. Das sei dem Resozialisierungsinteresse des Täters geschuldet. Im Ergebnis bedeutet dies nichts anderes, als dass die aus der Haft entlassenen Mörder bei medialen Darstellungen ihrer Taten gefragt werden müssen und gegebenenfalls sogar für ihre Einwilligung ein Honorar verlangen können, während die Opferrechte erloschen sind.

Viele Opfer ungeschützt

Damit aber nicht genug: Nicht nur das Recht am eigenen Bild besteht lediglich für zehn Jahre nach dem Tod fort. Mit dem Tod endet auch das verfassungsrechtlich allein lebenden Personen gewährleistete sogenannte allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses schützt die Lebenden, sofern sie nicht Personen der Zeitgeschichte sind, vor identifizierenden Darstellungen ihres Schicksals. Sie müssen also gefragt werden. Kommt der Mensch jedoch zu Tode, besteht nur noch ein aus der Menschenwürde abgeleiteter sogenannter postmortaler Achtungsanspruch, der nur grobe Verzerrungen des Lebensbildes oder auch eben Verletzungen der Menschenwürde bei der konkreten Darstellung in Film, Fernsehen etc. untersagt. Dies dürfte überhaupt nur dann geltend zu machen sein, wenn die Tat und das Leid des Opfers in allen Einzelheiten dargestellt werden, wie es etwa zuletzt in dem Amazon-Crime-Format „Gefesselt“ über den Hamburger Säurefassmörder sicherlich der Fall gewesen sein dürfte. In teilweise unerträglichen filmischen Darstellungen wurden hier die Qualen der Opfer inszeniert, was zu Recht auf Kritik gestoßen ist. Im Regelfall jedoch dürfte der postmortale Achtungsanspruch die Opfer nicht vor einer Darstellung ihres Falls in True-Crime-Formaten schützen.

Zynischer Täterschutz

Es ist indes überhaupt kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber und die Rechtsprechung die Persönlichkeitsrechte von Verstorbenen nicht besonders schützen, ja sogar erlöschen lassen. Gerade das absurde Missverhältnis zwischen dem Schutz von Tätern im Interesse der Resozialisierung davor, schon relativ kurze Zeit nach der Tat nicht mehr identifizierend dargestellt zu werden, und dem faktisch nicht bestehenden Schutz von Opfern, insbesondere wenn sie verstorben sind, sowohl was die bildliche Darstellung wie auch die Schilderung des Falles generell angeht, mutet nur noch zynisch an. Der Gesetzgeber ist daher dringend aufgerufen, die Persönlichkeitsrechte von Opfern sowohl mit Blick auf das Recht am eigenen Bild wie auch auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu stärken. Die aktuelle Rechtslage ist nicht akzeptabel, eigentlich kaum zu ertragen. Die Opfer haben faktisch keine Rechte, aber auch keine Lobby, und wehren können sie sich auch nicht mehr: Das ist schlicht nicht gerecht.

Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Selina

Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“

Ingrid Liebs verlor ihre Tochter Frauke durch einen Mord, der bis heute ungeklärt ist. Die 70-Jährige hat mehreren True-Crime-Formaten Interviews gegeben. Was bewegt sie dazu?

Ein Foto von Ingrid Liebs. Sie trägt eine Brille, kariertes Hemd und eine dunkelblaue Strickjacke.

Foto: Marcus Simaitis/ laif

Ingrid Liebs verlor ihre Tochter Frauke durch einen Mord, der bis heute ungeklärt ist. Die 70-Jährige hat mehreren True-Crime-Formaten Interviews gegeben, an einer Fernsehdokumentation und zuletzt an einem Podcast mitgewirkt. Was bewegt jemanden, sich und seine Geschichte immer wieder fremden Menschen anzuvertrauen? Ingrid Liebs über die „Win-Win-Situation“, Beleidigungen im Internet und eine besonders positive Erfahrung mit einem Medienmacher.

„Im Fall meiner Tochter gab es am Anfang nur die konventionelle Berichterstattung in den Printmedien und im Fernsehen. Die könnte man meiner Meinung nach im weitesten Sinne auch zu True Crime zählen, weil sie entsprechende Reaktionen bei den Zuschauern und Lesern hervorruft. Aber im Laufe der Jahre kam etwas Neues dazu. Es haben sich professionelle True-Crime-Formate entwickelt, die die Informationen immer so aufzubereiten, dass es nicht langweilig wird. Diese sind ganz klar darauf ausgelegt, Zuhörer oder Zuschauer zu unterhalten. Auch die Form hat sich verändert: Im Internet gibt es zum Beispiel Podcasts. Meistens erzählen sie abgeschlossene Fälle nach, manchmal aber eben auch nicht abgeschlossene Fälle, wie bei mir.

Wenn Medien Kriminalfälle für True Crime aufgreifen, dann in erster Linie, weil sie denken: Das interessiert unsere Leser oder Zuschauer, das lässt sich gut verkaufen und das steigert unsere Auflage und damit die Einnahmen. Davon leben die Medien. Als Betroffene muss man sich bewusst machen, dass man da nicht den absoluten Menschenfreund vor sich sitzen hat, mit dem man über den Fall spricht, sondern jemanden, dessen Beruf es ist, dafür zu sorgen, dass sein Arbeitgeber auch finanziell vernünftig dasteht. Dann muss man abwägen: Was bringt mir das? Kann ich daraus eine Win-Win-Situation machen? Denn ich mache nicht mit bei diesen Produktionen, weil ich gerne in der Öffentlichkeit stehe. Für mich ist wichtig, dass mein Fall aufgeklärt wird. Einfach, weil ich wissen möchte: Was ist passiert und warum? Warum gab es für den Täter am Ende keinen anderen Ausweg, als meine Tochter zu töten? Und dafür brauche ich die Öffentlichkeit. Ich brauche Hinweise und ich brauche die Justiz, die diesen Hinweisen nachgeht. Beides gab es irgendwann nicht mehr, als die aktuellen Nachrichten nach der Tat versiegten: Mein Fall war aus der Öffentlichkeit verschwunden, die Justiz tat meiner Meinung nach nicht genug. Wenn ich an True-Crime-Produktionen mitwirke, kann ich das ändern und auf Fraukes Mord aufmerksam machen. Durch die Rückmeldungen von Zuschauern, Lesern, Zuhörern, die ich aufgrund dessen erhalte, kann ich einen gewissen Druck erzeugen, denn die Polizei muss diesen Hinweisen zumindest nachgehen.

Akribische Recherche

Inzwischen schaue ich mir die Leute, von denen ich Anfragen für True-Crime-Formate bekomme, vorher genau an. Ich googele: Was haben die schon gemacht? Wie gut oder schlecht war das? Haben die Erfahrung mit solchen Fällen? Ich mache das ganz akribisch, damit ich weiß ich: Mit dieser Person kann ich zusammenarbeiten oder nicht. Aber das schützt natürlich nicht hundertprozentig vor Enttäuschungen. Bei einer Anfrage eines Regionalsenders habe ich einmal recherchiert und entschieden: Der Sender ist öffentlich-rechtlich, das wird schon gehen. Das Ergebnis war dann nicht wirklich schlecht, es hat mich aber auch nicht vom Hocker gerissen, blieb irgendwie blass und wenig aussagekräftig.

Manchmal informieren sich Journalisten nur ganz grob und stiefeln dann los, so als ob sie über eine Sportveranstaltung berichten sollten. Die haben sich im Vorfeld überhaupt nicht klar gemacht, dass sie Menschen treffen, die ein großes Leid erlebt haben und mit denen man entsprechend respektvoll umgehen muss. Ich finde, es sollte eigentlich zum Handwerkszeug eines Journalisten gehören, dass er sich über das, was er tut, Gedanken macht. Ich habe den Eindruck, dass einige Redakteure einfach irgendwie Geld verdienen wollen, die werden zum Teil schließlich nach Zeilen bezahlt. Aber es gibt auch respektvolle, gute Journalisten. Nur leider gibt es eben auch die, die einfach mit True-Crime-Geschichten nur Profit machen wollen und denen es völlig egal ist, wie viel menschliches Leid dahintersteckt. Sich auf solche Leute einzulassen, ist ein Abenteuer.

Mist in der Zeitung lesen

Ich habe leider auch erlebt, dass sehr schlecht recherchiert wurde, und musste dann wirklich Mist in der Zeitung lesen. Bei Print-Interviews versuche ich mittlerweile immer, den Artikel gezeigt zu bekommen und Einfluss auf den Text nehmen zu können. Diese Chance sollte man nutzen. Schließlich habe ich das Recht, meine eigenen Zitate vor dem Abdruck zu lesen. Wenn ich Fehler in dem Bericht finde, weise ich darauf hin, damit er noch korrigiert wird. Das ist meiner Erfahrung nach bei neueren Formen wie Podcasts oder Filmen nicht immer möglich. Wobei ich auch schon Podcasts nachträglich durchkorrigiert habe und gesagt habe: Das kann so nicht im Netz bleiben. Manchmal funktioniert das, aber nicht immer, weil sich die Macher nicht darauf einlassen.

Dabei müsste der Respekt vor den Opfern das oberste Gebot für die Macher sein und sie sollten im Vorfeld eine gewisse Reflexion darüber leisten, was durch solche Formate mit den Betroffenen passiert. Dazu gehört für mich, dass man ein Opfer fragt, ob man einen Podcast, einen Film oder einen Artikel machen darf. Aber das ist keineswegs Standard. Ich habe erlebt, dass da Beiträge rauskommen, die aus Halbwahrheiten und Falschinformationen bestehen und die bei den Opfern zu Recht Ärger auslösen, weil sie sich übergangen und in ihrer Betroffenheit nicht richtig wahrgenommen fühlen.

„Über diese Sache habe ich mich furchtbar geärgert“

Das ging mir auch so bei einem Roman, für den ein Autor den Mord an Frauke als Vorlage verwendet hat. Ich bin zufällig auf das Buch gestoßen. Der Fall wurde ins Ausland verlegt, aber zum Beispiel wurde der Inhalt der ersten SMS, die Frauke nach ihrer Entführung geschickt hatte, wörtlich übernommen, dann wurde ein Szenario entworfen, für das es in der Realität keine Belege gibt. Über diese Sache habe ich mich furchtbar geärgert. Aber sowas werde ich wahrscheinlich nicht verhindern können.

,,Bevor man sich auf eine Zusammenarbeit mit Medien einlässt, sollte man sich sehr gut überlegen, ob man das emotional aushält."

Ingrid Liebs, Mutter eines Mordopfers
Ein Foto von Ingrid Liebs. Sie trägt eine Brille, kariertes Hemd und eine dunkelblaue Strickjacke.

Ich habe auch entdeckt, dass online Sachen veröffentlicht wurden, ohne dass ich davon wusste. Podcasts, die gut gemeint, aber nicht immer gut gemacht waren. Bis hin zu beleidigenden Videos. In einem wurde ich als „hirnverschissene Mutter“ beschimpft. So mit dem Leid anderer Menschen umzugehen, das finde ich respektlos. Die Macher von Podcasts oder anderen True-Crime-Formaten sollten sich mit den Opfern auseinandersetzen, sie zu Wort kommen lassen und ihnen die Möglichkeit geben zu sagen: Nein, das will ich nicht.

