Wie der WEISSE RING nach der Flut im Ahrtal hilft

Erstellt am: Mittwoch, 16. Februar 2022 von Sabine

Wie der WEISSE RING nach der Flut im Ahrtal hilft

Am 14. Juli rast die Flut durch das Ahrtal, mehr als hundert Menschen sterben, ganze Dörfer sind verwüstet. Auch Opferhelfer des WEISSEN RINGS wurden zu Betroffenen. Seitdem organisiert Außenstellenleiter Gerd Mainzer den Ausnahmezustand in seinem Heimatdorf. Wie gelingt ihm das?

Als die Flut kam, stand für Gerhard Mainzer fest: Er muss helfen, mit anpacken.

Als Betrüger wäre Gerd Mainzer eine große Nummer. Nach wenigen Minuten würde man ihm Passwörter, Autoschlüssel und die eigenen Kinder anvertrauen. Ein 66-Jähriger mit gepflegten grauen Haaren, der nüchtern und interessiert zugleich durch seine Brille, Typ Kassengestell, blickt. Zum Glück ist Gerd Mainzer kein Betrüger. Was er allerdings an diesem Tag gerade ist, das ist gar nicht so einfach zu sagen. Pensionierter Leiter einer Polizeiwache? Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS? Stadtbeauftragter der Malteser Bonn? Gerd? Jedenfalls auch einer, der sich freut, dass der Apfelschnitz so „schön sauer“ schmeckt.

Fest steht schon mal, wo er an diesem Vormittag ist: Walporzheim, Rheinland-Pfalz. Ein Dorf mit nicht mal 700 Einwohnern, das zu Bad Neuenahr-Ahrweiler gehört. Es ist einer der guten Herbsttage, der Himmel ist blau, auf der einen Seite die Weinberge, auf der anderen die bewaldeten Hügel. Mainzer steht zwischen einem großen weißen Zelt und der Dorfkirche und plaudert mit einigen Bewohnern. Er ist angezogen wie für einen Katastropheneinsatz: Jacke mit viel Orange und reflektierenden Streifen, Cargo-Hose, schwere Schuhe, die Arbeitskleidung der Malteser. Nur der Rucksack verleiht ihm etwas Jugendliches. Ein Modell, das man auf eine leichte Wanderung mitnehmen würde. Er möchte aber bloß seine Runde durch den Ort machen. Noch ist er nicht aufgebrochen, da sagt schon einer über ihn: „Er war einer der Ersten mit Uniform hier.“

,,Alle haben sich irgendwo eingebracht."

Gerhard Mainzer

Lang her ist die Katastrophe noch nicht. Am 14. Juli erhält Mainzer gegen 22 Uhr einen Anruf seiner Schwester aus Walporzheim. Sie wohnt im Elternhaus, er knapp 50 Kilometer entfernt in Königswinter bei Bonn. Das Wasser stehe im Erdgeschoss, sagt die Schwester, der Hund wolle nicht hochkommen in die erste Etage und das Handy sei auch bald leer. Der Strom sei ausgefallen. Nachts schickt sie eine SMS. Vor dem Haus hänge eine Frau im Baum. Dann erreicht Mainzer seine Schwester nicht mehr. Hinfahren ist unmöglich. Wie denn auch? In den Nachrichten ist zu erfahren, dass keine Region so stark vom Regen betroffen ist wie der Landkreis Ahrweiler. 134 Menschen sterben durch das Hochwasser, eine tote Frau wird erst in Rotterdam aus dem Wasser gezogen. Wie hoch die Ahr am Ende stand, weiß niemand, weil die Messgeräte dafür nicht ausgelegt waren. Schätzungen gehen von mehr als sieben Metern aus, doppelt so viel wie der bisherige Höchststand von 2016. 17.000 Häuser sollen verlorengegangen sein oder erhebliche Schäden erlitten haben. Nach ein paar Tagen schafft es Mainzer mit dem Auto bis in seinen Heimatort, die Schwester lebt, aber überall ist Chaos. Es gibt Fotos von Walporzheim nach der Flut, die aussehen, als habe jemand am Computer einen Müllberg in die Straße hineinkopiert – allerdings einen Müllberg, in dem Autos stecken. Für Mainzer steht fest: Er muss helfen. Im Auftrag der Malteser baut er als Ehrenamtler die nächsten Wochen eine medizinische Versorgung auf. Die erste Zeit fährt er fast täglich ins Dorf, 760 Arbeitsstunden in drei Monaten, schätzt er. Gegenüber dem großen weißen Zelt, in dem Helfer und Bewohner kostenlos essen können, steht nun ein Container, der mit einem Sanitäter besetzt ist.

