Deutsches Rotes Kreuz übergibt Spendengeld an WEISSEN RING

Erstellt am: Mittwoch, 1. Oktober 2025 von Sabine

„Ich kann Betroffene nur ermutigen: Melden Sie sich bei der Außenstelle Magdeburg, wenn Sie Hilfe brauchen. Der WEISSE RING ist an ihrer Seite.“

Datum: 01.10.2025

Deutsches Rotes Kreuz übergibt Spendengeld an WEISSEN RING

Mit einer symbolischen Übergabe von rund 156.000 Euro an den WEISSEN RING Sachsen-Anhalt schließt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) Sachsen-Anhalt offiziell die landesweite Spendenaktion für die Opfer des Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt ab.

Die Spendenübergabe fand am 1. Oktober 2025 in der Landesgeschäftsstelle des DRK Sachsen-Anhalt in Magdeburg statt. Dr. Carlhans Uhle, Landesgeschäftsführer des DRK Sachsen-Anhalt, übergab dabei symbolisch die Spendengelder an Kerstin Godenrath, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Sachsen-Anhalt.

„Für uns beim DRK war es Ausdruck unserer Haltung, in einer solchen Ausnahmesituation wie dem Anschlag sofort zu handeln – schnell, pragmatisch und dort, wo die Not am größten war. Das gilt nicht nur für den Einsatz unserer Rettungskräfte am Abend des Anschlags, sondern auch für die Verantwortung, die wir bei der Verwaltung und zügigen Auszahlung der Spendengelder an die direkt Betroffenen übernommen haben“, so Dr. Carlhans Uhle.

Nach der Bearbeitung aller eingegangenen Anträge und der Auszahlung der Spendengelder an die Betroffenen übergab das DRK Sachsen-Anhalt nun den verbleibenden Betrag in Höhe von etwa 156.000 Euro an den WEISSEN RING.

„Mit der heutigen Übergabe der verbleibenden Mittel an den WEISSEN RING setzen wir ein bewusstes Zeichen: Hilfe hört nicht mit dem letzten Spendeneingang auf. Nachhaltige Hilfe braucht einen langen Atem – und verlässliche Partner, die diesen Weg konsequent weitergehen“, ergänzt Dr. Uhle.

Die Spendengelder dienen der Kostendeckung bereits angefallener und vorfinanzierter Hilfsleistungen im Rahmen der Arbeit des WEISSEN RINGS.

Kerstin Godenrath, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS Sachsen-Anhalt, dankte dem DRK und unterstrich, wie wichtig die Unterstützung durch Spenden ist. „Für die Betroffenen des grausamen Anschlags konnte der WEISSE RING bislang eine Gesamtsumme an Opferhilfen in Höhe von mehr als 480.000 EUR leisten“, sagt Godenrath. Dazu zählen Soforthilfen und Beratungsschecks für anwaltliche oder psychotraumatologische Erstberatung. Außerdem hat der Verein tatbedingte Bedarfe wie erhöhte Fahrtkosten, Mehrausgaben für die Ausstattung bei Reha- und Krankenhausaufenthalten sowie Mehrausgaben zur Überbrückung bei Einkommensausfall unterstützt. „Wichtig ist hier zu sagen, dass wir über keinen starren Leistungskatalog verfügen, sondern bedarfsgerechte Hilfen im Einzelfall prüfen und so auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen eingehen können“, erklärte die Landesvorsitzende und betonte: „Das alles ist nur möglich, weil so viele Menschen bereit sind, unsere Arbeit für die Opfer finanziell zu unterstützen.“

Der WEISSE RING hat bislang 475 Opfer betreut. Dazu zählen auch anonyme Fälle, die den Verein über das Opfer-Telefon erreichten. „Viele Betroffene werden auch heute noch von uns betreut. Es gibt beispielsweise Menschen, die noch krankgeschrieben sind oder denen noch Operationen bevorstehen. Auch rund um den Prozessbeginn gegen den mutmaßlichen Täter und zum Jahrestag erwarten wir großen Zulauf. Und ich kann Betroffene nur ermutigen: Melden Sie sich bei der Außenstelle Magdeburg, wenn Sie Hilfe brauchen. Der WEISSE RING ist an ihrer Seite“, sagt Kerstin Godenrath.

Die Kontaktdaten der Außenstelle Magdeburg: Telefon 0175/6528447, E-Mail: magdeburg@mail.weisser-ring.de

Wer die Arbeit des WEISSEN RINGS unterstützen möchte, kann hier spenden: https://spenden.weisser-ring.de/

 

Hintergrund
Nach dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 wurde ein Spendenkonto zur Unterstützung für Betroffene und Angehörige unter Federführung des DRK Sachsen-Anhalt eingerichtet. Die Spendenaktion wurde direkt nach dem Anschlag ins Leben gerufen. Die Initiative dazu kam von der Landesregierung Sachsen-Anhalt.

Auf dem Spendenkonto gingen bis zum Ende der Spendenaktion am 31. Mai 2025 in insgesamt gut 14.400 Einzelspenden mehr als 1,5 Millionen Euro ein. Neben zahlreichen Einzelpersonen beteiligten sich Unternehmen, Vereine und zivilgesellschaftliche Initiativen aus ganz Deutschland. Die eingegangenen Mittel wurden unmittelbar den direkt Betroffenen sowie deren Angehörigen ausgezahlt.

Das gespendete Geld wurde nach einem transparenten Verfahren in enger Abstimmung mit der Landeshauptstadt Magdeburg verteilt. Insgesamt 1068 Auszahlungen an Betroffene wurden vorgenommen.

Der exakte Betrag der Spendensumme an den WEISSEN RING beträgt 156.406,25 Euro.

Es braucht Vielfalt in der Opferhilfe

Erstellt am: Montag, 29. September 2025 von Sabine

Es braucht Vielfalt in der Opferhilfe

Paulina Haug unterstützt den WEISSEN RING seit 2022 als Opferberaterin in Konstanz

Paulina Haug

Paulina Haug engagiert sich seit 2022 ehrenamtlich beim WEISSEN RING. Sie begleitet Opfer zu Vernehmungen und Gerichtsterminen. Als Landesjugendbeauftragte organisiert sie Treffen und Projekte der Jungen Gruppe in Baden- Württemberg. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hierbei auf den Bereichen Aufklärung und Prävention.

Wie bist Du zum WEISSEN RING gekommen?

Mein Interesse an der Arbeit des Vereins entstand mit dem Beginn meines Jurastudiums. Ich habe schnell festgestellt, dass es im Rahmen der Strafverfolgung hauptsächlich um den Täter geht. Das Opfer bleibt meistens sich selbst überlassen. Es ist nicht einfach, sich mit den ganzen Rechtsnormen und dem Ablauf eines Strafverfahrens zu beschäftigen. Aber genau das ist es, was von Opfern erwartet wird, wenn sie ihre Rechte geltend machen wollen. Ich empfand diesen Zustand als ungerecht und wollte etwas dagegen unternehmen. So bin ich auf den WEISSEN RING gestoßen. Seit Frühjahr 2022 unterstütze ich als Opferberaterin die Außenstelle Konstanz. Außerdem bin ich aktuell eine der Landesjugendbeauftragten in Baden-Württemberg.

Warum ist der Verein auch für junge Menschen interessant?

Er gibt ihnen die Chance, sich in einem etablierten, bundesweit vernetzten Hilfssystem zu engagieren. Man wird nicht nur als Opferhelferin gebraucht, sondern kann auch eigene Perspektiven in die Präventions- oder Öffentlichkeitsarbeit einbringen. Der Verein bietet eine strukturierte Ausbildung, professionelle Begleitung und echte Wertschätzung für das Engagement. Es ist wichtig, dass sich auch junge Menschen beteiligen, weil Vielfalt bei der Opferhilfe essenziell ist. Insbesondere jüngere Opfer fühlen sich eher verstanden, wenn sie auf junge Mitarbeitende treffen.

Gibt es Fälle, die Dich besonders beschäftigt haben?

Ja, meistens sind das Fälle, die eine gewisse Nähe zu meinem eigenen Leben haben, beispielsweise wenn ich Studentinnen berate.

Wie würdest Du Deine Arbeit beim WEISSEN RING in drei Worten beschreiben?

Erfüllend, herausfordernd, nah am Menschen.

Was würdest Du Dir für Kriminalitätsopfer wünschen? Was muss sich aus Deiner Sicht verbessern?

Ich wünsche mir für Kriminalitätsopfer vor allem, dass sie gesehen, gehört und ernst genommen werden, ohne Schuldgefühle und ohne Scham. Sie sollen wissen, dass sie Halt in der Gesellschaft erfahren, nicht allein sind. Ich sehe hier vor allem bei Gerichtsverfahren Verbesserungsbedarf. Sie müssen opfergerechter werden. Außerdem sehe ich im digitalen Raum Nachholbedarf. Cybermobbing, digitale sexualisierte Gewalt und Hasskriminalität betreffen besonders junge Menschen, doch es fehlen oft spezialisierte Anlaufstellen.

Der kühle Kopf

Erstellt am: Montag, 29. September 2025 von Sabine

Der kühle Kopf

Als Fachanwalt für Strafrecht ist Hagen Karisch Opferanwalt, aber er vertritt auch Mörder und Betrüger. Diese gegensätzlichen Perspektiven helfen ihm bei seiner Arbeit für den WEISSEN RING.

