Wie stehen die Parteien zum Opferschutz?

Erstellt am: Donnerstag, 13. Februar 2025 von Sabine

Foto: Michael Kappeler/dpa

Datum: 13.02.2025

Wie stehen die Parteien zum Opferschutz?

Am 23. Februar findet die Bundestagswahl 2025 statt. Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat die Wahlprogramme von sieben Parteien ausgewertet und den Fokus dabei auf Prävention und Opferhilfe gerichtet.

Mainz – Wie sollen Frauen künftig vor Gewalt geschützt, wie die vielen Angriffe in der digitalen Welt eingedämmt werden? Was tun die Parteien gegen Extremismus, und wie könnte der Zugang zu Waffen in Zukunft geregelt werden? Die Redaktion des WEISSEN RINGS, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, hat die Wahlprogramme von CDU/CSU, SPD, Grünen, FDP, AfD, Linke und BSW ausgewertet, mit dem Fokus auf Prävention und Opferhilfe. Der Verein möchte damit Wählerinnen und Wählern einen schnellen Überblick vor der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 ermöglichen.

Die Unterschiede bei den für Betroffene relevanten Fragen sind zum Teil enorm. Insgesamt umfasst die Analyse die Punkte Gewalt gegen Frauen, Kinder und Einsatzkräfte, Digitale Gewalt, Antisemitismus, Extremismus und den Zugang zu Waffen.

Einige Erkenntnisse der Recherche:

Ein konsequenter Schutz für Frauen gehört zu den Kernthemen des WEISSEN RINGS. SPD und Grüne kündigen in ihren Programmen in diesem Punkt die umfangreichsten Maßnahmen an, gefolgt von der Union und von der Linken, die sich für eine vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention ausspricht. Zu den Forderungen von SPD, Grünen und CDU/CSU gehört auch der stärkere Einsatz der elektronischen Fußfessel, ebenso wie eine Stärkung der Frauenhäuser. Die Grünen wollen zusätzlich etwa einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung verankern, die Sozialdemokraten „erhebliche sexuelle Belästigung“ unter Strafe stellen. Die FDP beschränkt sich weitgehend auf eine sichere Finanzierung der Frauenhäuser durch Länder und Kommunen sowie mehr Unterstützung für ungewollt Schwangere. Das BSW fordert genügend kostenfreie Frauenhausplätze und Schutzwohnungen, bleibt ansonsten aber eher vage. Noch weniger gibt es bei der AfD, hier fehlen spezifische Aussagen zum Thema fast vollständig.

Auch beim Thema digitale Gewalt schneiden BSW und AfD am schwächsten ab. In beiden Wahlprogrammen ist von angeblicher Zensur und „Denunziation“ die Rede, die AfD lehnt staatliche Zuschüsse für Faktenchecker ab. Im Gegensatz dazu positioniert sich die SPD am konsequentesten gegen Hass im Netz, gefolgt von Union und Grünen. Letztere und die Sozialdemokraten planen etwa ein digitales Gewaltschutzgesetz und legen ein besonderes Augenmerk auf betroffene Amts- und Mandatsträger. Zu den weiteren Plänen der SPD zählt eine Verpflichtung von Plattformbetreibern, strafbare Inhalte zu löschen.

Am 23. Februar findet die Bundestagswahl 2025 statt. Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Im Bereich Extremismus und Terrorismus ist festzuhalten, dass die Maßnahmen der Parteien überwiegend täterfokussiert sind. Eine Ausnahme bilden hier die Grünen, die eine stärkere Unterstützung für Terror-Opfer anstreben. CDU, SPD, Grüne und FDP wollen alle Formen von Extremismus bekämpfen. Die Union legt einen Schwerpunkt auf Islamismus. Auffällig ist, dass konkrete Mittel gegen Rechtsextremismus – obwohl ihn das Bundesinnenministerium und viele Landesverfassungsschutzämter als größte Gefahr bezeichneten – wenig Raum einnehmen. Das BSW sieht eine große Gefahr in der Zuwanderung, und die in Teilen selbst als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD plant eine „Präventivhaft für ausländische Gefährder“. Rechtsextremismus spielt in ihrem Wahlprogramm als Bedrohung fast keine Rolle. Die Linke setzt auf eine „soziale Politik“ zur Prävention und ein Verbot „neonazistischer Organisationen“.

Auch bei der Frage, wie ein sicherer Umgang mit Waffen aussehen soll, unterscheiden sich die Parteiprogramme. Die Grünen setzen sich am stärksten für Restriktionen ein und wollen Gesetze verschärfen und so die Verfügbarkeit etwa von tödlichen Schusswaffen einschränken. CDU, SPD und Grüne nennen alle das Ziel, Extremisten zu entwaffnen. Die SPD will den Zugang zu Waffen besser kontrollieren, die Grünen sprechen sich für eine intensivere Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden aus. CDU und FDP betonen, Schützen und andere Gruppen, die legal über Waffe verfügten, dürften nicht kriminalisiert werden. Von einem „Generalverdacht“ gegen Legalwaffenbesitzer spricht die AfD, und will nur gegen illegalen Waffenbesitz vorgehen. Die Linke und BSW äußern sich nicht näher zum Thema.

Urteil gegen ehemaligen Mitarbeiter des WEISSEN RINGS ist rechtskräftig

Erstellt am: Donnerstag, 30. Januar 2025 von Sabine

Datum: 30.01.2025

Urteil gegen ehemaligen Mitarbeiter des WEISSEN RINGS ist rechtskräftig

Das Vergewaltigungs-Urteil gegen den ehemaligen Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS im Hochsauerlandkreis ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat die Revision des 74-jährigen Angeklagten als "unbegründet" verworfen.

Das Vergewaltigungs-Urteil gegen den ehemaligen Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS im Hochsauerlandkreis ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat die Revision des 74-jährigen Angeklagten als „unbegründet“ verworfen. Die Nachprüfung des Urteils habe keine Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben, heißt es in dem Beschluss vom 17. Dezember 2024.

Das Landgericht Arnsberg hatte den Mann im April 2024 zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Kammer sah es als erwiesen an, dass der Mann eine Frau, die sich als Kriminalitätsopfer hilfesuchend an den WEISSEN RING gewandt hatte, im September 2020 vergewaltigt hat. Im Fall einer zweiten Frau, die der Mann gegen ihren Willen in sexueller Absicht berührt haben soll, stellte das Gericht das Verfahren ein.

Der Bundesgerichtshof betonte in seinem Beschluss nun noch einmal, „dass die Nebenklägerin durchgehend einen der sexuellen Handlung des Angeklagten erkennbar entgegenstehenden Willen hatte und dies dem Angeklagten auch bewusst war“. Der Angeklagte hat nun die Kosten auch dieses Verfahrens zu tragen – dazu gehören auch die Auslagen der Nebenklage.

Alle Hintergründe zu dem Fall hat der WEISSE RING transparent auf einer Internet-Seite aufgearbeitet: https://weisser-ring.de/hsk

„Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Erstellt am: Dienstag, 14. Januar 2025 von Sabine

Foto: Helmut Fricke/dpa

Datum: 14.01.2025

„Eintreten gegen jeden Antisemitismus muss an erster Stelle stehen“

Die neue Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, Barbara Richstein, fordert ein klares Eintreten gegen Antisemitismus.

Mainz – Jüdisches Leben befindet sich nach Einschätzung des WEISSEN RINGS in Deutschland auf dem Rückzug – unbemerkt von der Mehrheit der Menschen im Land. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und dem Krieg in Gaza sei die Zahl der antisemitischen Straftaten sprunghaft gestiegen, teilte der WEISSE RING der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in Mainz mit.

„Dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Angst um ihre Sicherheit haben müssen, empört mich und stimmt mich tieftraurig“, sagte die neue Bundesvorsitzende von Deutschlands größter Opferschutzorganisation, Barbara Richstein.

WEISSER RING fordert Eintreten gegen Antisemitismus 

Viele Angehörige der jüdischen Gemeinschaft dächten darüber nach, auszuwandern – aus Angst vor Gewalt. „Im Kampf gegen die zunehmende gesellschaftliche Verrohung muss das Eintreten gegen jeden Antisemitismus an erster Stelle stehen, ganz egal, ob der von rechts, von links oder aus dem islamistischen Spektrum kommt.“

Die CDU-Politikerin aus Brandenburg hat mehrere Jahre in Israel gelebt und ist seit November dieses Jahres auch stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg.

Deutlich mehr antisemitische Straftaten 

Die Polizei stellt von Jahr zu Jahr mehr rechtsextreme Straftaten fest. 2024 waren dem Bundesinnenministerium zufolge mehr als 33.000 rechtsextreme Straftaten verübt worden, mehr als jemals seit Beginn der Erhebungen 2001.

Die Polizei habe 2024 bis September mehr als 3.200 antisemitisch motivierte Straftaten gezählt – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum, berichtete der WEISSE RING. Das Spektrum reiche von Anfeindungen über Bedrohungen und Gewalt bis zu Terror.

Dem Bundeskriminalamt seien im Kontext des aktuellen Nahost-Konflikts seit dem 7. Oktober 2023 rund 10.770 Straftaten (Stand 8. Januar 2025) über die Länder gemeldet worden, teilte ein Sprecher in Wiesbaden mit. Davon seien 4.300 Straftaten als antisemitisch motiviert eingestuft worden. Schwerpunkte waren Sachbeschädigungen, Propagandadelikte und Volksverhetzungen.

Schnelle Hilfe für die Opfer von Magdeburg

Erstellt am: Montag, 23. Dezember 2024 von Sabine

Magdeburg trauert: Ein Meer aus Blumen und Kerzen erinnert an die Opfer der Amokfahrt. Foto: Christoph Soeder/dpa

Datum: 23.12.2024

Schnelle Hilfe für die Opfer von Magdeburg

Nach der schrecklichen Gewalttat auf einem Weihnachtsmarkt in Magdeburg am Freitagabend hilft der WEISSE RING allen Betroffenen und hat ein Spendenkonto eingerichtet.