Vor Ort vermischen sich seine verschiedenen Ehrenämter beim WEISSEN RING und bei den Maltesern schon mal.

Wer mit Mainzer durchs Dorf geht, stellt schnell fest, dass die Flut zwar durch ist, das Thema Flut aber noch lange nicht, auch wenn sich die Öffentlichkeit mehr als drei Monate danach wieder anderen Themen zugewandt hat. So vieles ist noch immer nicht wie vorher. Züge fahren erst mal keine. Es gibt Häuser, die bereits von außen völlig zerstört aussehen, es gibt Lücken, in denen mal Häuser standen, Fassaden sind mit Schlamm bespritzt. Man wird in Walporzheim kein Erdgeschoss finden, das nicht betroffen ist. Die meisten stehen noch leer. Alle Weinlokale sind geschlossen.

Obwohl Mainzer die Flut nicht selbst gesehen hat, weist er beim Rundgang regelmäßig daraufhin, wie hoch das Wasser in diesem und jenem Haus gestanden hat – ein Zeichen dafür, wie sehr sich die vergangenen Monate bei ihm eingeprägt haben. Er läuft vorbei an einer provisorischen Tür, auf der steht „We Ahr Together“, unterschrieben von sehr vielen Menschen. Auch sein Name steht da irgendwo mit drauf. Er betritt das Gemeindehaus, das früher mal eine Grundschule war, seine Grundschule. Hier werden Sachspenden gesammelt und ausgegeben. Von Dosensuppe bis zu alten Schuhen gibt es hier alles. Kinderkleidung haben sie viel zu viel. Gebraucht werden gerade besonders Taschenlampen, Kaffeepulver und Spülmittel. Eine Frau fragt Mainzer nach Trocknern. Er kümmert sich, verspricht er. Ein paar Minuten später erreicht er den Platz, an dem gerade das winterfeste Versorgungszelt aufgebaut wird. Bald bekommt er hier sein eigenes Büro, einen Container, momentan organisiert er seine Projekte noch „vom Rucksack“ aus, wie er sagt. Der Container sollte längst da sein. Er ärgert sich.

Vor einem Haus fragt er ein altes Paar, ob sie ihr Geld schon bekommen haben. Ja, haben sie. „Es wird“, sagt die Frau zum Abschied. Das Geld, das ist die Soforthilfe von 2.500 Euro, die jedem vom Hochwasser betroffenen Haushalt auf Antrag bei diversen Hilfsorganisationen zusteht. Mainzer hat auch die besucht, die es nicht zur Info-Veranstaltung geschafft hatten. Da hilft es, wenn man die Leute kennt. Wenn er auf Bekannte trifft, verändert sich seine Sprache. Mit Fremden spricht er eher formell. Fragt man Mainzer nach den Toten und ob sie ertrunken oder von Bäumen oder Autos erschlagen wurden, sagt er: „Tot waren sie halt.“ Was soll die blöde Frage?, heißt das. Das ändert sich, wenn er mit den Leuten aus dem Dorf spricht. Dann wird er lockerer, weicher. „Na, wie isset?“ In Walporzheim ist er immer auch Walporzheimer.

,,Das, was die Leute berichten liegt ihnen am Herzen und belastet sie. Wenn ich helfen kann, tue ich das."