Hagen Karisch - Der kühle Kopf

Hagen Karisch in Grimma. Der Familienvater wechselt zwischen Strafverteidiger und Opferbetreuer hin und her.

Für das Interview ist Hagen Karisch schnell aus Leipzig nach Grimma gekommen. Die 40 Kilometer lange Strecke schafft er in 30 Minuten. Nach dem Interview fährt er nach Leipzig zurück, denn dort hat er seine Anwaltskanzlei, die im Zentrum unweit vom Landgericht und der Staatsanwaltschaft liegt. Aber auch in Grimma hatte er Verhandlungen am Amtsgericht. Seit einiger Zeit befindet sich hier eine weitere Niederlassung seiner Kanzlei. Außerdem ist er seit Juli der neue Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS im Landkreis Leipzig mit Grimma als bevölkerungsreichster Stadt.

Die Altstadt von Grimma ist sehr schön, sagt Karisch. Auf seinem Weg ins Büro kommt er immer am Marktplatz vorbei. „Nur abends ist hier tote Hose.“ Das ist in Leipzig natürlich anders. Dort hat er viele spektakuläre Fälle verhandelt, über die sogar verschiedene Medien berichtet haben. Er selbst kann sich nicht mehr an alle Details erinnern. In den 32 Jahren als Anwalt hat er einfach zu viele Fälle betreut.

Einen kühlen Kopf bewahren

Einer dieser spektakulären Fälle war der Messerangriff von Chemnitz im August 2018, bei dem ein 35-Jähriger getötet und zwei Menschen schwer verletzt wurden. Karisch vertrat eines der Opfer, das lebensbedrohliche Stichwunden erlitt. Einer der Täter, ein Syrer, wurde zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der andere mutmaßliche Täter aus dem Irak ist weiter auf freiem Fuß und wird mit Haftbefehl gesucht. Der Fall sorgte auch deshalb lange für Aufsehen, weil es gewalttätige Demonstrationen von rechten Gruppen in der Stadt gab.

Als Opferanwalt musste Karisch trotz der explosiven Stimmung einen kühlen Kopf bewahren. Ihm ging es um die Aufklärung eines Verbrechens und nicht um Politik. Das Opfer, sein Mandant, sollte nicht beeinflusst oder instrumentalisiert werden.

Aus seiner langjährigen Erfahrung weiß er, dass die Opfer zu wenig repräsentiert sind und oft zu kurz kommen – für ihn ein Grund, sich neben seiner Arbeit beim WEISSEN RING zu engagieren. Auch in dem Chemnitzer Fall wurden die Aussagen des Opfers vor Gericht angezweifelt, was dem Betroffenen psychisch schwer zu schaffen machte.

Den Wunsch, Jura zu studieren, hatte Hagen Karisch bereits mit 18 Jahren, nach einem Praktikum am Bautzener Gericht. Danach stand für ihn fest, dass er mit diesem Beruf Menschen helfen kann und will.

„Ich kenne alle Seiten, und das hilft mir bei meiner Arbeit für den WEISSEN RING ungemein.“

Hagen Karisch

Von 1986 bis 1990 studierte er Rechtswissenschaft in Jena. Direkt nach der Wende gehörte er zu den ersten Studenten der ehemaligen DDR, die nach Bamberg gingen, wo die Sächsische Justiz sie neu ausbilden ließ. Dort machte er sein zweites Staatsexamen und blieb. „Das war eine tolle Zeit“, erinnert er sich, „ich bin mit dem Flugzeug ständig deutschlandweit unterwegs gewesen und hatte spannende Fälle.“

Auf seiner Kanzlei-Website sieht man einen Geigenspieler in einem Orchester. Darauf angesprochen, ob er selbst das Instrument spielt, sagt er lächelnd: „Nein, aber ich spiele die erste Geige.“ Im Jahr 1995 wird er von einer Leipziger Kanzlei abgeworben. „In Leipzig gab es zu der Zeit nur eine Handvoll Anwälte, die sich im Strafrecht auskannten“, sagt er. Durch seine Arbeit als Anwalt im Strafrecht kennt er den WEISSEN RING schon lange. Seit 2012 ist der 60-Jährige als Einzelanwalt selbstständig. So hat er auch schon einen Frauenmörder oder einen älteren Mann verteidigt, der zur Beihilfe wegen Drogenhandels verurteilt wurde und den die Presse „Drogen-Opa“ nannte. „Ich kenne alle Seiten, und das hilft mir bei meiner Arbeit für den WEISSEN RING ungemein“, sagt Karisch. Denn die meisten Fragen der Opfer beziehen sich auf das Strafverfahren, die Ermittlungsarbeit und die Opferrechte.

Im Oktober 2023 kam er als ehrenamtlicher Mitarbeiter zum Opferschutzverein. Nicht einmal zwei Jahre später ist Karisch Außenstellenleiter. Neben der umfangreichen Betreuung der Opfer sieht er seine Hauptaufgabe auch darin, den WEISSEN RING im Landkreis bekannter zu machen. Und dafür braucht es mehr Ehrenamtliche, denn im Moment ist er allein. „Interessenten können sich gern bei mir über die Website vom WEISSEN RING melden“, sagt er.

Ideen und Pläne für die Zukunft hat er: zum Beispiel eine Sprechstunde im Rathaus zweimal im Monat, Präventionskurse an Schulen zu Gefahren wie K.-o.-Tropfen oder in Altenheimen zum Thema Schock-Anrufe.

Bisher hat er etwa 20 Opferfälle betreut. Meist melden sich Frauen, die Opfer von Sexualstraftaten, Raub, Stalking oder Körperverletzung wurden. Manchmal geht es darum, Menschen wieder aufzurichten und ihnen Lebensmut zu geben, ein anderes Mal muss er mit Wut umgehen. „Ich glaube aber, dass ich das gut kann“, sagt Karisch, „ich mag es, Menschen zu führen und zu beraten.“

Aktuell betreut er ein vierjähriges Mädchen, das von seinem Vater sexuell missbraucht wurde. Die Mutter hatte sich Hilfe suchend im Landesbüro gemeldet und wurde an ihn vermittelt. „Ihre Tochter habe ihr erzählt, dass der Papa sie angefasst hätte“, erzählt Karisch. „Bei sexuellem Missbrauch geht es dann schnell darum, dass der Vater kein Umgangsrecht mehr hat, und schon sind wir im rechtlichen Bereich.“

Das vierjährige Mädchen, wurde von der Polizei vernommen. Es wurde eine Videovernehmung gemacht, damit das Kind nur einmal aussagen muss. Seine Arbeit geht jetzt über die für den WEISSEN RING hinaus, denn Karisch vertritt das Mädchen auch im Strafverfahren.

Er selbst hat eine 20-jährige Tochter, die Medizin in Magdeburg studiert. Seine Arbeit als Anwalt im Strafrecht hat ihn geprägt. „Ich weiß einfach, was alles passieren kann, und ich habe meiner Tochter zum Teil brutale Wahrheiten erzählt.“ Trotzdem kann ihn kein Opferfall so leicht aus der Ruhe bringen.

Die Visionärin

Erstellt am: Donnerstag, 25. September 2025 von Sabine

Die Visionärin

Noch gehört Lea Gärtner mit ihren 34 Jahren zu den Jungen Mitarbeitenden des WEISSEN RINGS, ist aber schon seit mehr als zehn Jahren im Verein aktiv und mittlerweile stellvertretende Landesvorsitzende in Hessen. Gärtner hat in der Zeit viel bewegt.

Lea Gärtner / Foto: Selina Stiegler

Lea Gärtner (34) in ihrem Haus in Offenbach. In ihrer Freizeit liest sie gerne, um mit den Gedanken in eine andere Welt zu tauchen.

Es ist einer dieser wechselhaften Sommertage. Noch scheint die Sonne durch die großen Fenster von Lea Gärtners Haus in Offenbach, bald werden jedoch dunkle Wolken aufziehen. Die Temperatur wird
drastisch fallen und literweise Wasser vom Himmel stürzen. Das strahlende Lächeln von Gärtner hingegen wird nicht verschwinden. Sie ist eine fröhliche Person.

Ihr erster Berufswunsch war Springreiterin. „Wie jedes Mädchen, das reitet“, sagt Lea Gärtner und lacht. Bei diesem Berufswunsch blieb es nicht, es kamen weitere hinzu: Ärztin, Anwältin … Heute hat die 34-Jährige einen Doktor in Politikwissenschaft und arbeitet im Bereich generative künstliche Intelligenz (KI). Dass sie einen eher wissenschaftlichen und technischen Weg einschlagen würde, war jedoch zunächst nicht zu erkennen.

„Als ich 14 Jahre alt war, fing ich an, in der Kanzlei meines Nachbarn zu jobben. Später, als es nicht mehr unseriös war, durfte ich sogar ans Telefon gehen“, sagt Gärtner. Lange ging sie diesen Weg weiter, wollte Anwältin werden, im ersten Jura-Semester kam dann aber die Erkenntnis: Es langweilte sie. Also studierte die Offenbacherin Politikwissenschaften.