Magdeburg/Mainz – Der WEISSE RING bietet nach den furchtbaren Ereignissen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt allen Betroffenen schnelle und unbürokratische Hilfe an. „Menschen sind schwer verletzt worden, Menschen haben Angehörige verloren, Menschen haben Schreckliches gesehen – so etwas sollte niemand mit sich allein ausmachen müssen“, sagt Kerstin Godenrath, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Sachsen-Anhalt. Sie sei fassungslos, bestürzt und vor allem auch wütend über die Tat, so Godenrath. „Aber jetzt ist es Zeit, an die Opfer zu denken.“

Hilfesuchende können den WEISSEN RING bundesweit täglich von 7-22 Uhr unter der Rufnummer 116 006 erreichen.

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden.“ Foto: Moritz Bott

„Ich möchte alle, die jetzt Hilfe brauchen, ermutigen, sich bei uns zu melden. Wir sind für die Opfer da und können versuchen, gemeinsam die Probleme und Herausforderungen zu lösen, vor denen jetzt sicherlich viele Betroffene stehen“, sagt Kerstin Godenrath. Das Angebot richte sich an Verletzte ebenso wie an Angehörige, Augenzeuginnen und -zeugen oder Ersthelferinnen und -helfer.

„Unsere professionell ausgebildeten ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS sind für alle Betroffenen da“, so Godenrath. „Sie begleiten sie, lotsen sie durch das Hilfesystem und versuchen, ihnen Halt zu geben.“ Zu den konkreten Unterstützungsmöglichkeiten von Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer gehören unter anderem finanzielle Soforthilfen oder die Vermittlung von Kontakten zu Fachärzten und Behörden.

Der WEISSE RING hat unter dem Stichwort „Opferhilfe Magdeburg“ ein Spendenkonto bei der Deutschen Bank (IBAN DE26 5507 0040 0034 3434 00) eingerichtet.

Mindestens fünf Tote und 200 Verletzte

Am Freitagabend ist um kurz nach 19 Uhr ein 50-jähriger Mann aus Saudi-Arabien mit einem Geländewagen über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast. Mindestens fünf Menschen starben, mehr als 200 wurden verletzt, Dutzende davon schwer. Medienberichten zufolge soll der Mann fast 400 Meter weit mit hoher Geschwindigkeit durch den gut besuchten Markt gefahren sein.

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet das für die Mitarbeitenden?

Eine Herzensangelegenheit

Erstellt am: Donnerstag, 28. November 2024 von Sabine

Eine Herzensangelegenheit

Mehr als 25 Jahre saß Barbara Richstein als Abgeordnete im Brandenburger Landtag, fast genauso lange ist sie Mitglied im WEISSEN RING. Im September 2024 wählten die Delegierten des Vereins sie zur neuen Bundesvorsitzenden. Was möchte sie in den kommenden zwei Jahren als oberste Opferschützerin bewegen? Ein Treffen in Berlin.

„Wir sind ein gutes Team“: Barbara Richstein mit Vorstandskollegen bei der Bundesdelegiertenversammlung 2024 in Frankfurt am Main.

An einem kühlen Oktobernachmittag tuckern Ausflugsdampfer auf der Spree durchs politische Berlin, Hauptstadttouristen machen Fotos vom Bundeskanzleramt. Am Ufer gegenüber liegt der „Zollpackhof“. Der Biergarten des Lokals ist verwaist, auf den Tischen sammelt sich buntes Herbstlaub. Der Internetseite des Restaurants zufolge befand sich hier um 1700 das erste Ausflugslokal Berlins. Heute werben die Betreiber mit der Berliner Tradition und schenken zwischen holzvertäfelten Wänden und blau-weißen Tischtüchern bayerisches Bier aus.

Barbara Richstein, 59 Jahre alt, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Brandenburg und seit knapp vier Wochen zudem neue Bundesvorsitzende des Vereins, hat den Treffpunkt aber nicht wegen der krachledernen Gemütlichkeit vorgeschlagen, sondern wegen der verkehrsgünstigen Lage in Berlin-Mitte.

Sie öffnet ihre Aktentasche und legt einen Stapel Papier aufs Tischtuch. Das, sagt sie, habe sie neulich beim Ausräumen in ihrem Büro gefunden: Kopien von Presseartikeln, erschienen im Jahr 2002, als Richstein Justizministerin in Brandenburg wurde. „Der Opferschutz soll verstärkt werden“, schrieb die „Lausitzer Rundschau“, der „Tagesspiegel“ zitierte groß: „Ein verstärkter Opferschutz liegt mir besonders am Herzen“. Barbara Richstein lächelt. „An der Aussage hat sich nichts verändert“, sagt sie heute, 22 Jahre später.

Seit 1999 saß die CDU-Politikerin aus Falkensee am Rande Berlins im Brandenburgischen Landtag, zuletzt als Vizepräsidentin des Potsdamer Hauses. Zur Landtagswahl im September 2024 ist die 59-Jährige nicht mehr angetreten. Nach 25 Jahren im Landtag ist für Richstein also Schluss in der Politik, oder wie sie sagt: „Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.“

Barbara Richstein ist seit 2002 Mitglied im WEISSEN RING.

Lassen Sie uns raten, Frau Richstein: Sie sind mit dem Fahrrad da?

Nein. (Sie lacht.) Mit der Bahn, der Hauptbahnhof ist ja nur ein paar Hundert Meter entfernt von hier.

Bei Ihrer Vorstellung vor der Wahl zur Bundesvorsitzenden des WEISSEN RINGS wurde das augenzwinkernd als ausdrücklicher Vorteil der Kandidatin Richstein angepriesen: Sie könnten künftig jederzeit mit dem Fahrrad in die Hauptstadt radeln, um dort öffentliche Termine wahrzunehmen und Netzwerke zu knüpfen.

Das stimmt. Aber wissen Sie auch, woher die Fahrrad-Anspielung kam?

Nein. Verraten Sie es uns?

Im Sommer war ich mit einer Freundin auf einer Fahrradtour, so wie in jedem Jahr. Genau in diese Zeit fiel aber die digitale Sitzung des Geschäftsführenden Bundesvorstands des WEISSEN RINGS, bei der bekannt gegeben werden sollte, dass ich kandidieren werde. Eigentlich wollten wir bis zu der Sitzung eine Gaststätte erreicht haben, das hat aber nicht geklappt. So habe ich mich dann mit Fahrradhelm eingewählt. Unglücklicherweise war das in der Nähe von Wacken, wo gerade der erste Tag des berühmten Heavy-Metal-Festivals gefeiert wurde und die Musik entsprechend dröhnte. (Sie lacht.) Aber es hat dann ja doch alles geklappt.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie als Bundesvorsitzende kandidiert haben? Zunächst waren Sie als Versammlungsleiterin nominiert, nicht als Kandidatin für die Vereinsführung …

Das kam auch überraschend für mich. Patrick Liesching, der die vergangenen beiden Jahre der Bundesvorsitzende war, hat mich im Sommer in einem persönlichen Gespräch gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, seine Aufgaben zu übernehmen. Ich empfand und empfinde es als eine große Auszeichnung, überhaupt gefragt zu werden, und es passte gut zusammen mit dem Ende eines Lebensabschnitts: Vor zwei Jahren hatte ich entschieden, dass ich nach 25 Jahren aus der Landespolitik ausscheide und mich neuen Aufgaben widmen möchte.

Allerdings bin ich auch Aufsichtsrätin beim Deutschen Leichtathletikverband. Deshalb musste ich erst mal abklären, ob meine Engagements für beide Seiten okay sind. Das passte, und das freut mich sehr, denn der WEISSE RING liegt mir schon seit über 20 Jahren am Herzen.

Was ändert sich im WEISSEN RING mit Barbara Richstein als Bundesvorsitzender?

Ich glaube, ich kann wunderbar anknüpfen an die gute Arbeit, die Patrick Liesching in den vergangenen beiden Jahren geleistet hat. Ich bin sehr glücklich, dass wir ihn überzeugen konnten, als Stellvertreter weiter dem Geschäftsführenden Bundesvorstand anzugehören.

Wir sind ein gutes Team in dem Gremium, und die Zusammenarbeit ist einfach schön. Ich werde das Rad auch nicht neu erfinden: „Digitale Gewalt“ wird uns weiter beschäftigen, das war 2024 das Jahresthema des WEISSEN RINGS, und das wird es auch im kommenden Jahr sein. Die Maschen der Betrüger im Digitalen werden immer raffinierter, deshalb ist Prävention in diesem Bereich so wichtig.

Der WEISSE RING hat aber auch viele andere Dinge angestoßen. Dazu gehört unser Anliegen, dass die Fußfessel-Überwachung nach dem spanischen Modell auch in Deutschland eingeführt wird, um Opfer häuslicher Gewalt besser zu schützen.

Haben Sie Hoffnung, dass das spanische Modell zeitnah kommt?

Um ganz ehrlich zu sein: In dieser Legislaturperiode, in der keiner weiß, wie lange die überhaupt noch bestehen wird, glaube ich da eher nicht dran.

Was Barbara Richstein zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Zwei Wochen nach unserem Gespräch wird Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) entlassen – das Ende der Ampelkoalition. Auch FDP-Justizminister Marco Buschmann, der einer bundesrechtlichen Fußfessel-Regelung ablehnend gegenüberstand, tritt zurück. Neuwahlen sollen Ende Februar stattfinden.

Ich habe aber die Hoffnung, dass eine neue Bundesregierung das spanische Modell in der kommenden Legislaturperiode auf den Weg bringt. Das wird auch Zeit, denn jeder Tag ohne die Verschärfung des Gewaltschutzgesetzes ist für die Betroffenen einer zu viel.

,,Wir müssen noch lauter werden und die Probleme im Opferschutz klar als solche benennen, den Finger in die Wunde legen."

Barbara Richstein
Im Frühjahr 2024 haben Sie, damals noch als designierte Versammlungsleiterin, einen Fragebogen für unser Magazin ausgefüllt. Darin sagten Sie, der WEISSE RING müsse insbesondere in den neuen Bundesländern noch bekannter werden. Wie wollen Sie das als Bundesvorsitzende anstellen?