Gerhard Mainzer

Er erreicht nun die Ahr, das Ufer ist aufgerissen. Hier steht nicht nur ein großes Zelt, in dem ein für die Bewohner kostenloser Baumarkt untergebracht ist, sondern auch ein Containerdorf für Helfer. Verantwortlich dafür ist ein Gartenbauunternehmer aus Hessen. Und genau dem läuft Mainzer jetzt über den Weg. Mit einem weiteren Mann geht dieser gerade durch den Ort und verteilt Geld und Gutscheine, die sie in einem Korb tragen. Ob er noch Leute kenne, die Bedarf hätten? Mainzer will darüber nachdenken. Er lässt sich nicht anmerken, dass ihm der Mann nicht ganz geheuer ist. Er findet es eher ungeschickt, die Zuwendungen zu verteilen wie der Weihnachtsmann. Mainzer will da nicht falsch verstanden werden, die Helfer von außen waren wichtig für den Ort. Überall hängen Dankesplakate an Zäunen und Fenstern. Doch er findet, so allmählich müsse das Dorf wieder mehr für sich selbst sorgen. Der Gartenbauunternehmer ist ein ganz anderer Helfer-Typ als Mainzer. Herr Hartmann trägt einen Kapuzenpullover mit dem Aufdruck „Mach es wie die Hartmanns – sei ein HARTmann!“ Man hat ihm auch eine lebensgroße Holzfigur geschnitzt und eine provisorische Straße im Containerdorf nach ihm benannt. Mainzer, der ohnehin eher aussieht wie in Stein gehauen, hätte den Leuten vermutlich einen Vogel gezeigt. Später wird ein Schreiner Mainzer erzählen, bei ihm hätten die Helfer schon Unkraut pflücken wollen. Bei einem anderen hätten sie die Kieselsteine gereinigt.

Auch Mainzer erzählt gern von dem, was er leistet. Später auf der Rückfahrt hört man die Geschichten aus seiner Zeit als Polizist, Erster Hauptkommissar war er, mehr geht nicht im gehobenen Dienst. Wie er über den Zugriff bei einer Kindesentführung entscheiden musste. Wie er einen Kaiserschnitt anordnete, um Leben zu retten. Wie er einer Frau 50 Mark lieh, die gerade Pfandgeld gestohlen hatte, aber Essen für ihre Kinder brauchte. Der Kollege sagte, das Geld sehe er nie wieder. Er sah es wieder. Solche Dinge erzählt er aber eher weniger, um damit anzugeben, sondern um einen Punkt zu machen: Dass er schwierige Entscheidungen treffen kann. Dass er Vertrauen in Menschen hat.

Hört zu: Außenstellenleiter Gerd Mainzer.

Wenn Mainzer durch sein Heimatdorf geht, trägt er zwar die Uniform der Malteser, aber er ist auch immer Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS Ahrweiler. Das Telefon hat er immer dabei. „Das ist ja ein Mobiltelefon“, sagt er trocken. 2018 übernahm er den Posten, ein Jahr nach seiner Pensionierung. Wie leitet man nun eine Beratungsstelle für Kriminalitätsopfer, wenn plötzlich ganz andere Opfer im Vordergrund stehen, die Betroffenen der Flut? Am Tag zuvor hat er eine Videokonferenz mit seinen Leuten gemacht, um zu schauen, wie die Lage bei ihnen ist. Nach dem Hochwasser dauerte es eine Weile, bis er alle 15 überhaupt erreicht hatte. Betroffen waren sie alle irgendwie. Am schlimmsten der Mitarbeiter, der sein Haus verlor. Wen es selbst nicht so stark erwischt hatte, kümmerte sich um Familienangehörige, half im eigenen Ort mit. „Alle haben sich irgendwo eingebracht“, sagt Mainzer. Zum Beispiel jene Mitarbeiter, die das Glück haben, auf einem Berg zu wohnen. Sie kochen nun für alle, die dazu gerade nicht in der Lage sind. Die Hilfe vor Ort hatte Vorrang vor der Arbeit für den WEISSEN RING. Mainzer versteht das. Wer sich ehrenamtlich engagiert, neigt dazu, sich auch dann zu kümmern, wenn es an anderer Stelle Probleme gibt.