Unergiebig war die Zeit in der Juristerei aber nicht, da sie dadurch zum WEISSEN RING kam. „Die Kanzlei war auf Familienrecht spezialisiert und da wird es schnell hässlich: Scheidung, Vorwürfe der häuslichen Gewalt und Sorgerechtsstreit. Rechtsanwälte können in ihrem Gebiet helfen, aber Betroffene haben viele Baustellen und da braucht es ebenfalls Leute, die helfen“, sagt Gärtner. Es gab nicht den einen Fall, dessentwegen sie beschloss, zum WEISSEN RING zu gehen. Es war die Masse an Fällen, bei denen sie sich dachte: „Es muss doch was passieren.“

Unvergessliche Fälle

Angefangen hat sie in der Opferbetreuung. Aus dieser Zeit sind ihr vor allem zwei Fälle in Erinnerung geblieben. „Es war zur Weihnachtszeit, wir waren knapp besetzt. Da kam eine Frau auf uns zu, die in der Vergangenheit sexualisierte Gewalt durch ihren Expartner erlebt hatte“, erzählt Gärtner. Nachdem Jahre vergangen waren, stand er wieder in ihrem Treppenhaus. Nicht weil er sie verfolgte, sondern weil er in die Wohnung über ihr zog. „Er konnte sich an die Tat nicht erinnern, es war wohl Alkohol im Spiel. Es gab kein Verfahren und wir hatten nichts gegen ihn in der Hand“, so Gärtner. Sie kontaktieren die Hausverwaltung. „Am Ende zog er nach einem Gespräch mit der Polizei freiwillig aus – das bestärkte mich darin, dass er wirklich nicht wusste, dass das, was er getan hat, sexualisierte
Gewalt war“, sagt Gärtner. Sie selbst habe es sehr ermutigt zu sehen, wie die Betroffene sich in der Zeit entwickelte, Erleichterung verspürte und ihr Leben weiterlebte.

Weniger glücklich denkt Gärtner an den zweiten Fall zurück. Es ging um sexualisierte Gewalt durch einen Zwölfjährigen an seiner fünfjährigen Schwester. Sie erlebte eine enorme Belastung zwischen dem Leid des Opfers, der Verzweiflung der Mutter und ihrer eigenen Hilflosigkeit. Die pragmatische Haltung des Kollegen half kurzfristig. „Ich konnte kurz durchatmen, und wir konnten auf der Sachebene helfen, aber nicht mehr tun. Da wird es niemals ein Happy End geben“, erinnert sich Gärtner, noch heute sichtlich berührt. Trotz Supervision und Gesprächen im Team betreute sie danach keine Fälle mehr, bei denen Kinder die Opfer waren.

„Für uns Junge Mitarbeitende ist das eine Herzensangelegenheit und ein superwichtiges Thema“

Lea Gärtner

Lea Gärtner ist nach mehr als zehn Jahren nicht mehr aus dem Verein wegzudenken. Sie engagiert sich in der Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie hält Vorträge an Schulen, gibt Medien Interviews und beteiligt sich auch an Social-Media-Formaten wie Instagram-Reels. Mittlerweile ist sie stellvertretende Landesvorsitzende in Hessen. In dieser Funktion bildet sie neue ehrenamtliche Mitarbeitende aus, außerdem ist sie Jugendbeauftragte und betreut die Jungen Mitarbeitenden.

Auch trifft man sie an Infoständen auf großen Veranstaltungen wie dem Christopher Street Day (CSD). Die jährlich stattfindende Demonstration kämpft für die Rechte von Homosexuellen, trans Personen
und queeren Menschen. „Für uns Junge Mitarbeitende ist das eine Herzensangelegenheit und ein superwichtiges Thema“, sagt Gärtner. Der WEISSE RING schreibe sich auf die Fahne, Opfern von Straftaten zu helfen, unabhängig von Religion, Hautfarbe, Geschlecht oder Orientierung. „Dadurch gehört für mich dazu, dass wir auf Menschen, die beispielsweise aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Opfer einer Straftat werden, anders eingehen“, sagt sie. Wird eine homosexuelle oder trans Person angegriffen, dann sei dies ein Angriff auf ihre Identität. „Der WEISSE RING sollte daher geschlechtergerechte Materialien anbieten, bei der Betreuung von Betroffenen auf die richtigen Pronomen achten, unabhängig von unserer persönlichen Meinung. Das ist unsere Aufgabe, und wer das nicht kann, sollte nicht helfen“, macht Lea Gärtner deutlich.

Ihre starken Meinungen und ihr damit einhergehendes Selbstbewusstsein kommen im Gespräch immer wieder durch. Sie muss nicht lange überlegen, um die richtigen Worte zu finden. Man merkt ihr an, wie viel Erfahrung sie im Opferschutz hat und wie lange sie den Werdegang des WEISSEN RINGS begleitet.

Kein Stehenbleiben

„Wir sollten uns als Verein weiterentwickeln, neue und junge Mitarbeitende gewinnen und dürfen nicht stehenbleiben“, fordert Gärtner. Sowohl auf politischer als auch auf technischer Ebene gelte es, eine Balance zu finden zwischen finanziellen Möglichkeiten und dem, was man Ehrenamtlichen an Veränderungen zumuten könne. „Das ist ein spannendes Feld, in dem sich viel bewegen wird“, sagt Gärtner. Ab 35 Jahren darf sie die Jungen Mitarbeitenden nicht mehr betreuen. „Was mich aber weiter im Verein halten wird, ist sowohl die inhaltliche Arbeit als auch die Möglichkeit, mich dort weiterzuentwickeln“, sagt Gärtner. So werde es nie langweilig. Sie blickt positiv in die Vereinszukunft, mit vielen neuen Mitarbeitern. Ihr Ziel: Neue Antworten auf alte Fragen zu finden, um Opfern weiterhin effektiv helfen zu können.

Nichtstun ist schlimmer

Erstellt am: Dienstag, 23. September 2025 von Sabine

Nichtstun ist schlimmer

Seine Karriere bis an die Spitze der Bremer Polizei sei ihm „eher so passiert“, sagt Jürgen Osmers. Umso strategischer plante er seinen Ruhestand – und kam so zum WEISSEN RING.

Jürgen Osmers

Jürgen Osmers im Bürgerpark Bremen. Der 64-jährige pensionierte Polizist kam erst zur Rente zum WEISSEN RING.

„Komm“, sagt er, „wir gehen ein Stück.“ Bürgerpark Bremen, Jürgen Osmers läuft los: in der Hand den Drogeriemarkt-Regenschirm, wir sind hier in Norddeutschland, auf dem Kopf die Werder-Kappe, wir sind in Bremen. Auf den Bürgerparkwegen gehen lächelnde Menschen mit angeleinten Alpakas spazieren, etwas später kommt uns eine Gruppe mit Eseln entgegen. Osmers wohnt hier ganz in der Nähe, im Park geht er joggen, und manchmal dreht er abends noch eine Extrarunde, jetzt lächelt er auch: „Ich muss ja gucken, ob alle Tiere wieder an ihrem Platz sind.“ Er nimmt Kurs auf ein kleines Gehege in der Parkmitte, neben Alpakas und Eseln leben dort Ziegen, Schafe und Bentheimer Schweine.

Osmers, ein drahtiger Mann von 64 Jahren, ist immer in Bewegung. Laufen, Schwimmen, Inlineskaten, früher außerdem Turmspringen und Squash. Vielleicht ist er auch deshalb zur Polizei gekommen damals, ganz genau weiß er es nicht, geplant hatte er nichts. „Das ist mir eher alles so passiert“, sagt er, er meint das Leben und die Karriere. Eigentlich habe er „etwas Kaufmännisches“ machen wollen, wie man das eben so macht in der alten Kaufmannsstadt Bremen. Aber dann seien die Kaufmannslehrstellen knapp gewesen, die Polizei bot Abwechslung und Sport und die Möglichkeit, mit der Ausbildung den anstehenden Wehrdienst gleich mit zu erledigen. So kam Jürgen Osmers zur Polizei, genauer: in den Streifendienst nach Osterholz-Tenever. Hochhaussiedlung, sozialer Brennpunkt, oder wie Osmers es nennt: „Klein-Manhattan“.

Er lernte, dass er mit Sprache und Zugewandtheit Menschen erreichen kann

Er verlangsamt den Schritt, wird kurz nachdenklich. „Man taucht ins pralle Leben ab“, erinnert er sich an seine Einsätze dort. Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, überhaupt die Gewalt. Er lernte, dass er mit Sprache und Zugewandtheit Menschen erreichen kann. Und dass nach einem Verbrechen, wenn die Polizei den Fall zu den Akten gelegt hat, für die betroffenen Menschen trotzdem eine Lücke bleibt. An den WEISSEN RING dachte er damals noch nicht.

Das Leben passierte ihm weiter. Spezialeinsatzkommando. Studium. Gehobener Dienst. Kriminalpolizei. Höherer Dienst. Osmers zog die Uniform aus, übernahm Leitungsposten. Staatsschutz. Ausbildung beim FBI in Quantico, USA. Organisierte Drogenkriminalität. Landeskriminalamt (LKA), am Ende war er dessen Chef. „Es klingt platt“, sagt er, „aber: Das war, trotz vieler Belastungen und auch vieler unschöner Erfahrungen, in der Summe total interessant, befriedigend und bereichernd. 43 Jahre lang.“

2022 stand der Pensionseintritt an, und so ungeplant ihm das Berufsleben passiert ist, so planvoll ging er den Ruhestand an, sozusagen mit Polizeimethoden. Er ermittelte, recherchierte. Surfte im Internet, las Broschüren. Er ging zu Veranstaltungen, sprach mit Menschen. So kam er zum WEISSEN RING, Landesverband Bremen. 60 Ehrenamtliche, darunter zwei aus dem Polizeidienst, Osmers nun als einer der beiden.