Der WEISSE RING war in der Vergangenheit sehr westdeutsch orientiert. Das fängt bei den Gremienbesetzungen an und reicht bis zu Seminarinhalten, in denen die meisten Fallbeispiele aus den alten Bundesländern stammen.

Generell ist Diversität wichtig, auf allen Ebenen. Und natürlich eine gute Öffentlichkeitsarbeit. Wir müssen noch lauter werden und die Probleme im Opferschutz klar als solche benennen, den Finger in die Wunde legen. Dass das klappen kann, zeigen die zahlreichen Reaktionen zu unserem Einsatz für das spanische Modell bei der Fußfessel.

Der Verein muss aber nicht nur in Ostdeutschland bekannter werden, sondern bundesweit – vor allem bei den jüngeren Menschen. Ich war Mitte Oktober beim Dialogforum, einem Treffen der Jungen Mitarbeitenden des Vereins aus ganz Deutschland. Viele von denen haben mir gesagt: „Uns kennt keiner“. Die „Generation Eduard Zimmermann“ um den Mitbegründer des WEISSEN RINGS, der durch die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ so etwas wie eine Institution war, wird eben immer kleiner.

Die Bundesdelegiertenversammlung des WEISSEN RINGS, die Sie zur Bundesvorsitzenden gewählt hat, hat auch einen Unvereinbarkeitsbeschluss verabschiedet, der den Verein vor einer möglichen Unterwanderung durch extremistische Kräfte schützen soll. In einigen Regionen der neuen Bundesländer erreichte die in Teilen rechtsextreme AfD bis zu 40 Prozent der Wähler, auch bei Ihnen in Brandenburg kam die Partei auf knapp 30 Prozent. Erschwert so ein Unvereinbarkeitsbeschluss Ihren Plan, den WEISSEN RING „ostdeutscher“ zu machen?

Die Gefahr von Unterwanderung durch Extremisten – und damit meine ich nicht nur durch Parteien, sondern auch Menschen mit einer solchen Weltanschauung – ist schon sehr groß. Der Beschluss ist inhaltlich ja auch nicht ganz neu: Schon 2018 haben wir uns von Extremisten klar distanziert, nun ist das auch in unserer Satzung verankert.

Ich glaube, da sind die Deutschen ein bisschen feinfühliger geworden und verstehen, warum wir uns so positionieren müssen. Es ist daher folgerichtig, dass der Beschluss bei der Delegiertenversammlung in Frankfurt fast einstimmig beschlossen wurde. Das ist ein gutes Zeichen. Der WEISSE RING ist keinesfalls unpolitisch, aber er ist überparteilich.

Im Gespräch: Barbara Richstein beim Interviewtermin im „Zollpackhof“ in Berlin.

Im Jahr 2018 distanzierte sich der WEISSE RING von extremistischen Strömungen und Parteien. Der Bundesvorstand verurteilte damals Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit aufs Schärfste und beschloss einstimmig, dass sich der Verein nicht von extremistischen Parteien instrumentalisieren lässt und keine Spenden von der AfD annimmt. Auslöser war die missbräuchliche Verwendung des Logos des WEISSEN RINGS bei einer öffentlichen Spendensammlung durch einen Ortsverband der AfD in Nordrhein-Westfalen. Nach der Veröffentlichung des Vorstandsbeschlusses im Magazin des WEISSEN RINGS erklärten ein paar Dutzend Vereinsmitglieder ihren Austritt.

Sie waren lange im Brandenburgischen Landtag. Wie haben Sie die AfD dort erlebt?

In den letzten Jahren ist der Umgangston rauer geworden, das merken wir in der Gesellschaft, wir merken es aber natürlich auch in der Politik. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen sich gegenseitig weniger zuhören, sondern viele sich nur noch auf das Kontra, auf die eigene Gegenposition konzentrieren. Das liegt aber nicht nur an der AfD, muss man ehrlicherweise sagen.

Die Brandenburger AfD wird derzeit vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall beobachtet, aber einige ihrer Abgeordneten gelten bereits als gesichert rechtsextrem. Es wurde in den Debatten schon deutlich, dass einige von denen eine völkisch-nationale Einstellung haben. Egal, welches Thema diskutiert wurde, sie haben immer wieder die Schleife bekommen, gegen Migranten zu hetzen und gegen andere, die nicht in ihr Weltbild passen.

Waren Sie als CDU-Politikerin Hass und Hetze ausgesetzt?

Hm. (Sie überlegt kurz.) In den 25 Jahren habe ich nur ein- oder zweimal einen unschönen Brief bekommen. Ich habe immer versucht, andere nicht persönlich anzugreifen und nicht zu stark zu polarisieren. Das ist nicht meine Klaviatur und hat mir bei der Arbeit, vor allem als Vizepräsidentin des Landtags, sehr geholfen. Ein Kollege von der Opposition hat mir mal gesagt: „Sie sind zu allen gleich streng.“ Das galt auch für meine eigene Fraktion.

Viele Politikerinnen und Politiker berichten von massiver analoger und digitaler Gewalt, zunehmend auch im kommunalen Bereich. In der Stadt Neubrandenburg hat jüngst ein Bürgermeister aus diesem Grund sein Amt niedergelegt. Was kann, was muss der Staat tun, um diese Menschen und ihre Ämter besser zu schützen?

Es ist ja schon einiges geschehen. Erst im Sommer hat die „Starke Stelle“ ihre Arbeit aufgenommen, das ist eine bundesweite Ansprechstelle für kommunale Amts- und Mandatsträgerinnen und -träger. Betroffene Politiker können sich dort individuell beraten lassen. In Brandenburg gibt es außerdem ein mobiles Beratungsteam: Als in meiner Kommune eine Flüchtlingsunterkunft gebaut werden sollte, gab es viel Widerstand. Das Beratungsteam hat dann alle an einen runden Tisch geholt und dazu eingeladen, sachlich miteinander zu reden.

Das Innenministerium in Brandenburg hat zudem eine Umfrage unter kommunalen Mandatsträgern gemacht, um faktenbasiert herauszufinden, wie viel Gewalt die wirklich erleben – und von wem sie angegriffen werden. Spannenderweise sind es manchmal nicht nur die Bürger, die Politiker bedrohen, sondern auch Kollegen aus den eigenen oder anderen Fraktionen.

Was kann, was muss eine Opferschutzorganisation wie der WEISSE RING tun, um Politikerinnen und Politiker zu schützen?

Im Bereich der Politik geht es oft um verbale Taten, körperliche Angriffe sind zum Glück eher die Ausnahme. Viele, die im Netz angegriffen werden, möchten vor allem geschützt werden. Es ist aber nicht immer leicht zu sagen, ab wann eine Aussage justiziabel ist und wann nicht. Das können wir auch nicht entscheiden. Der WEISSE RING versteht sich als Lotse im Hilfesystem, und dazu gehört, auf Angebote wie die „Starke Stelle“ zu verweisen, deren Netzwerkpartner wir auch sind. Außerdem gibt es noch spezialisierte Institutionen wie HateAid, die sehr erfahren sind im Umgang mit digitaler Gewalt und Betroffenen gut helfen können.

Wäre es ein hilfreiches Mittel gegen digitale Gewalt, wenn jeder sich nur noch mit dem Klarnamen im Internet anmelden dürfte?

Das würde ich mir wünschen. Ich glaube aber, dafür ist es schon zu spät, das haben wir verpasst. Bei unserer Bundesdelegiertenversammlung im September hat der Faktenchecker Oliver Klein vom ZDF über Hass im Netz berichtet und gesagt: „Die Lüge ist dreimal um die Welt, bevor die Wahrheit ihre Schuhe angezogen hat.“ Ich fürchte, wir werden das Problem nicht von heute auf morgen in den Griff bekommen. Deshalb ist es wichtig, auf Prävention zu setzen, vor allem bei der jüngeren Generation, die ja schon ganz anders mit digitalen Medien aufwächst.

Digitale Gewalt ist ein recht junges Tatphänomen. Meinten Sie das, als Sie vor Ihrer Wahl ankündigten, der WEISSE RING müsse sich stärker auf neue Deliktphänomene einstellen?

Ja, neben der Verrohung und Gewalt im Netz gehören auch die moderne Form des Enkeltricks, Phishing-Mails und KI-gesteuerte Betrugsmaschen dazu. Ich habe neulich erst eine SMS bekommen: „Hallo Papa, ich habe eine neue Telefonnummer.“ Da dachte ich: „Sehr schön, jetzt bin ich plötzlich Papa.“ Das ist natürlich eine offensichtliche Betrugsmasche, aber die Menschen müssen auch wissen, dass Banken keine unseriösen E-Mails schreiben und dass Polizisten zu Hause keine Wertsachen oder vermeintliches Falschgeld sicherstellen. Prävention ist nicht ohne Grund ein Satzungsziel des WEISSEN RINGS.

Neu ist auch das Sozialgesetzbuch 14 (SGB XIV), das im Januar 2024 das bisherige Opferentschädigungsgesetz abgelöst hat. Der WEISSE RING hat ja wiederholt auf Missstände beim alten OEG hingewiesen. Sehen Sie bereits Verbesserungen für die Opfer?

Das Gute ist: Der Katalog nach dem SGB XIV ist größer geworden. Theoretisch können Betroffene von Gewalttaten nun höhere Entschädigungen erhalten. Das Problem ist aber nach wie vor, dass die Opfer dafür oft immer noch zu einem Gutachter müssen, was wieder zu Retraumatisierungen führen kann.

Wir haben bislang den Eindruck, dass die Versorgungsämter seit der Umstellung des OEG auf das SGB XIV vor allem mit sich selbst beschäftigt sind.

Ich glaube, die Umstellung braucht noch ein bisschen Zeit. Das ist ein behördeninternes Verfahren und betrifft die gänzliche Umstellung der IT.

Wie sieht denn derzeit das Verhältnis zu den Landessozialämtern aus?

Nach der Veröffentlichung unserer Recherche „Tatort Amtsstube“ in unserem Magazin vor zwei Jahren, in der wir Missstände bei der Umsetzung des damaligen Opferentschädigungsgesetzes veröffentlicht haben: eher holprig. (Sie lacht.)

