„Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen“

Erstellt am: Mittwoch, 5. Februar 2025 von Sabine

„Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen“

Der ungelöste Mord an ihrer Tochter Frauke beschäftigt Ingrid Liebs seit dem Jahr 2006. All die Jahre über war sie in verschiedenen Medien und True-Crime-Formaten präsent, vertraute fremden Menschen immer wieder ihre Geschichte an und betrieb eine eigene Internetseite zu dem Fall, „ihrem“ Fall. Sie war überzeugt: „Ich brauche die Öffentlichkeit.“ Das hat sich geändert. Hier erzählt die 72-Jährige, warum sie sich heute völlig zurückgezogen hat.

Foto: Christian Ahlers

„Letztes Jahr im Herbst, am 4. Oktober 2023, habe ich die Webseite für Hinweise zum Mord offline genommen. Es war genau der Tag, an dem Frauke im Jahr 2006 gefunden worden war. Das heißt, es war eine Art Jahrestag. Den Schritt hatte ich entsprechend groß in der regionalen Presse angekündigt und bin gefragt worden, ob ich mir das gut überlegt hätte, weil ich dann ja keine Hinweise mehr bekommen würde. Daraufhin habe ich noch ein Interview gegeben, in dem ich erklärt habe, dass sich jetzt nur noch Betreffende, die etwas wissen, oder derjenige, der es getan hat, melden können, so dass dann Polizei und Staatsanwaltschaft reagieren müssen. Ich hatte das Gefühl, alles getan zu haben, was ich tun kann, und dass meine Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Nach der Abschaltung habe ich gemerkt, dass es mir sehr guttut, Abstand zu gewinnen. Ich habe Luft holen und mich wieder ein bisschen sortieren können.

Ich hatte tatsächlich sehr lange überlegt, bevor ich mich zurückgezogen habe. Die Öffentlichkeit, das hat was mit mir gemacht, habe ich gemerkt. Es sind zum Teil furchtbar abgedrehte Leute, die sich melden. Eine Frau schickte mir bestimmt 80 Nachrichten über die Webseite und behauptete, sie wäre dabei gewesen, als Frauke getötet wurde, und schilderte schreckliche Details. Aber im Laufe der Zeit merkte ich, dass diese Frau sich das nur ausgedacht hatte und die Schilderung nicht mit nachweisbaren Fakten übereinstimmte. Da sie keine E-Mail angab, unter der ich sie kontaktieren konnte, war ein Stopp erst mit der Abschaltung der Webseite gegeben. So etwas geht an die Substanz. Aber das betrifft auch gut gemeinte Hinweise. Zum Beispiel kam, kurz bevor ich die Webseite abgeschaltet habe, ein Video von einem sogenannten Lost Place rein, einem verlassenen Haus, wo in einem Zimmer Folterinstrumente aufgebaut waren. Es schien zunächst, als könnte der Standort des Hauses zum Fall passen, deshalb habe ich mir das Video genauer angesehen. Also – das war ziemlich grauslich. An so was kaue ich dann ein paar Tage.

Was die Polizei mit dem Video gemacht hat, weiß ich nicht. Dort ist Fraukes Fall im Herbst vergangenen Jahres in die Cold-Case-Abteilung gewechselt, wo Tötungsdelikte landen, die ja nicht verjähren, wenn sie nach längerer Zeit nicht gelöst wurden. Das finde ich in Ordnung, der aktuelle Leiter der Abteilung gilt als kompetent, verlässlich und menschlich in Ordnung. Und vom Staatsanwalt habe ich zwischenzeitlich ein Schreiben erhalten, dass weiterhin Hinweise entgegengenommen werden.

Auch wenn ich mich zurückgezogen habe – im Internet wird weiterhin diskutiert. Für manche Leute scheint es ein Hobby zu sein, in Foren über True-Crime-Fälle zu spekulieren oder sich etwas dazu auszudenken. Ich gehe zwar immer noch davon aus, dass es Mitwisser des Mordes gibt, die sich auch in solchen Foren bewegen. Aber ich selbst gehe da nicht rein, es steht so viel erfundener Unsinn darin, dass mich das nur aufregt, deshalb sind Foren für mich tabu. Es gibt ja Leute, die sich daran erfreuen, wenn sie andere beunruhigen. Es tut mir gut, dass ich den ganzen Mist nicht mehr lese. Wenn etwas Wichtiges oder Auffälliges geschrieben wird, kommt das immer noch bei mir an, weil es Menschen gibt, die mich darauf aufmerksam machen. Das ist dann in Ordnung für mich.

Ich habe zwar aufgehört, aktiv zu suchen. Aber das heißt nicht, dass ich überhaupt nichts mehr mit Frauke zu tun habe. Ich bin offensichtlich an vielen Stellen bekannt wie ein bunter Hund und bekomme immer noch mal direkt Informationen von Fremden. Etliche haben herausgefunden, dass ich hier in Minden-Lübbecke die Außenstelle des WEISSEN RINGS leite, und daher erreichen mich auch über mein Vereins-Engagement Hinweise. Gelegentlich eine Mail oder einen Anruf zu bekommen, das ist für mich auch in Ordnung. Wenn ich allerdings merke, dass jemand Unsinn redet, breche ich das Gespräch sofort ab und sage ganz deutlich, dass mit ausgedachten Behauptungen und Vermutungen niemandem geholfen ist und man Betroffene damit nicht behelligen sollte. So eine Reaktion hätte ich mir früher nicht zugetraut, das musste ich im Laufe der Zeit erst lernen. Durch den Abstand, den ich seit der Abschaltung der Webseite gewonnen habe, kann ich solche Kontaktaufnahmen mittlerweile ein bisschen gelassener hinnehmen.

Derartige „Hinweise“ von Privatpersonen sind ganz sicher eine der negativen Auswirkungen meines früheren Mitwirkens an True-Crime-Formaten. Das muss man wohl in Kauf nehmen, wenn man in die Öffentlichkeit geht und Hinweise erhalten möchte. Damals war das für mich richtig, weil ich das Gefühl hatte, ich tue alles, um dabei zu helfen, den Fall aufzuklären, und auch, um unter Umständen Druck bei Ermittlungsbehörden zu machen.

,,Dass ich nicht mehr aktiv suche, heißt übrigens nicht, dass ich keine Fragen mehr habe zu dem Fall."

Ingrid Liebs

Aus heutiger Sicht wäre mein Appell, sich nur dann bei Opfern zu melden, wenn man Informationen hat, die wahr und nachprüfbar sind. Und man muss bereit sein, sich nicht hinter einer Anonymität zu verstecken. Nach diesen Kriterien darf mich jeder kontaktieren, und dann setze ich mich mit Hinweisen auseinander. Wenn diese Kriterien jedoch nicht erfüllt sind, ist es unverantwortlich, Opfer zu kontaktieren, man sollte es dann einfach sein lassen. Das erspart den Betroffenen Zeit und Unruhe, denn jeder Hinweis führt dazu, dass  man sich damit beschäftigt, und bis man schließlich herausgefunden hat, dass gar nichts dahintersteckt, geht es einem vielleicht gar nicht gut.

Dass ich nicht mehr aktiv suche, heißt übrigens nicht, dass ich keine Fragen mehr habe zu dem Fall. Die sind nach wie vor da. Zum Beispiel im rechtsmedizinischen Bereich, weil ich nicht sicher bin, ob da alles gut gelaufen ist, denn ich musste entdecken, dass die Untersuchung mancher Dinge ursprünglich vergessen wurde. Demnächst habe ich daher zum Beispiel ein Treffen mit einem bekannten Forensiker. Mal schauen, ob sich dabei ein paar meiner Fragen klären lassen.

Es stand mal im Raum, dass er eine große Pressekampagne mit mir machen wollte. Aber ich habe Nein gesagt, das will ich nicht, solange es nichts wirklich Neues gibt, etwas, bei dem es Erfolgsaussichten darauf gibt, in Fraukes Fall weiterzukommen. Ich habe nach wie vor einen Anwalt, den ich auch behalte. Wenn der Fall aufgeklärt würde, würde ich bei einem Gerichtsprozess mit ihm in die Nebenklage gehen.

Im Frühjahr 2023 hatte ich gefordert, dass Medienleute empathischer und sensibler sein sollten, wenn sie an Opfer herantreten. Die Anfragen, die ich seitdem erhalten habe, waren in der Art der Ansprache in Ordnung, wobei es natürlich schwer zu sagen ist, ob es einen direkten Zusammenhang gibt. In der Regel kamen die Anfragen per Mail, das ist mir auch am liebsten, weil ich dann Zeit habe, sie in Ruhe zu lesen, zu reflektieren und auch meine Worte in Ruhe zu wählen, mit denen ich darauf gut überlegt und differenziert reagiere, wie ich die Absage vernünftig verpacke. Ich will ja die Menschen, die mich anfragen, nicht vor den Kopf stoßen. Aber ich will schon klar vermitteln, dass es für mich im Moment keinen Anlass gibt, in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Es sei denn, es ergibt sich ein ganz neuer, erfolgversprechender Ermittlungsansatz, irgendetwas Handfestes, bei dem ich eine substanzielle Chance sehe, dass ich zur Aufklärung beitragen kann. Dann wäre ich bereit, noch mal in der Öffentlichkeit aufzutreten und diese zu nutzen.

Ich schaue heute ab und zu mal einen Krimi im Fernsehen, aber das ist in der Regel ja Fiktion. True-Crime-Podcasts höre ich grundsätzlich nicht und gucke auch keine Filme aus diesem Genre. Daran habe ich einfach kein Interesse mehr. Ich habe genug eigene Erfahrungen gemacht. Ich kann niemanden daran hindern, Fraukes Fall aufzugreifen. Aber ich gebe keine Interviews und gehe nicht vor die Kamera, um irgendjemandem ein tolles Fernsehprogramm oder eine tolle Zeitung zu liefern oder um das Thema so am Köcheln zu halten, obwohl es nichts Neues gibt. Denn was soll das bringen? Ich bin nicht dafür da, dass andere an meinem Unglück Geld verdienen.“

Zum Weiterlesen: Die Geschichte aus dem Jahr 2023

Für unser Titelthema „True Crime – Wa(h)re Verbrechen“ sprach unsere Redakteurin Nina Lenhardt Anfang 2023 mit der ehemaligen Schuldirektorin Ingrid Liebs, deren Tochter Frauke im Jahr 2006 ermordet wurde. Der Fall ist bis heute ungelöst. Liebs beschrieb, dass sie als Betroffene auf Antwortsuche Öffentlichkeit benötige und die Zusammenarbeit mit Medien deshalb als „Win-win-Situation“ ansehe.

Ein Foto von Ingrid Liebs. Sie trägt eine Brille, kariertes Hemd und eine dunkelblaue Strickjacke.

Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“

Ingrid Liebs verlor ihre Tochter Frauke durch einen Mord, der bis heute ungeklärt ist. Die 70-Jährige hat mehreren True-Crime-Formaten Interviews gegeben. Was bewegt sie dazu?

Transparenzhinweis:
Ingrid Liebs ist ehrenamtliche Mitarbeiterin des WEISSEN RINGS. Seit Januar 2020 leitet sie die Außenstelle Minden-Lübbecke des Vereins.

True Crime mit Mehrwert

Erstellt am: Freitag, 7. Juni 2024 von Torben

True Crime mit Mehrwert

Ein argloses Opfer, ein grausamer Täter, ein Mord: Die Zutaten von „Just no!“ klingen nach True-Crime-Standardware. Doch der Podcast setzt dort Maßstäbe, wo die meisten Genre-Formate versagen – im sensiblen Umgang mit den Betroffenen, in Aufklärung und Prävention. Ein Werkstattbesuch beim NDR in Hamburg.

Foto: NDR (2024)

„Sophie hat nichts falsch gemacht, gar nichts. Sie trifft keinerlei Schuld.“

Diese Feststellung der Journalistin Anouk Schollähn bohrt sich tief ins Gedächtnis. Auch lange nach Ende der vier Stunden, in denen sie und ihr Team die traurige Geschichte von Sophie erzählen – einer jungen Frau, die von ihrem Stalker ermordet wurde.

Die Erzählung, das ist „Just no! Der Podcast gegen Gewalt von NDR 2 und NDR Kultur“. Ein Podcast, der die Hörer und Hörerinnen in seinen Bann schlägt und doch ganz anders funktioniert als die vielen True-Crime-Formate, denen es vor allem um die Sensation geht. In diesem Podcast geht es um das Opfer. Und dieser Podcast stellt schon im Titel klar, dass Aufklärung und Prävention eine wichtige Rolle spielen werden.

Sophies Geschichte

Im Mittelpunkt der ersten Staffel steht dementsprechend kein Täter, sondern Sophie, das Opfer. Gleich in der ersten Minute erklärt Schollähn die Motivation, warum sie Sophies Geschichte erzählen musste: „Sie hatte das Gefühl, komplett machtlos und wehrlos zu sein, keine Hilfe zu bekommen, und das hat uns sehr beschäftigt.“ In acht Folgen schildert die Autorin das Schicksal der jungen Frau. Und noch viel mehr: Im Podcast spricht sie mit Juristen, Ermittlern, Opferhelferinnen, einem (Anti-)Stalking-Experten. Sie widmet sich den Fragen: Woran erkenne ich Stalking, wann geht das los, was kann ich tun, wo sind Anlaufstellen, wie bekomme ich Hilfe?

Diese Herangehensweise macht „Just no!“ zu einem Beispiel, wie True-Crime-Berichterstattung im besten Sinne aussehen kann.

Treffen in Hamburg

Hamburg-Harvestehude, Rothenbaumchaussee 132. Ein Pförtnerhaus, dahinter durchnummerierte Gebäude: Klinker, Keramik, Glasfronten. Über allem ragt der Turm mit den drei blauen Buchstaben „NDR“. Hier produziert der Norddeutsche Rundfunk sein Hörfunkprogramm, hier arbeitet Anouk Schollähn. Im Konferenzraum schenkt sie frischen Kaffee ein, an den Wänden hängen Goldene Schallplatten und Poster von Popstars hinter Glas: Tim Bendzko, Taylor Swift, Nickelback. NDR 2 heißt eben nicht nur Podcast, sondern auch Musik.

Anouk Schollähn, Radiomoderatorin, TV-Reporterin und Podcast-Macherin: „Wir haben 2015 den ersten True-Crime-Podcast gemacht“, sagt sie, „nach der Vorlage des US-Podcasts ‚Serial‘ von Sarah Koenig, die sich als Erste transparent bei der Arbeit hat zuschauen lassen. Man war bei ihren Recherchen mit dabei, sie hat die Leute mitgenommen, und man konnte im Podcast mithören: Wo scheitert sie? Wo stellt sie sich selbst Fragen?“

Nach dem amerikanischen Vorbild entstand beim NDR der erste „Täter unbekannt“-Podcast, damals mit dem Vermisstenfall Inka Köntges. „2018 haben wir dann einen zweiten Fall gemacht, den Fall Katrin Konert. Außerdem habe ich mir, mit einem Kollegen zusammen, die Görde-Morde nochmal angeschaut. Und irgendwie war klar, mein Weg geht in Richtung True Crime. Dann kam dieser Fall von Sophie – und da war es dann irgendwie anders.“

True Crime – aber nur mit Mehrwert

Es sei zwar schon immer so gewesen, dass sie nur Fälle mit Mehrwert umgesetzt habe, sagt Schollähn, „wo man vielleicht nochmal etwas über vermisste Personen herausfinden kann, wo man vielleicht die Möglichkeit generiert, nochmal Hinweise zu bekommen oder Handlungsempfehlungen zu geben, wie ‚Achtung, da kann es gefährlich werden‘ oder ‚darauf müsst ihr achten‘“. Doch während Schollähn die früheren Fälle nach diesen Kriterien ausgesucht hat, hat der Fall Sophie dann Schollähn ausgesucht.

Anouk Schollähn, geboren 1976 in Offenbach am Main, ist Hörfunk- und TV-Journalistin. Sie arbeitet seit 2002 für NDR 2. Im Herbst 2015 hat sie gemeinsam mit Thomas Ziegler die erste Staffel „NDR 2 – Täter unbekannt“ realisiert. 2019 erschien: „Die Geheimnisse des Totenwaldes“, darin geht es um einen der brutalsten Serienmörder Norddeutschlands. Zudem moderiert sie Buchpräsentationen und Lesungen.

„Durch die True-Crime-Formate hatte ich relativ gute Kontakte zu Polizisten, zu Ermittlern, zu Leuten, die mit solchen Dingen zu tun haben. Und aus diesen Reihen hat mich jemand kurz vor Prozessende im Fall Sophie angerufen und gesagt: ‚Hast du dich mit diesem Fall mal näher beschäftigt?‘“

Der Fall Sophie sorgte in Norddeutschland für großes Aufsehen. Die Medien berichteten erst über den Mord, danach über den Prozess. Schollähns Kontakt sagte weiter, sie müsse sich den Fall unbedingt ansehen, denn das Ausmaß an Stalking mache ihn fassungslos. „Und das habe ich dann auch gemacht. Ich habe erst mit der Polizei gesprochen, ob sie bereit wäre zu sprechen, und habe dann gesagt: ‚Vielen Dank, ich melde mich wieder.‘“ Denn bevor sie der Polizei zusagen würde, wollte sie Kontakt zur Mutter des Opfers aufnehmen.

Die goldene Regel

„Bei uns im Team gibt es eine goldene Regel: Wenn die Familie nicht möchte, dass wir die Geschichte erzählen, dann lassen wir sofort die Finger davon. Denn keiner aus dem Team hat erlebt, dass ein Angehöriger gewaltsam getötet wurde. Diese Situation kann niemand nachvollziehen, der das nicht selbst durchmachen musste“, sagt Anouk Schollähn. „Deswegen ist die Entscheidung der Familie – egal wie sie ausfällt – absolut zu respektieren und nicht verhandelbar.“ Familien müssten darüber aufgeklärt werden, dass möglicherweise ein großes Medien-Echo folgen wird, wenn sie bei einer True-Crime-Produktion mitmachen, „dass es ihnen immer und immer wieder begegnet, dass sie von Nachbarn angesprochen werden, dass sie davon in der Zeitung lesen, dass sie es im Radio hören“.