Das Leben passierte ihm weiter. Spezialeinsatzkommando. Studium. Gehobener Dienst

Als Jürgen Osmers sein Ehrenamt plante, wandte er auch das Ausschlussprinzip an. Ein Vorstandsamt wollte er erst mal nicht, Verantwortung hatte er lange genug getragen. In die Betreuung der Opfer wollte er auch nicht unbedingt, solche Gespräche hatte der Familienvater zu häufig geführt. „Da nimmt man so einiges Belastendes mit nach Hause“, erinnert er sich.

Der Bremer Landesvorsitzende, Hans-Jürgen Zacharias, schlug ihm die Öffentlichkeitsarbeit vor. Medienarbeit, Journalistengespräche, das kannte er ja als LKA-Chef. Und die Idee, gleich die komplette  Bandbreite des WEISSEN RINGS vertreten zu sollen, reizte ihn.

„Es klingt platt, aber: Das war, trotz vieler Belastungen und auch vieler unschöner Erfahrungen, in der Summe total interessant, befriedigend und bereichernd. 43 Jahre lang.“

Jürgen Osmers

Hier in der Turnhalle ist man beim „Du“, für Bedrohungssituationen empfiehlt er das „Sie“

„Guten Morgen!“ Zwei Wochen später steht Osmers an einem Wochenende in einer Sporthalle an der Weser, von hier sind es nur wenige Gehminuten zum gewaltigen U-Boot-Bunker „Valentin“ im Bremer Norden. Osmers trägt seine Ruhestands-Uniform: ein weißes Poloshirt mit dem blauen Aufdruck „WEISSER RING“. Vor ihm sitzen 25 Seniorinnen und Senioren auf Turnbänken, sie wollen heute Selbstbehauptung lernen. Osmers setzt sich in Bewegung, er steuert auf Jörg zu, einen Schauspieler und Trainer, bedrängt ihn, rempelt ihn an, berührt ihn. Jetzt mal alle, wie wehrt ihr euch da?

Die Teilnehmer rauschen und drängen durcheinander. „Ich sage Nein!“, ruft jemand. „Stopp!“, empfiehlt ein anderer. „Fassen Sie mich nicht an!“, schlägt eine Dritte vor.

Osmers gibt Tipps. „Sprecht die bedrohte Person an“, rät er. „Brauchen Sie Hilfe?“ Hier in der Turnhalle ist man beim „Du“, für Bedrohungssituationen empfiehlt er das „Sie“. „So erkennen Außenstehende, man ist sich fremd“, sagt er. Es ist das dritte Selbstbehauptungsseminar des WEISSEN RINGS in Bremen, die Warteliste ist lang. Zum zweiten hatte Osmers Radio Bremen eingeladen, der Beitrag lief vor Kurzem im Fernsehen.

„Öffentlichkeitsarbeit ist das Vehikel für die eigentliche Arbeit: für die Opferhilfe“, sagt er. „Die Opferhelfer stehen ja aus gutem Grund nicht in der Öffentlichkeit.“ Er sieht es als seinen Job an, den WEISSEN RING sichtbar zu halten, ebenso die Kriminalitätsopfer. „Es ist eine wichtige Funktion, völlig unabhängig den Betroffenen eine Stimme zu geben. Das macht keine Partei.“

Workshop Selbstbehauptungskurs

In einer Turnhalle gibt Jürgen Osmers einen Workshop und zeigt den Teilnehmenden, was sie gegen Belästigung in der Bahn oder im Zug machen können.

In der Turnhalle stehen zehn Stühle, dazwischen ein schmaler Gang. „Unsere Straßenbahn“, sagt Osmers. „Wer macht mit?“ Zögern bei den Teilnehmern. „Für so wenige Leute fährt die Bahn nicht…“ Beate, eine Kollegin vom WEISSEN RING, setzt sich. Jörg fläzt sich neben sie, streicht ihr durchs Haar. Jetzt wieder alle, was kann sie tun, was können andere Fahrgäste tun? „Fassen Sie mich nicht an!“ Leute  direkt ansprechen, mahnt Osmers, die Stimme einsetzen, „dann weiß der ganze Zug: Da braucht jemand Hilfe!“

„Viele haben Angst, etwas Falsches zu tun. Aber Nichtstun, das ist schlimm.“ Es klingt ein bisschen doppelsinnig, wenn er das sagt.

Ihm sei immer klar gewesen, dass sein Ruhestand kein ruhiger werden würde, sagte er vorher beim Gang durch den Bürgerpark. Geschickt greift Osmers die politischen Vereinsthemen auf und übersetzt sie für Bremen: Er tritt im regionalen Fernsehen auf und spricht mit dem „Weser-Kurier“, der Zeitung vor Ort: über die elektronische Fußfessel als Schutz für Frauen vor gewalttätigen Partnern, über die Belastungen durch True-Crime-Filme für Opferangehörige.

Im Bürgerpark ziehen dunkle Wolken auf. Osmers lässt den Schirm zu und steuert die nahe „Meierei“ an, dort gibt es ein Dach und eine gute Marzipantorte. Er ist zufrieden mit seinem Ruhestandsleben
als Medienmann des WEISSEN RINGS in Bremen. „Damals musste ich immer bei kritischen Themen Rede und Antwort stehen“, sagt der ehemalige LKA-Chef. Er lächelt: „Jetzt darf ich eine richtig gute Sache verkaufen.“

Helfer in extremen Lagen

Erstellt am: Freitag, 19. September 2025 von Sabine

Helfer in extremen Lagen

Die Messerattacke am Hauptbahnhof, die Schüsse bei den Zeugen Jehovas – der Hamburger Landesverband war zuletzt mehrfach besonders intensiv gefordert, aber mit Kristina Erichsen-Kruse, Werner Springer und ihrem Team gut vorbereitet.

HH Hauptbahnhof

Nach den Gewalttaten am Hauptbahnhof hat Hamburg die Videoüberwachung ausgebaut.

An Gleis 13 und 14 des Hamburger Hauptbahnhofs herrscht an einem späten Freitagabend im Sommer, an dem es immer noch schwülwarm ist, wie so oft Gedränge. Kurz bevor der Zug einfährt, wollen die Wartenden sich gute Plätze am Bahnsteig sichern. Im Bahnhof und um ihn herum erinnert fast nichts an die Attacke im Mai. Auffällig sind aber doch die neuen, KI-gestützten Überwachungskameras
und die Sicherheitskräfte, die präsenter sind als sonst und wieder einen Kontrollgang machen. Und dann ist da noch dieses mulmige Gefühl: „Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass
so etwas wieder passieren könnte“, sagt ein Reisender. Am 23. Mai dieses Jahres stach hier eine 39-Jährige, die kurz zuvor aus einer Psychiatrie entlassen worden war, auf 15 Menschen ein. Vier von ihnen
schwebten zeitweise in Lebensgefahr.

Es braucht mehr Psychologen mit Kassenzulassung

Kristina Erichsen-Kruse setzt sich seit Jahrzehnten für den WEISSEN RING ein, sie ist Vize-Landesvorsitzende, Koordinatorin für sogenannte Großereignisse und in Hamburg bestens vernetzt. An jenem Abend bekam sie früh die ersten Informationen. „Im ersten Moment dachte ich: Wieder eine Tat durch einen psychisch erkrankten Menschen, der offenbar in eine Klinik gehört hätte“, erinnert sie sich. Als frühere langjährige Leiterin des Maßregelvollzugs der Stadt weiß sie aber, wie komplex solche Fälle sind. Erichsen-Kruse konzentrierte sich darauf, die ersten helfenden Schritte einzuleiten: „Wir haben einen sehr guten Hamburger Leitfaden erarbeitet, der für die dann einzusetzenden Kolleginnen und Kollegen sehr hilfreich ist. Ich habe die wichtigsten Schritte verinnerlicht. Dann geht das sehr schnell.“ So benachrichtigte sie die Landesvorsitzende Monika Schorn, bereitete die Außenstellen auf Opferanfragen vor, blieb mit allen Beteiligten in ständigem Austausch, etwa mit dem Büro des Opferbeauftragten und der Polizei.

Kristina Erichsen-Kruse

Als einstige Leiterin des Hamburger Maßregelvollzugs musste Erichsen- Kruse oft in kurzer Zeit schwierige Entscheidungen treffen.

Erichsen-Kruse hat an einem Tisch im Landesbüro Platz genommen, bietet Kaffee und Kekse an. Hinter ihr hängt ein zweiteiliges Kunstwerk, gestaltet von einer Mutter, die ihre Tochter durch eine
Gewalttat verloren hat. Links steht: „O – Ohnmacht, P – Pein, F – Furcht, E – Einsamkeit, R – Ratlosigkeit“. Rechts: „O – Optimismus, P – Präsenz, F – Freunde, E – Engagement, R – Regeneration“.