Es gibt aber viele Bemühungen, die Zusammenarbeit mit den Landessozialämtern zu verbessern und uns besser zu verknüpfen. Wir haben in Brandenburg und auch in anderen Bundesländern zum Beispiel unsere Außenstellen mit den Mitarbeitern der Behörden zusammengebracht, sodass jeder auch auf Augenhöhe sieht, wer da eigentlich mit wem zu tun hat.

Im nächsten Jahr soll es weitere Treffen auf regionaler Ebene geben, um zu schauen, ob sich für die Opfer qualitativ etwas an der Arbeit geändert hat.

Stichwort Opfer: In Frankreich findet zurzeit ein aufsehenerregender Vergewaltigungsprozess statt. Die Betroffene, Gisèle Pelicot, möchte, dass das, was sie erlebt hat, öffentlich diskutiert und gezeigt wird. Sie machte Schlagzeilen mit dem Satz: „Die Scham muss die Seite wechseln!“ Verfolgen Sie den Fall?

Das ist ein sehr krasser Fall. Ich finde, diese Frau ist sehr mutig, und es ist bemerkenswert, dass sie die Scham nicht annimmt. Ich hoffe, dass sie ein Vorbild für andere betroffene Frauen sein kann und sie ermutigt, selbstbewusst zu sagen: „Ja, ich bin vergewaltigt worden, aber es war definitiv nicht meine Schuld!“

Meinen Sie, dass sich durch den Prozess auch das Opferbild in Deutschland nachhaltig ändern kann?

Ich hoffe es sehr. Es herrscht bei einigen Menschen leider immer noch das Stereotyp, Betroffene seien selbst schuld, weil sie zum Beispiel das falsche Kleid getragen haben. Auch Verteidiger arbeiten oft in diese Richtung. Da muss sich etwas ändern.

,,Die Ehrenamtlichen sind das Herzstück des WEISSEN RINGS."

Woran denken Sie da?

Dieses Jahr wollte das Europäische Parlament eine einheitliche Definition des Straftatbestands „Vergewaltigung“ festlegen, die in allen Mitgliedsstaaten gelten sollte. Das Vorhaben ist aber gescheitert, unter anderem an unserem Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP, weil er die Europäische Union aus formalen Gründen als nicht zuständig ansah. Die Begründung kann ich nicht nachvollziehen. Es gibt auch Rechtsexperten, die das Gegenteil gesagt haben. Wir hätten da längst weiter sein können.

Den Plänen des Europäischen Parlaments zufolge sollte jegliche „Vornahme einer nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlung an einer Frau“ als Vergewaltigung gelten, wobei „das Schweigen der Frau, ihre fehlende verbale oder körperliche Gegenwehr oder ihr früheres sexuelles Verhalten“ nicht als Zustimmung betrachtet werden dürften. Vereinfacht ausgedrückt: nur Ja heißt Ja. In manchen EU-Staaten, zum Beispiel in Schweden oder Spanien, ist diese Regelung bereits geltendes Recht. In Deutschland gilt seit einer Änderung des Sexualstrafrechts im Jahr 2016 hingegen das Prinzip „Nein heißt Nein“.

Wie geht es für Sie jetzt weiter? Nicht nur der WEISSE RING muss in Ostdeutschland bekannter werden – umgekehrt müssen Sie als Vorsitzende eines ostdeutschen Landesverbands vermutlich auch an Ihrer Bekanntheit auf Bundesebene arbeiten. Werden Sie in den nächsten Wochen nun Deutschland bereisen, um sich in allen 400 Außenstellen des Vereins vorzustellen?

Alle Außenstellen zu besuchen wird vermutlich etwas schwierig. (Sie lacht.) Aber beim Treffen der Jungen Mitarbeitenden war ich schon, auch bei den Zentralen Ehrenamtlichen Diensten, also beim Opfer-Telefon und bei der Onlineberatung des Vereins. Ich werde zu so vielen Landestagungen fahren wie möglich. Ich merke, dass die Leute enorm motiviert sind.

Die Ehrenamtlichen sind das Herzstück des WEISSEN RINGS, das habe ich auch bei der Vorstellung vor meiner Wahl gesagt.

 

Nach dem Interview brauchen wir noch ein paar Fotos. In einem Clubraum des „Zollpackhofs“ entdeckt Barbara Richstein eine Wand voller Wimpel und Embleme. Es sind die von Rotary-Clubs aus ganz Deutschland. Richstein lacht, dann zückt sie das Handy und macht mehrere Fotos. „Da bin ich auch Mitglied“, sagt sie. Was sie nicht sagt: Sie ist die Präsidentin ihres Rotary-Clubs in Falkensee. Auch das ist ein Ehrenamt.

Natürlich.

Die Prozessbegleiter

Erstellt am: Freitag, 11. Oktober 2024 von Sabine

Die Prozessbegleiter

Klaus-Peter Zejewski und Holger Kuhrt engagieren sich ehrenamtlich beim WEISSEN RING. Bei einem Treffen in Berlin wird rasch klar: Sie haben viel zu erzählen.

Bauklötze als Hilfsmittel

Manchmal haben sie danach Fingernagel­abdrücke an ihren Händen. „Und Taschen­tücher und eine Flasche mit Wasser haben wir immer dabei“, sagen die beiden erfahrenen Herren, die an diesem Vormittag im Landesbüro des WEISSEN RINGS in Berlin sitzen. Früher war hier ein Möbelhaus drin, aber seit 13 Jahren sind die Räumlichkeiten in der Bartning­allee 24 im Hansaviertel die Berliner Zentrale der Hilfs­organisation. Das Amtsgericht Tiergarten ist nur 300 Meter vom Landesbüro entfernt. Dort sind Klaus­-Peter Zejewski und Holger Kuhrt öfter anzutreffen: als Begleitung für Opfer im Strafverfahren. Und dort halten sie manchmal die Hand des Opfers, die sich vor Anspannung an ihnen festkrallt.

Die beiden kennen sich seit über zehn Jahren durch den WEISSEN RING und sind mittlerweile „leicht befreundet“, wie sie scherzhaft sagen. Wie ernst das gemeint ist, lassen sie offen. Nach dem Termin wollen sie noch gemeinsam zum Italiener essen gehen. Doch erst einmal stehen in dem Besprechungsraum Kaffee, Wasser, Saft und Süßigkeiten bereit. Beide haben einen Hefter mit Unterlagen über ihre Gruppe „Begleitung im Strafverfahren“ mitgebracht.

Zu erzählen gibt es viel, denn Klaus­-Peter Zejewski ist seit 13 Jahren beim WEISSEN RING dabei, Holger Kuhrt seit 17 Jahren. Der Urberliner Zejewski ist außerdem stell­vertretender Außenstellenleiter Berlin Nord sowie der Koordinator der Gruppe Begleitung im Strafverfahren. Holger Kuhrt ist seit etwa fünf Jahren in der Gruppe, aber so genau weiß er das gar nicht, denn es sind schon so viele Jahre, die er beim Opferhilfeverein aktiv ist.

Dass Opfer von Straftaten eines besonderen Schutzes im Strafverfahren bedürfen, wusste Klaus­-Peter Zejewski schon vor seinem Ehrenamt. Als Polizeibeamter saß er oft im Gerichtssaal. Und beide wissen von den Sorgen und Unsicherheiten der Opfer bei einem Strafprozess. „Sie haben Angst vor der Begegnung mit dem Täter, sie waren vielleicht noch nie in einem Gerichtssaal und kennen die Abläufe nicht, oder sie haben Angst, in dieser schwierigen Situation allein zu sein“, sagen sie.

Deshalb bieten die derzeit zwölf Ehrenamtlichen der Berliner Gruppe, sechs Frauen und sechs Männer, den Opfern Hilfe bei der Prozessvorbereitung an. Wenn gewünscht, begleiten sie sie auch während des Prozesses. „Wir hören immer wieder, dass die Opfer dem Tag vor Gericht bestenfalls mit einem mulmigen Gefühl ent­gegensehen“, sagen sie. Die Mitarbeiter sehen sich als Vertrauenspersonen, die sich die Sorgen der Opferzeugen anhören und sie ihnen zu nehmen versuchen. Seit zehn Jahren gibt es beim WEISSEN RING das zusätzliche Angebot der Psychosozialen Prozessbegleitung. „Aber nicht in jedem Opferschutzfall ist die Beiordnung der Psychosozialen Prozessbegleitung möglich, und dann kann man unser Angebot nutzen“, sagt Holger Kuhrt.

Seit vielen Jahren für den WEISSEN RING aktiv: Holger Kuhrt (links) und Klaus-Peter Zejewski.

Der gebürtige Hamburger hat sein Leben lang mit Men­schen gearbeitet. Er war Inhaber und Geschäftsführer eines Headhunter­-Unternehmens, das für andere Unternehmen Führungskräfte rekrutierte. Seine Frau arbeitete in der Erwachsenenbildung in Berlin. „Wir hatten eine Pendel­ Ehe, und als ich mit dem Arbeiten aufgehört habe, bin ich zu ihr nach Berlin gezogen.“ Einen Monat nichts machen, das gönnte er sich. Dann war es seltsam, nicht mehr jeden Tag ins Büro zu gehen. Schnell fragte er sich, was er ab jetzt den ganzen Tag machen solle. Also bewarb er sich beim WEISSEN RING und saß zum ersten Mal beim Vor­stellungsgespräch auf der anderen Seite.

Zwölf Jahre arbeitet Holger Kuhrt nun schon ehrenamt­lich in der Opferbetreuung und ist zwischenzeitlich auch Außenstellenleiter. Eigentlich wollte er schon aufhören, denn während der Unterstützung von Betroffenen ging er durch „alle Höhen und Tiefen der menschlichen Seele“, sagt er. Dann jedoch erfuhr er von der Gruppe Begleitung im Strafverfahren und hatte Lust, noch einmal etwas Neues zu machen. Seit fünf Jahren ist der 80­-Jährige dort nun schon wieder dabei.