Jedes Opfer hat doch jederzeit das Recht, Nein zu sagen, selbst wenn es schon Vorgespräche gab und ein Interviewtermin feststeht. Das müssen Journalisten akzeptieren. Da sollten Opfer kein schlechtes Gewissen haben. Man sollte in sich gehen, wenn man merkt, das ist nicht das, was man will. Aber es kostet natürlich Kraft, kurzfristig etwas abzusagen und die Journalisten auf Distanz zu halten. Das gilt auch für unangekündigte Kontaktaufnahmen: Als Jahre nach dem Mord an Frauke hier in der Gegend ein großer Mordfall aufgedeckt wurde, riefen mich sonntags um die Mittagszeit mehrere Lokaljournalisten an und fragten nach einem Zusammenhang der Taten. Und dann kamen Fragen wie: „Sagen Sie, hatte Ihre Tochter eigentlich noch Haare, als sie gefunden wurde?“ Das ist völlig distanzlos. Ich antwortete: „Hören Sie, ich habe mir die Fotos nicht angeschaut und ich möchte auch nicht auf dieser Ebene mit Ihnen reden.“ Am nächsten Tag musste ich ein RTL-Fernsehteam von meinem Grundstück werfen, das mich für ein Interview abpassen wollte, das habe ich dann auch nach einer Bedenkzeit, die ich mir genommen habe, nicht gegeben. Wenn man als Opfer merkt, dass die Art und Weise, wie Medien auf einen zugehen, verletzend ist, darf man die Notbremse ziehen und Nein sagen. Denn es macht etwas mit einem, wenn man angesprochen wird, wenn man angeschrieben wird, wenn man angerufen wird.

„Wir wollten mal sehen, wie Sie so sind“

Ingrid Liebs hält das Bild ihrer ermordeten Tochter in der Hand. Die Tochter kniet neben einem Hund und blickt glücklich in die Kamera.

Bevor man sich auf eine Zusammenarbeit mit Medien einlässt, sollte man sich auf jeden Fall sehr gut überlegen, ob man das emotional aushält. Denn es wird Reaktionen aus der Öffentlichkeit geben, die retraumatisierend sein können. Ich kannte das schon aus der Zeit kurz nach der Tat, da haben mich wildfremde Leute auf der Straße angesprochen: ‚Sind Sie die Frau Liebs, die Mutter von Frauke? Ja, wir wollten mal sehen, wie Sie so sind, wie Sie so reden.‘ Damit muss man umgehen können. Wenn man nicht stabil genug ist, kann ich nur jedem raten, die Finger davon zu lassen.

Seit 2020 habe ich auch eine Webseite zum Fall, über die jeder Hinweise zum Mord an Frauke geben kann. Sie werden dann auch an die Polizei weitergeleitet. Ich überlege, die Homepage in diesem Jahr abzuschalten. Denn es melden sich nicht nur Menschen, die tatsächlich Mitteilungen haben, die auch überprüfbar sind und so vielleicht zur Aufklärung beitragen. Leider melden sich über die Homepage oft Menschen, die recht krude Theorien, aber kein Wissen zum Fall haben. Das nervt, ist nicht zielführend und einfach nur ein belastendes Ärgernis.

Nichts kommentiert, nichts bewertet

Ich habe aber auch eine sehr positive Erfahrung gemacht. 2015 erhielt ich einen höflichen und empathischen Brief von einem Journalisten, der einen Artikel über den Fall für Stern Crime schreiben wollte. Diese Art der Kontaktaufnahme hat mir die Möglichkeit gegeben, in Ruhe darüber nachzudenken, ob ich darauf reagieren möchte. Und dann habe ich Kontakt aufgenommen und gesagt: Ich weiß noch nicht, ob ich das mache, aber ich finde es interessant und wir können uns kennenlernen. Er hat mir Zeit gegeben und wir haben mehrere Gespräche geführt. Aus diesen hat der Journalist einen Artikel gemacht, den ich bis heute super finde. Er hat nämlich nichts kommentiert, er hat nichts bewertet, er hat nichts interpretiert, sondern er hat einfach die verschiedenen Betroffenen mit ihren Aussagen nebeneinanderstehen lassen und der Leser konnte sich eine Meinung, ein Urteil bilden. Ich hatte auch Menschen aus dem Umfeld meiner Tochter ermutigt, mit diesem Journalisten für den Artikel zu sprechen, weil er meiner Erfahrung nach vertrauenswürdig ist.

Jahre später kam dieser Journalist  auf mich zu und sagte, er könne sich vorstellen, einen Dokumentarfilm zum Fall meiner Tochter zu machen. Vom ersten Gespräch bis zur Realisierung dauerte es fast zwei Jahre. Auch da hatte ich das Gefühl, dass ich zu nichts überredet werde. Es war eher so, dass mir Vorschläge gemacht wurden. Das Ganze war sehr anstrengend, vor allem, wenn wir mehrere Tage hintereinander gedreht haben. Wenn man sich auf so etwas einlässt, muss man die Journalisten und die Zuschauer noch näher an sich ranlassen, weil dann auch die Frage kommt: ‚Haben Sie Fotos, vielleicht sogar Videos?‘ Das Vertrauen zwischen diesem Journalisten und mir  ist über die Jahre gewachsen. Deshalb habe ich ihm Videos gegeben und gesagt: ‚Suchen Sie das aus, was für den Film passt.‘ Er stimmte seine Auswahl dann aber auch mit mir ab, bevor das Material in den Film einfloss. Ich glaube, er hat auch die anderen Opfer im Blick gehabt, nicht nur mich als Mutter, sondern auch Fraukes Geschwister, ihren Mitbewohner, ihre Freunde.

Die Suche nach dem Täter

Als nächstes Medium kam dann der Podcast, auch da habe ich mich auf den Journalisten eingelassen, weil ich den Eindruck hatte, was er da macht, das ist sorgfältig und fundiert. Da geht es nicht nur um den schnellen Euro, den man verdienen will, sondern da ist wirklich ein Interesse an dem, was dahintersteht. Dahinter steht natürlich die Suche nach dem Täter. In den ersten Folgen des Podcasts geht es sehr stark um die sachliche Seite des Geschehens, dann aber auch um die Frage: Was ist mit den Menschen passiert, die betroffen waren?

Mit den vielen Erfahrungen, die ich mit den verschiedenen True-Crime-Formaten und -Machern gesammelt habe, lässt sich sagen: Es gibt Sternstunden, im positiven wie im negativen Bereich. Ich habe über die Jahre hinweg viel dazu gelernt und immer wieder reflektiert. Rückblickend gibt es Sachen, da gestehe ich mir ein: Da hätte ich besser nicht mitgemacht. Aber dadurch bin ich auch für jedes nächste Mal, wenn ich eine Anfrage bekam, ein bisschen stärker geworden. Das wichtigste für mich ist, dass Fraukes Fall aufgeklärt wird. Sollte es jemals dazu kommen, weiß ich nicht, ob ich danach noch bei einem True-Crime-Format mitmachen würde. Das werde ich dann entscheiden.“

Ingrid Liebs: ,,Ich brauche die Öffentlichkeit“

#TrueCrimeReport

Wie gehen True-Crime-Macher:innen mit Betroffenen um?

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Wie gehen True-Crime-Macher:innen mit Betroffenen um?

Das Magazin „Stern Crime“, der Podcast „Mord auf Ex“ oder YouTuberin Kati Winter – sie alle berichten über echte Kriminalfälle, und das sehr erfolgreich. Aber wie gehen Sie mit Betroffenen um?

Foto: Studio_Iris/Pixabay

Das Magazin „Stern Crime“, der Podcast „Mord auf Ex“ oder YouTuberin Kati Winter – sie alle berichten über echte Kriminalfälle, und das sehr erfolgreich. Die Redaktion des WEISSEN RINGS wollte von den Machern beliebter True-Crime-Formate wissen: Wie gehen sie eigentlich mit Opfern und Angehörigen um? Wann kontaktieren sie Betroffene, wann nicht? Wie sehr sind die Opfer in den Entstehungsprozess eingebunden? Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat einigen der bekanntesten True-Crime-Formate Deutschlands einen entsprechenden Fragebogen zugeschickt.

Fünf von ihnen haben die Fragen beantwortet. Eine Auswahl ihrer Antworten lesen Sie hier:

Was sind die wichtigsten Quellen bei Ihrer Recherche?

„Die Quellen sind unterschiedlich. Nicht zuletzt: Urteile, Gutachten, Ermittlungsakten und in vielen Fällen auch Prozessbesuche. Zudem natürlich Gespräche mit Beteiligten wie Ermittler:innen, Anwält:innen, Zeug:innen und auch Angehörigen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

„Hauptsächlich arbeiten wir mit Sekundärquellen, also wir recherchieren Zeitungsartikel, Podcasts, Interviews und Bücher und erstellen daraus ein Skript. Ist es ein Fall aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz, arbeiten wir auch teilweise mit Familien zusammen.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

„Für meine Recherchen nutze ich eine Kombination aus Zeitungsarchiven, Online-Artikeln, Fachbüchern/Magazinen und Dokumentationen, um das Zwei-Quellen-Prinzip gewährleisten zu können. Außerdem greife ich auf Urteile und in Einzelfällen auch auf Akten zu den Fällen zurück.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)

Kontaktieren Sie im Zuge Ihrer Recherche Opfer und Angehörige?

„Nein! Ich möchte die Privatsphäre der Opfer und deren Angehöriger wahren und ihnen durch meine Fragen keinen weiteren Schmerz zufügen. […] Ich bin mir der Macht meiner Reichweite sehr bewusst und lege Wert auf eine verantwortungs- und respektvolle Dar­stellung. […] Daher werden meine Kommentare streng moderiert, um Retraumatisierung, Beleidigungen der Opfer-Familien o. Ä. zu vermeiden, da ich mir bewusst bin, dass gerade bei deutschen Fällen Angehörige jederzeit meine Videos sehen könnten.“
Kati Winter (YouTube)

„Ich kontaktiere Angehörige nicht grundsätzlich, vor allem wenn sich aus der Berichterstattung ablesen lässt, dass sie von den Medien in Ruhe gelassen werden wollen. In einzelnen Fällen frage ich per E-Mail an, öfter kommen Angehörige aber auf mich zu, und bitten mich, über ‚ihren‘ Fall zu berichten.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)

„Insbesondere bei deutschen Fällen: meistens. Die Kontaktaufnahme erfolgt häufig über die Nebenklage-Anwälte. Bei älteren Fällen ist es oft schwieriger, weil Angehörige oft verstorben beziehungsweise nicht mehr aufzufinden sind. Bei Fällen, in denen unsere Autor:innen die Prozesse verfolgt haben, lassen wir zudem die Angehörigenperspektive aus Prozessauftritten einfließen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

Wie wichtig ist Ihnen die Perspektive der Betroffenen in Ihrem Format?

„Sehr wichtig. Wir möchten vor allem ihre Geschichten erzählen statt die der Täter. Deshalb arbeiten wir auch immer wieder in der Recherche eng mit Betroffenen oder Ermittler:innen zusammen. Von unseren Hörer:innen wissen wir, dass sie teilweise selbst traumatische Erlebnisse durchstehen mussten. Mit unseren Folgen wollen wir deshalb auch Hoffnung und Mut machen.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

„Bei unserem Format steht die Perspektive der Opfer/Angehörigen an erster Stelle. Deswegen besteht unser Kanal auch fast nur aus ungelösten Fällen, bei denen es noch Hoffnung auf Gerechtigkeit gibt. Wir wollen die Menschen und Fälle nicht in Vergessenheit geraten lassen.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

„Die Opfer-/Angehörigenperspektive ist uns wichtig. Das bedeutet in jedem Fall, dass wir bei der journalistischen, erzählerischen Aufbereitung der Fälle auch Opfer und Angehörige als potenzielle Leser berücksichtigen: Taten und das durch sie entstandene Leid dürfen nicht bagatellisiert werden, Täter nicht heroisiert oder romantisiert werden.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

 

Was tun Sie, um eine mögliche Retraumatisierung von Betroffenen zu verhindern?