Im Fall von Sophie war dem Team von Anfang an klar, dass es nicht nur den Fall an sich erzählen möchte, sondern auch über Stalking aufklären. „Das habe ich auch Sophies Mutter erklärt. Wir haben mehrfach telefoniert und uns dann in Dessau getroffen. Da war der Prozess gerade vorbei.“ Vier Stunden dauerten die Aufnahmen. „Das war natürlich ein sehr, sehr intensives Gespräch. Wir haben auch nicht wirklich Pause gemacht, wir haben das durchgezogen. Am Ende haben alle geweint. Der Techniker hat geweint, ich habe geweint, die Mutter hat geweint.“

Tief eingegraben haben sich bei Anouk Schollähn die letzten Sätze von Sophies Mutter: „‚Ich habe kein Kind mehr, und ich habe jetzt keine Aufgabe mehr als Mama.‘ Was soll man da als Interviewende noch sagen? Man kann nichts Tröstendes sagen. Man ist total hilflos. Das ist das Schlimmste, das passieren kann.“

Die Rückfahrt von Dessau ist Schollähn noch sehr präsent. „Wir sind dann raus und ins Auto gestiegen, haben kein Wort gesprochen. Mein Kollege ist einfach losgefahren. Wir haben dann irgendwo ein Stück Wiese gefunden und da eine halbe Stunde angehalten.“

Spannung ohne Tätersuche

Für die Produktion spricht Schollähn nicht nur mit Sophies Mutter, sondern auch mit Sophies Freundinnen und Freunden. Das Bild einer jungen Frau entsteht: Anfang 20, lebensfroh, glücklich, die mit ihrer Zukunft noch so viel vorhatte. Eine Sprachnachricht, die das Team im Podcast verwendet, rundet dieses Bild ab. „Sophie ist nicht nur einfach ein Name oder irgendeine anonyme Figur. Das ist Sophie. Wir sind aber sehr sparsam damit umgegangen, denn das ist natürlich auch eine private Sprachnachricht, und man kann Sophie nicht mehr fragen, ob es okay ist, sie zu verwenden.“

„Just no!“ ist ein Podcast von NDR 2 und NDR Kultur. Die acht Folgen finden sich beispielsweise in der ARD-Audiothek oder bei Streamingdiensten wie Spotify.

Wenn es in einem Podcast nicht vorrangig um den Kriminalfall geht, sondern vor allem um Prävention, dann fällt die klassische True-Crime-Erzählweise weg: die Suche nach dem Mörder, die dunklen Geheimnisse der Betroffenen, die Faszination des Bösen. All das bietet „Just no!“ nicht. Im Gegenteil: Anouk Schollähn verrät schon in der ersten Folge, dass Sophie von Patrick getötet wird, einem ehemaligen Arbeitskollegen. Statt eine Tätersuche nachzuzeichnen, stellt „Just no!“ das Opfer würdevoll vor, nimmt dabei die Hinterbliebenen mit und leistet Aufklärungsarbeit.

Frage an Anouk Schollähn: Wie gelingt so etwas, ohne Spannung einzubüßen?

„Das war ein sehr großes Thema, vor allem in der Folge, in der der Stalking-Experte lange spricht“, antwortet die Journalistin im NDR-Besprechungsraum. „Ich hatte die Länge dieser Folge gesehen und sagte: ‚Das geht gar nicht. Das müssen wir auf jeden Fall kürzen, mindestens um die Hälfte.‘ Doch dann habe ich mir das stundenlang angehört und dachte immer wieder, ich finde nichts, das ich da jetzt rauswerfen kann.“ Die Journalistin bat zwei Kollegen, sich die Folge anzuhören. Sie kürzten gerade mal eine oder zwei Minuten. „Da haben wir gedacht, okay, wenn es so ist, dann ist es so.“ Der Experte erklärt in dieser Folge, wie es ist, wenn man selbst einen Stalking-Drang in sich verspürt, und wo man sich Hilfe suchen kann.

True Crime funktioniert auch ohne Sensationshascherei.

Gefahr Stalking

Seit 2019 steigt die Anzahl der Fälle von Nachstellung in Deutschland an. Stalking kann jeden treffen, überdurchschnittlich oft leiden Frauen darunter. Allein im Jahr 2023 wurden in Deutschland 23.156 Fälle von Stalking angezeigt. Beim WEISSEN RING zählt Stalking zu den drei häufigsten Deliktformen, die Betroffene auf der Suche nach Hilfe angeben – nach Körperverletzung/häuslicher Gewalt und Sexualstraftaten.

Dass Stalking wie in Sophies Fall mit einem Mord endet, ist allerdings die Ausnahme. Im Podcast wird die Tat sehr detailliert beschrieben. Eine Schauspielerin liest Passagen des Urteils vor. Diese Minuten erinnern innerhalb der vier Podcast-Stunden am stärksten an „klassisches“ True Crime.

Noch eine Frage an Anouk Schollähn: War die Schilderung dieser Brutalität in dieser Härte unbedingt notwendig?

Schollähn antwortet, ihr Team habe diese Frage sehr kontrovers diskutiert. „Wir sind uns bis heute nicht einig, aber wir haben die Entscheidung als Team getroffen. Denn wenn man sagen würde, Patrick hat Sophie im Badezimmer getötet, dann ist das etwas anderes als das, was da wirklich passiert ist. Die Passagen im Urteil sind hart und brutal, aber genauso war auch dieser Fall. Auch der Umfang des Stalkings war unglaublich. Diese Vorbereitung, die dieser Täter getroffen hat, ist unfassbar. Um die gesamte Komplexität und Brutalität dieses Falls zu verstehen, haben wir uns dazu entschieden, eins zu eins aus dem Urteil zu zitieren, was da vorgefallen ist.“

Reaktionen auf den Podcast

Der Podcast zeigt, dass True Crime auch unaufgeregt funktionieren kann: mit Empathie, solider Recherche und hilfreichen Tipps. Und das Beste: „Just no!“ hat auch beim Publikum Erfolg. Menschen bedankten sich beim NDR, dafür dass der Sender das Thema aufgegriffen hat. Andere erzählten ihre eigene Stalking-Geschichte. „Das war ein sehr, sehr positives Feedback“, sagt Anouk Schollähn.

Letzte Frage: Wie hat Sophies Mutter auf den Podcast reagiert?

„Ich hatte der Mutter den Link geschickt“, sagt Schollähn, „und dann habe ich zwei sehr unruhige Nächte gehabt, weil sie sich nicht gemeldet hat. Ich dachte: ‚Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Man kann den Podcast dann auch nicht mehr zurückholen.“  Und dann hat sie mir irgendwann ein Foto geschickt, eine Naturaufnahme, und sagte: ‚Hier in dieser Umgebung habe ich mir jetzt diesen Podcast angehört, habe viel geweint und finde es gut. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie es so umgesetzt haben.‘ Das war für mich das wichtigste Feedback.“

Wie eine Hamburger Kommissarin die „Säurefassmorde“ aufklärte, weil sie den Opfern zuhörte

Erstellt am: Mittwoch, 14. Februar 2024 von Juliane

Wie eine Hamburger Kommissarin die „Säurefassmorde“ aufklärte, weil sie den Opfern zuhörte

Vordergründig geht es in „Die Unsichtbaren“ um eine Mordserie. Aber der Film ist sehr viel mehr als ein weiterer True-Crime-Film: Der Hamburger Regisseur Matthias Freier hält ein berührendes Plädoyer für einen sensibleren Umgang mit Verbrechensopfern. Ein Filmtipp aus der Redaktion des WEISSEN RINGS.

Foto: Rejell – Neue Bioskop Television

Wer als junge Filmemacherin, als junger Filmemacher, mit dem Gedanken spielt, einen True-Crime-Fall zu realisieren, der sollte sich die letzten Minuten von „Die Unsichtbaren“ anschauen, immer und immer wieder. Denn der Respekt, mit dem Regisseur Matthias Freier in diesem Film den Angehörigen einer ermordeten Frau begegnet, hat das Zeug, zum Vorbild für das ganze Genre zu werden.

Ein älterer Herr steht in seiner Wohnung, schaut gedankenverloren aus dem offenen Fenster und zieht an einer Zigarette. Es ist der Lebensgefährte des Opfers Annegret B.

Szenenwechsel: Zwei Schwestern räumen Bilderalben und Notizbücher weg, packen sie in eine schmucklose Plastikkiste. Obendrauf: das Foto einer jungen Frau. Es ist eines der letzten Fotos von Annegret B., ihrer Tante.

Noch ein Szenenwechsel: Diese drei Menschen – Thomas, Inga und Svenja – treffen aufeinander, zum ersten Mal in ihrem Leben. Zuerst begrüßt Thomas Inga. Er lacht, wechselt ein paar höfliche Worte mit ihr – und hält dann plötzlich inne. Sein Blick springt zwischen Inga und ihrer Schwester Svenja hin und her, die er gerade erblickt hat. „Das ist ja wirklich … Das ist ja …“. Er zeigt liebevoll auf ihr Gesicht. „Du siehst übrigens Annegret ähnlich.“

Die Schicksalsgemeinschaft

„Die Unsichtbaren“ ist ein leiser Film. Er verzichtet auf schnelle Schnitte und überspitzte Dramaturgie. Das ist ungewöhnlich für ein Genre, in dem es fast immer um Mord und Totschlag geht. Zumindest was das betrifft, ist der Dokumentarfilm von Matthias Freier waschechtes True Crime: Immerhin geht es vordergründig um den Fall des sogenannten „Säurefassmörders“ Lutz R., der im Hamburg der 1980er Jahre zwei Frauen grausam ermordet und ihre Leichen in Fässern mit Salzsäure verscharrt hat. Und doch unterscheidet sich Freiers Film wohltuend von vielen anderen True-Crime-Filmen: „Mir war es wichtig, die Opferperspektive zu zeigen“, sagt der Regisseur. „Ich spreche von einer Schicksalsgemeinschaft, die durch den Fall entstanden ist. Von dieser wollte ich erzählen, weil sie in normalen True-Crime-Formaten keine Stimme bekommt.“

Im Mittelpunkt des Films steht nicht, wie so oft, der Täter, sondern die Frau, die ihn überführt hat: Marianne Atzeroth-Freier, geboren 1946, gestorben 2017, Hamburger Kriminalkommissarin. Sie ist auch die Stiefmutter von Regisseur Matthias Freier, der von ihr liebevoll immer nur als „Janne“ spricht.

Als Janne 1978 zur Hamburger Polizei kommt, gibt es in ihrem Ausbildungsjahrgang 375 Männer – und fünf Frauen. Welche Folgen für die Opfer die oftmals sexistischen Strukturen und männlichen Denkmuster auf die Polizeiarbeit haben können, zeigt sich im Fall Christa S. im Jahr 1991: Die Frau sucht Hilfe bei der Polizei, gibt an, von einem ihr unbekannten Mann in einem Bunker festgehalten worden zu sein. Spuren von körperlicher Gewalt gibt es nicht. Die männlichen Kollegen glauben ihr nicht, nehmen sie verbal in die Mangel, fordern sie auf, die Wahrheit zu sagen. Auch Janne weiß nicht, ob sie Christa S. glauben kann. Doch sie tut etwas, das keiner ihrer Kollegen getan hat: „Ich habe darüber auch nicht nachgedacht. Ich habe ihr nur zugehört. Ich habe es so aufgenommen, wie sie es sagte“, hört man sie auf Tonband sagen. Ihr Gespür hat sie nicht getäuscht.

Die Ermittlungen führen Marianne Atzeroth-Freier auf die Spur von Lutz R., dem Entführer von Christa S., der sich im Mai 1992 wegen dieser Entführung vor Gericht verantworten muss. Während des Prozesses kommt eine Frau auf Janne zu: Sie berichtet ihr, dass ihre Tochter Annegret verschwunden sei, und bittet sie um Hilfe. Außerdem kenne ihre Tochter auch den Angeklagten, fügt die Frau hinzu. Dieser letzte Satz führt zu einer Gedanken-Explosion in Jannes Kopf. Denn noch eine weitere Frau aus dem Bekanntenkreis von Lutz R. gilt als vermisst. Im Film ist Jannes Stimme auf Tonband zu hören: „Dann hatte ich zwei Frauen, die sich nicht kannten, beide aber vermisst waren und die beide Lutz R. kannten.“

Die Polizistin, die sich gegen Widerstände durchsetzt

Mittlerweile ist Janne eine der ersten Frauen in der Hamburger Mordkommission. Sie beginnt in den beiden Fällen zu ermitteln, gegen den Willen ihres Vorgesetzten. Das sei ein Vermisstenfall, bekommt sie zu hören, kein Tötungsdelikt. Also ermittelt sie in ihrer Freizeit. Die Frau, die sich hilfesuchend an sie gewandt hat, wollte sie nicht einfach so im Stich lassen. Jannes unermüdlicher Einsatz und ihre Empathie gegenüber den Opfern führen letzten Endes zur Aufklärung einer der spektakulärsten Mordserien der bundesdeutschen Geschichte.

Regisseur Matthias Freier setzt mit seinem Film nicht nur seiner 2017 verstorbenen Stiefmutter ein Denkmal, sondern hält mit ihm ein Plädoyer für einen sensiblen Umgang mit den Opfern von Straftaten bei Polizei und Medien: „Meine Stiefmutter hat den Fall gelöst, indem sie den Opfern und Angehörigen der Opfer zugehört hat. Ich bin der Meinung, dass wir aus dieser Perspektive mehr lernen können, als wenn wir immer auf den Mörder gucken“, sagt Freier. Er prangert auch toxische Männlichkeit in der Polizeiarbeit an: „Die weiblich konnotierten Eigenschaften wie Empathie, Zuhören und Hilfsbereitschaft gehören einfach mit an den Tisch, wenn es darum geht, Morde aufzuklären.“

Kommissarin Marianne Atzeroth-Freier (Foto: Rejell – Neue Bioskop Television)

Im Film sagt Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Hamburg: „Diese Vertrauensbasis zu schaffen, die hilft dann, alles andere zu bewältigen. Und das ist das, was Frau Atzeroth-Freier gemacht hat. Vertrauensbasis schaffen und nicht nachlassen. Und auf eine gesunde Weise Kontakt halten, ohne sich von Mitleid oder sich von zu viel Nähe auffressen zu lassen. Denn zu viel Nähe bedeutet auch, sie kann nicht mehr handeln, aber sie konnte ja immer handeln.“

Eine der größten filmischen Qualitäten von „Die Unsichtbaren“ ist die Tatsache, wie nah das Publikum der Frau Marianne Atzeroth-Freier kommt. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Tonaufnahmen, auf denen Janne von ihren Erlebnissen und Gedanken während des Falls berichtet. Durch hochwertige Szenen, die mit Schauspielerinnen und Schauspielern nachgestellt worden sind, taucht man ein in den Alltag bundesdeutscher Amtsstuben der frühen 90er-Jahre. Verknüpft wird das mit ausgiebigen und mitunter emotionalen Interviews mit Angehörigen der Ermordeten, wie eben ihren Nichten Inga und Svenja oder ihrem damaligen Lebensgefährten Thomas. „Wir fokussieren nicht auf den Täter und seine Motive, sondern hauptsächlich auf die direkt und indirekt betroffenen Personen wie die Nachkommen der Angehörigen“, sagt Regisseur Freier. „Außerdem haben wir bewusst Rücksicht auf eine mögliche Retraumatisierung der Betroffenen genommen. Wir nutzen das True-Crime-Format nur als Vehikel, um eine Frauen- und Opfergeschichte zu erzählen.“ Die beiden Nichten haben den Film auch vorab gesehen, „um sicherzugehen, dass sie ihn ertragen können, wenn der Film so mit ihnen und ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit geht“.

Ertragen müssen die beiden zum Beispiel die Szene, in der es um die rechtsmedizinischen Aspekte des Falls geht, nachdem die Leichen der Frauen gefunden worden sind. Klaus Püschel, einer der renommiertesten Rechtsmediziner Deutschlands, der damals auch für diesen Fall zuständig war, berichtet über einige grausame Details, die Regisseur Freier nicht weglassen wollte. „Mir war es wichtig, zumindest anzudeuten, was für schreckliche Bilder die SoKo und Janne damals aufgenommen haben. Sie hat das immer etwas runtergespielt, aber die Gerüche und anderen Eindrücke der Leichenteile müssen auch etwas Traumatisierendes gehabt haben. So war es zumindest für mich, und ich war nicht vor Ort und habe ‚nur‘ Videoaufnahmen und Bilder davon gesehen“, erklärt er. Das ist einer der wenigen Momente, in denen sein Film an klassisches True Crime erinnert. Matthias Freier sagt selbst: „Je länger ich Jannes Weg nachgezeichnet habe, umso mehr wurde mir klar, dass ich Lutz R. so wenig Bühne wie möglich geben darf.“

Die Opfer bekommen Zeit und Raum

Der Dokumentarfilm „Die Unsichtbaren“ ist in zwei Jahren reiner Produktionszeit entstanden. „Aber die Vorarbeit hat 20 Jahre gedauert“, sagt Freier. Diese Vorarbeit ist im Film deutlich zu spüren. Insgesamt verlangt er dem Zuschauenden einiges ab, seelisch wie intellektuell. Das Leid der Ermordeten und ihrer Angehörigen trifft ihn umso mehr, weil sie nicht einfach als „Opfer“ abgetan werden, sondern Zeit und Raum bekommen, um als Mensch zu erscheinen. Gleichzeitig erfordert der rund eineinhalbstündige Film Konzentration, denn die Komplexität der Ermittlungen wird hier nur bedingt einer mainstream-tauglichen Dramaturgie geopfert.

Der Film nimmt sich Zeit und schenkt diese seinen Protagonisten, allen voran Marianne Atzeroth-Freier. Das letzte Bild des Films: „Es ist das herzhafte Lachen von Janne, dass ich immer noch im Ohr habe“, sagt Regisseur Freier. „Das hat allerdings Andreas Lohmeyer, ein Kollege meiner Stiefmutter, in den 90ern gedreht.“ Sein Film ist ein emotional aufwühlendes Beispiel dafür, dass True Crime und Filmkunst keine Gegensätze sein müssen.