Es gibt viele Fälle, die beiden für immer im Gedächtnis bleiben werden. Bei Holger Kuhrt ist es zum Beispiel der Fall eines damals gerade 17-­jährigen Mädchens. Er wurde zu einer türkischen Familie in Moabit geschickt. „Sie hat ihr T­-Shirt hochgezogen, und da war ein genähter Schnitt vom Schambein bis fast unter den Hals“, erinnert er sich. Das Mädchen ist für ihr Leben lang gezeichnet, dachte sich Holger Kuhrt bei ihrem Anblick. Der Täter war ihr Freund, der nicht damit umgehen konnte, dass sie sich von ihm trennen wollte.

Für seine Opferzeugin war der Prozess besonders heraus­fordernd, aber auch für ihn selbst. „Sie wäre fast kolla­biert, und ich musste sie vor dem Täter und seiner Familie abschirmen“, erinnert er sich. Also greift Holger Kuhrt zu einer ungewöhnlichen Maßnahme, um sie sicher in den Gerichtssaal zu geleiten. Er leiht sich einen Rollstuhl aus der Sanitätsstation, legt ihr eine Wolldecke über den Kopf und schiebt sie in den Gerichtssaal.

Klaus-Peter Zejewski griff auch schon einmal spontan zu ungewöhnlichen Maßnahmen, um eine Opferzeugin zu schützen.

Sehr oft kommt es auf Grundlage der Opferaussagen zur Verurteilung des Täters. Deshalb sind sie vor Gericht wichtige Zeugen. Doch für viele Opfer ist die Aussage vor Gericht eine Ausnahmesituation und Belastung. Umso wichtiger ist die Arbeit der Strafprozessbegleiter. Sie sollen professionell auftreten und kompetente Ansprechpartner für die Opfer vor, während und nach dem Strafprozess sein. „Lebenserfahrung, innere Stabilität und Empathie sollte man mitbringen“, sagt Holger Kuhrt. Aber genauso staunt er über das neueste Mitglied der Gruppe, das erst 20 Jahre alt ist und die Arbeit trotzdem schon gut meistert.

Die Akademie des WEISSEN RINGS bietet ein kostenloses Seminar für die Außenstellenleitungen und die anderen Ehrenamtlichen an. Darin wird ein Querschnitt an Inhalten vermittelt, mit denen sie konfrontiert werden können. Zum Beispiel rechtliche Aspekte im Schutz von Opfer­ zeugen, kommunikative Ansätze zur Vorbereitung auf die Rolle der Opfer im Strafverfahren, Grundelemente der Psychotraumatologie oder Übungen zur Vorbereitung auf den Strafprozess. Das Seminar ist gefragt und in diesem Jahr schon ausgebucht.

Klaus-­Peter Zejewski kramt einen Stoffbeutel hervor und legt ihn auf den Tisch. Darin liegen bunte Bauklötzchen aus Holz. „Manche der Seminarteilnehmer kommen sich etwas veräppelt vor, wenn sie damit arbeiten sollen“, sagt er und lacht. „Kennen Sie das Beziehungsbrett aus der Psychotherapie?“, wollen die beiden wissen. In der Familientherapie wird es angewendet, um Zusammen­ hänge, Strukturen und Prozesse zu visualisieren und diese zu verändern. In der Vorbereitung auf das Strafverfahren dienen die Klötzchen zur ersten Orientierung im Gerichts­saal: Wo sitzt der Richter, der Angeklagte und sein Ver­teidiger, wo der Staatsanwalt und natürlich, wo sitzt man als Opferzeuge oder Opferzeugin?

Pro Jahr kümmert sich die Gruppe um etwa 35 Opfer, die vor Gericht aussagen müssen und dabei professionelle Hilfe brauchen. Die Menschen kommen aus ganz Berlin zu ihnen. Meist geht es um Gewaltdelikte wie häusliche Gewalt, Körperverletzung oder sexuellen Missbrauch. Deshalb ist die Geschlechtermischung in der Gruppe auch hilfreich, denn manche Frauen wollen oder können nach den traumatisierenden Erlebnissen auch nur mit Frauen sprechen.

Als er vor 13 Jahren in Rente ging, meldete sich der heute 75-­jährige Zejewski beim WEISSEN RING. Während seiner beruflichen Tätigkeit als Polizeibeamter hatte er immer wieder Kontakt mit dem Verein. Diese Erfahrungen wollte er nutzen, um den Opfern zu helfen. Der Fall, von dem Klaus­-Peter Zejewski nun erzählt, ist aber kein klassischer mit einem Opferzeugen. Das Opfer konnte nicht mehr aus­ sagen, denn es wurde bei der Tat getötet.

Vor acht Jahren hat er eine junge Frau vor Gericht begleitet, die Zeugin dieses Mordes wurde. Sie kam nachts mit dem Auto nach Hause. Vor einem Lokal in Neukölln hatten sich einige Leute versammelt. Plötzlich zog ein Mann eine Waffe und erschoss vor ihren Augen einen anderen Mann. „Sie hat sich nicht getraut auszusteigen und blieb im Auto sitzen, bis die Polizei kam“, erinnert sich Klaus­-Peter Zejewski, „die Polizei hat sie dann verhört, denn sie war die einzige unabhängige Zeugin vor Ort.“

Sie hatte vor allem Angst vor dem Täter und seinem Umfeld und wollte ihm vor Gericht nicht begegnen. Bei diesem Fall war auch die Presse beim Gerichtstermin dabei. Die Zeugin wollte von beiden weit weg sein. Außerdem war die Vorbereitung auf die Verhandlung und vor allem auf die Befragung durch den Verteidiger wichtig. „Denn er hat sie natürlich zum Tatablauf, zur genauen Uhrzeit und Täterbeschreibung in die Mangel genommen“, so Zejewski.

Holger Kuhrt verbrachte einst mehrere Stunden mit einem Opfer in der Botschaft Kanadas.

Durch die Arbeit für den WEISSEN RING ist er eigentlich gar nicht im Ruhestand angekommen. „Das ist sehr befriedigend für mich, da ich immer noch voll am Leben teilnehme und dabei auch noch meine Hilfe einbringen kann“, sagt er. Als Ausgleich zu der manchmal auch belastenden Arbeit liest er täglich zwei Tageszeitungen. „Und wenn der Akku mal wieder leer sein sollte, fahre ich auf meine Lieblingsinsel Sylt.“ Auch seine Frau, mit der er zwei erwachsene Kinder hat und in einer Wohnung in Berlin lebt, ist als Fraktionsvorsitzende einer Partei und stellvertretende Gemeindevorsitzende politisch aktiv.

Wahrscheinlich könnten die beiden noch lange weitererzählen. Über die Jahre beim WEISSEN RING sind sie auf die unterschiedlichsten Menschen und Schicksale getroffen und haben viel erlebt. Einmal kam zu Klaus­-Peter Zejewski sogar eine bekannte Berliner Schauspielerin. Ihren Namen will er, obwohl das Jahre her ist, nicht verraten. Und Holger Kuhrt war einmal über Stunden mit einem Opfer in der Kanadischen Botschaft in Berlin eingesperrt. „Die Dame hatte keine Papiere dabei, und sie haben uns nicht rausgelassen“, erinnert er sich. Irgendwie haben sie es dann aber doch geschafft.

Trotz aller Opferrechtsbestrebungen sind Betroffene von Straftaten vor Gericht oft nur ein „Beweis­ mittel“. Menschen wie Klaus­-Peter Zejewski, Holger Kuhrt und die anderen ehrenamtlichen Mitarbeiter der Berliner Gruppe vom WEISSEN RING helfen ihnen dabei, entspannter zur Verhandlung gehen zu können. Denn sie wissen, sie sind nicht allein. Und dafür sind sie dankbar.

Die Umtriebigen

Erstellt am: Freitag, 11. Oktober 2024 von Sabine

Die Umtriebigen

Shatha Yassin­-Salomo und Elke Yassin-Radowsky machen beim WEISSEN RING gemeinsame Sache. Auch der Enkel interessiert sich für ihre ehrenamtliche Arbeit.

Elke Yassin-Radowsky (links) und ihre Tochter Shata Yassin-Salomo (rechts)

Ihr vierjähriger Enkel hat Shatha Yassin-­Salomo schon ein paarmal gefragt: „Oma, wie sehen die Bösis aus?“ Dass Oma und Uroma Menschen helfen, die „Bösis“ begegnet sind, denen also etwas Schlimmes passiert ist, so viel hat auch er schon ver­standen. Die Arbeit beim WEISSEN RING machen die beiden immerhin schon länger als er auf der Welt ist.

Eine Antwort darauf, wie Menschen aussehen, die anderen Böses wollen, haben Shatha Yassin­-Salomo und ihre Mutter Elke Yassin-­Radowsky aber auch nach vielen Jahren im Dienst für den WEISSEN RING nicht. „Man erkennt sie eben nicht“, sagt Shatha Yassin­-Salomo.

Elke Yassin-­Radowsky arbeitet schon seit fast 25 Jahren für den WEISSEN RING im Raum Erlangen. Seit 2008 leitet sie zudem die Außenstellen der Stadt Erlangen und des Kreises Erlangen­-Höchstadt, später kam die Außenstelle im Landkreis Fürth hinzu. Die Außenstellen für die Städte Fürth und Nürnberg leitet Shatha Yassin­-Salomo seit 2021, als Ehrenamtliche kam sie 2017 zum WEISSEN RING.

Das Ende ihres Berufslebens war für Elke Yassin-­Radowsky der Anlass, ein Ehrenamt zu übernehmen, und für ihre Tochter, mehr Verantwortung zu schultern. Beide sind sich einig: In der Rente nur noch zu Hause sitzen oder in den Urlaub fahren, das kam für sie nicht infrage. „Ich wollte etwas Sinnvolles machen“, sagt Elke Yassin-­Radowsky. „Etwas bewirken“, ergänzt Shatha Yassin-­Salomo. Etwas, das sie auch weiterhin herausfordert.