Zu dieser Entwicklung möchten Erichsen-Kruse und die anderen Ehrenamtlichen beitragen – auch nach besonders schweren Verbrechen, von denen viele Menschen betroffen sind. Die Hamburgerin
mit dem scharfen Verstand scheint kaum etwas aus der Ruhe zu bringen. Das hängt auch mit ihrem Berufsleben zusammen, wo sie mit Menschen zu tun hatte, die schwerste Gewalttaten begangen
hatten, und sie innerhalb kurzer Zeit Entscheidungen treffen musste.

Nach dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 hat der WEISSE RING ein Konzept für sogenannte Großereignisse entwickelt. Darin wird beispielsweise festgelegt, wann es sich um ein solches Ereignis handelt und was zu tun ist. Ein Großereignis wird unter anderem als Situation definiert, „die durch eine große Anzahl von Verletzten sowie anderen Geschädigten oder Betroffenen einen Betreuungsbedarf verursacht, der die Kapazität der zugehörigen Außenstelle übersteigt“. Eine Konsequenz ist eine größere Unterstützung durch die Bundesgeschäftsstelle in Mainz. Das Opferreferat  kann dann zum Beispiel Unterlagen zentral bearbeiten, das Team Medien & Recherche die Öffentlichkeitsarbeit koordinieren. Außerdem wird öffentlich kommuniziert, dass der WEISSE RING für die Opfer da ist und wie man ihn erreichen kann.

"Wenn die Polizei um halb vier morgens bei mir anruft und fragt, ob ich wach sei, sage ich ,Jetzt ja‘, und dann geht es weiter.“

Kristina Erichsen-Kruse

Kristina Erichsen-Kruse legt großen Wert auf die persönliche Begegnung; die aufsuchende Arbeit sei die Seele des WEISSEN RINGS. Als Koordinatorin in Extremlagen ist jedoch in erster Linie Telefonieren angesagt, was sie auch gerne tut: „Die ständige Erreichbarkeit empfinde ich nicht als Problem. Wenn die Polizei um halb vier morgens bei mir anruft und fragt, ob ich wach sei, sage ich ,Jetzt ja‘, und dann geht es weiter.“

Nach der Messerattacke sorgte sie mit ihrem Team etwa dafür, dass Opfer eine Traumatherapie, Geld für Fahrten und nicht zuletzt im Gespräch das Gefühl bekamen, „dass sie nicht alleine sind, nichts alleine bewältigen müssen, sondern uns jederzeit anrufen und Rat bekommen können.“ Im direkten Kontakt sei ihr bewusst geworden, dass es Angehörigen emotional manchmal schlechter gehe als unmittelbar Betroffenen – so wie einer Frau, die mitansehen musste, wie ihre Mutter niedergestochen wurde.

Erichsen-Kruse hebt hervor, dass der WEISSE RING in Hamburg ein sehr gutes Team habe, natürlich auch für Großereignisse. Das sei in diesen Fällen entscheidend: „Wir haben hier einen Pool von kompetenten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die viel Erfahrung gesammelt haben.“ Sie fügt hinzu, dass man aus Großereignissen Erkenntnisse für die Opferhilfe ziehen könne. Lücken könnten dadurch sichtbar werden. Der Stadtstaat Hamburg sei insgesamt gut aufgestellt, es brauche aber mehr Psychologen mit Kassenzulassung, zumindest in den etwas abgelegenen Stadtteilen.

Werner Springer

Werner Springer schätzt die Möglichkeit der Supervision, um seine Einsätze als Opferbetreuer zu reflektieren.

Der Landesverband Hamburg war in den vergangenen Jahren mehrfach besonders stark gefordert. Am Abend des 9. März 2023 eröffnete ein 35-Jähriger im Königreichssaal der Zeugen Jehovas im Stadtteil Alsterdorf das Feuer. Bevor das frühere Mitglied der Gemeinde sich selbst erschoss, ermordete er sieben Menschen, darunter ein ungeborenes Kind. Am Tatort, einem schmucklosen Gebäude mit
Flachdach an einer viel befahrenen Straße, sieht heute alles so aus wie vor den tödlichen Schüssen. Keine Gedenkstätte, kein Schild, keine Bilder, keine Blumen. Die Zeugen Jehovas sind umgezogen.

Ein Jahr vor der Amoktat bei den Zeugen Jehovas hatte der Landesverband, als Ergänzung zum bundesweiten Konzept, einen Hamburger Leitfaden für Großereignisse formuliert. Auch hier sind Aufgaben geregelt und die zuständigen Leute beim WEISSEN RING sowie bei den Netzwerkpartnern mit Kontaktmöglichkeiten benannt. Wer zuerst von dem Ereignis erfährt, „informiert unverzüglich alle anderen Ansprechpartner/innen innerhalb des Landesverbandes“, steht darin. Oder: Die bestmögliche Versorgung der Betroffenen erfordere eine „einvernehmliche, ressourcenorientierte und
vernetzte Kooperation“ aller Beteiligten in der Opferhilfe. Zur Nachsorge heißt es, dazu zähle „die proaktive Frage nach Therapiebedarf sowie Unterstützung bei Vermittlung an eine/n Therapeut/in“.

„Auch aufgrund der besonderen Konstellation haben wir im Landesverband beschlossen, alle Opfer im Tandem zu betreuen.“

Werner Springer

Werner Springer, der seit 2010 für den WEISSEN RING aktiv ist, engagiert sich ebenfalls als Koordinator für Großereignisse und hat nach der Tat bei den Zeugen Jehovas auch Betroffene betreut. Wie Erichsen-Kruse hat er die Besonnenheit, die es dafür braucht. Von der Amoktat erfuhr er beim Fernsehen. „Da blieb einem natürlich erst mal das Herz stehen“, blickt er zurück und spricht dabei ruhig, mit Bedacht und leichtem Hamburger Einschlag. Springer war jahrzehntelang Polizist und unter anderem auf St. Pauli und als Jugendbeauftragter im Einsatz, was ihm in Krisensituationen hilft.

Springer war jahrzehntelang Polizist und auf St. Pauli sowie als Jugendbeauftragter im Einsatz, was ihm in Krisensituationen hilft

Kurz nach dem Tatabend saß er an einem Runden Tisch, mit Polizei, Versorgungsamt, Staatsanwaltschaft, Psychotherapeutenkammer, einem Pressesprecher der Zeugen Jehovas und anderen. „Die Kernfragen waren: Wie ist die Lage? Welche Opfer sind bekannt, was brauchen sie jetzt? Ich habe unsere Hilfsmöglichkeiten vorgestellt. Auch aufgrund der besonderen Konstellation haben wir im Landesverband beschlossen, alle Opfer im Tandem zu betreuen, hauptsächlich durch meine Kollegin Cornelia Haverkampf und mich“, sagt der Leiter zweier Außenstellen. Vor den Treffen erkundigten sie sich über die Anschauungen und Rituale der Zeugen Jehovas.

Alsterdorf Hamburg

Am Tatort in Alsterdorf erinnert heute nichts an das tödliche Attentat auf die Zeugen Jehovas.

Manches irritierte sie dennoch. Etwa, dass Vertreter der Glaubensgruppe ihre Beratungsgespräche genau protokollierten, oder dass die Betroffenen sehr sachlich über das Attentat sprachen. Doch Springer und Haverkampf hatten ein wichtiges Prinzip des WEISSEN RINGS im Blick: „Wir helfen allen Betroffenen, individuell, unabhängig von Herkunft, Religion und anderen Dingen, und akzeptieren ihre Bedürfnisse“, so Springer.

Eine Hilfe sei der Leitfaden für Großereignisse gewesen: „Man weiß vorher nicht, ob so etwas wirklich funktioniert. Aber das tat es. Die Hinweise und Informationen gaben uns Sicherheit.“

Die Ehrenamtlichen kümmerten sich bei den Zeugen Jehovas etwa darum, dass die Opfer finanzielle Unterstützung bekamen, erklärten Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Weil in der Rechtsmedizin nicht genug Platz war, organisierten und finanzierten sie das Abschiednehmen im Großhamburger Bestattungsinstitut. Später finanzierte der WEISSE RING an Silvester einen Kurzurlaub in Dänemark, wo kein Knall zu hören ist. Solche Geräusche hätten die Betroffenen retraumatisiert. Insgesamt wurden 35 Menschen betreut.

Wichtig ist den Hamburger Ehrenamtlichen die Möglichkeit zur Supervision, die auch Werner Springer genutzt hat: „Das hat mir geholfen, alles besser zu verarbeiten, auch weil ich den Umgang der Zeugen Jehovas mit dem Tod besser verstand. Ihrer Ansicht nach wird Jehova irgendwann die Macht übernehmen und es kommt zur Auferstehung.“

Erichsen-Kruse und Springer werden Betroffenen weiter zur Seite stehen. Sie hoffen, dass die jüngsten „großen Ereignisse“ die letzten bleiben. Sollte es anders kommen, sind sie vorbereitet. Für den Fall appelliert Springer an Medien und Öffentlichkeit: „Nach solchen Taten geht es oft nur um den Täter. Schaut auf die Betroffenen. Schaut auf die Betroffenen!“

Der Wegweiser

Erstellt am: Freitag, 20. Juni 2025 von Sabine

Der Wegweiser

Nach dem Messerangriff von Aschaffenburg war die Stimmung in der Republik politisch aufgeheizt, auch wegen der bevorstehenden Bundestagswahl. Vor Ort blieb Rainer Buss besonnen. Der stellvertretende Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS half den Betroffenen, indem er ihnen Perspektiven aufzeigte.