Wie ein TV-Beitrag fast 20 Jahre nach dem Mord Angehörige erschütterte

Erstellt am: Montag, 16. Oktober 2023 von Karsten

Wie ein TV-Beitrag fast 20 Jahre nach dem Mord Angehörige erschütterte

Fast 20 Jahre nach dem Mord an einer Frau zeigt das ZDF einen True-Crime-Film über den Fall. Die überraschten Angehörigen sind empört und fragen: Darf der Sender das?

Foto: Alexander Lehn

Eine Stadt in Deutschland, im Kern Mittelalter mit Kopfsteinpflaster und Wirtshäusern, drumherum Nachkriegsbeton mit Behörden und Supermärkten. Wenige Zehntausend Menschen leben hier, man kennt und sieht sich. Man redet miteinander, man redet ­übereinander.

Läuft im Fernsehen eine Sendung, in der es um die Stadt geht und um ihre Menschen, dann weiß bald jeder davon.

Kapitel 1: Der Schock

„Unsere Geschichte? Im Fernsehen? Das kann nicht sein!“

Petra Meyer ist fassungslos, als die Anruferin aufgelegt hat. Fast 20 Jahre ist es nun her, dass ihre Schwester ermordet und der Ehemann als Mörder verurteilt wurde. Jetzt soll es im ZDF wieder einen Bericht über den Mord geben? Warum? Sie schaltet den Fernseher an, in der Mediathek findet sie schnell den Beitrag, von dem die Anruferin ihr berichtet hat.

Sie sieht zehn Minuten True Crime: ein „wahres Verbrechen“, spannend aufbereitet mit dräuender Musik. Sie sieht Bilder vom Tatort. Von Blutspritzern auf der Treppe und auf Täterkleidung. Vom Fundort der Toten. Sie sieht einen ehemaligen Staatsanwalt, der im großen Sitzungssaal des Landgerichts daran erinnert, dass der Leichnam „blutverschmiert“ gewesen sei. Petra Meyer sieht Fotos von ihrer Schwester, bei der Hochzeit und lachend an einem Sommertag. Sie sieht … ja, was eigentlich? Sind das tatsächlich die Hände ihrer toten Schwester, die der Täter verunstaltet hatte – ­womöglich, um die Identifizierung des Opfers zu erschweren? Es ist ein Foto aus der Ermittlungsakte, so stark verpixelt, dass nur Menschen mit Hintergrundwissen das Motiv ­erahnen können. Petra Meyer kann es.

#TrueCrimeReport: Die dunkle Seite des Booms

Sie fühlt sich, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegreißen. Sie zittert. Sie ruft ihre Mutter und ihren Bruder an.

,,Unsere Geschichte? Im Fernsehen? Das kann nicht sein!"

Vor wenigen Wochen erst hat die Familie erfahren, dass sich der Täter wieder auf freiem Fuß befindet; seine lebenslange Haftstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Behörden hatten die Familie darüber nicht informiert. Aber in dieser Stadt spricht sich nicht nur eine Fernsehsendung schnell herum, sondern auch eine Mörderentlassung. Im Supermarkt will jemand den Täter gesehen haben, im Baumarkt, in der Innenstadt. Die Anwältin der Familie fragt bei den Behörden nach, die bestätigen die Freilassung. Die Mutter des Opfers bekommt fürchterliche Angst. Sie platziert eine ­Schaufel neben ihrer Haustür; sie will sich verteidigen können, sollte der Mörder ihrer Tochter sie angreifen wollen.

Geschieht ein schlimmes Verbrechen wie der Mord an Petra Meyers Schwester, dann bewegt das die Öffentlichkeit. Es gibt Schlagzeilen: wenn eine Frau verschwindet und gesucht wird, wenn ihr Leichnam gefunden wird, wenn ein Verdächtiger verhaftet wird, wenn ihm der Prozess gemacht wird, wenn er als Täter verurteilt wird. Nach dem Urteilsspruch verschwindet der Fall wieder aus der Öffentlichkeit. Nicht aber aus der Familie des Opfers.

Christian Schertz: „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“

Für die Familie des Opfers geht es nach dem Strafrecht oft weiter mit Zivilrecht und Sozialrecht. Vielleicht ist eine nahe Angehörige wegen einer Traumatisierung nicht mehr arbeitsfähig und benötigt Sozialleistungen. Vielleicht kann sie die Wohnung nicht halten und muss umziehen. Vielleicht hat sie einen Antrag auf Unter­stützung nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt, mit seinen mitunter jahrelangen Verwaltungsakten, psychiatrischen Gutachten und hohen Ablehnungs­quoten. Vielleicht folgt ein Sorgerechtsverfahren um die Kinder, weil eine Mutter gestorben ist und ein Vater im Gefängnis sitzt. Und da ist die Trauerarbeit, eine Mutter, eine Tochter, eine Schwester fehlt. Nur langsam kann so eine Familie das Verbrechen hinter sich lassen, sie muss Schritt um Schritt vorangehen. Mit viel Mühe führt sie fast 20 Jahre später vielleicht wieder ein fast normales Leben.

Dann zeigt das Fernsehen zehn Minuten „True Crime“, und alles ist wieder da.

Kapitel II: Die Wut

Dies ist eine Geschichte, wie sie Verbrechensopfer immer wieder erleben. Anders als im Fernsehbeitrag fehlen hier identifizierbare Details. Die Stadt trägt keinen Namen, die ZDF-­Sendung auch nicht, und Petra Meyer heißt nicht wirklich Petra Meyer. Die Familie möchte nicht erkennbar sein, sie möchte ihr fast normales Leben zurück. Sie möchte aber erzählen, wie es ihr mit dem ZDF-Beitrag ergangen ist. Und sie möchte, dass das ZDF den Beitrag aus der Mediathek nimmt. Deshalb schreiben wir hier ihre Geschichte auf.

Die Familie hat eine sehr engagierte Anwältin, sie betreut die Angehörigen seit dem Mord. Die Anwältin hat Belastendes und Traumatisierendes so gut es geht ferngehalten von der Familie.

Exklusive Datenanalyse: Hauptsache tot

„Ich habe gewusst, dass es solche Fotos wie von den Händen meiner Schwester gibt“, sagt Petra Meyer, „aber ich habe sie nie gesehen.“ Jetzt sah sie die Fotos im Fernsehen. „Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht.“

In der Schule hörten ihre Kinder von dem Film, auch sie fanden ihn schnell in der Mediathek. „Natürlich hatten wir ihnen von dem Mord erzählt“, sagt Petra Meyer, „das ist schließlich ein Teil unserer Familiengeschichte. Aber wir hatten die Details von ihnen ferngehalten.“ Jetzt sahen die Kinder die Details in dem Beitrag. „Mein Sohn wäre am liebsten in die Couch hineingekrochen“, sagt sie.

Vielleicht noch schlimmer ist das Gerede. Die Stadt spricht jetzt wieder über den Mord. Über die Ehe­probleme des Paares und dessen Finanzsorgen, über den rechtskräftig verurteilten Mörder. Man kennt sich in der Stadt, man sieht sich, man redet übereinander: Der Täter hat den Mord damals geleugnet, war er es womöglich doch nicht?

Petra Meyer ist so wütend. Sie fragt: Wie kann das alles sein? Warum darf der ehemalige Staatsanwalt so über unseren Fall sprechen? Weshalb erlaubt das Landgericht Dreharbeiten mit ihm im Sitzungssaal? Wieso darf das ZDF Fotos von Opfern und Angehörigen zeigen? Warum fragt uns keiner? Ist das nicht unsere Geschichte, die hier zur Unterhaltung des ZDF-Publikums spannend aufbereitet wird? Wir sind doch keine Promis!

Kapitel III: Dürfen die das? Fragen und Antworten

Der WEISSE RING fragt beim Landgericht nach. Der Pressesprecher teilt mit, dass das Gericht den ZDF-Beitrag „weder veranlasst, noch inhaltlich unterstützt“ habe; auch sei das Gericht in die Produktion „weder inhaltlich eingebunden“ gewesen, „noch konnte es hierauf inhaltlich Einfluss nehmen“. Der ehemalige Staatsanwalt spreche „als Privat­person“, die Dreharbeiten im großen Sitzungssaal habe die Gerichtsleitung „mangels erkennbarer entgegenstehender Interessen“ genehmigt. Der Presse­sprecher verweist auf Artikel 5 des Grundgesetzes: ­Pressefreiheit.

Das ZDF antwortet auf Nachfrage sehr ausführlich. „Bei spektakulären Straftaten kann auch nach langer Zeit noch ein öffentliches Informationsinteresse an den Taten als solchen bestehen“, schreibt ein Sprecher der verantwortlichen ZDF-Redaktion. „Soweit möglich“ versuchten die mit dem Beitrag befasste Produktionsfirma und die Redaktion, vor Umsetzung eines solchen Beitrags mit Angehörigen in Kontakt zu treten, „was nicht immer gelingt“. Ob es in diesem Fall den Versuch gegeben hat, sagt der Sprecher nicht.

Christian Solmecke erklärt, was True-Crime-Formate dürfen – und was nicht

„Umso höher steht generell die Nichtidentifizierbarkeit etwaiger Opfer im Rahmen der Berichterstattung“, erklärt er. Das Hochzeitsfoto und das Sommertag-Foto der Schwester sind verpixelt worden. Auch das Bild, das mutmaßlich die verunstalteten Hände der Toten zeigt, sei „technisch verfremdet“ worden, „sodass der genaue Bildinhalt nicht erkennbar ist“.

,,Ich wusste gar nicht, wie mir geschieht. Mein Sohn wäre am liebsten in die Couch hineingekrochen."

Das ZDF erklärt: „Das verwendete Foto- und ­Bildmaterial zum Fall wurde ausnahmslos von den Ermittlungs­behörden zur Verfügung gestellt. Eine Genehmigung der Staatsanwaltschaft zur Verwendung liegt vor.“

Noch eine Nachfrage, diesmal bei der Staatsanwaltschaft. Eine Sprecherin erklärt, dass ihre Behörde „weder in den Beitrag involviert“ gewesen sei, „noch war hier der Inhalt, der Umfang oder der Zeitpunkt der Ausstrahlung bekannt“. Und sie schreibt noch etwas: „Seitens der Staatsanwaltschaft wurden die in dem ­Beitrag gezeigten Lichtbilder nicht dem ZDF zur Verfügung gestellt.“ Man habe die Ermittlungsakten „auf entsprechende Anfrage“ lediglich dem ehemaligen Staatsanwalt übersandt, damit dieser sich auf seinen Auftritt als Experte in der geplanten Dokumentation vorbereiten könne.

Hinsichtlich der Genehmigung durch die Staatsan­waltschaft gibt es also einen Widerspruch. Unabhängig davon steht aber fest: Die Familie des Opfers hat keiner­lei Genehmigung erteilt. Mit ihr hat niemand über die geplante Dokumentation gesprochen, das ZDF nicht, das Landgericht nicht, die Staatsanwaltschaft nicht.

#TrueCrimeReportWie gehen True-Crime-Macher:innen mit Betroffenen um?

Noch etwas steht fest: Ermittlungsbehörden arbeiten immer häufiger und durchaus offensiv mit Medien zusammen, das bestätigen ­True-Crime-Journalisten wie Staatsanwaltschaften. Sie tun das aus nachvollziehbaren Gründen. Man möchte „transparent über die Arbeit von Ermittlungsbehörden informieren“, sagt eine Staatsanwältin. Auch das ZDF möchte „hintergründig über die Ermittlungsarbeit“ berichten, so auch im Fall von Petra Meyers Schwester. „Inhaltlich sollte der Beitrag besonders beispielhaft verdeutlichen, welch‘ akribische, intensive und kräftezehrenden Anstrengungen nötig sein können, um mit einer wasserdichten Indizienkette einen nicht geständigen, reuelosen Täter dennoch zu überführen und seiner gerechten Strafe zuzuführen“, erklärt der Sprecher des ZDF.

Braucht man dafür Fotos von der Hochzeit, vom Sommer­tag, von den Händen, vom Tatort und vom Fundort? Zwei rechtliche Fragen bleiben zudem ­unbeantwortet: Dürfen Ermittlungsbehörden oder -beamte solche Fotos weitergeben? Und dürfen Medien diese Fotos veröffentlichen?

Kapitel IV: Recht und Gesetz

Prof. Dr. Christian Schertz ist einer der bekanntesten Medienanwälte in Deutschland, ein Fachmann für das Persönlichkeitsrecht. Er vertrat und vertritt Prominente wie den Showmaster Günther Jauch und den Fußballer ­Christiano Ronaldo, er setzt sich für die Rechte von Betroffenen genauso ein wie für die von Beschuldigten. Nach den Machtmissbrauchs-Vorwürfen gegen ­Ex-„Bild“-Chef Julian Reichelt oder TV-Regisseur ­Dieter Wedel stand er an der Seite der mutmaßlichen Opfer, im Fall der Vorwürfe gegen die Band Rammstein vertritt seine Kanzlei Sänger Till Lindemann.

Auf die Frage, ob Ermittlungsbehörden in Fällen wie dem von Familie Meyer Bildmaterial an Medien weitergeben dürfen, antwortet er: „Nein. Denn da sind Rechte Dritter betroffen.“

Zeit Verbrechen: „Scherben aufkehren, die andere zurücklassen“

Ein einfaches Beispiel für eine Rechtsverletzung ist das Foto des Mordopfers vom Sommertag. Das Bild hat Petra Meyer gemacht, das Urheberrecht liegt bei ihr. Ohne dass sie ihr Einverständnis gegeben hat, darf grundsätzlich keine Ermittlungsbehörde die Veröffentlichung des Fotos für eine True-Crime-Dokumentation genehmigen und kein Fernsehsender das Foto zeigen. Petra Meyer stellte das Foto der Polizei für die Fahndung nach ihrer verschwundenen Schwester zur Verfügung. Für eine andere Verwendung gab sie ihr Einverständnis nicht.

Laut Schertz betreiben Ermittlungsbehörden nach Abschluss des Verfahrens mitunter eine Pressearbeit, die „problematisch“ ist. Um private Fotos wie im Fall von Petra Meyer weiterzugeben, bräuchte es eine Ermächtigungsgrundlage. Für Schertz gibt es nur eine einzige: Fahndungszwecke, etwa die Suche nach einer vermissten Angehörigen. „Ist der Fall abgeschlossen, sehe ich keine Ermächtigungsgrundlage, aber auch sonst keine Berechtigung, Bildmaterial, an dem Rechte Dritter bestehen, an Medien abzugeben oder dies­bezüglich Rechte einzuräumen“, sagt er. Der Fall der toten Schwester ist seit fast 20 Jahren abgeschlossen.

Nach dem Urteilsspruch verschwindet der Fall wieder aus der Öffentlichkeit. Nicht aber aus der Familie des Opfers.

True-Crime-Beiträge können weitere Rechte verletzten, das Recht am eigenen Bild zum Beispiel und das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Das Recht am eigenen Bild erlischt zehn Jahre nach dem Tod, das allgemeine Persönlichkeitsrecht bereits mit dem Tod. Darüber ­hinaus sind aber Verstöße gegen den sogenannten ­postmortalen Achtungsanspruch möglich, der sich aus der in Artikel 1 des Grundgesetzes garantierten Menschen­würde ableitet.

Aber wie ist es, wenn Medien die Fotos von Opfern ­verpixeln und technisch verfremden, so wie es das ZDF im Fall von Petra Meyers Schwester getan hat? Der ­Sprecher der verantwortlichen Redaktion sagt: „Im ­Beitrag selbst wurde penibel darauf geachtet, dass keine identifizierende Berichterstattung stattfindet.“

„Verpixeln ist zumeist ein Alibi“, sagt hingegen Medien­anwalt Schertz. „Solange eine Erkennbarkeit gegeben ist, und sei es auch nur für Angehörige, ist es trotzdem eine Verletzung des Rechts am eigenen Bild. Und allein durch die Benennung des Falls ist eine Erkennbarkeit auch bei gepixelten Bildern gegeben.“

Der Film über Petra Meyers Schwester nennt den Namen der Stadt, den Vornamen von Opfer und Täter und den abgekürzten Nachnamen. Er zeigt das Wohnhaus der Familie und die Straße, an der es steht. In einer Stadt, in der man sich kennt und sieht und übereinander redet, wissen alle, um wen es geht.

Kapitel V: Verletzungen

Petra Meyer ist eine ruhige, höfliche Frau. Wenn sie über den ZDF-Beitrag spricht, rutscht ihr aber doch ein

Kraftausdruck ­heraus, sie schimpft: „Ich fühle mich verarscht!“ Ihrer Mutter gehe es schlecht, die Bilder suchten sie wieder heim. Mit den Bildern seien auch die fast 20 Jahre alten Fragen wieder da: Warum habe ich das alles nicht ­kommen sehen? Warum habe ich nicht eingegriffen? Warum konnte ich meine Tochter nicht retten?

Neulich hat Petra Meyer einen True-Crime-Beitrag im Fernsehen gesehen, es war ein vergleichbarer Fall, es ging um einen Mord. Sie nahm Kontakt zur betroffenen Familie auf. Die Angehörigen waren genauso empört und verletzt wie sie. Niemand hatte mit ihnen über den geplanten Film gesprochen.

„Wenn ich früher so einen Film gesehen habe, dann habe ich oft gedacht: Warum haben die Angehörigen das zugelassen? Jetzt weiß ich: Die haben gar nichts zugelassen, sie wussten nichts davon. Sie werden einfach nicht gefragt.“

Wie ein TV-Beitrag fast 20 Jahre nach dem Mord Angehörige retraumatisierte

#TrueCrimeReport

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Erstellt am: Mittwoch, 9. August 2023 von Juliane

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Wenn es immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über wahre Verbrechen berichten, dann gibt es auch immer mehr Ver­brechensopfer, deren Geschichte öffentlich erzählt wird – und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden. Ein Lage­bericht zu True Crime in Deutschland.

Auf einer roten Fläche ist mit weißen Kopfhörerkabeln ein Männchen gezeichnet. Es sieht aus wie ein Kreidemännchen das man von Tatorten kennt. Die Kopfhörer sollen auf True-Crime-Podcasts anspielen.