„Ich war nicht berufen, aber es ist zu meiner Berufung geworden“, sagt Elke Yassin-­Radowsky. Sie war direkt begeistert von der Arbeit des Opferhilfevereins. „Men­schen, die am Ende sind, zu helfen, weiterzumachen.“ Es sei immer eine Herausforderung, eine schlimme Situation in etwas halbwegs Positives zu verwandeln. Ihre Begeisterung konnte sie schon weitertragen: Ihre Schwester ist ebenfalls seit zehn Jahren im Einsatz – und eben ihre Tochter. „Eines meiner Enkelkinder werde ich auch noch überzeugen – die sind aber im Moment noch zu eingebunden im Beruf“, sagt Elke Yassin-­Radowsky mit Augenzwinkern.

Sie hat in ihrem Leben schon viel gesehen. Mit 18 zog es sie in die Welt hinaus. „Die Vorstellung, die Ehefrau eines Sie­mens-­Diplom-­Ingenieurs zu werden, war mir ein Graus“, sagt sie. Ehefrau eines Siemens­-Diplom-­Ingenieurs – das gilt im Raum Erlangen als Abziehbild für einen traditio­nellen, eher spießigen Lebensentwurf.

Stattdessen ging sie nach England zum Studieren, lernte dort ihren Mann kennen. Ihre Tochter kam in London zur Welt, später lebte die Familie im Irak, dem Heimat­land ihres Mannes. Dass er nachher, als sie zurück nach Erlangen zogen, eine Stelle als Siemens­-Diplom-­Ingenieur annahm, konnte Elke Yassin­-Radowsky nach den Jahren unterwegs mit vielen Eindrücken und Erlebnissen gut verkraften, erzählt sie und lächelt. Sie selbst hat lange Zeit in der Forschung an der Universität in Erlangen als medizinisch-­technische Assistentin gearbeitet. Es beein­flusse einen, wenn man nicht nur zu Hause sitzt, sondern in der Welt herumkommt, findet Elke Yassin-­Radowsky. Vor allem habe es Einfluss darauf, wie man auf Menschen zugeht.

Elke Yassin-Radowsky engagiert sich schon seit fast 25 Jahren für den WEISSEN RING, ihre Tochter ist seit 2017 dabei.

Obwohl der Anlass für ihr Ehrenamt für Mutter und Tochter der gleiche war, ist die Arbeit in den Außenstellen doch unterschiedlich. Für Shatha Yassin­-Salomo war zu Beginn ihres Einsatzes als Leiterin in Nürnberg und Fürth erst einmal Struktur schaffen angesagt. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nur etwa zehn Ehrenamtliche im Team, dafür noch zwei weitere Außenstellen angegliedert. Eine davon, den Landkreis Fürth, hat sie an ihre Mutter abgegeben, das Nürnberger Land hat eine neue, eigene Außenstelle bekommen. Shatha Yassin-­Salomo hat zudem neue Ehrenamtliche für die Arbeit beim WEISSEN RING gewonnen und ein­gearbeitet – offenbar kann nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie Menschen für dieses Ehrenamt begeistern

Aber auch in der alltäglichen Arbeit der Außenstelle hat sie für Struktur und Organisation gesorgt. Die Dienstpläne in den Büros in Nürnberg und Fürth sind so gefüllt, dass immer jemand im Einsatz und erreichbar ist. Für die Fälle, die Shatha Yassin­-Salomo am Telefon entgegennimmt, erstellt sie für jeden Tag eine ausführliche Übersicht mit dem, was ihre Mitarbeitenden im jeweiligen Termin erwartet: Um was für eine Straftat geht es? Was braucht die betroffene Person? Formulare schickt sie schon vorab an die Betroffenen, damit in der Beratung nicht zu viel Zeit für Schreibkram verloren geht.

„Dieses Strukturierte hat meine Tochter nicht von mir, das hat sie eher aus ihrem Berufsleben“, sagt Elke Yassin­-Radowsky. Shatha Yassin-­Salomo war Lehrerin für Latein und Französisch, hat aber auch Fortbildungen für Lehrkräfte gegeben und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schulreferat in Nürnberg gearbeitet. „Ich habe Bildung von allen Seiten kennengelernt.“

In ihrer Laufbahn war sie hoch engagiert, hat Leitungsaufgaben und Projekte an ihrer Schule übernommen. Sie ist eine, die anpackt und sich nicht zufriedengibt, bis es wirklich gut läuft. „Das ist meine Art. Wenn mich etwas interessiert, gehe ich über die Norm hinaus.“ Organisation und Koordination habe sie immer gemocht, vor allem, wenn sie zu einem guten Ergebnis führen. Eigenschaften, von denen sie auch in ihrem Ehrenamt profitiert.

,,Ich war nicht berufen, aber es ist zu meiner Berufung geworden."

Elke Yassin-Radowsky

In der Außenstelle von Elke Yassin­-Radowsky hingegen wird mehr auf Zuruf gearbeitet. Die Leiterin nimmt Anrufe entgegen und gibt die Fälle dann an ihre acht Ehrenamtlichen weiter. Anders als in Nürnberg und Fürth gibt es in Erlangen, Erlangen­ Höchstadt und im Landkreis Fürth keine Büros – die Mitarbeitenden besuchen die Betroffenen dort, wo sie das Gespräch führen möchten. Das habe seine Vorteile, die Gespräche würden so oft als persön­licher und lockerer empfunden, sagt Elke Yassin­-Radowsky. Man sei auch weniger an einen Stunden­plan gebunden. In ihrer Außenstelle begleiten sie die Menschen oft von Anfang an: manchmal bevor sie Anzeige erstattet haben und bis zum Gerichts­prozess.

Dass beide so unterschiedlich arbeiten, liegt vor allem an der Größe der Außenstellen. „Erlangen ist statistisch die zweitfriedlichste Stadt in Bayern“, sagt Elke Yassin­-Radowsky. In Nürnberg und Fürth sei da schon mehr los. Den 100 bis 150 Fällen, die sie und ihr Team bearbeiten, stehen mehr als 300 in den beiden Städten ihrer Tochter gegenüber.

Aber auch neben der Beratung fallen in Nürnberg und Fürth Aufgaben an. Zumindest, wenn man die Arbeit beim WEISSEN RING so versteht wie Shatha Yassin­-Salomo. Sie hält in beiden Städten engen Kontakt zu verschiedenen Stellen und anderen Hilfsorganisationen – der Polizei und den Gleich­stellungsbeauftragten etwa oder dem Verein Wild­wasser, einer Fachberatungsstelle für Mädchen und Frauen gegen sexuellen Missbrauch und sexuali­sierte Gewalt. „Ich möchte, dass die wissen, wer ich bin“, sagt Shatha Yassin­-Salomo. Auch ihre Mutter pflegt zu den relevanten Stellen in Erlangen einen guten Kontakt. Es ist wichtig, präsent zu sein, wissen beide. Mit einer guten Vernetzung sei eine engere Zusammenarbeit möglich und auch ein Weiterleiten von Betroffenen an zusätzliche Hilfsangebote, die für sie sinn­voll sein könnten.

Sie halten auch Vorträge zu den Themen, die für den WEISSEN RING wichtig sind, aktuell sind etwa Betrug im Internet und am Telefon oder Cybermobbing besonders relevant. „Das war auch etwas, das ich erst lernen musste“, sagt Elke Yassin­-Radowsky, die mittlerweile wohl um die 100 Vorträge gehalten hat, „aber im Leben lernt man eben immer dazu.“

Und es gibt noch etwas, das sie mit der Zeit gelernt hat: eine gewisse Distanz zu wahren und die Leidensgeschichten der Opfer nicht zu nah an sich heranzulassen. „Es betrifft mich nicht mehr so wie früher.“ Auch wenn sie heute weniger selbst berät und begleitet, kenne sie die Fälle oft trotzdem, weil viele schon beim ersten Kontakt am Telefon ihre ganze Geschichte erzählen.

Immer wieder seien welche dabei, die sie erschüttern, doch sie wisse mittlerweile, wie sie sich abgrenzen könne. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein Fall, bei dem eine Frau auf dem Nachhauseweg von einem Dorffest ver­gewaltigt wurde. Nach der Gerichtsverhandlung habe sie zu Elke Yassin-­Radowsky gesagt, sie wolle sie nie wieder sehen. „Das hat mich zuerst schockiert“, erinnert sie sich. Hatte sich die Betroffene nicht gut betreut gefühlt? „Aber dann habe ich verstanden: Sie wollte einfach mit der Sache abschließen und sie hinter sich lassen.“

Eingespieltes Team: Mutter und Tochter.

In jüngster Zeit hatte sie mit zwei Frauen zu tun, die in ihrer Kindheit von den Eltern und deren Bekannten missbraucht wurden. So etwas macht sie auch heute noch fassungslos. Menschen, denen so etwas passiert, können das oft ihr ganzes Leben lang nicht verarbeiten. Trotzdem: „Ich denke nicht, dass sich durch die Arbeit meine Welt­sicht verändert hat. Ich war immer optimistisch“, sagt Elke Yassin­-Radowsky.

Bei ihrer Tochter ist das anders. Sie sagt, sie sei vor­ sichtiger geworden: „Ich weiß einfach zu viel.“ Fälle von Kindesmissbrauch gehen auch ihr besonders nahe. Vor allem, wenn den Müttern vom Jugendamt oder vor Gericht nicht geglaubt wird. Dann versuche sie, die Betroffenen mit erfahrenen Anwältinnen und Anwälten zu vernetzen und immer wieder auch mit Frauen, die Ähnliches erlebt haben.

Die Arbeit habe auch ihr Menschenbild beeinflusst, auch wenn sie nicht alle über einen Kamm scheren mag. Sie vertraue heute nicht mehr blind. „Ich habe ein großes Gerechtigkeitsempfinden“, sagt Shatha Yassin­-Salomo. Sie lese viel rund um Verfahren und Dinge, die bei Tren­nungen, Stalking und Missbrauch eine Rolle spielen, sehe sich Dokumentationen an, konsumiere alles an Informa­tionen auf der Suche nach Lösungsansätzen. „Wenn ich in ein Thema einsteige, dann richtig.“

Ihr sei es wichtig, Statistiken mit Leben zu füllen. Auch deshalb, damit Betroffene sich öfter trauen, um Hilfe zu bitten oder ihre Peiniger anzuzeigen. Gerade bei Gewalt in der Familie sei viel Scham im Spiel, Opfer fühlen sich mit­ schuldig oder haben Angst, mit einer Anzeige die Familie zu zerstören. Dieses Thema lasse sie nicht los.