Auch mehr als drei Monate später stehen Mainzer nur zwei bis drei Helfer wieder so zur Verfügung wie vor dem Hochwasser. Die Anrufe hatte ohnehin immer er entgegengenommen, dann die Fälle aber häufig weiterverteilt. Im Juli wurde klar, dass er sich bis auf weiteres allein um die Fälle kümmern musste. „Ich war ja eh hier.“ Auch wenn er mal nicht ans Telefon gehen kann, zurückgerufen hat er immer innerhalb von 24 Stunden, sagt er. Auch wenn die Not, die er selbst vor Augen hatte in Walporzheim, häufig größer war. Man müsse es halt bearbeiten – auch dann, wenn es „nur“ um Betrug geht. „Schlimmer geht immer. Aber das, was die Leute berichten, liegt ihnen am Herzen und belastet sie. Wenn ich helfen kann, tue ich das. Es gibt aber Fälle, die so lebensfremd sind, die lehne ich ab.“ In den vergangenen Monaten hat es aber auch schwere Fälle gegeben, ein Tötungsdelikt, 16 Messerstiche, das Opfer überlebte schwerverletzt. Eine Flut-Helferin wurde vergewaltigt.

Einige Straftaten wurden durch die Flut begünstigt. Einmal warnten Betrüger vor dem nächsten Hochwasser, damit die Leute die Häuser verließen und sie in Ruhe die Wertgegenstände rausräumen konnten. Es gibt auch Betrüger, die den Anschein erwecken, sie würden kostenlos bei Reparaturen helfen, und dann erhöhte Rechnungen ausstellen. Das Hochwasser bringt bei manchen auch verdrängte Traumata wieder hoch. Da kann es sein, dass Mainzer jemanden in seiner Funktion als Malteser besucht, und dann geht’s plötzlich nicht nur um die Soforthilfe. „Da brach alles über die Frau herein, und sie sagte: ‚Jetzt weiß ich gar nichts mehr.‘ Dann schalte ich auf WEISSER-RING-Modus um und dann ist das so.“

,,Ich bin nicht erstaunt, dass ich das geschafft habe. Ich traue mir das schon zu. Meine Aufgabe ist es zu organisieren."

Gerhard Mainzer

Mainzer hat Erfahrungen mit Katastrophen, „aber nicht mit so einer Katastrophe. Solche großen Katastrophen kennt niemand.“ Dennoch sagt er: „Ich bin nicht erstaunt, dass ich das geschafft habe. Ich traue mir das schon zu. Meine Aufgabe ist es zu organisieren.“ Situationen nicht zu sehr an sich heranzulassen, das gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten eines Helfers – aber wie will man das machen, wenn die Heimat, wenn Freunde und Familie betroffen sind? Das war auch für Mainzer eine besondere Belastung. Er hat geweint, aber nicht hier vor Ort als Helfer, dafür ist er zu professionell. Seine Frau hat ihn schon mal gebeten, jetzt nicht wieder nach Walporzheim zu fahren. Nicht weil sie den Einsatz in Zweifel zieht, sondern bloß, weil es ihr zu viel erschien. Dann blieb er zu Hause.

Was er jetzt im Ort macht, dafür nutzt er zwar nicht die Mittel des WEISSEN RINGS, sondern der Malteser, aber es ist ganz im Sinne des WEISSEN RINGS: Prävention. Die Leute haben Schlimmes erlebt und überlebt. Das hinterlässt Spuren. Deshalb hat jetzt Bolle seinen Auftritt. Labrador Bolle ist ein sogenannter BBD-Hund, BBD steht für Besuchs- und Begleitdienst. Mainzers Idee ist, dass man in Anwesenheit eines Hundes leichter mit Menschen ins Gespräch kommt, die schwerer zu erreichen sind: alte Menschen, Kinder zum Beispiel. Zusammen mit Besitzerin Birgit Buchloh besuchen sie am Freitagnachmittag das Altenheim. Im Erdgeschoss wird noch renoviert, in der ersten Etage sitzt eine Frau auf dem Balkon und raucht. Wer sich fragt, was ein Hund denn ausrichten könne, sollte sich das unbedingt einmal anschauen. Der eben noch sehr stürmische Bolle wird ruhig. Nach wenigen Minuten überlässt Buchloh der Rentnerin die Leine, der Hund legt sich hin. Sie drückt der Frau noch ein paar Leckerli in die Hand. Ein zweiter Bewohner setzt sich dazu, nimmt auch mal den Hund, dasselbe Spiel. Viel geredet wird nicht, Mainzers Fragen werden mit höchstens einem Satz beantwortet. Aber da ist plötzlich so eine Art Frieden in einem Ort, der noch lange nicht zur Ruhe kommt. Für den nächsten Besuch vereinbaren sie einen Spaziergang mit Hund.