Foto: Alexander Lehn

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

#TrueCrimeReport

Sie dachte, das wäre alles kein Problem für sie, der Überfall lag inzwischen fast zehn Jahre zurück: ein Interview für einen True-Crime-Podcast, seriöser Anbieter, der Reporter würde sich per Video zuschalten Sie hatte sich gut vorbereitet, während der Aufzeichnung lagen ihre Notizen neben ihr. Dass es am Anfang Probleme gab mit dem Ton: geschenkt, so etwas kommt eben vor.

Nur kurz fragte sie sich: Warum bin ich eigentlich so nervös? Will ich das hier überhaupt?

Schon rückte der Reporter ins Bild. Er war freundlich und empathisch, einfühlsam stellte er ihr seine Fragen.

Und sie wunderte sich: Wieso gerate ich so ins Stottern? Weshalb fallen mir die richtigen Worte nicht ein?

Als die Aufnahme für den True-Crime-Podcast beendet war, ging es ihr schlecht. Tagsüber lag sie antriebslos auf dem Sofa, nachts konnte sie nicht schlafen, sie hatte endlose Kopfschmerzen. Genauso wie damals, nach dem Raubüberfall im Flensburger Lidl-Markt.

Der Podcast hatte Claudia Gerds zurückgeworfen in Gefühle, die sie längst überwunden glaubte. Es war nicht das Gefühl während des Raubüberfalls selbst: diese Angst, als die Räuber ihr Klebestreifen auf Mund und Augen drückten; als sie ihre Hände mit Panzertape fesselten, als ihr Herz schlug wie nie zuvor. Nein, es waren die Gefühle nach dem Überfall: als sie den Artikel in der Zeitung sah und zusammenbrach. Als sie danach monatelang krank war, Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung, PTBS.

„Das war keine gute Idee mit dem Podcast, oder?“, fragte ihr Mann besorgt.

Kapitel 1.

Wer „True Crime Podcast“ in die Suchmaske von Google eintippt, bekommt 1.440.000 Ergebnisse angezeigt. Bei „True Crime“ (ohne Podcast) sind es sogar 59.400.000 Ergebnisse. True Crime gibt es zum Hören, Sehen und Lesen: im ZDF und bei Netflix, in der Lokalzeitung, als Magazin am Kiosk oder als Sachbuch im Bahnhofshandel. Regelmäßig täglich kommen neue Angebote hinzu, True Crime boomt.

Wenn es aber immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über Verbrechen berichten, dann gibt es zwangsläufig auch immer mehr Verbrechensopfer, deren Geschichten öffentlich erzählt werden und die durch True Crime ein zweites Mal verletzt werden könnten. So wie Claudia Gerds aus Flensburg. „True Crime lädt sich medienethisch betrachtet durchaus eine große Verantwortung auf“, sagt der Medienwissenschaftler Jan Harms, der an der Universität Düsseldorf zu True Crime forscht.

,,Heute präsentieren wir euch eine Wahnsinnsfolge – viel Spaß!"

Begrüßung in einem deutschen Podcast

Wie gehen Medien mit dieser Verantwortung um? Dieser Frage geht die Redaktion WEISSEN RINGS in ihrem True-Crime-Report nach, veröffentlicht auf fast 60 Seiten im Magazin „Forum Opferhilfe“. Unsere Reporter haben dazu Daten erhoben, sie haben mit Wissenschaftlern gesprochen, mit Juristen, Psychologinnen, True-Crime-Machern und natürlich immer wieder mit Kriminalitätsopfern, sie haben prominente Autoren gebeten, Gastbeiträge zu verfassen. Ziel war es, ein mosaikartiges Lagebild zu True Crime in Deutschland zu erstellen.

#TrueCrimeReport: Wie alles begann (Eine Mords-Geschichte)

Die Angehörige eines Mordopfers schilderte ihre Erfahrung mit True Crime in einer Nachricht an den WEISSEN RING so: „Stellen Sie sich vor, man sitzt gemütlich zu Hause am Kaffeetisch, der Fernseher läuft mehr oder weniger nebenbei, und plötzlich sieht man […] Bilder von diesem Mordfall, die man mühsam verdrängt hatte. Alles damals Erlebte ist sofort wieder da und belastet.“ Zwar sei das Gesehene in ihrem Fall „sachlich und wahrheitsgemäß“ dargestellt worden, „aber man steht wieder wochenlang gedanklich in dieser schweren Zeit und erlebt alles wieder und wieder.“

Die Fratze der Tat

Ähnlich beschreibt es Johann Scheerer, Sohn des 1996 entführten Millionärs Jan Philipp Reemtsma und Autor des Buches „Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung“: „Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass man von dieser (Berichterstattung) als Beteiligter vorab gar nichts mitbekommt. Alle paar Jahre gibt es eine Berichterstattung, etwa wenn einer der Täter wegen anderer Sachen vor Gericht steht oder so, dann wird der Entführungsfall immer noch mal komplett nacherzählt. Wenn man dann als Betroffener an einem Sonntag bei einem Kaffee die Zeitung liest, guckt man unvermittelt in die Visage dieses Menschen und damit in die Fratze der Tat. Ich will jetzt nicht über Retraumatisierung sprechen, aber man wird doch für einen Moment aus der Bahn geworfen.“

#TrueCrimeReport: Johann Scheerer über die Schaulustigen-Mentalität

Flensburg im Frühling, ein belebtes Keller-Café am Südermarkt. In einer Nische sitzt Claudia Gerds, 56 Jahre alt: kurze graue Haare, rote Brille, im Gesicht ein gewinnendes Lächeln. „Sie müssen unbedingt diesen leckeren spanischen Kaffee probieren!“, sagt sie. Die Aufzeichnung des True-Crime-Podcasts liegt fünf Monate zurück. „Mir geht es wieder gut“, beteuert sie. Sie arbeitet nicht mehr bei Lidl an der Kasse, „ich wollte mich dem nicht mehr aussetzen“. Sie hat eine neue Stelle: Sie arbeitet jetzt mit beeinträchtigten Menschen, „das ist ein ganz toller Job“.

Den Podcast habe sie sich nie angehört, „das werde ich auch nie“, sagt Claudia Gerds.

Kapitel 2.

True Crime heißt ins Deutsche übersetzt „wahre Verbrechen“. Für Medienhäuser bedeutet True Crime aber auch „Ware Verbrechen“: Mit True Crime, mit Geschichten über Verbrechen, Täter und Opfer, lassen sich Zeitschriften verkaufen und Werbeblöcke. True-Crime-Podcaster verkaufen Eintrittskarten für True-Crime-Tourneen, Verlagshäuser verkaufen Fan-Artikel wie Fußmatten und Adventskalender mit Fällen zum Selberlösen. True Crime boomt in deutschen Medienhäusern, weil es sich gut verkaufen lässt.

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat einen Fragebogen an 305 Lokal- und Regionalzeitungen in Deutschland geschickt. 42 Prozent der Redaktionen, die sich zurückgemeldet haben, gaben an, dass sie bereits regelmäßige True-Crime-Angebote vorhalten. Elf Prozent teilten mit, dass sie entsprechende Angebote planen.

#TrueCrimeReport: Hauptsache tot (Datenanalyse)

Wie viele True-Crime-Filme und -Podcasts es gibt, ist nicht zu zählen. Die Komikerin Carolin Kebekus sagte in ihrer Sendung, als sie vor einem halben Jahr plötzlich ernst wurde und über Frauenmorde und spekulative True-Crime-Podcasts sprach: „Wer bei Spotify ,True Crime‘ eingibt, der findet über 1000 Podcasts.  Also ganze Podcasts, nicht einzelne Folgen! Das heißt, es gibt da mehr als doppelt so viele True-Crime-Podcasts wie Rolling-Stones-Songs!“

Kapitel 3.

Es gibt Verbrechensopfer, die ein eigenes Interesse an True Crime haben. Ingrid Liebs, deren Tochter Frauke 2006 ermordet wurde, sagt: „Ich brauche die Öffentlichkeit.“ Weil der Mörder ihres Kindes auch 17 Jahre nach der Tat noch nicht gefasst ist, wägt sie bei jeder Medienanfrage ganz praktisch ab: „Was bringt mir das? Kann ich daraus eine Win-win-Situation machen? Denn ich mache nicht mit bei diesen Produktionen, weil ich gerne in der Öffentlichkeit stehe. Für mich ist wichtig, dass mein Fall aufgeklärt wird.“ Auch im Fall von Claudia Gerds, die vor zehn Jahren im Flensburger Lidl-Markt überfallen wurde, sind die Täter bis heute auf freiem Fuß. Sie hofft, dass sie noch gefasst werden, und sie möchte dabei mithelfen. Deshalb sprach sie mit dem Podcast-Reporter.

#TrueCrimeReport: Was dürfen True-Crime-Formate – und was nicht?

Der US-Podcast „Serial“ erreichte, dass ein Mordurteil aufgehoben wurde. Der Podcast „Your Own Backyard“ schob neue polizeiliche Ermittlungen in einem Mordfall an, die zu einer Verhaftung führten.

Aber wie oft geht es bei True Crime überhaupt um Aufklärung? Die meisten Podcasts, Fernsehsendungen und Texte erzählen Kriminalfälle nach, die längst abgeschlossen sind. Medienforscher Harms nennt das „sensationalistische Wiederholung“. Den Trend, für Podcasts lange zurückliegende Kriminalfälle aus dem Archiv zu holen, sieht er entsprechend kritisch: „Da ist die Gefahr groß, dass es ausschließlich um die spannende Geschichte und das Erzählen an sich geht.“

#TrueCrimeReport: Perspektivwechsel bei Mordlust

Manche Journalisten betonen auch einen präventiven Effekt von True-Crime-Berichterstattung oder einen erzieherischen. Aber müsste True Crime dann nicht vor allem solche Verbrechen behandeln, mit denen Hörer, Leserinnen und Zuschauer statistisch gesehen am ehesten in Berührung kommen können? Zum Beispiel häusliche Gewalt, Betrug oder Sexualdelikte? Eine Auswertung des WEISSEN RINGS von deutschsprachigen Podcasts zeigt hingegen, dass drei Viertel der Folgen Fälle behandeln, bei denen jemand gewaltsam zu Tode gekommen ist. In der Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts machen sogenannte Straftaten gegen das Leben nur 0,1 Prozent der erfassten Delikte aus.

Kapitel 4.

Dramatische Musik, ein Martinshorn ist zu hören: Folge 21 des True-Crime-Podcasts einer lokalen Tageszeitung in Norddeutschland beim Streamingdienst Spotify. Es geht um den Tod der elfjährigen Lena, ermordet vor zehn Jahren. Zwei Journalisten sprechen über den Fall, einer der beiden hat damals darüber berichtet. Sie erwähnen auch, wie schlecht es den Eltern des kleinen Mädchens immer noch ging, als der Journalist fünf Jahre nach der Tat mit ihnen sprechen durfte, als erster Journalist  in Deutschland überhaupt. Wie es ihnen heute geht, zehn Jahre nach der Tat, erfahren die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht; die Eltern kommen nicht zu Wort.

Doch zunächst die Werbung. Ein Kreuzfahrtriese wirbt auf Spotify für „Highlights am Polarmeer“.

,,Da ist ein bisschen was aus dem Lot geraten."

Prof. Dr. Tanjev Schultz über True Crime

True-Crime-Podcasts heißen „Mord auf Ex“, „Mord im Osten“ oder „Mord im Pott“. True-Crime-Sendungen im Fernsehen tragen Titel wie „Morddeutschland“, „Mördern auf der Spur“ oder „Mordmotiv Liebe“. Zeitungen nennen ihre True-Crime-Angebote je nach Verbreitungsgebiet „Tatort Celle“, „Tatort Niedersachsen“ oder „Tatort Deutschland“.

„Tatort Berlin“, der Podcast des „Tagesspiegels“, liefert laut Eigenwerbung „die spannendsten Kriminalfälle der Hauptstadt“. „Darf’s ein bisserl Mord sein?“, fragt munter ein erfolgreicher österreichischer Podcast im Titel. „Heute präsentieren wir euch eine Wahnsinnsfolge!“, kündigt ein deutscher Podcast an. Und immer wieder wünschen die Moderatoren: „Viel Spaß beim Hören!“ Die Reichweite der True-Crime-Angebote ist enorm: Schon die Videos eines einzelnen YouTube-Kanals wie „Insolito“ kommen auf insgesamt 55 Millionen Aufrufe.

#TrueCrimeReport: Bisher nur Rüge für True-Crime-Formate

Das Interesse an True Crime ist ein „Wohlstandsphänomen“, vermutet Daniel Müller, Chefredakteur des True-Crime-Magazins „Zeit Verbrechen“. „True Crime ist nur da erfolgreich, wo Crime nicht so erfolgreich ist, denke ich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es in Ländern wie Mexiko oder El Salvador, in denen die Gewalt grassiert, einen Markt für True Crime gibt.“

Nutzerdatenanalysen zufolge sind es vor allem Frauen, die sich für True Crime interessieren. Der Podcast „Mordlust“ hat demnach bis zu 80 Prozent weibliche Zuhörerinnen. „Frauen interessieren sich sehr viel mehr für Psychologie und für Motive menschlichen Handelns“, vermutet die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh. Und: „Sie sind in Bezug auf einige wenige Gewaltformen, das betrifft Sexualdelikte und Partnerschaftsgewalt, häufiger Opfer als Männer, und sie sind für emotionale Themen wie Opferleid empfänglicher.“

Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat Instagram-Nutzer nach ihrer Meinung zu True Crime gefragt.

„Ich persönlich empfinde die Art und Weise, wie über real passierte Gewaltverbrechen in den meisten Formaten gesprochen wird, als sehr befremdlich und respektlos“, antwortete eine Nutzerin. „Als Angehöriger ist man traumatisiert und möchte nicht hören, wie ,spannend‘ ein ,Fall‘ ist. Nein. Es ist das reale Schicksal eines Menschen, seiner Familie, seiner Angehörigen und seiner Freunde.“

„Ich lehne True-Crime Formate ab, weil sie mir zu voyeuristisch sind“, schrieb eine zweite Nutzerin. „Man schlachtet die Schicksale echter Menschen für kommerzielle Zwecke aus. Ich finde es außerdem grenzwertig, dass über einen Toten berichtet wird, der nicht mehr sein Einverständnis geben kann, da ich finde, dass die Menschenwürde nicht mit dem Tod endet.“

#TrueCrimeReport: Warum Ingrid Liebs die Öffentlichkeit braucht

Es gibt aber auch Antworten wie von dieser Nutzerin: „Ich bin selbst Gewaltopfer, und ,Zeit Verbrechen‘ hat mir unglaublich bei der Verarbeitung geholfen. Ich habe nun ein besseres Verständnis für die Justiz, die Geschichten anderer Opfer und Täter:innen und letztlich auch für mich.“

Und: „Ich habe durch Zufall meine Geschichte bei einem Podcast gefunden. Diese Geschichte war aber so verfälscht, dass ich lange nicht sicher war, ob es meine war“, berichtete eine vierte Nutzerin. „Mich hat’s sehr entlastet, und ich hab‘ mich nicht mehr so alleine gefühlt, und ich war mir ziemlich sicher, dass niemand meine Geschichte so wiedererkennt …“

Kapitel 5.

Ein ehrenamtlicher Opferhelfer des WEISSEN RINGS aus Hessen sagt, er habe „ausnahmslos schlechte Erfahrungen“ gemacht, wenn Medien Kriminalfälle aufgegriffen hätten: Die Opfer würden nicht einbezogen und häufig nicht einmal gefragt. Das ist natürlich eine Einzelaussage. Nicht repräsentativ sind auch die wenigen Rückmeldungen, die der WEISSE RING von den Redaktionen regionaler Tageszeitungen erhalten hat, die regelmäßig True Crime anbieten. Auf die Frage, ob sie vor True-Crime-Veröffentlichungen mit den Betroffenen in Kontakt treten, meldeten sich nur sechs Redaktionen zurück. Vier von ihnen sprechen nicht mit den Betroffenen, eine gelegentlich. Nur eine gab an, regelmäßig Kontakt aufzunehmen.

Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass ein Teil der Redaktionen für True-Crime-Inhalte tatsächlich auf Archivmaterial zugreift. In Podcasts interviewen sich oft Journalisten gegenseitig, Recherche außerhalb der Redaktion ist dafür nicht notwendig. True Crime ist für Medienhäuser nicht nur attraktiv, weil es sich gut verkaufen lässt. Es lässt sich auch kostengünstig produzieren.

#TrueCrimeReport: Medienanwalt Schertz: „Die Opferrechte bleiben auf der Strecke“

Es geht aber auch anders. Für Daniel Müller, den Chefredakteur des Magazins „Zeit Verbrechen“, gibt es „nichts Schwereres und Anstrengenderes als die Kriminalreportage. Niemand will mit dir reden. Und wer mit dir spricht, will dich vereinnahmen. Man darf nicht alles glauben.“ Natürlich gehe es auch bei „Zeit Verbrechen“ „um die Story“, so Müller. „Aber nicht um jeden Preis.“

Was also darf True Crime, was nicht? Den Rahmen gibt zunächst das Recht vor, allen voran das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Opfern und Täter, dem wiederum das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit entgegenstehen kann. Der Pressekodex, eine freiwillige Selbstverpflichtung, untersagt Journalisten zudem eine „unangemessen sensationelle Darstellung“.

Tanjev Schulz, Professor am Journalistischen Seminar der Gutenberg-Universität Mainz. (Foto: JS Mainz)

Professor Dr. Tanjev Schultz ist Medienethiker am Journalistischen Seminar der Universität Mainz und selbst ein preisgekrönter Journalist. Er hat den Verdacht, dass im True-Crime-Bereich „ein bisschen was aus dem Lot geraten ist“. In Anlehnung an den Pressekodex müssten sich Journalisten vor jeder True-Crime-Berichterstattung neu die Frage stellen, was der Anlass sei, einen Fall aus der Vergangenheit erneut zu erzählen. „Was ist das öffentliche Interesse daran?“, fragt Schultz. „Ein Fahndungsinteresse vielleicht? Wenn der Fall aber nur des Erzählens wegen neu ausgebreitet wird, nur zu Unterhaltungszwecken, dann ist das ein Problem.“ Schultz fragt: „True Crime boomt – welchen gesellschaftlichen Bedarf haben wir daran, den es vor 30 Jahren noch nicht gab?“ Am Ende, so vermutet Schultz, gehe es vor allem um ein Geschäftsmodell.