Wie lange Elke Yassin-­Radowsky noch weitermachen kann, weiß sie noch nicht. Bald hat sie die 25 Jahre voll. Für ihr besonderes Engagement wurde sie 2022 vom bayerischen Ministerpräsidenten mit dem Ehrenabzeichen für besondere Verdienste im Ehrenamt ausgezeichnet. Sie hat sich gefreut und sieht die Auszeichnung doch ganz fränkisch-­nüchtern und pragmatisch. Die Ehrennadel liegt heute in der Schublade.

Barbara Richstein zur neuen Bundesvorsitzenden gewählt

Erstellt am: Samstag, 28. September 2024 von Sabine

Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 28.09.2024

Barbara Richstein zur neuen Bundesvorsitzenden gewählt

Der WEISSE RING hat eine neue Bundesvorsitzende: Barbara Richstein. Ihr Vorgänger, Patrick Liesching, bleibt dem Verein erhalten.

Frankfurt – Der WEISSE RING hat eine neue Bundesvorsitzende: Barbara Richstein, Vorsitzende des Landesverbands Brandenburg, steht ab sofort an der Spitze von Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer. Einstimmig wählte die Bundesdelegiertenversammlung des Vereins die 59-Jährige am Samstag in Frankfurt am Main zur Nachfolgerin von Dr. Patrick Liesching. Der 52-Jährige bleibt dem WEISSEN RING als stellvertretender Bundesvorsitzender und Vorsitzender des Landesverbands Hessen erhalten.

Die Rechtsanwältin Barbara Richstein saß von 1999 bis 2024 für die CDU als Abgeordnete im Landtag von Brandenburg, ab 2019 als Vizepräsidentin. Von 2002 bis 2004 war sie Brandenburgische Ministerin der Justiz und für Europaangelegenheiten. Bei den zurückliegenden Landtagswahlen trat sie nicht mehr an. Daher kann sie sich jetzt ganz auf die Arbeit als oberste Opferschützerin konzentrieren: „Ich freue mich sehr auf diese neue Herausforderung und bin dankbar für das Vertrauen der Delegierten, die mich gewählt haben.“ Richstein dankte ausdrücklich auch ihrem Vorgänger: „Ohne die hervorragende Arbeit von Patrick Liesching stünde der WEISSE RING heute nicht da, wo er jetzt ist.“

Liesching: In zwei Jahren „viel erreicht“

Liesching stand zwei Jahre an der Spitze des WEISSEN RINGS. „Ich bin stolz auf das, was wir in den vergangenen zwei Jahren erreichen konnten“, sagt er. Beispielhaft verweist Liesching auf die aktuellen politischen Diskussionen um den Einsatz der elektronischen Fußfessel zum Schutz von Frauen bei häuslicher Gewalt. „Wir haben da viel in Bewegung gesetzt, und wir werden nicht lockerlassen – auch ich persönlich nicht“, so Liesching. Als stellvertretender Bundesvorsitzender tritt Liesching die Nachfolge von Gerhard Müllenbach an, der sich nicht mehr zur Wahl stellte.

Was wäre für Sie der GAU bei der BDV, Frau Richstein?

Einstimmig hat der Bundesvorstand des WEISSEN RINGS Barbara Richstein als Leiterin der Bundesdelegiertenversammlung (BDV) in Frankfurt am Main nominiert – wie auch schon vor zwei Jahren für die BDV im sächsischen Radebeul.

Barbara Richstein ist seit 2002 beim WEISSEN RING, seit 2022 ist sie Landesvorsitzende in Brandenburg. „Bereits bei meiner ersten konkreten Berührung mit dem WEISSEN RING auf einem Opferforum in Mainz Anfang der 2000er habe ich gemerkt: Das ist ein besonderer Verein. Der Ansatz, den Verletzten zu helfen, hat mich sehr angesprochen“, sagt Richstein.

WEISSER RING „gut aufgestellt“

Jetzt steht sie an der Spitze des Vereins und hat sich für die nächsten Jahre einiges vorgenommen: „Wir müssen uns noch stärker auf neue Deliktsphänomene einstellen und insbesondere in den neuen Bundesländern noch bekannter werden. Davon abgesehen finde ich den WEISSEN RING in seiner jetzigen Form bereits gut aufgestellt. Mit der Zeit müssen wir uns natürlich verjüngen und breiter aufstellen.“ Wichtig ist ihr außerdem, dass das neue Opferentschädigungsrecht bekannt gemacht und vor allem gut umgesetzt wird. „Das behalten wir auf jeden Fall im Auge. In der Umsetzung des Opferentschädigungsrechts muss sich endlich etwas tun“, so Richstein.

Die Bundesdelegiertenversammlung ist das oberste Organ des WEISSEN RINGS. Die Delegierten entscheiden alle zwei Jahre über Neuerungen, politische Forderungen des Vereins und die Besetzung von Vorstandsposten.

Kein Platz für Extremisten und Rassisten

Erstellt am: Samstag, 28. September 2024 von Sabine

Mit dem Beschluss verankert der WEISSE RING das Bekenntnis zur Demokratie und die Ablehnung aller extremistischen Strömungen nun in der Vereinssatzung. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 28.09.2024

Kein Platz für Extremisten und Rassisten

Mit einer Unvereinbarkeitsklausel will sich der WEISSE RING künftig vor einer möglichen Unterwanderung durch extremistische Kräfte schützen.

Frankfurt – Mit einer Unvereinbarkeitsklausel will sich der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, künftig vor einer möglichen Unterwanderung durch extremistische Kräfte schützen. Die mehr als 200 Vertreterinnen und Vertreter des Vereins haben mit überwältigender Mehrheit (99,5 Prozent der Stimmen) auf der Bundesdelegiertenversammlung in Frankfurt am Main eine entsprechende Satzungsänderung beschlossen. „Ich freue mich sehr über diese unmissverständliche Stellungnahme“, sagt Barbara Richstein, die frisch gewählte Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS. „Extremismus und Rassismus haben in einem Opferschutzverein keinen Platz.“

Neue Präambel in Satzung

In Paragraf 5 Absatz 7 der Satzung wird der erste Satz wie folgt neu gefasst: „Ein Mitglied kann aus wichtigem Grund aus dem Verein ausgeschlossen werden, insbesondere wenn es die Interessen oder Ziele des Vereins in grober Weise verletzt, durch sein persönliches Verhalten das Ansehen des Vereins schädigt oder gegen das in der Präambel dieser Satzung niedergelegte Leitbild verstößt.“

In der Präambel, die der Satzung ebenfalls neu vorangestellt wurde, heißt es wörtlich: „Grundlage der Vereinsarbeit ist das Bekenntnis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und dessen Werteordnung. Damit unvereinbar sind Intoleranz, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Der Verein tritt radikalen oder extremistischen Bestrebungen sowie jeder Form von Gewalt entgegen.“

Bereits 2018 distanzierte sich der WEISSE RING von extremistischen Strömungen und Parteien. Der Bundesvorstand verurteilte damals Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit aufs Schärfste und beschloss einstimmig, dass sich der Verein nicht von extremistischen Parteien instrumentalisieren lässt und keine Spenden von der AfD annimmt. Auslöser war die missbräuchliche Verwendung des Logos des WEISSEN RINGS bei einer öffentlichen Spendensammlung durch einen Ortsverband der AfD in Nordrhein-Westfalen.

Bekenntnis zur Demokratie

Mit dem Beschluss vom Samstag verankert der WEISSE RING das Bekenntnis zur Demokratie und die Ablehnung aller extremistischen Strömungen nun in der Vereinssatzung. Eine Änderung kann nur die Bundesdelegiertenversammlung mit Zweidrittel-Mehrheit vornehmen. Die Bundesdelegiertenversammlung ist das oberste Organ des WEISSEN RINGS. Die Delegierten entscheiden alle zwei Jahre über Neuerungen, politische Forderungen des Vereins und die Besetzung von Vorstandsposten.

Im Wald seines Lebens

Erstellt am: Donnerstag, 5. September 2024 von Sabine

Im Wald seines Lebens

Die Liebe zum Wald ist Anton Müller wohl genetisch mitgegeben worden. Aber auch der Sinn für Gerechtigkeit, und so engagiert sich der frühere Forstwirt seit mehr als 30 Jahren für den WEISSEN RING in Kaiserslautern. Er schaffte es sogar, beides miteinander zu verbinden: den Wald und die Opferarbeit.

Der Wald ist Anton Müllers Zuhause.

Dunkle Wolken mit weißen Spitzen kriechen über die Hügel, hier irgendwo am nördlichen Zipfel des Pfälzerwalds. „Es ist DAS größte zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands“, sagt Anton Müller, das ist ihm wichtig. Er sitzt auf dem Fahrersitz seines silbernen Skoda und manövriert den Kombi durch steile Kurven und enge Straßen. Müller ist an diesem nasskühlen Maitag auf dem Weg zu einem für ihn besonderen Ort.

„Ich komme aus einer uralten bayerisch-pfälzischen Forstfamilie, ich bin die zehnte Generation, deswegen ist die Liebe zum Wald wohl schon genetisch verankert“, sagt Müller, „die wird mir bleiben bis zum Lebensende.“ Es gebe da diesen Spruch aus dem Japanischen, aber von dem halte er eigentlich nicht so viel: im Wald baden. „Für mich bedeutet der Wald: Wenn ich mich hier aufhalte, geht es mir gut.“ Dass es tatsächlich esoterisch angehauchte Gruppenseminare zum Waldbaden gibt, Bäume umarmen inklusive, naja, davon sei er kein Fan. Er findet, jeder solle den Aufenthalt ganz individuell wahrnehmen, egal ob beim Joggen, Fahrradfahren oder Wandern. Egal wie, „alle sind durch den Aufenthalt im Wald erholt an Leib und Seele“, glaubt Müller, der hier jahrzehntelang als Forstamtsleiter für acht Förstereien verantwortlich war.