„Ich glaube, eine mögliche Retraumatisierung ist nicht zu umgehen, auch wenn wir versuchen, so sensibel wie möglich vorzugehen und mit Triggerwarnungen arbeiten. Ich glaube aber auch, dass Menschen, die ihre Liebsten suchen, so oder so tagtäglich daran erinnert werden. Ein Video, das wieder Aufmerksamkeit in der Bevölkerung erregt, könnte vielleicht sogar tröstend wirken. Das hoffe ich zumindest.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

„Bereits bei der Anfrage von Interviewpersonen machen wir deutlich, dass – sollten die Angefragten sich nicht wohlfühlen, mit uns zu sprechen – wir das natürlich respektieren und sie nicht weiter kontaktieren. Bei einer Zusage senden wir unseren Interviewpartnern vorab unsere Fragen, so dass sie unerwünschte Fragen streichen und sich auf die weiteren Fragen vorbereiten können.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

In der Kontaktaufnahme: Da wir nicht tagesaktuell arbeiten, können wir einen zeitaufwändigeren, behutsameren Weg wählen. Wir sprechen in den meisten Fällen zuerst mit den Anwält:innen, die vorab meist gut einschätzen können, ob die Angehörigen beziehungsweise Opfer bereit sind und sich imstande fühlen, mit uns zu sprechen. […] Wenn die Betroffenen nicht persönlich sprechen wollen, lassen sie oft ihren Anwalt/ihre Anwältin die Geschichte aus ihrer Perspektive schildern. Es kommt auch vor, dass Angehörige/Opfer froh sind, ihre Seite der Geschichte erzählen zu können. Häufig schreiben wir auch Briefe, in denen wir darlegen, worum es uns geht, und die es den Betroffenen ermöglichen, ohne den Druck einer direkten Ansprache abzuwägen und eine Entscheidung zu fällen.

Im Gespräch: durch angemessene Sensibilität in der Gesprächsführung, Transparenz, was die Stoßrichtung der Recherche angeht, und die Akzeptanz der individuellen Grenzen der Opfer beziehungsweise Angehörigen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

Binden Sie Betroffene in den Entstehungsprozess Ihres Berichts mit ein?

„Gerne geben wir Betroffenen die Möglichkeit, sollten sie mit uns während des Recherche-Prozesses in Kontakt gestanden haben, das Interview noch einmal zu hören und Unerwünschtes zu streichen.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

„Allen Angehörigen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben wir vorher das Skript geschickt. Wobei das nicht ganz stimmt, im Fall Frauke Liebs war es nicht so. Das Video habe ich, kurz nachdem ich mit Insolito angefangen habe, veröffentlicht, da hatte ich noch keine Erfahrung. Frau Liebs hat das Video gesehen und mich kontaktiert, daraufhin haben wir mitein­ander kommuniziert, und ich habe Falschinformationen (die so auch in den Sekundärquellen standen) geändert und das Video neu hochgeladen und auf eben diese Falschinformationen hingewiesen, sie also auch kontextualisiert.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

Haben Sie nach Veröffentlichung Ihres Contents Reaktionen von Betroffenen erhalten?

„Ja, ich habe schon häufiger nach Veröffentlichung des Podcasts Kontakt mit Angehörigen gehabt. Der Austausch war eigentlich immer positiv. […] Besonders langen Kontakt hatte ich mit der Familie einer ermordeten Frau aus Bremen. Nach vielen Telefongesprächen habe ich festgestellt, dass sie immer noch sehr unter der Tat leiden, und deshalb von mir aus angeboten, die dementsprechende Folge zu löschen. Das habe ich kurz danach auch getan.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)

„Bei uns haben sich nach unseren Folgen vermehrt Opfer/Angehörige gemeldet, die sich konkret wünschen, dass wir ihre Geschichten erzählen und aufarbeiten. Wir stehen mit ihnen in engem Kontakt.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

„Ja. Ich wurde einmal von Angehörigen eines Opfers gebeten, ein schon älteres Video offline zu nehmen, da die Entlassung des Täters kurz bevorstand. […] Für mich war das kein Problem. Einige Male wurde ich von Angehörigen oder Bekannten der Opfer kontaktiert, oder sie haben unter meinen Videos kommentiert und sich für die respektvolle Aufarbeitung bedankt.“
Kati Winter (YouTube)

Johann Scheerer: „Befriedigung einer Schaulustigen-Mentalität“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Johann Scheerer: „Befriedigung einer Schaulustigen-Mentalität“

Rund 20 Jahre lang hat Johann Scheerer nicht über das Verbrechen gesprochen, dessen Opfer seine Familie wurde: die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma. Ein Interview.

Foto: Gerald von Foris

Rund 20 Jahre lang hat Johann Scheerer nicht über das Verbrechen gesprochen, dessen Opfer seine Familie wurde: die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma. Ein Gespräch über eine Geschichte, die bis heute maximale Öffentlichkeit erfährt, den Rückgewinn der Deutungshoheit und den Bedarf an einem neuen journalistischen Genre.

Herr Scheerer, Sie und auch Ihre Eltern lehnen sämtliche Anfragen von True-Crime-Produktionen ab, die die Entführung Ihres Vaters thematisieren. Was halten Sie von diesen Formaten?

Sie befriedigen im Regelfall eine Schaulustigen-Mentalität, wie bei einem Unfall: Man verlangsamt das Tempo auf der Autobahn und gafft. Vielleicht sieht man noch Blut? Wenn das Auto abgeschleppt und die Fahrbahn wieder frei ist, um in der Unfall-Verbrechen-Analogie zu bleiben, ist das der Zeitpunkt, an dem die allermeisten True-Crime-Formate enden.

Sie meinen, wenn die Täterinnen oder Täter gefasst sind, der Gerichtsprozess vorbei ist und ein Kriminalfall als abgeschlossen gilt?

Ja, das ist einer der Hauptpunkte meiner Kritik an True-Crime-Formaten — wenn es heißt, die Verbrechen seien abgeschlossen. Ich bin der Überzeugung, dass Verbrechen nicht abgeschlossen sind, wenn der „aktive“ Teil des Verbrechens vorbei ist. Sie dauern an! Und zwar in der Verarbeitung der Opfer oder Angehörigen. Hört sich profan an, ist aber offensichtlich zu vielen noch nicht durchgedrungen. Insofern habe ich ein Problem mit diesen Formaten, weil sie dann aufhören, wenn es gesellschaftlich erst richtig kritisch wird, nämlich wenn es um die Frage geht: Welche Auswirkungen und Nachwehen haben diese Verbrechen? Um bei der Analogie mit dem Unfall zu bleiben: Man fährt also weiter und denkt nicht mehr lange darüber nach, wer da eigentlich im Auto saß, was mit demjenigen passiert, ob er oder sie jemals wieder Auto fahren können oder wollen wird. Ob die Person Kinder hatte und was mit denen geschehen ist.

Was bedeutet das, übertragen auf den Raum, den Opferperspektiven in dem Genre einnehmen?

Die Opferperspektive ist weiterhin völlig unterbelichtet. Es gibt hier in vielerlei Hinsicht ein großes Defizit, was die Betroffenen, ihre Betreuung und überhaupt den Umgang mit ihnen anbelangt. Ein Beispiel ist die Hierarchisierung innerhalb von Betroffenengruppen, wenn von Opfern ersten oder zweiten Grades gesprochen wird. Das finde ich befremdlich, weil niemand in der Lage ist, zu kategorisieren, ob jemand Opfer ist oder nicht. Nur die Betroffenen selbst wissen, was ein Verbrechen in welchem Umfang bei ihnen angerichtet hat. Die Kategorisierung mag eine Berechtigung im Strafrecht haben, der Traumabewältigung ist sie nicht zuträglich. Opfergeschichten sind kompliziertere und vor allem leisere Geschichten – deshalb ist es natürlich einfacher, sich in solchen Formaten auf die Tat und Täterinnen und Täter zu konzentrieren. Aber man muss sich immer wieder fragen: Gebührt diesen Tätern eine Bühne?

Wenn die Bühne eigentlich den Opfern gebührt, warum wollen Sie nicht bei solchen Formaten mitwirken?

Nach der Entführung meines Vaters habe ich ungefähr 20 Jahre lang nicht über dieses Verbrechen gesprochen. Unter anderem, weil ich gar nicht das Gefühl hatte, dass es meine Geschichte ist, sondern die meines Vaters. Ich hatte zwar irgendwie die Gefühlslage eines Opfers, aber ich wusste nicht, dass ich Opfer bin. Mir wurde gesellschaftlich vermittelt, dass man nicht betroffen ist, wenn man nicht derjenige ist, der sichtbare Verletzungen davongetragen hat. Es hat viele Jahre der Bewältigung gebraucht, bis ich verstanden habe, dass das nicht stimmt. Man muss sich zu der selbstbestimmten Aussage hinarbeiten: Ja, ich bin ein Opfer. Und genauso gehört zu einem selbstbestimmten Bewältigungsprozess, dass man diesen Status irgendwann wieder abzulegen kann. Das Verbrechen selbst, die Tat und der Täter, degradieren das Opfer zur handlungsunfähigen Randfigur und als solche werden sie auch in True-Crime-Formaten behandelt. Es sollte daher doch auf der Hand liegen, dass ich nach meinem persönlichen Aufarbeitungsprozess nicht als Randfigur in so einem Format auftreten möchte.

Muss sich der Wahrnehmungsfokus verschieben, erzählerisch in True-Crime-Beiträgen, aber auch gesamtgesellschaftlich?

Es ist ein gesellschaftlicher Gewinn, dass wir mittlerweile diskutieren, inwieweit sich beispielsweise Gewalterfahrungen in der Kindheit auf das weitere Leben auswirken. Bei Gerichtsprozessen liegt der Fokus natürlich auf den Tätern, und oft wird festgestellt, dass es einen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen und späteren Taten gibt. Da sind wir gesellschaftlich schon weit. Aber sollten wir uns folgerichtig nicht auch die vielen Opfer und ihre Lebens- und. Leidensgeschichte nach der Tat etwas genauer anschauen und auch sicherstellen, dass es ihnen möglichst gut geht? Ich finde das total wichtig sowie bislang unterbelichtet, und das gilt für unsere Gesellschaft insgesamt ebenso wie für solche Formate.

Die Geschichte Ihrer Familie wird auch nach Jahrzehnten immer wieder medial aufbereitet, angeteasert etwa als „eine der spektakulärsten Entführungen“ in Deutschland. Wie gehen Sie damit um?

Es gibt keine andere Möglichkeit, als das einfach zu ignorieren. Ich schaue mir das nicht an und es interessiert mich noch nicht einmal, weil es dann doch immer das Gleiche ist. Direkt nach der Entführung war die mediale Berichterstattung teilweise einfach nur Fiktion. Mittlerweile ist zumindest das weniger geworden. Immerhin.

Gibt es eine Berechtigung für True Crime?

Ab und zu sehe ich durchaus eine Berechtigung, klar. Ich finde es selbst teilweise interessant, beispielsweise über die RAF-Verbrechen zu lesen, oder weil eine Tat eine gesellschaftlich historische Relevanz hat. Solche Beiträge sind wichtig, um zu verstehen, wie es zu einem Ereignis kam, und um aus Fehlern zu lernen. Das ist schon in Ordnung. Aber natürlich gibt es Grenzen. Als Jugendlicher habe ich zwei Jahre nach der Tat in einer Zeitschrift ein Ranking entdeckt, in dem der Fall wegen der hohen Lösegeldsumme als eine der zehn „erfolgreichsten“ Entführungen in Deutschland gelistet war. Ich war natürlich geschockt. Sich selbst in einem geschmacklosen Ranking wiederzufinden, das ist wieder so ein fremdbestimmter Moment.

Wenn Betroffene nicht als Protagonisten gewonnen werden können, kommen oft „Experten“ oder „Expertinnen“ – Ermittler, Psychologen, Juristinnen – zu Wort, die die mutmaßliche Gefühlswelt der Opfer schildern. Ist das auch eine Grenze, die überschritten wird?

Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel. Ich bin mal in Hamburg zu einer Veranstaltung des WEISSEN RINGS eingeladen worden, bei der die Idee war, dass ich aus meinen Buch vorlese und dann mit einer Kinder- und Jugendpsychologin ins Gespräch komme, die sich explizit mit Ängsten und Traumata beschäftigt. Es ging darum, wie es ist, als Jugendlicher Opfer eines Verbrechens geworden zu sein. Das klang gewinnbringend und habe zugesagt. Hätte die Veranstaltung genauso stattgefunden, nur ohne mich auf der Bühne, welchen Sinn hätte das gehabt?

Apropos Bühne: Sie sind Musiker und Musikproduzent. Werden Sie eigentlich öfter für Interviews anfragt, die Ihren Beruf betreffen oder – wie auch hier – die Entführung Ihres Vaters?

Ich habe mit 17 Jahren angefangen Musik zu machen, da wollten Zeitschriften wie die Gala Interviews mit mir machen, aber natürlich nicht wegen der Musik. Es sprach sich zum Glück herum, dass ich stets absagte. Über die Jahre habe ich mir eine gewisse Position erarbeitet, so dass mittlerweile regelmäßig Anfragen im reinen Musikkontext kommen. 2016 habe ich zum ersten Mal öffentlich über den Fall gesprochen. Ein Zeit-Journalist interviewte mich zur Produktion des Pete-Doherty-Soloalbums und meinte, es sei nur seriös, meinen familiären Hintergrund zumindest zu erwähnen. Das tauchte dann in einem Halbsatz oder so im Text auf, das war für mich in Ordnung.

,,Es sollte auf der Hand liegen, dass ich nicht als Randfigur in so einem Format auftreten möchte."

Johann Scheerer, Sohn des 1996 entführten und gegen Lösegeld freigelassenen Jan Philipp Reemtsma
Wie war das nach der Veröffentlichung Ihres autobiografischen Buchs „Wir sind dann wohl die Angehörigen“?

Darüber habe ich mit Medien geredet, aber das ist für mich etwas anderes, als über die Entführung selbst zu sprechen, weil ich jetzt die Deutungshoheit habe. Wissen Sie, wenn man so will, ist es Teil des Traumas, dass die Geschichte meiner Familie so extrem öffentlich ist, sich längst verselbstständigt hat und dass man selbst gar keine Kontrolle mehr über sie hat. Es geht in der Aufarbeitung immer über den Rückgewinn der Kontrolle, der Selbstbestimmtheit. Und die hätte ich nicht, wenn ich bei True-Crime-Formaten mitmachen würde. Ich habe das Buch geschrieben, um genau das zu sagen, was ich sagen möchte und wie. Anlässlich der Veröffentlichung habe ich dann Lesungen gemacht, bei denen ich proaktiv mit dem Publikum ins Gespräch kommen konnte. Das ist doch viel interessanter als jede True-Crime-Doku. Einfach auch, weil der Erkenntnisgewinn größer ist.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie dieses Buch geschrieben haben?

Ein Verlag sprach mich an, ob ich über die Produktion des Doherty-Albums „Hamburg Demonstration“ schreiben könne. Das hat mir geschmeichelt, ich war noch nie auf die Idee gekommen, dass sich jemand dafür interessieren könnte, was ich in Buchform von mir gebe. Aber dann wurde mir klar: Egal, was ich in meinem Leben schreiben werde, ich muss erst mal diese Geschichte über die Entführung aus dem Weg schreiben, weil Vieles in meiner Biografie immer wieder auf diese Erfahrung verweist. Das Buch entstand in wenigen Wochen intensiver Schreibarbeit, die Vorbereitungszeit wiederum dauerte 20 Jahre.

Nun hätten Sie ja auch nur für sich selbst Tagebuch schreiben können. Warum war es Ihnen wichtig, dass Ihre persönliche Perspektive einer Öffentlichkeit zugänglich wird?

Nun ja, die Geschichte war ja bereits maximal öffentlich. Ich habe das nicht forciert, sondern bin unverschuldet in diese Situation gekommen. Ich wollte die Deutungshoheit zurückzubekommen. Die erreicht man nicht, indem man Interviews gibt. Es geht um Selbstbestimmtheit, man muss die eigenen Worte finden und mit ihnen in die Öffentlichkeit gehen. Die fremde Geschichte sozusagen auf der öffentlichen Bühne abholen und wieder zu sich holen.

Wie steht es mit der Selbstbestimmtheit bei der aktuellen Berichterstattung?

Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass man von dieser als Beteiligter vorab gar nichts mitbekommt. Alle paar Jahre gibt eine Berichterstattung, etwa wenn einer der Täter wegen anderer Sache vor Gericht steht oder so, dann wird der Entführungsfall immer noch mal komplett nacherzählt. Wenn man dann als Betroffener an einem Sonntag bei einem Kaffee die Zeitung liest, guckt man unvermittelt in die Visage dieses Menschen und damit in die Fratze der Tat. Ich will jetzt nicht über Retraumatisierung sprechen, aber man wird doch für einen Moment aus der Bahn geworfen. Noch nicht einmal so große und souveräne Redaktionen wie beispielsweise bei der Zeit oder beim Spiegel kriegen es hin, in solchen Fällen einfach eine kurze E-Mail zu schreiben und zu sagen: Erschrecken Sie nicht, wir berichten am Sonntag auf Seite fünf darüber. Ich halte es für angemessen, an die Betroffenen zu denken und sie zu informieren, damit sie entscheiden können, die entsprechende Seite gar nicht erst aufzuschlagen oder die Ausgabe direkt in die Tonne zu schmeißen. Mir ist natürlich bewusst, dass dies für Redaktionen vermutlich nicht zu leisten ist – eine schöne Idee bleibt es trotzdem.

Wenn in Podcasts Werbespots geschaltet und Merchandise-Artikel zu anderen True-Crime-Produktionen verkauft werden, kann der Eindruck entstehen, dass es sich um eine Kommerzialisierung des Leids der Opfer handelt. Was denken Sie darüber?

Das ist eine Frage, über die ich bisher noch nie nachgedacht habe, weil ich diese Formate nicht konsumiere. Es ist schon geschmacklos, wenn man sich vorstellt, dass die Macher mit den Geschichten von Betroffenen Geld verdienen. Da gäbe es ja viele karitative Möglichkeiten, zum Beispiel die Einnahmen zu spenden oder mit Organisationen wie dem WEISSEN RING zusammenzuarbeiten.

Mit Ihrem Buch und der Verfilmung verdienen auch Sie Geld.

Was nicht verwerflich ist, weil es meine Geschichte und meine Familie ist.

Können Sie verstehen, dass sich andere Opfer an True-Crime-Produktionen beteiligen?

Es ist nachvollziehbar und berechtigt, wenn Betroffene dadurch das Gefühl bekommen, dass das Teil ihrer Aufarbeitung ist und sie Einfluss auf das Erzählte bekommen. Ob man das möchte oder nicht, ist eine Typfrage und eine Frage des individuellen Geschmacks. Deshalb ist es nicht angemessen, das von außen zu beurteilen. Ein anderer Punkt ist allerdings die Verantwortung jeder einzelnen Journalistin und jedes einzelnen Journalisten, erstmal zu schauen, ob die Person wirklich in der Lage ist, mitzumachen, oder ob man sie auch vor sich selbst schützen muss. Interviews mit Opfern anzuschauen, die beispielweise direkt nach der Tat geführt wurden, ist oft schwer erträglich. Da gilt die journalistische Sorgfaltspflicht. Mein Appell an die Medienmacher ist, nicht auf Teufel komm raus jeden vor die Kamera zu zerren und im Zweifelsfall auch bei einem fertigen Beitrag zu entscheiden, ihn nicht zu senden.

Ihr Vater sagte kürzlich in einem Spiegel-Interview auf die Frage, ob es eine Situation gegeben habe, wegen der er Sie um Verzeihung gebeten habe: „Ich hatte einen gravierenden Fehler gemacht, vor allem deshalb, weil ich die Sache nicht durch seine Augen angesehen hatte.“ Müssten das auch Medienmacher stärker beherzigen, sich mit der Perspektive der Betroffenen befassen und ihr Platz einräumen?

Ja, ganz klar. Aber ich fürchte, True Crime ist dafür einfach das falsche Genre, weil es sich an Schaulustige wendet. Anscheinend fehlt es den Macherinnen und Machern an Kreativität, ebenso spektakuläre Produktionen zu entwickeln, die sich mit den Opfern auseinandersetzen. Die Verfilmung meines Buchs war zum Beispiel der Versuch, von einem Verbrechen zu erzählen, ohne das Verbrechen zu erzählen, die Sichtweise der Angehörigen einzunehmen und die Familiendynamik zu zeigen. Das Ergebnis ist nicht das, was vielleicht allgemein als spektakulär empfunden wird, aber das ist auch zu kurz gedacht. Der Film soll zeigen, was die Tat mit Mutter und Sohn und ihrem Seelenleben macht. Das gibt es selten, weil es anders funktioniert, viel tiefer geht, als True Crime.

Bräuchte es also ein ganz neues Medien-Genre, bei dem das Erzählen nach der Tat ansetzt und Opfersichtweisen im Fokus sind?

Absolut. Wenn man näher darüber nachdenkt, ist es eigentlich erstaunlichdass es das trotz vieler journalistischer Crime-Formate so nicht gibt. Meinem Empfinden nach ist die Geschichte, die nach der Tat beginnt, viel interessanter und journalistisch betrachtet emotional reichhaltiger als die Tat selbst. Es unterstreicht meinen Punkt der gesamtgesellschaftlich unterbelichteten Opferperspektive, dass es derartige Formate noch nicht gibt.

Christian Solmecke erklärt, was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht  

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Christian Solmecke erklärt, was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht  

Was rechtens ist und was nicht, erläutert der bekannte Anwalt und Medienrechtsexperte Christian Solmecke.

Foto: Tim Hufnagl

Wann müssen Fotos verpixelt werden? Wann dürfen Namen oder Orte genannt werden und wann nicht? Wer True-Crime-Formate aufmerksam verfolgt, stellt fest: In diesen Fragen scheinen die Macherinnen und Macher keine einheitliche Antwort zu kennen. Das Gesetz hingegen spricht eine klare Sprache. Was rechtens ist und was nicht, erläutert der bekannte Anwalt und Medienrechtsexperte Christian Solmecke.

Christian Solmecke hat sich als Rechtsanwalt und Partner der Kölner Medienrechtskanzlei „Wilde Beuger Solmecke“ auf Beratungen in der Internet- und IT-Branche spezialisiert. Der 49-Jährige betreut auch Medienschaffende und schreibt Fachbücher zum Thema Online-Recht. Vor seiner Tätigkeit als Anwalt arbeitete er mehrere Jahre als Journalist, unter anderem für den Westdeutschen Rundfunk.

1) Verbrechensopfer haben klare Rechte

„Für alle Personen gilt, dass ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht nicht verletzt werden darf. Allein wenn das öffentliche Informations­interesse überwiegt, darf unter Abwägung der Interessen berichtet werden. Für alle gilt weiter­hin, dass unwahre Tatsachenbehauptungen nicht hingenommen werden müssen, zulässige Meinungsäußerungen jedoch schon“, sagt Solmecke.

„Für die Rechte von Opfern – tot oder lebendig – und Angehörigen ist vor allem maßgeblich, dass die Presse auch die Aufgabe hat, über zeitgeschichtliche Ereignisse und Straftaten zu berichten. Allgemein gilt jedoch der Gedanke des Opferschutzes.“

2) Identifizierende Berichterstattung ist nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt

Identifizierende Berichterstattungen seien demnach nur ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn die Identität des Opfers für das Verständnis eines Geschehens erheblich ist und das Verfahren mit großer Öffentlichkeitswirkung stattfindet.

Die Nennung des vollen Namens identifiziere die Person direkt und sei nach dieser Abwägung in aller Regel nicht zulässig. „Identifizierbar kann die Person aber auch dann sein, wenn der Nachname abgekürzt wird. Und zwar wenn noch andere Merkmale genannt werden (‚Erich H. aus Oldenburg‘). Das kann der Wohnort oder auch der geschilderte Tatort sein“, erläutert Solmecke.