#TrueCrimeReport: Nahlah Saimeh erklärt, warum True Crime Menschen fasziniert

Eine Lokalzeitung im deutschen Norden berichtet auf einer ganzen Seite über den Mord an der elfjährigen Nelly. Der Reporter erzählt den Fall chronologisch, er beschreibt den weißen Sarg und das Lieblingslied des Kindes, das in der Kirche gespielt wurde. Zehn Fotos zeigen die damaligen Schlagzeilen der Zeitung. Die Berichterstattung endet mit dem Urteil gegen den Mörder im Jahr 1999.

Den Anlass für die Berichterstattung verrät die Zeitung in der Überschrift: „25 Jahre nach dem Mord an ,Nelly‘“. Ein Jahrestag.

Wie Journalistinnen und Journalisten arbeiten sollten

Drei Forderungen an True-Crime-Journalistinnen und -Journalisten lassen sich aus Presserecht, Pressekodex und den Überlegungen von Tanjev Schultz ableiten:

  1. Prüfe, ob es tatsächlich ein öffentliches Interesse gibt, den Fall erneut in die Öffentlichkeit zu bringen!
  2. Setze dich ernsthaft mit dem Thema auseinander, schlachte es nicht aus, betreibe keinen Sensationsjournalismus!
  3. Binde die Betroffenen sensibel mit ein!

Der WEISSE RING hat nicht nur Lokalzeitungen angeschrieben. Er hat auch erfolgreiche überregionale True-Crime-Macherinnen und -Macher gefragt, wie sie bei der Berichterstattung vorgehen und ob sie Opferfamilien mit einbinden. Fünf von ihnen füllten den ausführlichen Fragebogen aus. Die Antworten zum Umgang mit Betroffenen fallen unterschiedlich aus: „Stern Crime“ zum Beispiel kontaktiert sie „meistens“, „Verbrechen von nebenan“ „in einzelnen Fällen“. Die YouTuberin Kati Winter schreibt: „Nein! Ich möchte die Privatsphäre der Opfer und deren Angehöriger wahren und ihnen durch meine Fragen keinen weiteren Schmerz zufügen. […] Ich bin mir der Macht meiner Reichweite sehr bewusst und lege Wert auf eine verantwortungs- und respektvolle Darstellung. […] Daher werden meine Kommentare streng moderiert, um Retraumatisierung, Beleidigungen der Opfer-Familien o.Ä. zu vermeiden, da ich mir bewusst bin, dass gerade bei deutschen Fällen Angehörige jederzeit meine Videos sehen könnten.“

#TrueCrimeReport: Wie halten es True-Crime-Macher mit den Opfern?

Klar ist, dass bereits die Ansprache von Betroffenen Verletzungen auslösen kann. Das gilt für True Crime, das gilt für aktuelle Kriminalitätsberichterstattung, das gilt für die Redaktion des WEISSEN RINGS, wenn sie in ihren Publikationen Opferperspektiven beleuchten möchte.

Daniel Müller von „Zeit Verbrechen“ sagt: „Für mich fängt der korrekte Umgang mit Betroffenen bei der Ansprache an. Ich finde, als Kriminalreporter sollte man nie aus der kalten Hand beim Opfer anrufen oder – noch schlimmer – überraschend vor der Tür stehen und sagen: Sie sind doch die, deren Mann umgebracht wurde, wollen wir nicht mal darüber reden?“ Er empfiehlt „das gute alte Briefeschreiben“.

Kapitel 6.

Im Keller-Café im Flensburg listet Claudia Gerds auf, welche drei Forderungen sie aus ihrer Erfahrung mit dem True-Crime-Podcast ableitet:

  1. Reporter sollten solche Gespräche mit Betroffenen persönlich führen, nicht per Video oder Telefon.
  2. Reporter sollten Betroffenen im Vorfeld die möglichen Fragen zuschicken, damit sie sich auf das Gespräch vorbereiten können.
  3. Wenn Betroffene das Gefühl haben, dass sie das Gespräch lieber doch nicht führen möchten, dürfen sie es jederzeit absagen. Reporter müssen das akzeptieren, egal wie kurzfristig die Absage erfolgt.

Eine Frage noch, Frau Gerds: Hören, schauen, lesen Sie selbst True Crime? Claudia Gerds lacht. „Nur!“, sagt sie. „Ich schaue Dokumentation auf Netflix, ich lese Bücher, ich mag Krimis und Thriller. Ich kann nicht verstehen, warum Menschen anderen Menschen so viel Leid antun.“

Eine Mords-Geschichte

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Juliane

Eine Mords-Geschichte

Woher stammt die Faszination für True Crime? Unser Report zeigt, dass der mediale Boom historischen Vorbildern folgt, deren klassische Erzählweise bis heute aktuell ist. Und dass Medien gleich doppelt von True Crime profitieren: Einerseits bedienen sie mit entsprechenden Angeboten einen überaus populären Trend für hohe Klickzahlen, Quoten und Auflagen, andererseits sparen sie bei der Nacherzählung von ausermittelten Fällen viel Recherche-Zeit.

Am 14. November 1959 ereignete sich im kleinen Holcomb im US-Bundesstaat Kansas ein monströser Mehrfachmord. In dem beschaulichen, von Weizenfeldern umgebenen Ort wurde eine Farmerfamilie mit den Eltern und zwei ihrer vier Kinder in ihrem Wohnhaus getötet. Hinweise auf die Täter fanden sich zunächst nicht.

Der junge Truman Capote hat den aufsehenerregenden Mordfall seinerzeit akribisch recherchiert und zu einem Tatsachenroman verarbeitet, der im Jahr 1966 seinen Durchbruch als Schriftsteller markierte: „In Cold Blood“, die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Kaltblütig“. Mithilfe unterschiedlicher Erzählperspektiven leuchtet Capote das Leben der Opfer aus und erzählt vom entscheidenden Hinweis eines Häftlings im Staatsgefängnis von Kansas, der seinem Zellennachbarn Dick verhängnisvollerweise von seinem Job bei der wohlhabenden Farmerfamilie berichtet hatte. Der Autor schildert den Plan der Straftäter Dick und Perry: Sie wollen die Familie töten und mit reicher Beute, die sie in einem Safe auf der Farm vermuten, in Mexiko ein luxuriöses Leben beginnen.

Schaurige Details

Der Schriftsteller lässt seine Leserschaft die Kriminalermittlung nachempfinden – mit schaurigen Details wie den blutigen Schuhabdrucken am Tatort. Die Lektüre enthüllt, dass die Mörder statt des erhofften Geldsegens gerade mal 50 Dollar erbeuten, bevor sie ihre Opfer töten, um nicht überführt zu werden. Beim Lesen begleitet man die Täter nach Mexiko, wo sich ihr vermeintlicher Sehnsuchtsort als persönliche Hölle erweist, bis das Duo nach einer rastlosen Odyssee in Las Vegas verhaftet wird – der Hinweisgeber hatte sich inzwischen an die Gefängnisleitung gewandt. Schließlich legen die beide Männer ein Geständnis ab.

Capote hat für seinen wahrheitsbasierten Roman zahllose Dokumente wie Tagebuchnotizen, Zeugenaussagen und Briefe ausgewertet und daraus ein vielschichtiges Mosaik zusammengesetzt, das sowohl Krimi als auch Psychogramm und Milieustudie ist.

Mit seinem literarischen Klassiker, der einen echten Mordfall zu einer beklemmenden Erzählung verdichtet, gilt Truman Capote nicht nur als Wegbereiter des sogenannten New Journalism mit einer subjektiven Erzählstimme, die beim Lesen Kopfkino erzeugen soll. Vielmehr ist „Kaltblütig“auch ein Meilenstein des True-Crime-Genres, an dem sich die Medienbranche bis heute handwerklich orientiert. Erstaunlicherweise prägt nämlich ein entscheidendes Stilmittel von Capote das Genre bis heute: die minutiöse Rekonstruktion. Also die detailgenaue Nacherzählung der Tat, beziehungsweise der Mordermittlung, die weitgehend der Chronologie der Ereignisse folgt. Auch die dafür verwendete Montagetechnik, die anhand Dutzender Quellen und Aussagen mosaikartig die Geschichte zusammensetzt, gehört weiterhin zum Standardrepertoire.

Der aktuelle Hype um reale Kriminalfälle, Mörder und Mordermittlungen wird maßgeblich von medialen Transformationsprozessen befeuert. Ohne die Digitalisierung gäbe es keine Streaming-Dienste wie Netflix, die etwa den Kult um Serienmörder mit Serien wie „Dahmer“ weiter anheizen. Ein Kult, der übrigens ebenfalls in einem weltweiten Bucherfolg wurzelt: „Helter Skelter – The true Story oft the Manson Murderers“ aus dem Jahr 1974, in dem der damalige Leitende Staatsanwalt Vincent Bugliosi gemeinsam mit einem Co-Autor minutiös die Suche nach dem Serienmörder Charles Manson rekonstruiert.

Ohne die digitale Revolution gäbe es heutzutage auch keine Podcasts, in denen bisweilen im Plauderton historische Kriminalfälle recycelt werden. Das Medium mag wechseln, aber die beschriebe Urform des Genres ist immer noch aktuell. „Der reale, konventionell erzählte Krimi, wie man ihn hierzulande seit Jahren auf Privatsendern im TV sehen kann, ist zwar nur noch eine von vielen Erzählweisen“, sagt Jan Harms, der am Institut für Medien und Kulturwissenschaft der Universität Düsseldorf zu True Crime forscht. Gleichwohl sei diese „nach wie vor eine dominante Erzählform“.

Dann wird der Mörder vorgestellt

Wie dieser typische Reality-Krimi bis heute medienübergreifend auch im Fernsehen funktioniert, zeigt bespielhaft eine Produktion des Hessischen Rundfunks (HR) aus der Reihe „ARD True Crime“: „Auf den Spuren des eiskalten Szenewirts“. Die Eingangssequenz zeigt Drohnenbilder von einem Flug über Baumwipfel. Schnitt. Ein Mann sagt im Interview: „Ein dahingemetzelter Mensch im hohen Gras.“ Schnitt. Eine Nachrichtensprecherin fragt: „Wer ist die junge, blonde Frau, die im Frankfurter Niddapark aufgefunden wird?“ Schnitt. Eine Polizeibeamtin sagt: „Man sah vielfache Stichverletzungen.“ Später wird ein Foto aus der Ermittlungsakte mit den Füßen einer Frauenleiche eingeblendet. Dazu erklären die Mordermittler in Interviews, welche Schlüsse sie seinerzeit aus dem ungewöhnlichen Verteilmuster des Blutes am Tatort zogen und wie sie bei der Suche nach dem Täter vorgingen. Man erfährt, dass das weibliche Opfer Teilhaberin einer Bar in Frankfurt war. Im Verlauf des Dreiteilers wird dann der Mörder vorgestellt: ein Szene-Wirt und Partner der Ermordeten. Authentische Dreh-Orte, Original-Fotografien und Interview-Sequenzen mit Beteiligten an der Mordermittlung, die von Verhören und Arbeitshypothesen berichten, werden zu einem hochprofessionellen, aber in seiner Machart eben doch konventionellen True-Crime-Krimi montiert.

,,Auffällig ist, dass bei True Crime schon immer die Grenzen zwischen fiktional und non-fiktional fließend waren."

Jan Harms, Medienforscher

Der Dreiteiler ist aufwendig und modern produziert, was etwa Kameraarbeit und rasante Schnitttechnik angeht. Gleichwohl haben Redaktionen mit der Umsetzung solcher Filmstoffe leichtes Spiel. Für die Medien liegt der Reiz von True Crime nämlich nicht nur im attraktiven, quotenstarken Inhalt, sondern auch darin, dass dieser mit einem überschaubaren Aufwand zu realisieren ist: Denn die Ermittlungsakten, die beispielsweise beteiligte Prozess-Anwälte zur Verfügung stellen, servieren den Recherchierenden alle notwenigen Fakten für eine detailgenaue Nacherzählung komprimiert wie auf dem Silbertablett: Informationen über Opfer und Täter, Abläufe, Orte, Beweismittel, forensische Untersuchungsergebnisse, Zeugen. Die Medien profitieren also doppelt von True Crime: Einerseits bedienen sie mit entsprechenden Angeboten einen überaus populären Trend für hohe Klickzahlen, Quoten und Auflagen, andererseits sparen sie bei der Recherche viel Zeit – eine immer knapper werdende redaktionelle Ressource.

Fließende Grenzen zwischen Fiktion und Realität

Bei der Produktion dieser Inhalte ist für Medien die gängige Praxis der Sicherheitsbehörden überaus hilfreich. Staatsanwaltschaften und Polizei geben zwar während laufender Ermittlungen nur spärlich Informationen an die Öffentlichkeit weiter, um Fahndungserfolge nicht zu gefährden. Bei abgeschlossenen Fällen können Mordermittler von Redaktionen und Produktionsfirmen jedoch sehr viel leichter für Interviews gewonnen werden. Auch die Dramaturgie dieser medialen Massenware ist aufgrund des inhaltlichen roten Fadens weitgehend ein Selbstläufer und folgt in der Regel chronologisch der Mordermittlung, ähnlich wie in einem ARD-„Tatort“. „Auffällig ist, dass bei True Crime schon immer die Grenzen zwischen fiktional und non-fiktional fließend waren“, sagt Medienforscher Harms. True Crime bleibe insofern eine unscharfe Kategorie, unter dessen Label sowohl investigative Recherche und Dokumentation als auch dramatisierte Film- und Serienstoffe wie eben „Dahmer“ auf Netflix laufen. Kein Zufall also, dass parallel zum Erfolg realer Kriminalgeschichten auch die Produktion fiktionaler Krimis explodiert ist. Abgründige Verbrechen sind – in welcher medialen Form auch immer – ein Mega-Markt.

Die Ursprünge von True Crime reichen übrigens noch viel weiter zurück als zu Capotes Tatsachenroman „Kaltblütig“. Medienforscher Harms datiert die historischen Vorläufer gar ins frühe 19. Jahrhundert. Seit den 1820er-Jahren erschienen in den USA schnelle, billig produzierte Zeitungen: die sogenannte Penny Press. Im Boulevard-Stil wurden schon in diesen Blättchen spektakuläre Verbrechen nacherzählt. 100 Jahre später, in den 1920er-Jahren, folgten dann Magazine wie „True Detective Mysteries“. „Das kann mit seinen auf wahren Begebenheiten basierenden Detektivgeschichten als früher Vorläufer heutiger Formate gelten“, sagt Harms. „In dieser Zeit wurde auch der Begriff True Crime geprägt.“ In den 1970er- und 1980er-Jahren knüpfen weitere Bucherfolge wie Ann Rules „The Stranger Beside Me“ an Capotes Standardwerk „Kaltblütig“ an. Nach und nach bekam diese erfolgreiche Kriminalliteratur dann durch den Siegeszug des Fernsehens Konkurrenz.

Netflix setzt auf investigative Recherchen

Einen regelrechten Boom löste Ende der 1980er-Jahre die US-Fernsehserie „Unsolved Mysteries“ aus. „Seither wurden Rekonstruktionen realer Kriminalfälle stilprägend“, sagt Harms. Die Kombination von nachgestellten Szenen mit Interviews, in denen Nachbarn und Angehörige zu Wort kommen, wurde nun erstmals in Serie produziert, dramaturgisch angelehnt an fiktionale Polizeiserien. Dadurch konnte das Publikum an vertraute Sehgewohnheiten anknüpfen. Die Sender schöpften dafür aus dem unerschöpflichen Fundus ausermittelter Mordfälle. Der grobe Ablauf einzelner Folgen ist dabei stets identisch: Wie kam es zum Mord, wie wurde dieser begangen, wie wurde der Mörder überführt und verurteilt? „Seit einigen Jahren gibt es aber auch einen neuen Trend: nämlich die offiziellen Darstellungen kritisch zu hinterfragen und wenn möglich sogar zu widerlegen“, erklärt Harms. Der Klassiker dieses neuen Formats ist die Netflix-Produktion „Making a Murderer“. In einigen Fällen, so etwa beim Podcast „Serial“, seien Verurteilte daraufhin tatsächlich freigekommen, so Harms. Solche investigativen Recherchen sind extrem aufwendig und damit auch teuer – weil sie aufklären anstatt aufwärmen. Daher sind sie auch eher Ausnahme als die Regel.

Häufig scheitere das Genre allerdings am eigenen journalistischen Anspruch, befindet Harms. Den Trend, dass neuerdings auch viele Lokalzeitungen eigene Podcasts produzieren, für die sie lange zurückliegende Kriminalfälle aus dem Archiv holen, sieht der Medienforscher jedenfalls kritisch: „Da ist die Gefahr groß, dass es ausschließlich um die spannende Geschichte und das Erzählen an sich geht.“ Der Medienwissenschaftler bezeichnet das als eine „sensationalistische Wiederholung“. Dabei stelle sich schon die Frage, warum diese Nacherzählungen heutzutage noch relevant sein sollten, wenn es doch allein um die Rekonstruktion des Verbrechens und der Ermittlung gehe. „True Crime lädt sich medienethisch betrachtet durchaus eine große Verantwortung auf“, betont Harms. Er sieht die Redaktionen in der Pflicht zu hinterfragen, ob und wann es überhaupt gerechtfertigt ist, bei längst abgeschlossenen Fällen die Namen der Angehörigen oder Unbeteiligter in aktuellen Medienbeiträgen zu verwenden. „Trotz qualitativ hochwertiger Formate gibt es weiterhin kritikwürdige Inhalte, denen man zurecht eine Banalisierung brutaler Gewalt vorwerfen kann“, so Harms. Allzu oft machen Medien aus brutalen Morden lediglich erfolgreiches Entertainment.

,,True Crime lädt sich medienethisch betrachtet durchaus eine große Verantwortung auf."