Mainzer macht sich Sorgen, weil jetzt der Winter kommt. Ausgerechnet in der Zeit, in der es kälter und dunkler ist, müssen die Überlebenden mit den psychischen Folgen umgehen. Viele haben noch keine neue Heizung, können das Erdgeschoss nicht nutzen, kämpfen um ihre Existenz. Manche sitzen allein zu Hause. Die Leute hätten sich schon gegenseitig geholfen, sagt Mainzer, aber er beobachte, dass nun auch die Konflikte losgehen. Warum hat mein Nachbar mehr als ich, woher hat er den Trockner? Belastungen, die zur Gefahr werden können. Häusliche Gewalt und Kindesmissbrauch hätten während der Pandemie zugenommen in der Region, sagt Mainzer. Was nach der Flut passiert ist, da fehlen ihm noch die Zahlen. Deshalb sind Projekte wie der Begleithund gut. Er, der vor seiner Zeit als Polizist Kindergärtner war, ist auch mit Kindern in die Reithalle gegangen. Treffpunkte wie die Kirche will er wieder beleben. Die Leute sollen nicht gezwungen sein, zu Hause zu hocken. Dafür nutzt er auch die Kontakte des WEISSEN RINGS. Wenn er zum Beispiel beim Jugendamt anruft, sagt er: Sie kennen mich vom WEISSEN RING, aber heute rufe ich als Malteser an.

Am späten Nachmittag kehrt Mainzer zurück auf den Zeltplatz. Schon ist wieder sein Typ gefragt. Eine Frau sucht eine neue Wohnung, die alte ist wegen des Hochwassers gerade nicht bewohnbar. Sie will unbedingt hier bleiben, damit die Tochter nicht die Schule wechseln muss. Sie klingt verzweifelt, beginnt zu weinen. Mainzer sagt gar nicht viel, aber er verspricht sich umzuhören. Die Frau schreibt ihren Namen und ihre Telefonnummer auf seinen Notizblock. Fragen kann er zum Beispiel die Ehrenamtlerin, die auch beim WEISSEN RING arbeitet und sich in der Gegend momentan um Wohnraum für Flutopfer kümmert. Den Antrag auf Soforthilfe hat die Frau auch noch nicht ausgefüllt. Kann sie gleich hier machen. Mainzer setzt sich mit ihr auf eine Bank. Zum Abschied umarmt sie ihn, und zum ersten Mal an diesem Tag wirkt Mainzer ein klein wenig unbeholfen.

Hilfe nach dem Horror

Erstellt am: Mittwoch, 8. Dezember 2021 von Sabine

Hilfe nach dem Horror

Ein Mann ermordet in Würzburg drei Frauen mit einem Messer. Die Tat bestürzt das ganze Land: Hätte sie verhindert werden können? In unserem Portrait stellen wir zwei Helfer vor, die viel für die Opfer und die Angehörigen getan haben.

Nach der Tat: Würzburg trauert. Foto: Nicolas Armer/dpa

Die Küchenmesser im Kaufhaus „Woolworth“ in der Würzburger Innenstadt liegen nicht mehr in der Auslage. Das ist zumindest eine beruhigende Veränderung. Denn an dieser Stelle hatte sich im Sommer 2021 ein wohl 24 Jahre alter Geflüchteter aus Somalia von der Verkäuferin die Ware zeigen lassen, um dann mit einem Messer mit langer Klinge wild um sich zu stechen. Drei Frauen kamen ums Leben, ein zwölfjähriges Mädchen und vier weitere Personen wurden schwer verletzt. Das beherzte Eingreifen von Passanten verhinderte, dass noch mehr Menschen zu Schaden kamen.