3) Medien dürfen Fotos von Opfern nicht ohne Zustimmung veröffentlichen

Für die Bildberichterstattung gelte, dass grundsätzlich eine Zustimmung eingeholt werden muss. Nur wenn es ein Bildnis von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse sei, dürfe es im Einzelfall dennoch abgedruckt werden. Im Falle des Opfertodes müssen Angehörige in die Bildberichterstattung einwilligen, erklärt Solmecke weiter.

4) Für True Crime gelten meist strengere Regeln als für aktuelle Berichterstattung

„True-Crime-Formate berichten – anders als aktuelle Nachrichten – oft über lange zurückliegende Fälle. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit dürfte in diesen Fällen also abgeklungen sein, so dass die identifizierende Berichterstattung in wenigeren Fällen gerechtfertigt ist“, so Solmecke. Die identifizierende Berichterstattung über Opfer und Angehörige sei dann nur noch unter sehr hohen Anforderungen gerechtfertigt. Es müsse eine Einzelfallabwägung zwischen den Betroffenenrechten und den Öffentlichkeitsrechten stattfinden. „Nur wenn das Opfer beispielsweise prominent war oder andere Faktoren gegeben sind, weshalb das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiegt, kann eine identifizierende Bericht­erstattung auch noch Jahre nach dem Fall gerechtfertigt sein.“

5) Sensationsjournalisten nehmen Rechtsverletzungen häufig billigend in Kauf

„Im Rahmen des Sensationsjournalismus wird die Verletzung von Persönlichkeitsrechten vor allem wegen der hohen Auflagenzahlen häufig gebilligt“, sagt Solmecke. „Je mehr Schock, Empörung und Befriedigung der Sensationsgier, desto höher leider oft der Gewinn.“ Die durch Prozesse anfallenden Kosten würden oft durch die mit der Berichterstattung erzielten Einnahmen übertroffen – zumal nicht alle Betroffenen die Kosten und Mühen eines Prozesses auf sich nehmen.

Nahlah Saimeh über den „potenziellen Gewalttäter in uns selbst“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Nahlah Saimeh über den „potenziellen Gewalttäter in uns selbst“

„Das Böse im Menschen“ steht im Mittelpunkt der Arbeit von Nahlah Saimeh. Hier erklärt die forensische Psychiaterin, was Menschen an True Crime fasziniert.

Foto: Ralf Zenker

„Das Böse im Menschen“ steht im Mittelpunkt der Arbeit von Nahlah Saimeh. Die forensische Psychiaterin begutachtet Straftäter, dabei untersucht sie die Schuldfähigkeit der Täterinnen und Täter und ihre Gefährlichkeit. Dank ihrer langjährigen Expertise ist sie in True-Crime-Formaten eine viel gefragte Interviewpartnerin. Hier erläutert sie, warum True Crime so viele Menschen fasziniert.


Ob Magazin, Podcast, Fernsehen oder Youtube: True Crime boomt. Warum findet das Publikum Gefallen am Leid anderer Menschen?

Ich denke nicht, dass die True-Crime-Community Gefallen am Leid anderer findet. Es geht nicht um Sadismus, sondern um ein von sensation seeking und Emotionsverstärkung getriebenes Verhalten, durch die Schicksale anderer an etwas Besonderem, etwas Außergewöhnlichem teilzuhaben – und dennoch selbst verschont zu bleiben. Außerdem lassen die Formate zu, dass wir uns über die Bösartigkeit der Täter oder über den vermeintlichen Leichtsinn der Opfer erheben und uns damit überlegen fühlen. Vor allem erleben wir unsere persönliche Sicherheit in einer insgesamt unsicheren Welt.

Gibt es aus Ihrer Sicht Unterschiede innerhalb des Genres?

Grundsätzlich unterscheide ich gerne zwischen True-Crime-Formaten wie „Aktenzeichen XY… ungelöst“, hinter dem das Anliegen steht, ungeklärte Verbrechen doch noch aufzuklären, und jenen Formaten, die – mit mehr oder weniger anspruchsvollen Informationen – auch unterhalten wollen. Vielleicht ist der Informationsteil aber letztlich auch nur Legitimationsüberbau für die Unterhaltung.

Was unterscheidet True Crime von Krimis?

Nun ja, die Formate überlagern sich. Ich kenne Krimis, die basieren auf wahren Geschichten und wahre Geschichten überholen manches Drehbuch auf der Standspur. Die Realität ist manchmal absolut unglaublich.

Welche Auswirkungen können True-Crime-Formate auf das Publikum haben?

Am ehesten denke ich, dass die Häufigkeit von Gewalttaten überschätzt wird.

Es heißt, das Genre komme vor allem bei Frauen gut an. Wieso ist das so?

Frauen interessieren sich sehr viel mehr für Psychologie und für Motive menschlichen Handelns. Sie sind in Bezug auf einige wenige Gewaltformen, das betrifft Sexualdelikte und Partnerschaftsgewalt, häufiger Opfer als Männer und sie sind für emotionale Themen wie Opferleid empfänglicher. Männer interessieren sich weniger für emotionale Befindlichkeiten von Personen, mit denen sie ohnehin nichts zu tun haben, und sie identifizieren sich auch nicht mit den Opfergeschichten.

Können solche Formate auf der anderen Seite auch etwas leisten?

Das habe ich mich auch gefragt, denn auch ich muss mir selbst gegenüber Rechenschaft darüber ablegen, warum ich zum Beispiel Interviews zum Thema gebe oder in True Crime-Formaten mitwirke. Für mich persönlich gibt es nur eine einzige Legitimation: anhand von Fällen zu erläutern, was Menschen anfällig macht, gewalttätig zu werden. Ich will dazu beitragen, dass wir den potenziellen Gewalttäter als einen mit Leben und Schicksal Überforderten auch in uns selbst erkennen können.

Genau darum geht es oft in True-Crime-Produktionen, im Fokus steht meist die Täterin oder der Täter. Sind sie spannender als die Opfer?

Täterinnen und Täter brechen Tabus. Sie tun etwas, was man sich selbst nicht trauen würde und was man nicht für möglich gehalten hätte. Sie sind gewissermaßen stellvertretend für uns asozial. Daher betone ich den Ansatz, möglichst nüchtern zu erklären und damit den Zuschauenden zu sagen: Du und ich könnten im Grunde unter anderen Umständen genauso handeln. Ich vermute übrigens, dass es in sehr gewalttätigen Gesellschaften gar kein Interesse an True Crime gibt. Mord und Totschlag haben die Menschen dann vor der Haustür, als reale Gefahr.

Muss man in solchen Formaten Betroffenen eine Stimme geben?

Man muss Betroffenen keine Stimme „geben“, denn die haben sie ja, sondern ihre Stimme hören und ernst nehmen. Wenn man jemandem eine Stimme „gibt“, macht man ihn oder sie klein. Wichtig ist für Betroffene ja auch, zu einer Selbstwirksamkeit zurückzufinden und selbstbewusst ihre Standpunkte zu vertreten.

Was sollten True Crime-Macher auf gar keinen Fall machen?

Sachlichkeit ist ja der Killer der Unterhaltung. Ich bin keine Freundin künstlicher Emotions-Erzeugung und mir sind Formate lieber, die präzise erklären. Ich bin schon gar keine Freundin von Fragen, wie andere Leute – in diesem Fall Opfer – sich zu fühlen haben. Jeder Mensch empfindet anders und geht mit Schicksalsschlägen anders um, weil er bestimmte Resilienzen hat, bestimmte Vorerfahrungen, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften. Das Normative, wie man gefälligst als Opfer zu sein hat, finde ich problematisch.

Wie könnten Medienschaffende Opfer oder Angehörige am besten in den Entstehungsprozess eines solchen Formats einbinden?

Die Antwort auf diese Frage steht mir nicht zu. Das können allein Opfer und deren Angehörige beantworten.

„Zeit Verbrechen“: Unterwegs in dunklen Ecken

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Karsten

„Zeit Verbrechen“: Unterwegs in dunklen Ecken

Daniel Müller (41) ist seit Januar 2021 Chefredakteur des True-Crime-Magazins „Zeit Verbrechen“, vorher arbeitete er als Kriminal- und Gerichtsreporter. Was fasziniert ihn an Verbrechen? Darf True Crime unterhaltend sein? Wo verlaufen die Grenzen zwischen gutem und schlechtem Journalismus? – Ein Interview in Hamburg.

In einem schmalen Büro im „Helmut-Schmidt-Haus“ in Hamburg, Hauptsitz der Wochenzeitung „Die Zeit“, hängen 124 bunte DIN-A4-Seiten an der Wand: die aktuelle Ausgabe von „Zeit Verbrechen“. Vor den 124 Seiten steht entspannt im Freizeitlook Daniel Müller, der Chefredakteur; das Heft ist fertig, er sieht zufrieden aus. Dies ist nicht sein Büro, Müller lebt und arbeitet in Berlin. Nach Hamburg fährt er alle zwei Monate zur Schlussproduktion des Magazins.  Er setzt sich an den kleinen Konferenztisch, um die nächsten eineinhalb Stunden über den angemessenen Umgang mit Opfern zu sprechen und  die Notwendigkeit, manchmal auch Texte zu schreiben, die Menschen verletzen können.

Herr Müller, angenommen, Sie wären Opfer einer Straftat geworden – hätten Sie dann gern mit dem Journalisten Daniel Müller zu tun?

Ich mache seit mehr als 20 Jahren Journalismus, und eine Frage hat mich nie losgelassen: Warum reden Menschen eigentlich mit uns Journalisten? Warum wollen sie mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit? Eine eindeutige Antwort habe ich nie gefunden, aber eines ist klar: Ein Verbrechen ist in jedem Leben ein tiefer Einschnitt. Es gibt Redebedarf. Von Opferseite, von Täterseite, von Angehörigen, Experten, Anwälten. Verbrechen bewegen ja immer mehr als nur zwei Menschen. Richtig ausmalen kann man sich das wohl erst, wenn man selbst in diese Lage gerät. Aber nehmen wir an, ich käme in diese Lage: Dann würde ich lieber mit jemandem wie mir zu tun haben als mit anderen.

Wie ist er denn, der Journalist Daniel Müller?

Das würde ich lieber andere beantworten lassen. Aber ich denke, dass ich ein aufrichtig interessierter, empathischer und nicht zu fordernder Mensch bin. Einer, der – hoffentlich – den richtigen Ton trifft im Umgang mit anderen. Mir ist es wichtig, Gespräche zu führen, keine Abfragerunden. Journalismus ist keine Einbahnstraße. Ich teile meinen Gesprächspartnern auch Dinge von mir mit. Die Menschen vertrauen mir etwas an, da möchte ich ihnen auch etwas geben und nicht wie ein Informationsstaubsauger an ihrem Tisch sitzen. Aber über allem steht bei mir der journalistische Grundsatz: „Be first but first be right“. Ich habe den Ehrgeiz, exklusive Geschichten zu recherchieren, niemals aber um den Preis, Unfug zu schreiben.

Gibt es im Umgang mit Opfern und Tätern richtigen und falschen Journalismus? Oder sprechen wir bereits über guten und schlechten Journalismus?

Schlechten Journalismus sehen wir jeden Tag. Allein schon, wenn die „Bild“-Zeitung das Wort „Kinderschänder“ verwendet, das ist Nazi-Vokabular. Und wenn sie dazu ohne Verpixelung das Gesicht eines Menschen abdruckt, der vielleicht gerade verhaftet, aber noch nicht einmal angeklagt wurde. Schlechter Journalismus ist Sensationsjournalismus. Und leider muss ich immer wieder erleben, wie diese Art von Journalismus anderen, seriös arbeitenden Kolleg:innen die eigene Recherche erschwert. Oft müssen wir Scherben aufkehren, die andere zurücklassen.