Jan Harms, Medienforscher

Dass es auch anders geht und True Crime sogar auf gesellschaftliche Missstände hinweisen kann, zeigt die Podcast-Serie „Schwarz-Rot-Blut“. Produziert wird das Hörfunkformat von WDR, Radio Bremen und dem RBB. Die einzelnen Folgen arbeiten deutsche Kriminalfälle auf, bei denen das Tatmotiv Rassismus während der Ermittlungen und vor Gericht ausgeblendet wurde. Ein Beispiel ist der Fall des iranischen Geflüchteten, der im Jahr 1987 in Tübingen von einem Supermarkt-Angestellten so lange zu Boden gepresst und gewürgt wurde, bis er starb. Ein Jahr lang haben investigative Journalistinnen wie Lena Kampf für die siebenteilige Serie recherchiert, um aufzudecken, wie es überhaupt zu unterschiedlichen Bewertungen einer Tat durch Angehörige und Sicherheitsbehörden kommen kann. Immer wieder beklagen nämlich Opferberatungsstellen und Betroffene, dass selbst offenkundiger Rassismus bei Ermittlungen ignoriert oder in Abrede gestellt wird. Die Podcast-Serie zielt demnach auf einen anhaltenden Skandal und ist dadurch hochaktuell. „Solche Ansätze, also beispielsweise rassismuskritische Aufklärungsarbeit über Missstände in der Strafverfolgung, lassen sich seit fünf oder sechs Jahren beobachten“, analysiert Harmes.

Komplexe Wirtschaftskrimis

Kritische Recherchen zu fragwürdigen Ermittlungsergebnissen nehmen die journalistische Wächterfunktion wahr und tragen im besten Fall sogar zu einer erhöhten gesellschaftlichen Sensibilität bei. True Crime kann also mehr als ein kalkulierter Nervenkitzel mit schaurigen Zutaten aus der Wirklichkeit sein. Mittlerweile nutzen Medien das populäre Etikett sogar, um komplexe Stoffe abseits von Mord und Totschlag publikumswirksam zu erzählen. So bereitet die Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ den Skandal um den Finanzkonzern Wirecard mit dem Podcast „Handelsblatt Crime“ als Wirtschaftskrimi auf – um auf diese Weise auch jene zu erreichen, denen Wirtschaft ansonsten zu trocken und kompliziert scheint.

In den vergangenen Jahren hat sich das Genre immer weiter ausdifferenziert. Einerseits bleibt zwar der chronologisch nacherzählte Reality-Krimi sowohl in gedruckten Magazinen wie “Stern Crime“ als auch in Podcast- und TV-Serien ein erfolgreicher Dauerbrenner. Andererseits wechseln beständig Modetrends rund um die Themen Mord und Mördersuche. Um die Jahrtausendwende gab es Harms zufolge einen „Forensik-Boom“. Sowohl Wissensformate wie „Forensic Files“, die anhand konkreter Fälle erklärten, wie Forensik funktioniert, als auch fiktionale Serien wie „CSI“ suggerierten mit ihren Darstellungen der modernen Spurensuche eine Eindeutigkeit dieser Beweiskraft, die es im kriminalistischen Alltag oftmals gar nicht gibt. DNA-Beweisen sei dadurch eine objektive Macht zugeschrieben worden, so Harms, in der es weder Zweifel noch Irrtümer gibt: „True Crime hat also durchaus Wirkungen und Effekte auf die Gesellschaft.“

Ture Crime: ein Dauerbrenner

Der Medienwissenschaftler ist davon überzeugt, dass das Genre mittlerweile fest in der Medienkultur etabliert ist. Kritik an dem Phänomen bleibt momentan vor allem auf Feuilleton-Debatten beschränkt. Die Fans von Podcasts, TV- und Streaming-Serien scheinen sich hingegen weder an grausamen Serienmörder-Darstellungen noch an der Veröffentlichung der Namen und Fotos von Opfern und Angehörigen spektakulärer Mordfälle zu stoßen. „Vom Publikum wird True Crime weitgehend unkritisch rezipiert“, sagt Harms. Er wagt eine Prognose: „Das Genre hat sich als so vielseitig und anpassungsfähig erwiesen, dass es uns noch viele Jahre begleiten wird.“

Christian Schertz: „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Christian Schertz: „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“

Mörder haben mehr Rechte als ihre toten Opfer. Die aktuelle Rechtslage ist kaum zu ertragen, meint der Medienanwalt Christian Schertz.

Foto: Jens Kalaene / dpa

True-Crime-Formate, sei es als Podcast oder im Fernsehen, gehen durch die Decke. In den letzten Jahren erfreuen sich serielle Formate in Film und Fernsehen oder auch Podcasts, die unter dem Label „True Crime“ rangieren, höchster Beliebtheit. Dabei gibt es die mediale Darstellung wahrer Verbrechen als populäre Gattung bereits seit längerer Zeit. Auffällig ist aber, dass gerade öffentlich-rechtliche Fernsehsender oder auch Qualitätszeitungen und Magazine wie „Stern“ und „Zeit“ in den letzten Jahren derartige Formate unter eigenen Marken wie „Zeit Verbrechen“, „Stern Crime“ oder Podcasts wie „Sprechen wir über Mord?! Der SWR 2 True Crime Podcast“ anbieten. In der ARD Mediathek sind unzählige True-Crime-Fälle unter dem Label „ARD Crime Time“ zum Streamen abrufbar. Nicht weiter erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch noch die zahlreichen Formate, die von privaten Dienstleistern angeboten werden, auch für bezahlte Streamingdienste. Den Erfolg, aber auch den Markt für die mediale Vermarktung wahrer Verbrechen, kann man nur ahnen, wenn etwa auf der Webseite von RTL+ sogar die „RTL+ True-Crime-Offensive“ angekündigt wird.

Wie verhält es sich aber mit dem Leid der Opfer und ihren Persönlichkeitsrechten? Dieses beziehungsweise diese werden im Ergebnis zur Unterhaltung des Publikums und zur Generierung von Klickzahlen und Einschaltquoten ausgeschlachtet, ohne dass sie aufgrund des geradezu zynischen Umstandes, dass sie verstorben sind (und damit ihr Schicksal für das Format überhaupt erst in Betracht kommt), gar nicht gefragt werden konnten. Die Antwort lautet klar und eindeutig: Die Opferrechte bleiben bei diesen Formaten auf der Strecke. Das liegt zum einen an der Gesetzeslage, aber auch an der Rechtsprechung in Deutschland, insbesondere was den postmortalen Persönlichkeitsschutz angeht:

Solange die Opfer am Leben sind, ja glücklicherweise am Leben geblieben sind, ist die Sache noch relativ eindeutig und einfach. Opfer, auch Opfer spektakulärer Verbrechen, sind grundsätzlich nicht als Personen der Zeitgeschichte anzusehen. Sie genießen daher den besonderen Schutz der Rechtsordnung. Ein besonderes Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Abbildung von Opfern ist daher überhaupt nur in ganz besonderen Ausnahmefällen anzuerkennen. Opfer von Sexualstraftaten etwa sind besonders schützenswert, so dass eine Veröffentlichung ihrer Fotos einer ausdrücklichen Einwilligung bedarf, wie etwa das Kammergericht entschied.

Überlebende genießen besonderen Schutz

Ebenso erkannte das Hanseatische Oberlandesgericht, dass das Opfer eines Mordversuches grundsätzlich Anspruch darauf hat, dass das an ihm begangene Verbrechen nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens und der Berichterstattung in der Presse nicht auch noch zum Gegenstand eines Fernsehfilms gemacht wird.

Anders ist die Rechtslage, wenn die Opfer verstorben sind. Dies dürfte die meisten True-Crime-Formate betreffen, da es regelmäßig um „spektakuläre Mordfälle“ geht.

Das Recht am eigenen Bild steht zunächst einmal nur Lebenden zu. Zu Lebzeiten bedarf nämlich die Verbreitung eines Bildnisses in den Medien der Zustimmung des oder der Abgebildeten, es sei denn, es handelt sich um Personen der Zeitgeschichte. Dies ist bei Opfern in der Regel nicht der Fall. Nach dem Tod der abgebildeten Person bedarf es lediglich während weiterer zehn Jahre für eine Bildnisveröffentlichung der Einwilligung der Angehörigen, also des Ehegatten, der Eltern oder der Kinder. Im Ergebnis heißt das, dass die Rechte der Opfer an ihrem Bildnis und damit auch an der bildlichen Darstellung ihres Schicksals nach der aktuellen Gesetzeslage nach zehn Jahren erlöschen.

Gesetzgeber muss reagieren

Hier ist gerade in Anbetracht der beschriebenen Entwicklung, ja insbesondere der wirtschaftlichen Ausschlachtung derartiger Fälle durch Medienkonzerne, der Gesetzgeber aufgerufen, diese Fristen zu verlängern. Eine summarische Sichtung der aktuell angebotenen True-Crime-Formate betrifft Fälle, die zumeist länger als zehn Jahre zurückliegen, so dass hier bildliche Darstellungen ohne weitere Zustimmung naher Angehöriger der Mordopfer möglich sind – ein im Ergebnis nicht hinnehmbarer Zustand.

Das gilt umso mehr, als die Persönlichkeitsrechte von Tätern, also auch zumeist der Mörder, von höchster Stelle, nämlich dem Bundesverfassungsgericht, geschützt werden. Bereits im Jahre 1973 entschied das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Lebach-Fall, dass selbst in Fällen besonders schwerwiegender Taten, die in die Kriminalgeschichte der Bundesrepublik Deutschland eingegangen sind, die Täter nach geraumer Zeit die Eigenschaft als sogenannte relative Person der Zeitgeschichte verlieren und beanspruchen könnten, dass nicht mehr identifizierend in Wort und Bild über sie berichtet wird. Das sei dem Resozialisierungsinteresse des Täters geschuldet. Im Ergebnis bedeutet dies nichts anderes, als dass die aus der Haft entlassenen Mörder bei medialen Darstellungen ihrer Taten gefragt werden müssen und gegebenenfalls sogar für ihre Einwilligung ein Honorar verlangen können, während die Opferrechte erloschen sind.

Viele Opfer ungeschützt

Damit aber nicht genug: Nicht nur das Recht am eigenen Bild besteht lediglich für zehn Jahre nach dem Tod fort. Mit dem Tod endet auch das verfassungsrechtlich allein lebenden Personen gewährleistete sogenannte allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses schützt die Lebenden, sofern sie nicht Personen der Zeitgeschichte sind, vor identifizierenden Darstellungen ihres Schicksals. Sie müssen also gefragt werden. Kommt der Mensch jedoch zu Tode, besteht nur noch ein aus der Menschenwürde abgeleiteter sogenannter postmortaler Achtungsanspruch, der nur grobe Verzerrungen des Lebensbildes oder auch eben Verletzungen der Menschenwürde bei der konkreten Darstellung in Film, Fernsehen etc. untersagt. Dies dürfte überhaupt nur dann geltend zu machen sein, wenn die Tat und das Leid des Opfers in allen Einzelheiten dargestellt werden, wie es etwa zuletzt in dem Amazon-Crime-Format „Gefesselt“ über den Hamburger Säurefassmörder sicherlich der Fall gewesen sein dürfte. In teilweise unerträglichen filmischen Darstellungen wurden hier die Qualen der Opfer inszeniert, was zu Recht auf Kritik gestoßen ist. Im Regelfall jedoch dürfte der postmortale Achtungsanspruch die Opfer nicht vor einer Darstellung ihres Falls in True-Crime-Formaten schützen.

Zynischer Täterschutz

Es ist indes überhaupt kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber und die Rechtsprechung die Persönlichkeitsrechte von Verstorbenen nicht besonders schützen, ja sogar erlöschen lassen. Gerade das absurde Missverhältnis zwischen dem Schutz von Tätern im Interesse der Resozialisierung davor, schon relativ kurze Zeit nach der Tat nicht mehr identifizierend dargestellt zu werden, und dem faktisch nicht bestehenden Schutz von Opfern, insbesondere wenn sie verstorben sind, sowohl was die bildliche Darstellung wie auch die Schilderung des Falles generell angeht, mutet nur noch zynisch an. Der Gesetzgeber ist daher dringend aufgerufen, die Persönlichkeitsrechte von Opfern sowohl mit Blick auf das Recht am eigenen Bild wie auch auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu stärken. Die aktuelle Rechtslage ist nicht akzeptabel, eigentlich kaum zu ertragen. Die Opfer haben faktisch keine Rechte, aber auch keine Lobby, und wehren können sie sich auch nicht mehr: Das ist schlicht nicht gerecht.

Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Selina

Ingrid Liebs: „Ich brauche die Öffentlichkeit“

Ingrid Liebs verlor ihre Tochter Frauke durch einen Mord, der bis heute ungeklärt ist. Die 70-Jährige hat mehreren True-Crime-Formaten Interviews gegeben. Was bewegt sie dazu?

Ein Foto von Ingrid Liebs. Sie trägt eine Brille, kariertes Hemd und eine dunkelblaue Strickjacke.

Foto: Marcus Simaitis/ laif

Ingrid Liebs verlor ihre Tochter Frauke durch einen Mord, der bis heute ungeklärt ist. Die 70-Jährige hat mehreren True-Crime-Formaten Interviews gegeben, an einer Fernsehdokumentation und zuletzt an einem Podcast mitgewirkt. Was bewegt jemanden, sich und seine Geschichte immer wieder fremden Menschen anzuvertrauen? Ingrid Liebs über die „Win-Win-Situation“, Beleidigungen im Internet und eine besonders positive Erfahrung mit einem Medienmacher.

„Im Fall meiner Tochter gab es am Anfang nur die konventionelle Berichterstattung in den Printmedien und im Fernsehen. Die könnte man meiner Meinung nach im weitesten Sinne auch zu True Crime zählen, weil sie entsprechende Reaktionen bei den Zuschauern und Lesern hervorruft. Aber im Laufe der Jahre kam etwas Neues dazu. Es haben sich professionelle True-Crime-Formate entwickelt, die die Informationen immer so aufzubereiten, dass es nicht langweilig wird. Diese sind ganz klar darauf ausgelegt, Zuhörer oder Zuschauer zu unterhalten. Auch die Form hat sich verändert: Im Internet gibt es zum Beispiel Podcasts. Meistens erzählen sie abgeschlossene Fälle nach, manchmal aber eben auch nicht abgeschlossene Fälle, wie bei mir.

Wenn Medien Kriminalfälle für True Crime aufgreifen, dann in erster Linie, weil sie denken: Das interessiert unsere Leser oder Zuschauer, das lässt sich gut verkaufen und das steigert unsere Auflage und damit die Einnahmen. Davon leben die Medien. Als Betroffene muss man sich bewusst machen, dass man da nicht den absoluten Menschenfreund vor sich sitzen hat, mit dem man über den Fall spricht, sondern jemanden, dessen Beruf es ist, dafür zu sorgen, dass sein Arbeitgeber auch finanziell vernünftig dasteht. Dann muss man abwägen: Was bringt mir das? Kann ich daraus eine Win-Win-Situation machen? Denn ich mache nicht mit bei diesen Produktionen, weil ich gerne in der Öffentlichkeit stehe. Für mich ist wichtig, dass mein Fall aufgeklärt wird. Einfach, weil ich wissen möchte: Was ist passiert und warum? Warum gab es für den Täter am Ende keinen anderen Ausweg, als meine Tochter zu töten? Und dafür brauche ich die Öffentlichkeit. Ich brauche Hinweise und ich brauche die Justiz, die diesen Hinweisen nachgeht. Beides gab es irgendwann nicht mehr, als die aktuellen Nachrichten nach der Tat versiegten: Mein Fall war aus der Öffentlichkeit verschwunden, die Justiz tat meiner Meinung nach nicht genug. Wenn ich an True-Crime-Produktionen mitwirke, kann ich das ändern und auf Fraukes Mord aufmerksam machen. Durch die Rückmeldungen von Zuschauern, Lesern, Zuhörern, die ich aufgrund dessen erhalte, kann ich einen gewissen Druck erzeugen, denn die Polizei muss diesen Hinweisen zumindest nachgehen.

Akribische Recherche

Inzwischen schaue ich mir die Leute, von denen ich Anfragen für True-Crime-Formate bekomme, vorher genau an. Ich googele: Was haben die schon gemacht? Wie gut oder schlecht war das? Haben die Erfahrung mit solchen Fällen? Ich mache das ganz akribisch, damit ich weiß ich: Mit dieser Person kann ich zusammenarbeiten oder nicht. Aber das schützt natürlich nicht hundertprozentig vor Enttäuschungen. Bei einer Anfrage eines Regionalsenders habe ich einmal recherchiert und entschieden: Der Sender ist öffentlich-rechtlich, das wird schon gehen. Das Ergebnis war dann nicht wirklich schlecht, es hat mich aber auch nicht vom Hocker gerissen, blieb irgendwie blass und wenig aussagekräftig.

Manchmal informieren sich Journalisten nur ganz grob und stiefeln dann los, so als ob sie über eine Sportveranstaltung berichten sollten. Die haben sich im Vorfeld überhaupt nicht klar gemacht, dass sie Menschen treffen, die ein großes Leid erlebt haben und mit denen man entsprechend respektvoll umgehen muss. Ich finde, es sollte eigentlich zum Handwerkszeug eines Journalisten gehören, dass er sich über das, was er tut, Gedanken macht. Ich habe den Eindruck, dass einige Redakteure einfach irgendwie Geld verdienen wollen, die werden zum Teil schließlich nach Zeilen bezahlt. Aber es gibt auch respektvolle, gute Journalisten. Nur leider gibt es eben auch die, die einfach mit True-Crime-Geschichten nur Profit machen wollen und denen es völlig egal ist, wie viel menschliches Leid dahintersteckt. Sich auf solche Leute einzulassen, ist ein Abenteuer.

Mist in der Zeitung lesen

Ich habe leider auch erlebt, dass sehr schlecht recherchiert wurde, und musste dann wirklich Mist in der Zeitung lesen. Bei Print-Interviews versuche ich mittlerweile immer, den Artikel gezeigt zu bekommen und Einfluss auf den Text nehmen zu können. Diese Chance sollte man nutzen. Schließlich habe ich das Recht, meine eigenen Zitate vor dem Abdruck zu lesen. Wenn ich Fehler in dem Bericht finde, weise ich darauf hin, damit er noch korrigiert wird. Das ist meiner Erfahrung nach bei neueren Formen wie Podcasts oder Filmen nicht immer möglich. Wobei ich auch schon Podcasts nachträglich durchkorrigiert habe und gesagt habe: Das kann so nicht im Netz bleiben. Manchmal funktioniert das, aber nicht immer, weil sich die Macher nicht darauf einlassen.