Als langjähriger Vorsitzender Richter hat der Aschaffenburger Rainer Buss nicht nur gelernt, Fragen zu stellen, sondern auch, sich in ganz unterschiedliche Menschen hineinzuversetzen und ihnen aufmerksam zuzuhören.

Von seinem Schreibtisch aus kann Rainer Buss auf den Park Schöntal schauen. An einem sonnigen Vormittag im März steht dort die Blüte des Magnolienhains bevor, des größten in Bayern, während die Krokusse schon sprießen.

Buss, vor seiner Pension langjähriger Vorsitzender Richter, erinnert sich an den Nachmittag des 22. Januar: „Ich war gerade mit einer Angelegenheit für den WEISSEN RING beschäftigt.“ Eben sah der Park noch „ganz unschuldig“ aus. Dann hört der ehrenamtliche Mitarbeiter die Sirenen, sieht „Blaulicht ohne Ende“ und bald einen Hubschrauber. Rainer Buss weiß: „Es muss etwas ganz Schlimmes passiert sein.“

Der 28-jährige, offenbar psychisch kranke Enamullah O. hat eine Kindergartengruppe attackiert und einen zweijährigen Jungen sowie einen 41-jährigen Mann erstochen, der den Täter aufhalten wollte. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt.

Etwa fünfzehn Minuten nach den ersten Sirenen bekommt Buss einen Anruf von der Polizei, am Abend nimmt er am Treffen der Opferbetreuungsgruppe teil und bespricht, wie der WEISSE RING jetzt helfen kann. In den folgenden Stunden und Tagen leitet der Jurist die nächsten Schritte ein. Er ruft bei der Trauma-Ambulanz in Würzburg an, um die Betroffenen dorthin zu vermitteln. Knüpft Kontakte zu Versorgungsamt, Landesunfallkasse, Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wenige Tage später gibt diese besorgten Eltern bei einer Veranstaltung wichtige Hinweise zum Umgang mit der Tat. Ein Rat, der Buss in Erinnerung blieb: „Kinder brauchen nach so einem Ereignis Routine, und insbesondere Eltern müssen diese Stabilität vermitteln.“

„Die seelische Not war enorm“

Der frühere Richter bekommt von der Polizei eine Liste mit 15 Namen von Betroffenen. Über „Mittelspersonen“, die nah dran sind, geht er auf die Menschen zu. „Die seelische Not war enorm; die Mutter des getöteten Kindes und dessen Tante zum Beispiel waren am Boden zerstört“, blickt Buss zurück. „Es hat mich berührt, das Unglück der Betroffenen und die Tränen zu sehen.“ Aber „man funktioniert“, auch aus dem Impuls heraus, „etwas machen, schnell helfen zu wollen“. In den ersten Wochen ist der Ehrenamtliche in Vollzeit im Einsatz. Die damalige Situation in der Aschaffenburger Außenstelle des WEISSEN RINGS war „recht ungünstig“, sagt deren Leiter Wolfgang Schwarz. Der frühere Polizist, der auch Landesvorsitzender ist, hatte sich den Arm gebrochen, war gerade operiert worden. Andere, ansonsten aktive Mitglieder waren nur eingeschränkt verfügbar. Vieles lag nun bei Buss.

Er und Schwarz telefonierten regelmäßig miteinander, tauschten sich über die Hilfsmöglichkeiten aus. Die nordbayerische Außenstelle hätte Unterstützung aus der Mainzer Zentrale des WEISSEN RINGS bekommen können. Der Leiter der Außenstelle und sein Stellvertreter besprechen sich und gelangen zu der Überzeugung: „Wir schaffen das mit eigenen Kräften.“ Mit seinem Wissen, aber auch mit seiner besonnenen Art sei Buss ein Glücksfall für den Verein, auch und vor allem in solchen Lagen, beschreibt Schwarz seinen Vereinskollegen.

Aschaffenburg im Park: Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Wolfgang Schwarz (links) und Rainer Buss haben sich nach dem Attentat regelmäßig über Hilfsmöglichkeiten ausgetauscht.

Schnell wurde die Tat zu einem bestimmenden Thema im Bundestagswahlkampf, vor allem rechte Akteure versuchten, sie zu instrumentalisieren und Ressentiments zu schüren. Der AfD-Politiker und Faschist Björn Höcke und seine Partei riefen zu einer Gedenkveranstaltung in der Stadt auf. Rund 70 ihrer Anhänger kamen. Aschaffenburg und die Region hielten dagegen: An der Gegendemo nahmen 500 Menschen teil. Bereits kurz nach der Attacke waren 3000 Menschen zu einem stillen, würdevollen Gedenken zusammengekommen.

In der Nähe des Tatortes entstand bald eine kleine Gedenkstätte, mit unzähligen Kerzen, Blumen und Kuscheltieren. Ein Zelt, in dem Seelsorger Gespräche anboten, wurde aufgebaut. Verschiedene Organisationen, der WEISSE RING und die Stadt knüpften ein helfendes Netzwerk und sammelten Spenden. Bei Treffen gab Buss einen Überblick über die Situation der Betroffenen und deren Bedürfnisse. Oberbürgermeister Jürgen Herzing (SPD) mahnte wenige Stunden nach der Attacke zur Besonnenheit: „Ein Geflüchteter greift unschuldige Menschen an, verletzt und tötet sie. Wir sehen die Parallelen“, sagte er mit Blick auf die Amokfahrt von Magdeburg und den Messerangriff in Solingen. Aber: „Wir können und dürfen die Tat eines Einzelnen niemals einer gesamten Bevölkerungsgruppe anrechnen.“

„Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist.“

Rainer Buss

Buss kritisiert die Versuche, das Verbrechen zu instrumentalisieren. Ja, der Täter sei ein Geflüchteter. Es habe aber auch Menschen mit Migrationsgeschichte gegeben, die ihn verfolgten und Opfern halfen. Auch habe ihm missfallen, wie Bundes- und Landespolitik bemüht waren, sich gegenseitig die Schuld dafür zu geben, dass die Tat nicht verhindert wurde. Bei seinem Einsatz für die Betroffenen habe er solche Nebengeräusche ausgeblendet. „Wir helfen immer, wenn es notwendig ist, egal, wer der Täter war und wer betroffen ist“, erklärt Buss. „Das ist ein wichtiger Grundsatz des WEISSEN RINGS“, ergänzt Schwarz.

Als Richter hatte Buss in spektakulären Wirtschaftsprozessen den Vorsitz, es ging etwa um Millionenbetrug, Schmiergeld- und Steuerskandale. Er hat gelernt, harte Fragen zu stellen und Urteile zu fällen, aber auch, sich in Menschen hineinzuversetzen. Wenn Buss Opfer begleitet, achte er darauf, „rücksichts- und verständnisvoll vorzugehen, mich erst einmal zurückzunehmen und zu schauen, wie die Menschen mit der Situation umgehen, und mich dann intuitiv anzupassen“. Er tröste schon, verstehe sich aber „nicht als Seelsorger, sondern als Wegweiser“. Informationen könnten Halt geben; vor der polizeilichen Vernehmung habe er einem schwerverletzten Helfer deshalb in Ruhe den genauen Ablauf erklärt. „Ich habe erfahren, dass es vielen Menschen am meisten hilft, wenn ihnen Wege aufgezeigt werden, wie es weitergehen kann, etwa bei der psychologischen Hilfe. Sie möchten auch in den aller schlimmsten Lagen eine Perspektive haben.“ Oft geht es um praktische Fragen: Wie kann eine Behandlung finanziert, wie der Hauskredit weiter abbezahlt werden?

Häufig kommen zum unfassbaren Schmerz über den Verlust von Angehörigen noch große Geldsorgen und Überforderung durch Bürokratie hinzu, auch im Fall von Aschaffenburg. Buss erklärt dann Formulare sowie Leistungen etwa der gesetzlichen Unfallversicherung und privaten Haftpflichtversicherung oder setzt sich dafür ein, dass die Unfallkasse 15.000 Euro Vorschuss gibt oder der Spendentopf angezapft wird, damit eine Betroffene sich die Fahrt in die Würzburger Trauma-Ambulanz leisten kann.

Aschaffenburg: Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Nach dem Messerangriff gab es eine enorme Solidarität mit den Betroffenen. In der Nähe des Tatortes legten viele Menschen Kuscheltiere, Kerzen, Bilder und Briefe nieder.

Als Rainer Buss von seinem Einsatz erzählt, klingelt das Telefon. „Buss, WEISSER RING. Guten Tag“, sagt er. Der Anrufer braucht seinen Rat zur Frage, ob Geld aus dem Opferfonds auf Bürgergeld angerechnet wird. Unter bestimmten Bedingungen nicht, ähnlich wie Schmerzensgeld. Buss nimmt sich Zeit und erklärt die Regeln.