,,Natürlich geht es um die Story. Aber nicht um jeden Preis."

Daniel Müller
Das müssen Sie uns erklären.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir haben vor ein paar Jahren für die „Zeit“ ein Dossier recherchiert, es hieß „Die weißen Brüder“. Darin geht es um die Zwillingsbrüder Maik und André Eminger, beide rechtsextrem gesinnt, letzterer war Mitangeklagter von Beate Zschäpe beim NSU-Prozess und der wichtigste Helfer des NSU. Die beiden kommen aus einer kleinen Stadt im Erzgebirge. Bevor der Prozess losging, wollten wir wissen: Wie sind die beiden eigentlich geworden, was sie sind? Wir sind nach Johanngeorgenstadt gefahren, haben dort drei Tage verbracht – und festgestellt, dass uns praktisch jede Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Warum? Weil passiert ist, was leider dauernd passiert: Reporter hatten verbrannte Erde hinterlassen. In diesem Fall war es ein Fernsehteam, das sich wohl dachte: Wir fahren jetzt mal in dieses Nazi-Dorf und finden überall Insignien irgendwelcher Nazi-Banden. Und weil sie die nicht fanden, haben sie kurzerhand ein Hakenkreuz an eine Garagenwand geschmiert. Das haben sie abgefilmt und in ihren Beitrag aufgenommen. Das ist widerwärtig. Ja, Journalismus ist ein Beruf, in dem immer Druck herrscht. Wir haben alle Druck – Konkurrenzdruck, Zeitdruck, bei der Zeitung Andruck im wahrsten Sinne des Wortes. Aber das war einfach nur Verrat am Berufsethos.

Das ist also schlechter Journalismus. Und was ist guter Journalismus?

Das ist das, was wir hier machen, denke ich. Guter Journalismus ist ausgewogene, faire und gründliche Recherche. Ein Journalismus, der alle Seiten anhört und keine fertigen Meinungen durchdrückt, der sich nicht instrumentalisieren lässt von irgendeiner Partei, weder von der Opfer- noch der Täterseite. Journalismus, in dem sich Reporter:innen möglichst auch Ermittlungsakten beschaffen, um ein vollständiges Bild eines Falles zeichnen zu können. Journalismus, der auch mal entscheidet, eine Geschichte nicht zu machen, egal wie gut sie ist, weil die Veröffentlichung zum Beispiel jemanden gefährden könnte. Das tun wir regelmäßig.

Sie berichten bei „Zeit Verbrechen“, dem Magazin zum gleichnamigen Podcast, über „echte Kriminalfälle“, wie es auf der Titelseite heißt, also über True Crime. Die Autorin Margarete Stokowski sagte in ihrer Kolumne auf „Spiegel Online“ zum Beispiel über True Crime, dass die allermeisten Podcasts „der räudigste Auswurf seit Erfindung von Aufnahme- und Sendetechnik“ seien. Wie würden Sie True Crime beschreiben?

Ich will Margarete Stokowski nicht zu nahe treten, aber ihr Geschäft ist ja Krach und Tumult und moralische Dauerüberlegenheit. Sie mag eine gute Autorin sein, aber letztlich schaut sie von ihrem Balkon aus auf die Welt und kommentiert, was ihr da so auffällt. Unser Geschäft ist es, rauszugehen in diese Welt, mit den Menschen zu sprechen und Dinge zu erfahren, die zuvor nicht bekannt waren. Und manchmal auch Fehlverhalten aufzuspießen oder mitzuhelfen, dass Schiefgelaufenes in Ordnung kommt. True Crime ist erst einmal Realität, deshalb der Name. Mir fällt kein einziges Argument ein, warum man über Verbrechen und dessen Bekämpfung nicht berichten sollte, denn beides sind Bestandteile unserer Gesellschaft. Wir haben deshalb auch eine Seite in der „Zeit“, die jede Woche vom Verbrechen handelt.

Wenn Ihnen keine Argumente einfallen, warum man nicht darüber berichten sollte – fallen Ihnen denn gute Argumente ein, warum man darüber berichten sollte?

Ich glaube erstens, dass eine gute, tiefe, analytische, ausrecherchierte Berichterstattung über wahre Verbrechen präventiven Charakter haben kann. Zweitens: Sie kann Leute dazu animieren, genauer hinzuschauen und auf sich aufzupassen. Drittens ist es doch das Streben des Menschen, zu verstehen, was uns als Menschen ausmacht. Und wenn wir so tun, als wären Menschen, die Verbrechen begehen, Monster, dann fiktionalisieren wir sie. Dann spalten wir etwas ab von uns selbst und tun so, als hätte Verbrechen mit uns, dem Menschlich-Sein und dem Mensch-Sein, nichts zu tun. Hat es aber! Aggression und Wut sind zwei der elementarsten Gefühle aller Geschöpfe. Mich interessieren diese Kipp-Punkte in Gesellschaften und im Menschen selbst: Was veranlasst sie dazu, plötzlich kriegerisch zu werden oder Täter? Und dann ist es natürlich von grundlegender Bedeutung für den Staat, wie Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte arbeiten. Auch das macht einen Großteil unserer Berichterstattung aus. Das Treiben der Ermittlungsbehörden darf auf keinen Fall aus dem Fokus der Medien geraten.

,,Ich ertappe mich bei einer fast kindlichen Freude, wenn ich eine spannende Akte lesen kann."

Daniel Müller
Wie viel Unterhaltung steckt in dem, was Sie machen?

Natürlich wollen wir auch interessant sein und gern gelesen werden, wir machen ja kein Lexikon. Wenn wir im aktuellen Heft von „Zeit Verbrechen“ einen nackten Männerhintern in einer Bilderstrecke drucken, in der es um einen Nachbarschaftsstreit geht, dann machen wir das mit einem Augenzwinkern. Kriminalität ist grausam, aber manchmal ist sie auch skurril und ulkig, und das wollen wir zeigen. Keine Leserin hält 124 Seiten lang nur Horror aus.

Daniel Müller steht auf und zeigt auf die Wand, genauer: auf die Seite mit der Nummer 111. Zu sehen ist das Schwarz–Weiß-Foto eines Mannes mit Seitenscheitel und Schnurrbart, darunter die Zeile „Räuber aus Reklamesucht“.

Nehmen wir diese Geschichte aus dem aktuellen Heft. Der Text erzählt uns etwas über die Zustände im Berlin der 1920er-Jahre. Es geht um Verbrechen, ja, aber es geht auch um die Welt, wie sie vor 100 Jahren war, in der viele einen Vorläufer sehen für das, was heute ist. Das ist auch Edukation.

Müller geht weiter, er zeigt auf Seite 73, anschließend auf Seite 76.

Wir haben ein Interview mit einem Polizisten, der uns sagt, warum seine Behörde so rassistisch ist. Das ist politisch, aber natürlich geht es auch um Verbrechen: um Verbrechen innerhalb der Behörde, die geschaffen wurde, Verbrechen zu verhindern. Wir haben auch dieses wunderbare Format der „Kleinen Verbrechen“, mit dem wir zeigen, True Crime ist eben nicht nur Mord und Vergewaltigung und Gewalt an Kindern, sondern es sind auch die kleinen Dinge, die vor dem Amtsgericht landen. Jeden Tag stehen tausende Deutsche vor Gericht. True Crime ist immer auch Gesellschaftsdeutung.

Ich höre erstens: Sie haben überhaupt kein Problem damit zu sagen, „Zeit Verbrechen“ sei True Crime – ein Begriff, der für viele Menschen durch die vielen Sensationsformate ja durchaus negativ besetzt ist.

Ja, das ist vollkommen okay. True Crime steht ja sogar auf unserem Titel: „Echte Kriminalfälle“.

Zweitens: True Crime folgt einem gesellschaftlichen Auftrag, True Crime kann Prävention sein und Edukation und politische Bewusstseinsbildung. Hat True Crime für Sie auch einen journalistischen Reiz?

Mein Vater ist Anwalt, und ich bin so aufgewachsen: Bloß nichts falsch machen! Du weißt nie, wie schnell du vor Gericht landen kannst! Was natürlich dazu führte, dass das „Falsche“, das „Dunkle“, das „Absonderliche“ einen Reiz auf mich ausgeübt haben, immer schon. Was ist mit dem Jungen passiert, der fünfmal die Woche zum Fußballtraining ging und Profifußballer werden wollte, der gesund lebte und keinen Alkohol trank, und der dann plötzlich seine Freundin ermordet? Wie kann es sein, dass das Landeskriminalamt Bayern einen V-Mann in eine Rocker-Gruppierung einschleust, ihn nach dessen Auffliegen einfach fallen lässt, ja, gar seinen Einsatz für die Polizei leugnet, selbst als vor Gericht das Gegenteil bewiesen wird?

Bei der Formulierung vom „journalistischer Reiz“ dachte ich mehr an die handwerkliche Ebene. Es gibt wohl kaum ein journalistisches Gebiet, das so viele Unterlagen und Informationen bereithält für den Journalisten wie die Kriminalitätsberichterstattung – und ganz besonders True Crime mit abgeschlossenen Fällen. Macht es das für Journalisten besonders attraktiv? Vielleicht auch besonders leicht?

Im Gegenteil, ich glaube, es gibt nichts Schwereres und Anstrengenderes als die Kriminalreportage. Niemand will mit dir reden. Und wer mit dir spricht, will dich vereinnahmen. Und oft genug stehen Unsinn oder Vorurteile von Polizisten in den scheinbar objektiven Akten. Tatsächlich gibt es kaum einen anderen Bereich, der so gut dokumentiert ist. Aber Achtung: Man darf nicht alles glauben. Bei „Zeit Verbrechen“ sind wir dankbar für viele engagierte Leser*innen und Hörer*innen, die sich uns mit eigenen Geschichten anvertrauen. Die selbst schlimme Dinge erlebt haben oder Leute kennen, denen Schlimmes widerfuhr. Uns hören und lesen viele Polizeibeamte, Strafverteidiger, Staatsanwälte und forensische Psychiater, auch von denen melden sich auch immer wieder welche bei uns. Dieses Vertrauen haben wir uns durch langjährigen seriösen Kriminaljournalismus hart erarbeitet und ich sehe es als meine Pflicht an, dieses Vertrauen immer wieder zu bestätigen, durch fundierte Recherche. Und dazu gehört eben auch, sich Akten zu beschaffen. Doch mit einer Akte ist es eben nicht getan. Man kann auf hunderten Seiten irgendwelche Chat-Protokolle lesen, wie ein Detektiv – aber was bedeuten sie? Ich bin mit den „Drei Fragezeichen“ aufgewachsen, ich höre die Hörspiele bis heute beim Einschlafen, und ich ertappe mich bei einer fast kindlichen Freude, wenn ich eine spannende Akte lesen kann. Das ist aber weit weniger glamourös, als man sich das vorstellt, es ist eine Menge Schwarzbrot. Aber es verstecken sich oft Hinweise darin, die zu etwas Großem führen können. Zum Beispiel dazu, dass man erkennt: Die ganze Akte ist falsch. Hier sind Ermittler auf dem Holzweg. Wolfgang Kaes hat als Reporter beim Bonner „General-Anzeiger“ einen Mord aufgedeckt. Und die stellvertretende Chefredakteurin der „Zeit“, Sabine Rückert, hat als Kriminalreporterin mehrere Menschen aus dem Gefängnis geschrieben, die dort unschuldig einsaßen.

Das Aufdecken von Straftaten, das Lösen alter Fälle, der Dienst an der Gerechtigkeit – das wird gern als Argument für True Crime genannt. Zur Wahrheit gehört aber, dass das nur sehr selten geschieht. Praktisch gefragt: Bietet True Crime mit den vielen Ermittlungs- und Gerichtsakten die Chance, besonders guten Journalismus zu machen?