Dabei müsste der Respekt vor den Opfern das oberste Gebot für die Macher sein und sie sollten im Vorfeld eine gewisse Reflexion darüber leisten, was durch solche Formate mit den Betroffenen passiert. Dazu gehört für mich, dass man ein Opfer fragt, ob man einen Podcast, einen Film oder einen Artikel machen darf. Aber das ist keineswegs Standard. Ich habe erlebt, dass da Beiträge rauskommen, die aus Halbwahrheiten und Falschinformationen bestehen und die bei den Opfern zu Recht Ärger auslösen, weil sie sich übergangen und in ihrer Betroffenheit nicht richtig wahrgenommen fühlen.

„Über diese Sache habe ich mich furchtbar geärgert“

Das ging mir auch so bei einem Roman, für den ein Autor den Mord an Frauke als Vorlage verwendet hat. Ich bin zufällig auf das Buch gestoßen. Der Fall wurde ins Ausland verlegt, aber zum Beispiel wurde der Inhalt der ersten SMS, die Frauke nach ihrer Entführung geschickt hatte, wörtlich übernommen, dann wurde ein Szenario entworfen, für das es in der Realität keine Belege gibt. Über diese Sache habe ich mich furchtbar geärgert. Aber sowas werde ich wahrscheinlich nicht verhindern können.

,,Bevor man sich auf eine Zusammenarbeit mit Medien einlässt, sollte man sich sehr gut überlegen, ob man das emotional aushält."

Ingrid Liebs, Mutter eines Mordopfers
Ein Foto von Ingrid Liebs. Sie trägt eine Brille, kariertes Hemd und eine dunkelblaue Strickjacke.

Ich habe auch entdeckt, dass online Sachen veröffentlicht wurden, ohne dass ich davon wusste. Podcasts, die gut gemeint, aber nicht immer gut gemacht waren. Bis hin zu beleidigenden Videos. In einem wurde ich als „hirnverschissene Mutter“ beschimpft. So mit dem Leid anderer Menschen umzugehen, das finde ich respektlos. Die Macher von Podcasts oder anderen True-Crime-Formaten sollten sich mit den Opfern auseinandersetzen, sie zu Wort kommen lassen und ihnen die Möglichkeit geben zu sagen: Nein, das will ich nicht.

Jedes Opfer hat doch jederzeit das Recht, Nein zu sagen, selbst wenn es schon Vorgespräche gab und ein Interviewtermin feststeht. Das müssen Journalisten akzeptieren. Da sollten Opfer kein schlechtes Gewissen haben. Man sollte in sich gehen, wenn man merkt, das ist nicht das, was man will. Aber es kostet natürlich Kraft, kurzfristig etwas abzusagen und die Journalisten auf Distanz zu halten. Das gilt auch für unangekündigte Kontaktaufnahmen: Als Jahre nach dem Mord an Frauke hier in der Gegend ein großer Mordfall aufgedeckt wurde, riefen mich sonntags um die Mittagszeit mehrere Lokaljournalisten an und fragten nach einem Zusammenhang der Taten. Und dann kamen Fragen wie: „Sagen Sie, hatte Ihre Tochter eigentlich noch Haare, als sie gefunden wurde?“ Das ist völlig distanzlos. Ich antwortete: „Hören Sie, ich habe mir die Fotos nicht angeschaut und ich möchte auch nicht auf dieser Ebene mit Ihnen reden.“ Am nächsten Tag musste ich ein RTL-Fernsehteam von meinem Grundstück werfen, das mich für ein Interview abpassen wollte, das habe ich dann auch nach einer Bedenkzeit, die ich mir genommen habe, nicht gegeben. Wenn man als Opfer merkt, dass die Art und Weise, wie Medien auf einen zugehen, verletzend ist, darf man die Notbremse ziehen und Nein sagen. Denn es macht etwas mit einem, wenn man angesprochen wird, wenn man angeschrieben wird, wenn man angerufen wird.

„Wir wollten mal sehen, wie Sie so sind“

Ingrid Liebs hält das Bild ihrer ermordeten Tochter in der Hand. Die Tochter kniet neben einem Hund und blickt glücklich in die Kamera.

Bevor man sich auf eine Zusammenarbeit mit Medien einlässt, sollte man sich auf jeden Fall sehr gut überlegen, ob man das emotional aushält. Denn es wird Reaktionen aus der Öffentlichkeit geben, die retraumatisierend sein können. Ich kannte das schon aus der Zeit kurz nach der Tat, da haben mich wildfremde Leute auf der Straße angesprochen: ‚Sind Sie die Frau Liebs, die Mutter von Frauke? Ja, wir wollten mal sehen, wie Sie so sind, wie Sie so reden.‘ Damit muss man umgehen können. Wenn man nicht stabil genug ist, kann ich nur jedem raten, die Finger davon zu lassen.

Seit 2020 habe ich auch eine Webseite zum Fall, über die jeder Hinweise zum Mord an Frauke geben kann. Sie werden dann auch an die Polizei weitergeleitet. Ich überlege, die Homepage in diesem Jahr abzuschalten. Denn es melden sich nicht nur Menschen, die tatsächlich Mitteilungen haben, die auch überprüfbar sind und so vielleicht zur Aufklärung beitragen. Leider melden sich über die Homepage oft Menschen, die recht krude Theorien, aber kein Wissen zum Fall haben. Das nervt, ist nicht zielführend und einfach nur ein belastendes Ärgernis.

Nichts kommentiert, nichts bewertet

Ich habe aber auch eine sehr positive Erfahrung gemacht. 2015 erhielt ich einen höflichen und empathischen Brief von einem Journalisten, der einen Artikel über den Fall für Stern Crime schreiben wollte. Diese Art der Kontaktaufnahme hat mir die Möglichkeit gegeben, in Ruhe darüber nachzudenken, ob ich darauf reagieren möchte. Und dann habe ich Kontakt aufgenommen und gesagt: Ich weiß noch nicht, ob ich das mache, aber ich finde es interessant und wir können uns kennenlernen. Er hat mir Zeit gegeben und wir haben mehrere Gespräche geführt. Aus diesen hat der Journalist einen Artikel gemacht, den ich bis heute super finde. Er hat nämlich nichts kommentiert, er hat nichts bewertet, er hat nichts interpretiert, sondern er hat einfach die verschiedenen Betroffenen mit ihren Aussagen nebeneinanderstehen lassen und der Leser konnte sich eine Meinung, ein Urteil bilden. Ich hatte auch Menschen aus dem Umfeld meiner Tochter ermutigt, mit diesem Journalisten für den Artikel zu sprechen, weil er meiner Erfahrung nach vertrauenswürdig ist.

Jahre später kam dieser Journalist  auf mich zu und sagte, er könne sich vorstellen, einen Dokumentarfilm zum Fall meiner Tochter zu machen. Vom ersten Gespräch bis zur Realisierung dauerte es fast zwei Jahre. Auch da hatte ich das Gefühl, dass ich zu nichts überredet werde. Es war eher so, dass mir Vorschläge gemacht wurden. Das Ganze war sehr anstrengend, vor allem, wenn wir mehrere Tage hintereinander gedreht haben. Wenn man sich auf so etwas einlässt, muss man die Journalisten und die Zuschauer noch näher an sich ranlassen, weil dann auch die Frage kommt: ‚Haben Sie Fotos, vielleicht sogar Videos?‘ Das Vertrauen zwischen diesem Journalisten und mir  ist über die Jahre gewachsen. Deshalb habe ich ihm Videos gegeben und gesagt: ‚Suchen Sie das aus, was für den Film passt.‘ Er stimmte seine Auswahl dann aber auch mit mir ab, bevor das Material in den Film einfloss. Ich glaube, er hat auch die anderen Opfer im Blick gehabt, nicht nur mich als Mutter, sondern auch Fraukes Geschwister, ihren Mitbewohner, ihre Freunde.

Die Suche nach dem Täter

Als nächstes Medium kam dann der Podcast, auch da habe ich mich auf den Journalisten eingelassen, weil ich den Eindruck hatte, was er da macht, das ist sorgfältig und fundiert. Da geht es nicht nur um den schnellen Euro, den man verdienen will, sondern da ist wirklich ein Interesse an dem, was dahintersteht. Dahinter steht natürlich die Suche nach dem Täter. In den ersten Folgen des Podcasts geht es sehr stark um die sachliche Seite des Geschehens, dann aber auch um die Frage: Was ist mit den Menschen passiert, die betroffen waren?

Mit den vielen Erfahrungen, die ich mit den verschiedenen True-Crime-Formaten und -Machern gesammelt habe, lässt sich sagen: Es gibt Sternstunden, im positiven wie im negativen Bereich. Ich habe über die Jahre hinweg viel dazu gelernt und immer wieder reflektiert. Rückblickend gibt es Sachen, da gestehe ich mir ein: Da hätte ich besser nicht mitgemacht. Aber dadurch bin ich auch für jedes nächste Mal, wenn ich eine Anfrage bekam, ein bisschen stärker geworden. Das wichtigste für mich ist, dass Fraukes Fall aufgeklärt wird. Sollte es jemals dazu kommen, weiß ich nicht, ob ich danach noch bei einem True-Crime-Format mitmachen würde. Das werde ich dann entscheiden.“

Ingrid Liebs: ,,Ich brauche die Öffentlichkeit“

#TrueCrimeReport

Wie gehen True-Crime-Formate mit Betroffenen um?

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Selina

Wie gehen True-Crime-Formate mit Betroffenen um?

Das Magazin „Stern Crime“, der Podcast „Mord auf Ex“ oder YouTuberin Kati Winter – sie alle berichten über echte Kriminalfälle, und das sehr erfolgreich. Aber wie gehen sie mit Betroffenen um?

True Crime: Mikrofon mit dem gerne True Crime Podcasts aufgenommen werden.

Foto: Studio_Iris/Pixabay

Das Magazin „Stern Crime“, der Podcast „Mord auf Ex“ oder YouTuberin Kati Winter – sie alle berichten über echte Kriminalfälle, und das sehr erfolgreich. Die Redaktion des WEISSEN RINGS wollte von den Machern beliebter True-Crime-Formate wissen: Wie gehen sie eigentlich mit Opfern und Angehörigen um? Wann kontaktieren sie Betroffene, wann nicht? Wie sehr sind die Opfer in den Entstehungsprozess eingebunden? Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat einigen der bekanntesten True-Crime-Formate Deutschlands einen entsprechenden Fragebogen zugeschickt.

Fünf von ihnen haben die Fragen beantwortet. Eine Auswahl ihrer Antworten lesen Sie hier:

Was sind die wichtigsten Quellen bei Ihrer Recherche?

„Die Quellen sind unterschiedlich. Nicht zuletzt: Urteile, Gutachten, Ermittlungsakten und in vielen Fällen auch Prozessbesuche. Zudem natürlich Gespräche mit Beteiligten wie Ermittler:innen, Anwält:innen, Zeug:innen und auch Angehörigen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

„Hauptsächlich arbeiten wir mit Sekundärquellen, also wir recherchieren Zeitungsartikel, Podcasts, Interviews und Bücher und erstellen daraus ein Skript. Ist es ein Fall aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz, arbeiten wir auch teilweise mit Familien zusammen.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

„Für meine Recherchen nutze ich eine Kombination aus Zeitungsarchiven, Online-Artikeln, Fachbüchern/Magazinen und Dokumentationen, um das Zwei-Quellen-Prinzip gewährleisten zu können. Außerdem greife ich auf Urteile und in Einzelfällen auch auf Akten zu den Fällen zurück.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)

Kontaktieren Sie im Zuge Ihrer Recherche Opfer und Angehörige?

„Nein! Ich möchte die Privatsphäre der Opfer und deren Angehöriger wahren und ihnen durch meine Fragen keinen weiteren Schmerz zufügen. […] Ich bin mir der Macht meiner Reichweite sehr bewusst und lege Wert auf eine verantwortungs- und respektvolle Dar­stellung. […] Daher werden meine Kommentare streng moderiert, um Retraumatisierung, Beleidigungen der Opfer-Familien o. Ä. zu vermeiden, da ich mir bewusst bin, dass gerade bei deutschen Fällen Angehörige jederzeit meine Videos sehen könnten.“
Kati Winter (YouTube)

„Ich kontaktiere Angehörige nicht grundsätzlich, vor allem wenn sich aus der Berichterstattung ablesen lässt, dass sie von den Medien in Ruhe gelassen werden wollen. In einzelnen Fällen frage ich per E-Mail an, öfter kommen Angehörige aber auf mich zu, und bitten mich, über ‚ihren‘ Fall zu berichten.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)

„Insbesondere bei deutschen Fällen: meistens. Die Kontaktaufnahme erfolgt häufig über die Nebenklage-Anwälte. Bei älteren Fällen ist es oft schwieriger, weil Angehörige oft verstorben beziehungsweise nicht mehr aufzufinden sind. Bei Fällen, in denen unsere Autor:innen die Prozesse verfolgt haben, lassen wir zudem die Angehörigenperspektive aus Prozessauftritten einfließen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

Wie wichtig ist Ihnen die Perspektive der Betroffenen in Ihrem Format?

„Sehr wichtig. Wir möchten vor allem ihre Geschichten erzählen statt die der Täter. Deshalb arbeiten wir auch immer wieder in der Recherche eng mit Betroffenen oder Ermittler:innen zusammen. Von unseren Hörer:innen wissen wir, dass sie teilweise selbst traumatische Erlebnisse durchstehen mussten. Mit unseren Folgen wollen wir deshalb auch Hoffnung und Mut machen.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

„Bei unserem Format steht die Perspektive der Opfer/Angehörigen an erster Stelle. Deswegen besteht unser Kanal auch fast nur aus ungelösten Fällen, bei denen es noch Hoffnung auf Gerechtigkeit gibt. Wir wollen die Menschen und Fälle nicht in Vergessenheit geraten lassen.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

„Die Opfer-/Angehörigenperspektive ist uns wichtig. Das bedeutet in jedem Fall, dass wir bei der journalistischen, erzählerischen Aufbereitung der Fälle auch Opfer und Angehörige als potenzielle Leser berücksichtigen: Taten und das durch sie entstandene Leid dürfen nicht bagatellisiert werden, Täter nicht heroisiert oder romantisiert werden.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

 

Was tun Sie, um eine mögliche Retraumatisierung von Betroffenen zu verhindern?

„Ich glaube, eine mögliche Retraumatisierung ist nicht zu umgehen, auch wenn wir versuchen, so sensibel wie möglich vorzugehen und mit Triggerwarnungen arbeiten. Ich glaube aber auch, dass Menschen, die ihre Liebsten suchen, so oder so tagtäglich daran erinnert werden. Ein Video, das wieder Aufmerksamkeit in der Bevölkerung erregt, könnte vielleicht sogar tröstend wirken. Das hoffe ich zumindest.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

„Bereits bei der Anfrage von Interviewpersonen machen wir deutlich, dass – sollten die Angefragten sich nicht wohlfühlen, mit uns zu sprechen – wir das natürlich respektieren und sie nicht weiter kontaktieren. Bei einer Zusage senden wir unseren Interviewpartnern vorab unsere Fragen, so dass sie unerwünschte Fragen streichen und sich auf die weiteren Fragen vorbereiten können.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

In der Kontaktaufnahme: Da wir nicht tagesaktuell arbeiten, können wir einen zeitaufwändigeren, behutsameren Weg wählen. Wir sprechen in den meisten Fällen zuerst mit den Anwält:innen, die vorab meist gut einschätzen können, ob die Angehörigen beziehungsweise Opfer bereit sind und sich imstande fühlen, mit uns zu sprechen. […] Wenn die Betroffenen nicht persönlich sprechen wollen, lassen sie oft ihren Anwalt/ihre Anwältin die Geschichte aus ihrer Perspektive schildern. Es kommt auch vor, dass Angehörige/Opfer froh sind, ihre Seite der Geschichte erzählen zu können. Häufig schreiben wir auch Briefe, in denen wir darlegen, worum es uns geht, und die es den Betroffenen ermöglichen, ohne den Druck einer direkten Ansprache abzuwägen und eine Entscheidung zu fällen.

Im Gespräch: durch angemessene Sensibilität in der Gesprächsführung, Transparenz, was die Stoßrichtung der Recherche angeht, und die Akzeptanz der individuellen Grenzen der Opfer beziehungsweise Angehörigen.“
Bernd Volland („Stern Crime“)

Binden Sie Betroffene in den Entstehungsprozess Ihres Berichts mit ein?

„Gerne geben wir Betroffenen die Möglichkeit, sollten sie mit uns während des Recherche-Prozesses in Kontakt gestanden haben, das Interview noch einmal zu hören und Unerwünschtes zu streichen.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

„Allen Angehörigen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben wir vorher das Skript geschickt. Wobei das nicht ganz stimmt, im Fall Frauke Liebs war es nicht so. Das Video habe ich, kurz nachdem ich mit Insolito angefangen habe, veröffentlicht, da hatte ich noch keine Erfahrung. Frau Liebs hat das Video gesehen und mich kontaktiert, daraufhin haben wir mitein­ander kommuniziert, und ich habe Falschinformationen (die so auch in den Sekundärquellen standen) geändert und das Video neu hochgeladen und auf eben diese Falschinformationen hingewiesen, sie also auch kontextualisiert.“
Patrick Temp („Insolito“, YouTube)

Haben Sie nach Veröffentlichung Ihres Contents Reaktionen von Betroffenen erhalten?