Zum WEISSEN RING kam er vor zehn Jahren – durch Wolfgang Schwarz, der seit 18 Jahren dabei ist. Sie gehen in denselben Fitnessclub, dort schlug Schwarz Buss ein Engagement vor. „Ich habe nach etwas Sinnvollem gesucht und fand die Idee gut, auch weil ich aus meiner beruflichen Erfahrung weiß, dass Opfer häufig zu kurz kommen.“ Schwarz war es zuvor ähnlich ergangen. Beide freuen sich über Rückmeldungen von Menschen, die, wie Schwarz es formuliert, „wieder Boden unter den Füßen bekommen“. So wie die Betroffenen, die Buss erzählt haben, die Traumatherapie habe ihnen in den vergangenen Monaten geholfen, aus ihrem Tief herauszukommen.

In Aschaffenburg habe das Netzwerk, auch beim Sammeln von Spenden, gut funktioniert, sagen die Ehrenamtlichen. Zu den Beteiligten zählten etwa der Verein Gutherzig und die Humorbrigade Hofgarten. Kürzlich hat die Stadt eine Bilanz veröffentlicht. Demnach sind für die Betroffenen 485.000 Euro zusammengekommen.

Der Park Schöntal

Zwei Monate nach der Tat steht Rainer Buss im sonnendurchfluteten Park Schöntal. Eine Gänsefamilie mit Küken watschelt in den Teich; junge und alte Menschen nutzen das gute Wetter für einen Spaziergang. Vor der provisorischen Gedenkstätte, die an die Attentate erinnert, bleibt ein Paar stehen. „Is scho schlimm“, sagt der Mann. Die beiden halten inne und schweigen eine Weile. Vor ihnen, in der Nähe des Tatortes, liegen Dutzende von Kuscheltieren, dazu Puppen, Blumen, Kerzen, kleine Engelsstatuen und handgeschriebene Briefe. Ein Teddy trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Lasst uns einfach wieder Mensch sein!“, auf eine Leinwand hat jemand eine Variante der Nationalhymne geschrieben: „Einigkeit und Recht und Freiheit / sei Gesetz in jedem Land / blüht ihr Menschen auf der Erde / blüht mit Liebe und Verstand“.

Ob der Anschlag seinen Blick auf den Park Schöntal verändert habe? „Nein“, sagt Rainer Buss, der oft mit dem Fahrrad durchfährt. Es sei nach wie vor ein schöner Park – wenngleich er manchmal an die Ereignisse denkt. Nach dem Messerangriff hat er mit seinen Kolleginnen und Kollegen bislang 25 Leute betreut.

Von seinem Schreibtisch aus wird Buss den Park im Blick behalten, auch bei seiner Arbeit für den WEISSEN RING. „Die Betreuung von Opfern ist oft eine langfristige Aufgabe. Wir sind weiterhin für sie da, wenn sie uns brauchen.“

 

“Opfer hatten früher keine Rechte“

Erstellt am: Montag, 16. Juni 2025 von Sabine

“Opfer hatten früher keine Rechte“

Lothar Pohle war 40 Jahre Kriminalkommissar und hat in vielen Fällen von sexualisierter Gewalt ermittelt. Seit 33 Jahren engagiert er sich beim WEISSEN RING und hat für den Verein in der Lausitz Pionierarbeit geleistet.

Lothar Pohle und seine Frau Monika vom WEISSEN RING.

Lothar Pohle und seine Frau Monika engagieren sich beide intensiv für den Verein.

An diesem kalten Wintertag sieht das Leben von Lothar Pohle gemütlich und beschaulich aus. Er öffnet die Tür zu seinem Haus in der Siedlung Gallinchen, einem Ortsteil von Cottbus. Drinnen brennt das Holz im Kaminofen, es gibt Kaffee und Kekse, Katze Emmi liegt auf dem Kratzbaum und schaut in den Garten. Hier lebt Pohle seit 1997 mit seiner Frau Monika. Lothar Pohle hat eine Maurerlehre gemacht und viel an dem Haus selbst gebaut. Ein Ort, an den man sich zurückziehen und Kraft tanken kann.

Pohles Berufsleben als Kriminalkommissar war alles andere als beschaulich: „Ich habe mich um sexuelle Gewalt gegen Kinder und Frauen und um Kinderpornografie gekümmert“, sagt er. Der Beruf war am Anfang mehr ein Zufall als ein Wunsch. Als studierter Bauingenieur hatte er in der DDR schlechte Konditionen. „Ich habe weniger verdient als die Bauarbeiter und wollte als Brandursachenermittler zur Feuerwehr“, erinnert er sich. Damals rauchte er noch und bekam die Stelle aus gesundheitlichen Gründen nicht, aber bei der Kripo wurde ihm eine angeboten.

Also beginnt er Ende der 1970er-Jahre das Polizeistudium und arbeitet danach 40 Jahre bei der Polizei Cottbus und Land. Über diese Arbeit kam er zum WEISSEN RING. Ein Kollege aus Nordrhein-Westfalen, wo es den Opferhilfeverein schon gab, „hat angeregt, so etwas auch in Cottbus aufzubauen“. Die hier zuständige Staatsanwältin, Martina Eberhart, wurde Außenstellenleiterin in Cottbus-Stadt und holte Pohle ins Team. „Sie ist heute die Dienstälteste, ich komme direkt nach ihr“, sagt er und lacht.

Weshalb Pohle sich für Betroffene engagieren wollte? „Die Verfahren, die ich bearbeitet habe, waren für die Opfer eine Katastrophe.“ Die Frauen hätten bei der Polizei aussagen müssen, bei der Staatsanwaltschaft und noch einmal vor Gericht. Hinzu kamen Verteidiger, die es als ihren Job angesehen hätten, alles, was die Frauen sagen, anzuzweifeln. Die Opfer seien zur damaligen Zeit nur Zeugen gewesen, erklärt Pohle. “Sie hatten keine Rechte, und ich wollte einfach etwas für die Opfer tun, ohne damals zu wissen, wie man das am besten machen kann.“

Im Jahr 1992 wird er Mitglied im WEISSEN RING. Mit Eberhart baut er im Süden Brandenburgs das Netz des Vereins auf. “Wir waren nur wenige Leute und haben trotzdem in zwei Jahren mehrere Außenstellen eröffnet.“ Seit 1997 leitet Pohle auch die Außenstelle Spree-Neiße mit heute neun Mitarbeitenden, vier davon sind Frauen. Seit 2022 ist er Vize-Landesvorsitzender. Der WEISSE RING hat in Brandenburg 19 Außenstellen, was auch ein Verdienst von Lothar Pohle ist.

„Ich bin ein positiver Mensch geblieben. Ich sehe ja auch, dass es Menschen wie uns gibt, die helfen wollen und Guten tun.“

Lothar Pohle

Als Kommissar saß er oft im Gerichtssaal. Deshalb weiß er, wie wichtig die Reformgesetze sind. Sie geben den Opfern mehr Rechte: zum Beispiel der Verletztenbeistand vor Gericht. Oder das Recht auf Informationen: Wann wird der  Täter verurteilt, wann wird er entlassen? Pohles Frau Monika ist ebenfalls im Verein aktiv. Sie war Lehrerin und betreut vor allem Fälle aus dem Frauenhaus.

Pohles frühere Arbeit und jene für den WEISSEN RING überschneiden sich oft. Sexualstraftaten machen bis zu 40 Prozent der Fälle aus, mit denen sich der Verein beschäftigt. Nur häusliche Gewalt kommt noch häufiger vor, dahinter folgen Stalking und Mobbing.

Als Kommissar sah Pohle Menschen sterben

Wenn man Lothar Pohle nach den Fällen befragt, in denen er früher als Kommissar ermittelte, blockt er erst mal ab. “Ich mag es nicht, wenn Gewalt- oder Sexualstraftaten heute zur Unterhaltung verwendet werden.“ Er meint damit vor allem die vielen True-Crime-Formate.

Doch natürlich erinnert Pohle sich noch an vieles. Als Kommissar hat er drei Menschen nach Tötungsdelikten sterben sehen. In einem anderen Fall wurde eine Frau im Fahrstuhl vergewaltigt, später konnten Lothar Pohle und seine Kollegen den Täter verhaften. “Das war immer ein befriedigendes Gefühl, und ich habe es mir nicht nehmen lassen, dem Täter persönlich die Handschellen anzulegen.“ Neben einer gewissen Härte brauche man als Kommissar auch Einfühlungsvermögen. Eine Eigenschaft, die ihm bei seiner ehrenamtlichen Arbeit hilft.

Ein Fall von sexuellem Kindesmissbrauch ließ ihm über Jahre keine Ruhe. Eine 17-Jährige hatte versucht, Suizid zu begehen. Sie erzählte Pohle, ihre Mutter habe sie als Kleinkind an Männer verkauft, die sie missbrauchten. “Aber was kann ein Kind von damals drei bis vier Jahren heute noch wissen?“, fragt er. “Ich konnte keine Täter ermitteln.“ Doch er konnte der Frau dann trotzdem helfen, als Ehrenamtlicher des WEISSEN RINGS. Auch danach hielt sie Kontakt zu ihm, mehr als 20 Jahre lang. “ich war ihr Gesprächspartner am Telefon und habe sie in der psychiatrischen Klinik besucht, wo sie lange Zeit lebte“, erzählt er. Später erfuhr er von ihrer schweren Krankheit, an der sie mit Anfang 40 verstarb. Pohle ging zu ihrer Beerdigung.

Kornelia Fröde will „Menschen wie meiner Mutti helfen“

Beim Sport haben sich ­Kornelia Fröde und Thomas Karius ­kennengelernt, heute betreibt das Paar eine Kampfkunstschule und leitet seit Kurzem die Außenstelle im Burgenlandkreis.