Allerdings. Deswegen verstehe ich es auch nicht, wenn Kolleg:innen eine Geschichte schreiben, die inhaltlich falsch ist, obwohl sie die Akten kennen. Entweder haben sie diese Akte nicht richtig gelesen, oder sie wissen nicht, wie man eine Akte liest – oder sie wollen sich ihre schöne These nicht kaputt machen lassen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Mir fehlt im True-Crime-Gewerbe manchmal die Bereitschaft, Grautöne wahrzunehmen. Ich verstehe nicht, warum alles immer schwarz/weiß sein muss. Entweder ist jemand gut, oder er ist böse. Aber vielleicht ist jemand auch nur ein bisschen gut oder nur in einer bestimmten Situation böse. Und vielleicht kann man erklären, warum das so ist. Ich mag Autor:innen, die sich trauen, Unsicherheiten transparent zu machen.

Wir sprachen jetzt über den gesellschaftlichen und den journalistischen Reiz von True Crime. Wie steht es um den ökonomischen Reiz von True Crime? Der Podcast „Zeit Verbrechen“ wird von Millionen gehört, das Magazin hat eine Auflage von rund 55.000 Exemplaren. Warum ist True Crime ein so erfolgreicher Markt?

True Crime ist nur da erfolgreich, wo Crime nicht so erfolgreich ist, denke ich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es in Ländern wie Mexiko oder El Salvador, in denen die Gewalt grassiert, einen Markt für True Crime gibt. Das Interesse an True Crime ist schon auch ein Wohlstandsphänomen. Je besser es uns geht, desto lieber lassen wir uns in dunkle Ecken entführen. Das war schon bei der antiken Tragödie so: Wir erleben eleos und phobos, Jammern und Schauder, Furcht und Mitleid. Das sind reinigende Affekte. Das hat schon vor mehr als 2000 Jahren funktioniert, und es funktioniert umso besser, je mehr die Menschen Zeit und Muße haben, über sich selbst nachzudenken.

Aber wie weit darf man gehen, um dieses Unterhaltungsbedürfnis zu bedienen und auch zu monetarisieren? Ich zitiere noch einmal Margarete Stokowski: „Der preisgekrönte Podcast ,Zeit Verbrechen‘ tut faktisch das Gleiche wie die trashigen Formate: Aus realem Leid werden Unterhaltung und Profit geschaffen“.  „Zeit Verbrechen“ wirbt mit dem Slogan „Faszination Verbrechen“. Darf Verbrechen faszinieren und verkauft werden?

Zunächst einmal: Unser Podcast ist zwar preisgekrönt, aber kostenlos. Und dann: Ist es nicht faszinierend, wenn ein Mann jahrelang seiner Familie vorgaukelt, er sei ein Ingenieur bei Audi, der jeden Morgen brav zur Arbeit fährt – und in Wahrheit überfällt er 13 Jahre lang Banken? Wir können über Vokabeln streiten, aber als neugieriger Mensch ist für mich letztlich jeder Bereich im gesellschaftlichen Leben und auch jeder Bereich in einer Zeitung faszinierend, sonst würden die Leute es ja nicht lesen oder hören. Ich mache diesen Job wirklich nicht, um Frau Stokowski zu gefallen. Die kann das gerne blöd finden, und das dürfen gern auch alle anderen, die uns nicht hören oder lesen. Ich halte Kriminalberichterstattung für sehr wichtig in einem Land. Journalismus ist ein Supermarkt. Da gehst du ja auch nicht rein und kaufst alles, was angeboten wird, sondern nur, was dich interessiert.

,,Ich glaube, es gibt nichts Schwereres und Anstrengenderes für Journalisten als die Kriminalreportage."

Daniel Müller
Sie treten gegen Eintritt bei Live-Veranstaltungen auf, kürzlich etwa in Wien. Es gibt ein „Zeit Verbrechen“-Kartenspiel, es gibt einen „Zeit Verbrechen“-Adventskalender. Verbrechen hinterlassen Opfer, die Leid erfahren – haben wir es hier mit einer Kommerzialisierung des Leids zu tun?

Die Frage ist absolut berechtigt, und wir stellen sie uns natürlich auch selbst. Immer wieder und bei jedem Produkt, das wir herausgeben. Und ich kann Ihnen eines sagen: 90 Prozent der Ideen, die an uns herangetragen werden, lassen wir bleiben. Aber was ist verwerflich an einem Adventskalender, in dem der Raub einer Riesengoldmünze aus dem Berliner Bode-Museum in 24 Schritten erzählt wird?

Sie sind der Chefredakteur, Sie müssen für alle Produkte mit dem Etikett „Zeit Verbrechen“ in der Öffentlichkeit geradestehen.

Ich bin der Chefredakteur des Magazins. Den Podcast betreibt Frau Rückert. Wir können beide für unser Produkt geradestehen, weil wir sehr sorgfältig vorgehen – und immer wieder neu entscheiden. Bringen wir ein Buch heraus, dann stehen darin Fälle, die wir auch in Magazin oder Podcast erörtern. Es ist eine Erweiterung der Darstellung um Hintergrundmaterial oder Aktenauszüge für Leser:innen, die noch tiefer eintauchen wollen. Wenn wir einen Adventskalender machen, der Spielcharakter hat, verwenden wir dafür keine schweren Straftaten. Im zweiten Adventskalender hatten wir jetzt sechs verschiedene Fälle, die alle eher ein bisschen mystisch waren, wo aber niemand zu Schaden kam. Das ist wichtig. Jetzt kann man natürlich darüber streiten, ob man eine Fußmatte braucht, auf der „Zeit Verbrechen“ steht. Oder eine Kaffeetasse mit dem Aufdruck „Zeit Verbrechen“. Aber warum nicht? Wir haben sehr spitze Antennen dafür, das Leid von Menschen nicht zu kommerzialisieren.

Welche Rolle spielen die Opfer und ihre Angehörigen für „Zeit Verbrechen“?

Natürlich eine zentrale Rolle!

Ich meine nicht ihre Rolle für die Berichterstattung, sondern: Wie geht „Zeit Verbrechen“ mit Betroffenen um, deren Geschichten Sie erzählen? Wie nehmen Sie diese Menschen mit, binden sie ein, sorgen sich um sie?

Das ist sehr unterschiedlich. Nehmen wir den Fall des Patientenmörders Niels Högel, der in zwei Kliniken fast 100, möglicherweise gar 200 Menschen getötet hat: Da ist die schiere Anzahl an Opfern und Hinterbliebenen so gewaltig, dass man sie gar nicht alle mitnehmen könnte. Für mich fängt der korrekte Umgang mit Betroffenen bei der Ansprache an. Ich finde, als Kriminalreporter sollte man nie aus der kalten Hand beim Opfer anrufen oder – noch schlimmer – überraschend vor der Tür stehen und sagen: Sie sind doch die, deren Mann umgebracht wurde, wollen wir nicht mal darüber reden? Ich empfehle das gute alte Briefeschreiben. Ein Brief hat den Vorteil, sehr persönlich und trotzdem nicht zu nah und überfallartig zu sein. Ich schreibe Opfern immer Briefe. Es sei denn, ich habe einen Erstkontakt mit einem Anwalt, der sagt, ich vermittle Ihnen jemanden. Manchmal suchen Opfer die Unterstützung seriöser Medien.

Und wie geht es weiter, wenn der Kontakt hergestellt ist und die Opfer Ihnen ihre Geschichte erzählt haben?

In dem Prozess, in dem man so einen Artikel recherchiert, finde ich es gut, wenn man sich auch zwischendurch meldet und sagt: Nicht, dass Sie sich wundern, wir haben ja vor sechs Wochen gesprochen, warum da jetzt noch nichts erschienen ist, es ist eine sehr langwierige und aufwendige Recherche. Wenn man ehrlich erklärt, dass solche Recherchen ihre Zeit brauchen und dass es sogar sein kann, dass am Ende doch nichts daraus wird. Transparenz ist der Schlüssel. Wenn eine Geschichte druckfertig ist, schauen wir uns noch einmal tief in die Augen und fragen: Können wir das so machen, oder verletzen wir damit jemanden? Manchmal lautet die Antwort: Wir müssen da noch nachbessern. Oder warten. Manchmal lautet sie aber auch: Ja, wahrscheinlich verletzen wir damit jemanden, aber wir machen es trotzdem. Weil das gesamtgesellschaftliche Interesse überwiegt.

Kommt es vor, dass Sie fertige Texte Betroffenen vollständig zum Gegenlesen geben oder sie ihnen vorlesen?

Das machen wir grundsätzlich nicht. Herr über den Text bleibt der Autor oder die Autorin und nicht der Protagonist. Aber selbstverständlich lassen wir wörtliche Zitate autorisieren.

Könnten Sie sich vorstellen, besonders belasteten Kriminalitätsopfern möglicherweise Psychologen oder Psychotherapeuten zur Seite zu stellen, so wie es manchmal gefordert wird? Zum Beispiel, wenn ein Journalist für seine Story mit den Betroffenen an den Tatort zurückkehrt?

Wir Journalisten sollten uns nicht einmischen in das Leben von Erwachsenen, indem wir Psychologen mitbringen. Jeder Erwachsene kann selbst entscheiden, ob er mit uns redet oder nicht. Was man aber tun kann als Journalist: Man kann Menschen, mit denen man es zu tun bekommt, nahelegen, sich Hilfe zu holen. Ich habe schon mehrfach mit Personen zusammengesessen und gefragt: Sagen Sie, haben Sie schon mal an einen Psychotherapeuten gedacht? Dann hieß es meistens: Nee, das brauche ich ja nicht. Und ich sagte dann: Ich mache das schon eine Weile, und ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen guttäte. Da gibt es viele Anlaufstellen, an die man sich wenden kann. Den WEISSEN RING zum Beispiel. Ohnehin finde ich es nicht besonders feinfühlig, mit Betroffenen an den Ort etwa einer Vergewaltigung zurückzukehren – und der Journalist schießt noch ein paar Fotos. Das sollte man nicht machen.

So etwas wird aber gemacht – weil es eben um die Story geht.

Es wird gemacht, aber nicht von uns. Natürlich geht es auch bei uns um die Story. Aber nicht um jeden Preis.

Transparenzhinweis:
Der Autor und Daniel Müller kennen sich seit fast zehn Jahren, sie haben u.a. vor Krogmanns Wechsel zum WEISSEN RING im Fall des Klinikmörders Niels Högel zusammengearbeitet. Texte von Krogmann sind auch schon in der „Zeit“ und auf „Zeit online“ erschienen.

Warum „Mordlust“ die Perspektive gewechselt hat

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Warum „Mordlust“ die Perspektive gewechselt hat

Der Podcast „Mordlust“ von Laura Wohlers und Paulina Krasa gehört zu den erfolgreichsten überhaupt. Wie gehen die Journalistinnen in ihrem Format mit Betroffenen um – und wie kann ein Perspektivwechsel gelingen?

Foto: Nico Wöhrle

Es ist ein Kampf ums Überleben. Eine junge Frau muss sich in der eigenen Wohnung gegen einen fremden Angreifer zur Wehr setzen. Gerade so kann sie den besonders schweren Vergewaltigungsversuch des Mannes abwehren. Gerade so schafft sie es, zu überleben – und ringt nun mit den seelischen Folgen. Dass Paulina Krasa und Laura Wohlers von schwerwiegenden und wahren Kriminalfällen wie diesem erzählen, ist nicht ungewöhnlich. Das tun sie in ihrem Podcast „Mordlust“ im Zwei-Wochen-Takt.

Doch in Folge 61, die den Fall der jungen Frau behandelt, gehen sie anders vor als sonst: Sie erzählen die Kriminalgeschichte erstmals aus der Ich-Perspektive, aus der Sicht des Opfers – und setzen sich damit ab vom gängigen Storytelling im True-Crime-Bereich, das Kritiker oft als zu täterfokussiert anprangern. Und bei dem regelmäßig von wahren Fällen erzählt wird, ohne dass Geschädigte eine Wahl haben, ob sie ihre Geschichte öffentlich ausgeleuchtet sehen wollen oder nicht.