„Ja, ich habe schon häufiger nach Veröffentlichung des Podcasts Kontakt mit Angehörigen gehabt. Der Austausch war eigentlich immer positiv. […] Besonders langen Kontakt hatte ich mit der Familie einer ermordeten Frau aus Bremen. Nach vielen Telefongesprächen habe ich festgestellt, dass sie immer noch sehr unter der Tat leiden, und deshalb von mir aus angeboten, die dementsprechende Folge zu löschen. Das habe ich kurz danach auch getan.“
Philipp Fleiter („Verbrechen von nebenan“)

„Bei uns haben sich nach unseren Folgen vermehrt Opfer/Angehörige gemeldet, die sich konkret wünschen, dass wir ihre Geschichten erzählen und aufarbeiten. Wir stehen mit ihnen in engem Kontakt.“
Leonie Bartsch, Linn Schütze („Mord auf Ex“, „Die Nachbarn“)

„Ja. Ich wurde einmal von Angehörigen eines Opfers gebeten, ein schon älteres Video offline zu nehmen, da die Entlassung des Täters kurz bevorstand. […] Für mich war das kein Problem. Einige Male wurde ich von Angehörigen oder Bekannten der Opfer kontaktiert, oder sie haben unter meinen Videos kommentiert und sich für die respektvolle Aufarbeitung bedankt.“
Kati Winter (YouTube)

Johann Scheerer: „Befriedigung einer Schaulustigen-Mentalität“

Erstellt am: Montag, 17. Juli 2023 von Torben

Johann Scheerer: „Befriedigung einer Schaulustigen-Mentalität“

Rund 20 Jahre lang hat Johann Scheerer nicht über das Verbrechen gesprochen, dessen Opfer seine Familie wurde: die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma. Ein Interview.

Foto: Gerald von Foris

Rund 20 Jahre lang hat Johann Scheerer nicht über das Verbrechen gesprochen, dessen Opfer seine Familie wurde: die Entführung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma. Ein Gespräch über eine Geschichte, die bis heute maximale Öffentlichkeit erfährt, den Rückgewinn der Deutungshoheit und den Bedarf an einem neuen journalistischen Genre.

Herr Scheerer, Sie und auch Ihre Eltern lehnen sämtliche Anfragen von True-Crime-Produktionen ab, die die Entführung Ihres Vaters thematisieren. Was halten Sie von diesen Formaten?

Sie befriedigen im Regelfall eine Schaulustigen-Mentalität, wie bei einem Unfall: Man verlangsamt das Tempo auf der Autobahn und gafft. Vielleicht sieht man noch Blut? Wenn das Auto abgeschleppt und die Fahrbahn wieder frei ist, um in der Unfall-Verbrechen-Analogie zu bleiben, ist das der Zeitpunkt, an dem die allermeisten True-Crime-Formate enden.

Sie meinen, wenn die Täterinnen oder Täter gefasst sind, der Gerichtsprozess vorbei ist und ein Kriminalfall als abgeschlossen gilt?

Ja, das ist einer der Hauptpunkte meiner Kritik an True-Crime-Formaten — wenn es heißt, die Verbrechen seien abgeschlossen. Ich bin der Überzeugung, dass Verbrechen nicht abgeschlossen sind, wenn der „aktive“ Teil des Verbrechens vorbei ist. Sie dauern an! Und zwar in der Verarbeitung der Opfer oder Angehörigen. Hört sich profan an, ist aber offensichtlich zu vielen noch nicht durchgedrungen. Insofern habe ich ein Problem mit diesen Formaten, weil sie dann aufhören, wenn es gesellschaftlich erst richtig kritisch wird, nämlich wenn es um die Frage geht: Welche Auswirkungen und Nachwehen haben diese Verbrechen? Um bei der Analogie mit dem Unfall zu bleiben: Man fährt also weiter und denkt nicht mehr lange darüber nach, wer da eigentlich im Auto saß, was mit demjenigen passiert, ob er oder sie jemals wieder Auto fahren können oder wollen wird. Ob die Person Kinder hatte und was mit denen geschehen ist.

Was bedeutet das, übertragen auf den Raum, den Opferperspektiven in dem Genre einnehmen?

Die Opferperspektive ist weiterhin völlig unterbelichtet. Es gibt hier in vielerlei Hinsicht ein großes Defizit, was die Betroffenen, ihre Betreuung und überhaupt den Umgang mit ihnen anbelangt. Ein Beispiel ist die Hierarchisierung innerhalb von Betroffenengruppen, wenn von Opfern ersten oder zweiten Grades gesprochen wird. Das finde ich befremdlich, weil niemand in der Lage ist, zu kategorisieren, ob jemand Opfer ist oder nicht. Nur die Betroffenen selbst wissen, was ein Verbrechen in welchem Umfang bei ihnen angerichtet hat. Die Kategorisierung mag eine Berechtigung im Strafrecht haben, der Traumabewältigung ist sie nicht zuträglich. Opfergeschichten sind kompliziertere und vor allem leisere Geschichten – deshalb ist es natürlich einfacher, sich in solchen Formaten auf die Tat und Täterinnen und Täter zu konzentrieren. Aber man muss sich immer wieder fragen: Gebührt diesen Tätern eine Bühne?

Wenn die Bühne eigentlich den Opfern gebührt, warum wollen Sie nicht bei solchen Formaten mitwirken?

Nach der Entführung meines Vaters habe ich ungefähr 20 Jahre lang nicht über dieses Verbrechen gesprochen. Unter anderem, weil ich gar nicht das Gefühl hatte, dass es meine Geschichte ist, sondern die meines Vaters. Ich hatte zwar irgendwie die Gefühlslage eines Opfers, aber ich wusste nicht, dass ich Opfer bin. Mir wurde gesellschaftlich vermittelt, dass man nicht betroffen ist, wenn man nicht derjenige ist, der sichtbare Verletzungen davongetragen hat. Es hat viele Jahre der Bewältigung gebraucht, bis ich verstanden habe, dass das nicht stimmt. Man muss sich zu der selbstbestimmten Aussage hinarbeiten: Ja, ich bin ein Opfer. Und genauso gehört zu einem selbstbestimmten Bewältigungsprozess, dass man diesen Status irgendwann wieder abzulegen kann. Das Verbrechen selbst, die Tat und der Täter, degradieren das Opfer zur handlungsunfähigen Randfigur und als solche werden sie auch in True-Crime-Formaten behandelt. Es sollte daher doch auf der Hand liegen, dass ich nach meinem persönlichen Aufarbeitungsprozess nicht als Randfigur in so einem Format auftreten möchte.

Muss sich der Wahrnehmungsfokus verschieben, erzählerisch in True-Crime-Beiträgen, aber auch gesamtgesellschaftlich?

Es ist ein gesellschaftlicher Gewinn, dass wir mittlerweile diskutieren, inwieweit sich beispielsweise Gewalterfahrungen in der Kindheit auf das weitere Leben auswirken. Bei Gerichtsprozessen liegt der Fokus natürlich auf den Tätern, und oft wird festgestellt, dass es einen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrungen und späteren Taten gibt. Da sind wir gesellschaftlich schon weit. Aber sollten wir uns folgerichtig nicht auch die vielen Opfer und ihre Lebens- und. Leidensgeschichte nach der Tat etwas genauer anschauen und auch sicherstellen, dass es ihnen möglichst gut geht? Ich finde das total wichtig sowie bislang unterbelichtet, und das gilt für unsere Gesellschaft insgesamt ebenso wie für solche Formate.

Die Geschichte Ihrer Familie wird auch nach Jahrzehnten immer wieder medial aufbereitet, angeteasert etwa als „eine der spektakulärsten Entführungen“ in Deutschland. Wie gehen Sie damit um?

Es gibt keine andere Möglichkeit, als das einfach zu ignorieren. Ich schaue mir das nicht an und es interessiert mich noch nicht einmal, weil es dann doch immer das Gleiche ist. Direkt nach der Entführung war die mediale Berichterstattung teilweise einfach nur Fiktion. Mittlerweile ist zumindest das weniger geworden. Immerhin.

Gibt es eine Berechtigung für True Crime?

Ab und zu sehe ich durchaus eine Berechtigung, klar. Ich finde es selbst teilweise interessant, beispielsweise über die RAF-Verbrechen zu lesen, oder weil eine Tat eine gesellschaftlich historische Relevanz hat. Solche Beiträge sind wichtig, um zu verstehen, wie es zu einem Ereignis kam, und um aus Fehlern zu lernen. Das ist schon in Ordnung. Aber natürlich gibt es Grenzen. Als Jugendlicher habe ich zwei Jahre nach der Tat in einer Zeitschrift ein Ranking entdeckt, in dem der Fall wegen der hohen Lösegeldsumme als eine der zehn „erfolgreichsten“ Entführungen in Deutschland gelistet war. Ich war natürlich geschockt. Sich selbst in einem geschmacklosen Ranking wiederzufinden, das ist wieder so ein fremdbestimmter Moment.

Wenn Betroffene nicht als Protagonisten gewonnen werden können, kommen oft „Experten“ oder „Expertinnen“ – Ermittler, Psychologen, Juristinnen – zu Wort, die die mutmaßliche Gefühlswelt der Opfer schildern. Ist das auch eine Grenze, die überschritten wird?

Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel. Ich bin mal in Hamburg zu einer Veranstaltung des WEISSEN RINGS eingeladen worden, bei der die Idee war, dass ich aus meinen Buch vorlese und dann mit einer Kinder- und Jugendpsychologin ins Gespräch komme, die sich explizit mit Ängsten und Traumata beschäftigt. Es ging darum, wie es ist, als Jugendlicher Opfer eines Verbrechens geworden zu sein. Das klang gewinnbringend und habe zugesagt. Hätte die Veranstaltung genauso stattgefunden, nur ohne mich auf der Bühne, welchen Sinn hätte das gehabt?

Apropos Bühne: Sie sind Musiker und Musikproduzent. Werden Sie eigentlich öfter für Interviews anfragt, die Ihren Beruf betreffen oder – wie auch hier – die Entführung Ihres Vaters?

Ich habe mit 17 Jahren angefangen Musik zu machen, da wollten Zeitschriften wie die Gala Interviews mit mir machen, aber natürlich nicht wegen der Musik. Es sprach sich zum Glück herum, dass ich stets absagte. Über die Jahre habe ich mir eine gewisse Position erarbeitet, so dass mittlerweile regelmäßig Anfragen im reinen Musikkontext kommen. 2016 habe ich zum ersten Mal öffentlich über den Fall gesprochen. Ein Zeit-Journalist interviewte mich zur Produktion des Pete-Doherty-Soloalbums und meinte, es sei nur seriös, meinen familiären Hintergrund zumindest zu erwähnen. Das tauchte dann in einem Halbsatz oder so im Text auf, das war für mich in Ordnung.

,,Es sollte auf der Hand liegen, dass ich nicht als Randfigur in so einem Format auftreten möchte."

Johann Scheerer, Sohn des 1996 entführten und gegen Lösegeld freigelassenen Jan Philipp Reemtsma
Wie war das nach der Veröffentlichung Ihres autobiografischen Buchs „Wir sind dann wohl die Angehörigen“?

Darüber habe ich mit Medien geredet, aber das ist für mich etwas anderes, als über die Entführung selbst zu sprechen, weil ich jetzt die Deutungshoheit habe. Wissen Sie, wenn man so will, ist es Teil des Traumas, dass die Geschichte meiner Familie so extrem öffentlich ist, sich längst verselbstständigt hat und dass man selbst gar keine Kontrolle mehr über sie hat. Es geht in der Aufarbeitung immer über den Rückgewinn der Kontrolle, der Selbstbestimmtheit. Und die hätte ich nicht, wenn ich bei True-Crime-Formaten mitmachen würde. Ich habe das Buch geschrieben, um genau das zu sagen, was ich sagen möchte und wie. Anlässlich der Veröffentlichung habe ich dann Lesungen gemacht, bei denen ich proaktiv mit dem Publikum ins Gespräch kommen konnte. Das ist doch viel interessanter als jede True-Crime-Doku. Einfach auch, weil der Erkenntnisgewinn größer ist.

Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie dieses Buch geschrieben haben?

Ein Verlag sprach mich an, ob ich über die Produktion des Doherty-Albums „Hamburg Demonstration“ schreiben könne. Das hat mir geschmeichelt, ich war noch nie auf die Idee gekommen, dass sich jemand dafür interessieren könnte, was ich in Buchform von mir gebe. Aber dann wurde mir klar: Egal, was ich in meinem Leben schreiben werde, ich muss erst mal diese Geschichte über die Entführung aus dem Weg schreiben, weil Vieles in meiner Biografie immer wieder auf diese Erfahrung verweist. Das Buch entstand in wenigen Wochen intensiver Schreibarbeit, die Vorbereitungszeit wiederum dauerte 20 Jahre.

Nun hätten Sie ja auch nur für sich selbst Tagebuch schreiben können. Warum war es Ihnen wichtig, dass Ihre persönliche Perspektive einer Öffentlichkeit zugänglich wird?

Nun ja, die Geschichte war ja bereits maximal öffentlich. Ich habe das nicht forciert, sondern bin unverschuldet in diese Situation gekommen. Ich wollte die Deutungshoheit zurückzubekommen. Die erreicht man nicht, indem man Interviews gibt. Es geht um Selbstbestimmtheit, man muss die eigenen Worte finden und mit ihnen in die Öffentlichkeit gehen. Die fremde Geschichte sozusagen auf der öffentlichen Bühne abholen und wieder zu sich holen.

Wie steht es mit der Selbstbestimmtheit bei der aktuellen Berichterstattung?

Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass man von dieser als Beteiligter vorab gar nichts mitbekommt. Alle paar Jahre gibt eine Berichterstattung, etwa wenn einer der Täter wegen anderer Sache vor Gericht steht oder so, dann wird der Entführungsfall immer noch mal komplett nacherzählt. Wenn man dann als Betroffener an einem Sonntag bei einem Kaffee die Zeitung liest, guckt man unvermittelt in die Visage dieses Menschen und damit in die Fratze der Tat. Ich will jetzt nicht über Retraumatisierung sprechen, aber man wird doch für einen Moment aus der Bahn geworfen. Noch nicht einmal so große und souveräne Redaktionen wie beispielsweise bei der Zeit oder beim Spiegel kriegen es hin, in solchen Fällen einfach eine kurze E-Mail zu schreiben und zu sagen: Erschrecken Sie nicht, wir berichten am Sonntag auf Seite fünf darüber. Ich halte es für angemessen, an die Betroffenen zu denken und sie zu informieren, damit sie entscheiden können, die entsprechende Seite gar nicht erst aufzuschlagen oder die Ausgabe direkt in die Tonne zu schmeißen. Mir ist natürlich bewusst, dass dies für Redaktionen vermutlich nicht zu leisten ist – eine schöne Idee bleibt es trotzdem.

Wenn in Podcasts Werbespots geschaltet und Merchandise-Artikel zu anderen True-Crime-Produktionen verkauft werden, kann der Eindruck entstehen, dass es sich um eine Kommerzialisierung des Leids der Opfer handelt. Was denken Sie darüber?

Das ist eine Frage, über die ich bisher noch nie nachgedacht habe, weil ich diese Formate nicht konsumiere. Es ist schon geschmacklos, wenn man sich vorstellt, dass die Macher mit den Geschichten von Betroffenen Geld verdienen. Da gäbe es ja viele karitative Möglichkeiten, zum Beispiel die Einnahmen zu spenden oder mit Organisationen wie dem WEISSEN RING zusammenzuarbeiten.

Mit Ihrem Buch und der Verfilmung verdienen auch Sie Geld.

Was nicht verwerflich ist, weil es meine Geschichte und meine Familie ist.

Können Sie verstehen, dass sich andere Opfer an True-Crime-Produktionen beteiligen?

Es ist nachvollziehbar und berechtigt, wenn Betroffene dadurch das Gefühl bekommen, dass das Teil ihrer Aufarbeitung ist und sie Einfluss auf das Erzählte bekommen. Ob man das möchte oder nicht, ist eine Typfrage und eine Frage des individuellen Geschmacks. Deshalb ist es nicht angemessen, das von außen zu beurteilen. Ein anderer Punkt ist allerdings die Verantwortung jeder einzelnen Journalistin und jedes einzelnen Journalisten, erstmal zu schauen, ob die Person wirklich in der Lage ist, mitzumachen, oder ob man sie auch vor sich selbst schützen muss. Interviews mit Opfern anzuschauen, die beispielweise direkt nach der Tat geführt wurden, ist oft schwer erträglich. Da gilt die journalistische Sorgfaltspflicht. Mein Appell an die Medienmacher ist, nicht auf Teufel komm raus jeden vor die Kamera zu zerren und im Zweifelsfall auch bei einem fertigen Beitrag zu entscheiden, ihn nicht zu senden.

Ihr Vater sagte kürzlich in einem Spiegel-Interview auf die Frage, ob es eine Situation gegeben habe, wegen der er Sie um Verzeihung gebeten habe: „Ich hatte einen gravierenden Fehler gemacht, vor allem deshalb, weil ich die Sache nicht durch seine Augen angesehen hatte.“ Müssten das auch Medienmacher stärker beherzigen, sich mit der Perspektive der Betroffenen befassen und ihr Platz einräumen?

Ja, ganz klar. Aber ich fürchte, True Crime ist dafür einfach das falsche Genre, weil es sich an Schaulustige wendet. Anscheinend fehlt es den Macherinnen und Machern an Kreativität, ebenso spektakuläre Produktionen zu entwickeln, die sich mit den Opfern auseinandersetzen. Die Verfilmung meines Buchs war zum Beispiel der Versuch, von einem Verbrechen zu erzählen, ohne das Verbrechen zu erzählen, die Sichtweise der Angehörigen einzunehmen und die Familiendynamik zu zeigen. Das Ergebnis ist nicht das, was vielleicht allgemein als spektakulär empfunden wird, aber das ist auch zu kurz gedacht. Der Film soll zeigen, was die Tat mit Mutter und Sohn und ihrem Seelenleben macht. Das gibt es selten, weil es anders funktioniert, viel tiefer geht, als True Crime.

Bräuchte es also ein ganz neues Medien-Genre, bei dem das Erzählen nach der Tat ansetzt und Opfersichtweisen im Fokus sind?

Absolut. Wenn man näher darüber nachdenkt, ist es eigentlich erstaunlichdass es das trotz vieler journalistischer Crime-Formate so nicht gibt. Meinem Empfinden nach ist die Geschichte, die nach der Tat beginnt, viel interessanter und journalistisch betrachtet emotional reichhaltiger als die Tat selbst. Es unterstreicht meinen Punkt der gesamtgesellschaftlich unterbelichteten Opferperspektive, dass es derartige Formate noch nicht gibt.