Seit 2011 ist er zwar in Ruhestand, doch der Wald lässt ihn nicht los.

Er hat zum Beispiel einen Lieblingsbaum, eine Eiche, um die 400 Jahre alt muss sie sein. Dort geht er zu jeder Jahreszeit hin und hat so „schon viele Probleme gut gelöst“, wie er sagt. Manchmal dachte er unter der mächtigen Baumkrone auch über die Menschen nach, die er in seinem Ehrenamt als Opferhelfer beim WEISSEN RING durch schwere Zeiten lotste.

Der frühere Forstwirt engagiert sich seit mehr als 30 Jahren für den WEISSEN RING in Kaiserslautern.

Denn nicht nur die Liebe zum Wald sei wohl genetisch veranlagt, sagt Müller, auch sein Gerechtigkeitssinn sei ihm mitgegeben worden. Schon in der Schulzeit spürte er Wut in sich hochkriechen, wenn jemand ungerecht behandelt wurde. 1978 – der WEISSE RING bestand erst zwei Jahre – wurde er Mitglied im Verein, „die Generation Eduard Zimmermann eben“, sagt Müller. Er bezieht sich auf den TV-Journalisten Zimmermann, Moderator der Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ und Initiator des WEISSEN RINGS. Zunächst war Müller passiver Unterstützer des Vereins, Familie und Job ließen ihm keine Zeit für mehr. Dennoch hatte er auf dem Anmeldebogen schon angekreuzt, er wolle sich später aktiv beteiligen.

Ende der 80er-Jahre meldete sich die Bundesgeschäftsstelle in Mainz bei ihm: In Kaiserslautern gebe es nur einen Mitarbeiter, im Landkreis gar keinen, und ob sein Angebot noch stehe? Es stand. „Wir waren damals ein weißer Fleck auf der Landkarte“, erinnert sich Müller. 1994 übernahm er die Außenstelle im Landkreis, fünf Jahre später kam die Stadt dazu, als beide Standorte zusammengelegt wurden.

„Hier“, sagt Müller und zeigt rechts aus dem Autofenster, an dem ein dreistöckiger Bau vorbeihuscht, der ein wenig so aussieht wie die Après-Ski-Hotels in den Tiroler Alpen. „Das ist der Barbarossahof, da trifft sich unsere Außenstelle immer zur Monatsbesprechung.“

Müller warb neue Mitstreiter und baute ein Netzwerk auf: Politik, Wirtschaft, Justiz und andere Hilfsorganisationen – alle sollten wissen, was der WEISSE RING macht. Eine Arbeit, von der der Verein bis heute profitiert. Es ist noch nicht allzu lange her, da bekam Müller ein Schreiben von der Bundesgeschäftsstelle: Dem Verein seien aus einem Wirtschaftsstrafprozess 250.000 Euro zugesprochen worden. „Ich dachte zuerst, das sei ein Druckfehler, und habe in Mainz angerufen“, sagt Müller und lacht dabei immer noch etwas ungläubig. Doch die Zahl stimmte, und das liegt an einer Besonderheit: Die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern ist die Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsachen, zuständig für die Landgerichtsbezirke Bad Kreuznach, Mainz und Trier. Immer wieder leisten straffällig gewordene Unternehmen Zahlungen, um gerichtliche Verfahren zu vermeiden, oder werden zu Geldbußen verurteilt. Viele dieser Beträge gehen an gemeinnützige Organisationen. In der Regel liegen die Summen jedoch im unteren fünfstelligen Bereich, wenn überhaupt, und werden oft in Raten abgestottert. „Hier war das ganze Geld nach drei Tagen auf dem Konto“, erinnert sich Müller.

Müller ist an seinem Ziel angekommen, den Wagen hat er am Rand eines Waldweges geparkt. Er geht tiefer in den Forst, es knarzt und knackt bei jedem Schritt.

Es war 2016 – der WEISSE RING feierte in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag –, da schrieb Müller wie in jeder Weihnachtszeit den Jahresbericht für seine Außenstelle und stellte etwas Bemerkenswertes fest: Seit Gründung der Außenstelle haben die Ehrenamtlichen in Kaiserslautern mehr als 1.000 Menschen geholfen.

Tausend Opfer, das sind tausend Schicksale.

Anton Müller half mehr als 30 Jahre Opfern durch schwere Zeiten.

„Da muss man was machen“, sagte sich Müller. Er erinnerte sich an seinen Lieblingsbaum im Wald – und an eine Parallele: „Bäume zeichnen sich aus durch Kraft, Langlebigkeit und Geduld. Viele dieser Eigenschaften benötigen auch Opfer, die infolge der Taten oft entwurzelt sind und viel Zeit benötigen“, sagt der 78-Jährige. Was lag da also näher, als für jedes der tausend Opfer einen Baum zu setzen?

So entstand der „Weg und Wald der Hoffnung“. Das Prinzip ist einfach: Forstarbeiter pflanzen Birken, Linden, Kastanien und Eichen in vier Waldgebieten. Bestehende Flächen werden auf diese Weise aufgeforstet, Lücken gefüllt und kranke Bäume ersetzt. Finanziert wird das Projekt, an dem auch das Forstamt Kaiserslautern beteiligt ist, durch Spenden: Für je 100 Euro wird ein Baum gepflanzt – ein Teil des Geldes fließt direkt in die Opferhilfe des WEISSEN RINGS, der andere Teil wird für die Pflanzung und Pflege des Baumes und zum Walderhalt in Deutschland verwendet.

Müller steht vor einer hölzernen Spendentafel am Wegesrand. Der Ort ist bewusst gewählt: Der Waldweg ist beliebt und führt zur alten Bergruine Beilstein, zahlreiche Menschen kommen hier täglich vorbei. Dutzende schwarze Plaketten mit Namen in weißer Schrift sind am Holz angebracht, es sind die Namen der bisherigen Spender, darunter ein Polizeipräsidium, ein Förderverein und zahlreiche Privatmenschen. „Einige von denen haben schon für vier oder fünf Bäume gespendet“, sagt Müller. Auch die Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Rheinland-Pfalz, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, ist auf einer Plakette verewigt. Um die 500 Bäume seien bisher gepflanzt worden, erklärt Müller.

Als 2018 der 250. Baum gepflanzt wurde, kamen viele Politiker, Vorstandsmitglieder und die Medien – das Fernsehen und die lokale Zeitung berichteten groß. Mittlerweile ist es um das Projekt etwas ruhiger geworden. Um sein Werk in Erinnerung zu halten, hat Müller mit einem befreundeten Fotografen einen Kalender mit Aufnahmen des Waldes erstellt, der als Werbemittel an Unterstützer verschenkt wird.

Dass Müllers Engagement keineswegs vergessen ist, zeigte sich gerade erst wieder im April, als er für sein 30-jähriges Wirken als Opferhelfer bei der Landestagung in Mainz ausgezeichnet wurde. In ihrer Laudatio bezeichnete die Landesvorsitzende Bätzing-Lichtenthäler sein Lebenswerk als „einzigartig“, Müller selbst nannte sie eine „Institution des Vereins“.

Es ist nicht seine einzige Auszeichnung: 2018 erhielt Müller die Verdienstmedaille des Landes, doch der Diplom Forstwirt möchte das als Wertschätzung für sein ganzes Team in der Außenstelle verstehen. Opferarbeit sei ja schließlich „keine One-Man-Show“, sagt er.

Müller setzt sich wieder in den silbernen Skoda, er möchte noch andere Projekte zeigen, die er in der Region auf den Weg gebracht hat:

  • eine Hochzeitsallee, in der frisch Vermählte einen Baum pflanzen können. „Problematisch wird es dann, wenn die Paare sich scheiden lassen“, sagt der Forstwirt und lacht;
  • einen „Tisch der Gemeinschaft“ abseits des Waldes, zwölf Meter lang, aus einem einzigen Douglasien-Stamm geschnitzt. Bis zu 100 Menschen können daran während ihrer Wanderungen rasten.

Während der Fahrt blickt Müller zurück. Forstamtsleiter, das sei ein Beruf mit sehr viel Bürokratie gewesen: Für acht Förstereien war er zuständig, sorgte für die Einhaltung von Gesetzen, wirkte an Nutzungsplänen mit, schrieb Stellungnahmen. Aber es sei auch ein sehr vielfältiger Job gewesen, „wir haben uns selbst immer scherzhaft Universaldilettanten genannt“, sagt er und lacht. Die Flexibilität kam ihm als Opferhelfer oft zugute. Im März 2023 gab er zwar nach 29 Jahren das Amt des Außenstellenleiters ab und zog sich aus dem operativen Geschäft zurück, ganz loslassen kann und will er aber nicht: Zu den monatlichen Treffen der Außenstelle geht er weiterhin und gibt seine Erfahrung weiter. In mehr als 30 Jahren als Opferhelfer hat er schließlich viel erlebt. „Ohne Empathie geht es nicht, aber das ist ja die Kunst: sich nicht zu sehr in die Fälle hineinziehen zu lassen, Distanz bewahren“, sagt Müller. „Sonst ist man verloren.“

Ihm sei das all die Jahre eigentlich gut gelungen. Nur ein Fall, der lässt ihn bis heute nicht los.

In seinem Heimatort hatte ein Mann seine drei Kinder erst betäubt und dann umgebracht, der ganze Ort stand unter Schock. Auch Müller, der selbst zwei Töchter hat. Nach mehreren Monaten bat die Mutter ihn um seelischen Beistand. „Sie zeigte mir Bilder der Kinder, das war ganz schlimm.“ Aber nach einiger Zeit habe sie wieder zurück ins Leben gefunden, sagt Müller. Er klingt erleichtert.

Müller parkt sein Auto vor einem Café in Enkenbach. Er möchte sich kurz aufwärmen.

Ob er die Tausend noch schafft bei den Bäumen im „Weg und Wald der Hoffnung“? „Naja“, sagt Müller, „es ist noch ein weiter Weg. Aber sagen wir mal so: Ich werde nicht aufhören.“

Er steigt ins Auto und fährt zurück in den Wald. In silva salus.