Laura Wohlers und Paulina Krasa bemühen sich, opfersensibler vorzugehen. Dazu haben sie schon ein paar Mal Geschichten erzählt, die Kriminalitätsopfer mit ihnen geteilt haben. Bei den Journalistinnen, beide Anfang 30 und privat eng befreundet, hat sich die Sensibilisierung für die Perspektive von Kriminalitätsopfern nach und nach entwickelt. „Wir haben im Laufe unserer Arbeit gemerkt, dass das Rechtsprozedere häufig sehr auf die Täter:innen ausgerichtet ist und die Opfer sich da oft nicht genug repräsentiert sehen“, sagt Laura Wohlers. „Das hatten wir vor dem Podcast natürlich auch noch nicht so auf dem Schirm.“ Wohlers ist bei dem Gespräch in den Berliner Räumlichkeiten des Podcast-Managements digital aus Großbritannien zugeschaltet, sie lebt in London und Berlin. Paulina Krasa lebt ausschließlich in Berlin und ist vor Ort dabei. Das „Mordlust“-Team arbeitet ortsunabhängig.

Christian Solmecke: Was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht

„Mordlust“ gibt es seit fast fünf Jahren. Der Podcast gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten in Deutschland im True-Crime-Bereich. In den Folgen, von denen es bislang 118 gibt, schildern sie sich in der Regel gegenseitig einen Kriminalfall. Sexualisierte Gewalt, Morde, häusliche Gewalt: Die Verbrechen variieren, doch es gibt fast immer ein übergeordnetes Thema. Dazu sind häufig Fachleute zugeschaltet, die das Geschehen einordnen und weitere Hintergründe liefern. In Folge 103 war zum Beispiel Bianca Biwer ihr Gast, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS, sie sprach über das Opferentschädigungsgesetz.

Ins Leben gerufen haben Laura Wohlers und Paulina Krasa den Podcast im Jahr 2018, nachdem beide ihr Volontariat beim Sat.1-Frühstücksfernsehen absolviert hatten – und nur wenige Monate nachdem der ebenfalls beliebte True-Crime-Podcast „Zeit Verbrechen“ an den Start ging. Inspiriert hätten sie damals britische und US-amerikanische Formate, sagt Laura Wohlers. Und weil es so ein Format wie ihres in Deutschland noch nicht gegeben habe, ergänzt Paulina Krasa. Doch entscheidend war für beide die Faszination für True Crime.

Nahlah Saimeh über den „potenziellen Gewalttäter in uns selbst“

„Was machen Verbrechen mit Angehörigen, was mit Opfern? Und warum werden Menschen zu Täter:innen?“ Diese Fragen hätten sie sich gestellt, sagt Laura Wohlers. „Die fanden wir total spannend, und dann haben wir überlegt, wie wir ein True-Crime-Format auf die Beine stellen können – trotz unserer Jobs und ohne viele Ressourcen.“

Zunächst waren sie unabhängig unterwegs, bevor sie zwischenzeitlich zu „funk“ wechselten, dem Online-Jugendsender bei ARD und ZDF, und schließlich wieder selbstständig wurden. Auch wenn ihnen die Entscheidung schwergefallen sei, weil sie dort drei gute Jahre gehabt hätten – sie wollten lieber unabhängig sein.

Die Zeit bei den Öffentlich-Rechtlichen habe ihnen inhaltlich sehr geholfen. „Wir haben uns da noch mal ganz anders mit der Verbrechensberichterstattung auseinandergesetzt“, sagt Paulina Krasa. „Und da wurden wir auch sehr sensibilisiert.“ Man müsse beispielsweise nicht erzählen, wie oft ein Täter oder eine Täterin zugestochen hat und wie viel Blut dann auf dem Boden lag, um deutlich zu machen, dass jemand erstochen wurde.„Wir stellen uns bei jedem Fall, den wir erzählen, vor: Wie sehen die Angehörigen oder die Betroffenen selbst das, wenn sie die Geschichte hören? Und dann muss die Geschichte eben ethisch und moralisch gut aufgearbeitet sein.“

Umfrage: Wie gehen True-Crime-Macher:innen mit Betroffenen um?

Den ersten Perspektivwechsel in Folge 61 hätten sie vor allem aus einem Grund vorgenommen: „Es gibt mittlerweile so einen Überschuss an True Crime und ich glaube, da muss man sich immer wieder bewusst machen, dass diese Geschichten wirklich die Schicksale und die Leben von Menschen sind“, sagt Paulina Krasa.  

„Und“, ergänzt Laura Wohlers, „ich finde es auch wichtig, dass wir das immer mal wieder machen, weil es daran erinnert, dass das echte Menschen sind und dass wir mal die Möglichkeit hatten, ganz nah an diese Menschen heranzukommen und sie richtig vorzustellen.“ Sie hätten versucht, die Betroffenen so authentisch wie möglich darzustellen, deren Stimme nachzuahmen, deren Wortwahl zu nutzen. „Wir wollten unseren Hörer:innen klarmachen, was das für Personen sind und was dieses Verbrechen mit ihnen gemacht hat.“

Sie glaubt auch, dass die Geschichten, die reale Frauen mit ihnen geteilt haben, das Bewusstsein ihrer Hörer im Umgang mit Geschädigten schärfen. Etwa, wie jemand sich verhalten kann, wenn ein Verbrechen im eigenen Umfeld passiert. Sich dann zum Beispiel zu fragen, was die Opfer und ihre Angehörigen brauchen.

Die Reaktionen auf die Folgen mit dem starken Opferfokus seien jedenfalls sehr positiv ausgefallen. Das zeigt auch die Nachricht einer der Betroffenen: Darin bedankt sich die Frau sehr herzlich bei den Podcasterinnen; deren Arbeit und die vielen Rückmeldungen hätten ihr Kraft gegeben. „Wir haben noch nie von Opfern oder Angehörigengespiegelt bekommen, dass ihnen etwas zu doll gewesen sei“, sagt Paulina Krasa.

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„Mordlust“ erzählt ausnahmslos Fälle, zu denen es bereits ein Gerichtsurteil gibt. „Ganz oft melden sich Leute bei uns, die Opfer eines Verbrechens wurden, das aber nie verurteilt wurde“, sagt Paulina Krasa. „All diese Fälle können wir leider nicht erzählen, weil wir dann nichts zum Gegenchecken hätten. Und wir uns nur auf die Erzählungen des Opfers berufen würden.“ Sie wollen ihre Geschichten belegen können.

„Generell, auch wenn wir nicht in jeder Folge eine Geschichte aus Opfersicht erzählen, gilt bei uns das Credo, dass die Opfer und Angehörigen viel Raum bekommen sollen“, sagt Laura Wohlers. „Dass der Täter oder die Täterin bei uns in die Mitte der Geschichte gestellt wird – das versuchen wir zu vermeiden.“

Bei der Auswahl der Themen wollen sie sich dagegen nicht beschränken. Für manche sei etwa Kindesmissbrauch unerträglich. Sie seien auch schon gefragt worden, ob das denn sein müsse. Aber, fragt Wohlers: „Wenn wir nicht über Kindesmissbrauch sprechen, wer spricht denn dann über Kindesmissbrauch?“

Um die Folgen vorzubereiten, brauchen sie in der Regel die zwei Wochen, die zwischen den Veröffentlichungsterminen liegen. „Es kommt natürlich immer darauf an, wie ausführlich die Quellenlage ist“, sagt Wohlers. Zunächst diskutieren sie das Thema, dann schreiben sie die Geschichten und nehmen auf, ehe sie sich dann die Aufnahme zusammen anhören. Nie, sagt sie, werde eine Geschichte veröffentlicht werden, die sie nicht vorher noch mal beide gehört und abgenommen haben. Denn natürlich, sagt sie, machen sie auch Fehler. In der Vergangenheit hätten sie etwa Begriffe benutzt, die sie heute nicht mehr verwenden würden, weil sie unsensibel waren. Da bekämen sie viele gute Hinweise aus ihrer Community. „Wir sind offen für konstruktive Kritik“, sagt Wohlers.

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Ihre Hörerschaft ist zu 75 bis 80 Prozent weiblich. Das geht aus den Statistiken von Analyseplattformen hervor. Aus eigener Umfrage wissen sie zudem, dass viele ihrer Hörerinnen sich sehr für die Psyche der Täter interessieren. Zum einen, weil deren Leben oft so weit entfernt von ihrem eigenen sei. Zum anderen, weil viele sich die Frage stellten, wie sie sich auf eine potenziell bedrohliche Situation vorbereiten können. „Das fanden wir spannend, weil ich im ersten Moment ein bisschen irritiert war von der Vorstellung, dass man sich Verbrechen anhört, um dann selbst für einen solchen Fall Verhaltensanweisungen herauszuhören“, sagt Paulina Krasa. „Aber tatsächlich ist das ja ein Thema, das viele Frauen beschäftigt: Dass sie, wenn sie beispielsweise abends allein nach Hause gehen, immer den Hintergedanken haben: Eventuell könnte mir jetzt hier was passieren.“

Kritiker werfen True-Crime-Formaten hingegen vor, dass sie auch Voyeurismus bedienen und zur Unterhaltung gehört werden. Krasa kann diese Kritik nachvollziehen. Sie sagt aber: Für Menschen, die solche Geschichten hören, um sich von der Couch aus zu gruseln, produzierten sie ihren Podcast nicht. Sie selbst konsumiere True-Crime-Podcasts nicht in dieser Weise. „Aber ich kann ja nicht ändern, mit welchen Hintergedanken Leute sich die Folgen anhören“, sagt sie.

Johann Scheerer: „Befriedigung einer Schaulustigen-Mentalität“

Klar sei ihnen auch, dass die Fallauswahl dazu beitragen kann, die Realität zu verzerren. „Ich weiß, laut Statistik erfahren Männer öfter Gewalt als Frauen, und zwar vor allem von Männern“, sagt Laura Wohlers. Sie hätten das auch schon häufiger im Podcast thematisiert. Dass Gewalt gegen Männer seltener zum Thema wird, hängt ihrer Meinung nach insbesondere damit zusammen, dass männliche Opfer wegen des vorherrschenden Männlichkeitsbildes und aus Angst vor gesellschaftlicherr Stigmatisierung ein größeres Schamgefühl hätten und sich deshalb seltener öffentlich äußern.

Mehr Angst vor Verbrechen haben Wohlers und Krasa durch ihre Arbeit nicht entwickelt, sagen sie. „Weil wir die Statistiken kennen und wissen, dass es so unwahrscheinlich ist, dass ich, wenn ich auf der Straße unterwegs bin, nachts von einem Fremden aus dem Gebüsch angefallen werde“, sagt Laura Wohlers.

In jedem Fall wollen sie ihre Arbeit noch eine Weile fortsetzen. „Wir haben früher immer gesagt, wir machen das fünf Jahre, und das wäre dieses Jahr. Doch das möchten wir auf keinen Fall wahr werden lassen. Ich würde sagen, jetzt machen wir noch fünf Jahre weiter“, prognostiziert Paulina Krasa.

Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“

Für sie sei es wichtig aufzeigen zu können, was im Rechtssystem noch nicht richtig laufe, sagt Laura Wohlers. Auch wenn die Podcasterinnen, wie sie betonen, insgesamt sehr überzeugt seien vom deutschen Rechtssystem. Außerdem könnten sie durch das Sichtbarmachen von Missständen Leuten das Gefühl geben, etwas bewegen zu können. Häufiger schon hätten sie Nachrichten bekommen von Menschen, die sich erst durch den Podcast anzuzeigen getraut hätten, was ihnen angetan wurde, sagt Paulina Krasa.

Und solange die beiden das Gefühl haben, mit dem Podcast etwas bewirken zu können, wollen sie weitermachen.