Wie geht er mit all den Erfahrungen um? Er sei ein positiver Mensch geblieben, sagt Pohle. “Ich sehe ja auch, dass es Menschen wie uns gibt, die helfen wollen und Gutes tun.“ Bis heute ist ihm wichtig, sich in seinem Privatleben nicht mit den Fällen zu beschäftigen. “Man muss aus dem Gespräch rausgehen und es abhaken, sonst wird man irre.“ Lange Zeit hat er nach dem richtigen Ausgleich gesucht. Dass es dafür mehr als ein Hobby braucht, beweist seine lange Liste: Mit dem Motorrad durch die Wälder fahren, Angeln, Fußball, Badminton, Volleyball.

Nicht alle Fälle sind so belastend wie der Fall der jungen Frau, und er hat die Möglichkeit, den Opfern zu helfen. Sein Telefon für den WEISSEN RING hat Pohle immer bei sich. Er arbeitet mit der Polizei und der kommunalen Verwaltung zusammen, die Hilfsbedürftige an ihn verweisen. Seine erste Frage laute immer: “Wie kann ich Ihnen helfen?“

Oft fragen Betroffene nach ganz pragmatischer Hilfe, etwa nach einem Einbruch. Dann kann der WEISSE RING zum Beispiel unbürokratisch eine Soforthilfe von 300 Euro auszahlen. Oder Lothar Pohle hilft bei der Suche nach einem Therapieplatz. “Wir haben auch schon mehrmals die Kosten für eine Tatortreinigung übernommen“, sagt er, “auch so kleine Hilfen sind wichtig für die Menschen.“ Entscheidend sei, dass er sie unterstützt, aus ihrer Ratlosigkeit zu kommen. Wenn ihm da gelingt, hat er ein gutes Gefühl. Damals wie heute.

Starke Stimme für die Ausbildung

Erstellt am: Freitag, 13. Juni 2025 von Sabine

Starke Stimme für die Ausbildung

Menschen vor Ort helfen, ihnen persönlich begegnen – das ist es, was Ruth Stöpper seit 42 Jahren an der Arbeit des WEISSEN RINGS schätzt. Seit 1990 leitet sie die Außenstelle Paderborn und ist seit 2002 Vize-Landesvorsitzende in NRW/Westfalen-Lippe. Besonders am Herzen liegt der 71-Jährigen die Aus- und Weiterbildung der Ehrenamtlichen.

Ruth Stöpper aus Paderborn liegt die Aus- und Weiterbildung der Ehrenamtlichen am Herzen

Ruth Stöpper verfügt über eine jahrzehntelange Erfahrung als Lehrerin, auch deshalb ist Aus- und Weiterbildung ihr Spezialgebiet.

Jedes Mal, wenn Ruth Stöpper ihre Wohnung betritt oder Besuch empfängt, schließt sie die Tür von innen ab. Es ist bekannt, dass Sendungen wie „Aktenzeichen XY … ungelöst“ das Sicherheitsgefühl verändern können. Moderator Eduard Zimmermann warnte unermüdlich vor Neppern, Schleppern und Bauernfängern – und gründete  1976 den WEISSEN RING. „Eduard Zimmermann habe ich sogar mal persönlich getroffen bei einer Veranstaltung des WEISSEN RINGS in Mainz“, sagt Stöpper. Aber die Wohnungstür schließe sie aus einem anderen Grund ab: „Ich hatte früher eine Katze, die konnte auf die Türklinke springen. Da habe ich mir das angewöhnt“, sagt die 71-Jährige schmunzelnd.

Ruth Stöpper hat in 42 Jahren beim WEISSEN RING sehr viele Opfer von Straftaten betreut. Menschen, die mit Fäusten, Messern und sogar Säure angegriffen worden  sind. Sie sei vorsichtiger, aufmerksamer im Umgang mit Menschen. Angst habe sie nicht. „Vielleicht habe ich einfach Glück, dass ich eine sehr robuste Psyche habe“, sagt  die pensionierte Hauptschullehrerin. Möglicherweise helfen auch die professionellen Strukturen des Vereins, die Stöpper vor allem bei der Ausbildung mit auf- und ausgebaut hat. Es dürfte kaum Ehrenamtliche im Verein geben, die nicht von ihr ausgebildet worden sind. In 31 Jahren als Referentin im Grundseminar hat sie nur ein einziges Mal gefehlt. „Da bin ich samstags morgens wach geworden und konnte nicht sprechen. Ich war heiser und habe krächzend am Telefon abgesagt.“ Stöpper hört sich sonst ganz anders an: Ihre markante Stimme ist ihr Markenzeichen.

 

“Es gibt Fälle, die vergisst man nicht.“

Ihr erster Einsatz war eine einschneidende Erfahrung: „Es gibt Fälle, die vergisst man nicht“, erzählt Ruth Stöpper. In einem kleinen Ort bei Paderborn war eine Frau von ihrem Ehemann ermordet worden. Sie hinterließ drei Kinder. „Ich habe die Eltern der Getöteten betreut, bei denen die Kinder untergekommen waren. Das war schwierig für mich, ich hatte ja keinerlei Erfahrung“, schildert Stöpper. „Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen: Wir sind allein losgegangen, ohne eine richtige Einarbeitung. Man ist ins kalte Wasser geworfen worden.“ Erschwerend kam hinzu: Die Eltern des Opfers zeigten ihr Bilder von ihrer toten Tochter. Ruth Stöpper  erschrak: „Ich bin mit der Frau zur Grundschule gegangen.“ In solchen Momenten zeige sich, sagt Stöpper rückblickend, wie wichtig es ist, die Ehrenamtlichen fundiert auszubilden.

Ruth Stöpper ließ sich nicht abschrecken und stieg tiefer in die Arbeit des WEISSEN RINGS ein. Im Jahr 1990 übernahm sie die Leitung der Außenstelle Paderborn.  Heute ist sie mit 71 die Älteste im sechsköpfigen Team, der Jüngste ist 33. Manchmal geäußerte Vorbehalte gegen jüngere Ehrenamtler kann sie nicht nachvollziehen: „Wir brauchen junge Leute, auch wenn diese vielleicht beruflich und familiär stärker eingebunden sind und weniger Zeit einbringen können.“ Stöpper ärgert sich, wenn sie einen Satz hört: „Das habe ich immer schon so gemacht und mache das weiter so.“ Sie betont: „Ich bin auch seit mehr als 40 Jahren dabei. Aber wir müssen uns doch
alle immer gemeinsam darum bemühen, auf der Höhe der Zeit zu bleiben.“

„Es ist die Hilfe vor Ort. Für Menschen, denen ich persönlich begegne und die mir gegenübersitzen.“

Ruth Stöpper

Deshalb nutzt Stöpper ihre pädagogische Kompetenz für die Aus- und Weiterbildung beim WEISSEN RING. Seit 2003 zunächst in einer Arbeitsgruppe, dann im zuständigen Fachbeirat, seit 2006 in der Seminarleitung. Das Grundseminar hat sie mit aufgebaut, um bundesweit die gleichen Voraussetzungen zu schaffen. „Unsere Ausbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist wirklich gut. Wir können voller Überzeugung sagen: Wir sind professionell arbeitende Ehrenamtler.“ Zehn bis zwölf Wochenenden im Jahr ist sie bundesweit unterwegs. Bis zu ihrer Pensionierung hat sie Vollzeit als Hauptschullehrerin die Fächer Deutsch, Geschichte, Erdkunde,  Biologie und Kunst unterrichtet. „Ich war sehr gerne Lehrerin.“ Als Stöpper 2006 für ihre ehrenamtliche Tätigkeit das Bundesverdienstkreuz erhielt, hat sie einige ihrer Schülerinnen und Schüler zur Verleihung ins Paderborner Rathaus eingeladen. Sie sollten miterleben, dass Engagement sich lohnt und der Staat es anerkennt.

Kraft gibt ihr das Feedback von Betroffenen

„Die Opferarbeit macht keinen Spaß – aber es ist eine sehr erfüllende Aufgabe.“ Kraft gebe ihr das Feedback von Betroffenen: „Es ist schön, gespiegelt zu bekommen, dass der WEISSE RING in der Gesellschaft so akzeptiert ist und Menschen positive Erfahrungen gemacht haben.“ Entspannen kann Ruth Stöpper am besten, wenn sie reist oder liest. Während die Reisen gern in sonnige Gefilde gehen – nach Ägypten, Italien oder Kuba – fällt ihre Wahl bei Büchern eher auf kühle Krimis aus dem Norden.

Beim Rückblick auf 42 Jahre Opferhilfe sagt Ruth Stöpper: „Ich sehe bei den Mitarbeitenden einen unglaublichen Wandel. Sie stellen viel auf die Beine und haben viele gute Ideen auch im Bereich Prävention.“ Beim Blick in die Zukunft sagt sie: „Das ist jetzt nicht akut, aber irgendwann ist mal Schluss. Ich hoffe, dass ich selbst noch  merke, wenn es an der Zeit ist, aufzuhören.“ Bis dahin wolle sie neugierig bleiben: „Wenn man nicht aufgeschlossen ist, kommt auch nichts Neues mehr dazu im Leben.“

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.