Der Amoklauf sorgte deutschlandweit für Bestürzung, die Anteilnahme für die Opfer war enorm: Die Spenden erreichten sechsstellige Summen. Alois Henn vom WEISSEN RING in Würzburg bekam die Nachricht von der Tat noch am Abend mitgeteilt, die folgenden drei Wochen verbrachte er am Schreibtisch. Es ging um schnelle Hilfe, um Koordination und Kooperation zwischen den beteiligten Stellen – zum Schutz der Opfer und Angehörigen. Es wurde eine Herkulesaufgabe, doch Henn und Außenstellenleiter Martin Koch sind seit Jahrzehnten an Ausnahmefälle gewöhnt.

Nicht über Pensionierung gefreut

Bei einem Treffen in diesem Herbst trägt Henn einen schwarzen Hut, Koch eine helle Cap und beide kariertes Hemd unter ihren Pullovern. Sie erzählen ausführlich und pointenreich von ihrem Leben – aber auch von den dunklen Tagen nach der Würzburger Tat. Wenn man die beiden agilen Ehrenamtler so beobachtet, kommt man gar nicht auf den Gedanken, in welch hohem Alter sie sich noch derart engagieren: Henn zählt 79 Jahre, Koch sogar 85.

Sie mussten lernen, die Perspektive zu wechseln: die ehemaligen Polizisten und heutigen Opferhelfer Martin Koch (links) und Alois Henn. Foto: Ron Ullrich

Neben dem augenscheinlichen Faible für Kopfbedeckungen eint sie noch die gemeinsame Biografie als ehemalige Polizisten: Koch war Leiter der Mordkommission in Würzburg. Er wurde mit 60 Jahren pensioniert und war einer der wenigen Arbeitnehmer in Deutschland, die sich über die Rente nicht gefreut haben. Er wollte weiter aktiv sein,  und so schloss er sich 1997 dem Team des WEISSEN RINGS an. Dabei wurde er auch zu einer Art Botschafter: Er allein soll 300 Personen als Mitglieder zum WEISSEN RING gebracht haben. Koch, der in diversen Klubs vom Radfahren bis zum Wandern unterwegs ist, leistete Überzeugungsarbeit. Sein Kollege Henn scherzt: „Wenn er mit einer Gruppe im Bus unterwegs war, ist er nie ohne neue Mitglieder zurückgekommen.“

Auch Alois Henn kam zum WEISSEN RING, weil ihn Koch nach dessen Pensionierung 2003 anwarb. Von 1962 an hatte er zuvor bei der Polizei gearbeitet, aus eigenem Antrieb sogar die Stationen gewechselt, um überall Neues zu entdecken: So war er bei der Einsatzleitung, der Autobahnpolizei, dem Unfallkommando, als „Operator“ im Einsatz und später im Rechnungswesen. „Ich habe alle Sparten kennengelernt.“ Heute, nach seiner offiziellen Dienstzeit, bekleidet Henn so viele Ehrenämter, dass er sie gar nicht alle aufzählen kann. So ist er unter anderem Ehrenvorsitzender des Polizeichors und des Sängerkreises Würzburg. Im September wurde er für sein Engagement mit dem Ehrenzeichen des Bayerischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet.

Täter mit Opfer-Perspektive konfrontiert

Die beiden Mitarbeiter vom WEISSEN RING haben also jahrelange Erfahrung gesammelt, zeichnen sich durch ihr Engagement und ihre Begeisterungsfähigkeit aus – und wer an Astrologie interessiert ist, mag diesen Zufall als weitere Erklärung für ihre Gemeinsamkeiten anführen: Beide wurden am 9. Juni geboren – Koch im Jahr 1936, Henn 1942.

Beim WEISSEN RING mussten sie erst einmal lernen, die Perspektive zu wechseln. Die Polizei sieht Opfer zunächst einmal als Zeugen einer Straftat an, in ihrer heutigen Tätigkeit rückt die Opferperspektive in den Mittelpunkt. „Ich wäre zu meiner Zeit bei der Polizei froh gewesen, wenn ich vom WEISSEN RING gewusst hätte“, sagt Koch. Für Henn ist eine Wechselwirkung entscheidend: In den Gesprächen zeigt er Empathie, muss gleichzeitig die Sympathie seines Gegenübers erlangen, damit das Gespräch vertrauensvoll und tiefergehend ablaufen kann. „Ich stelle mir die Fragen: Was ist passiert? Wo liegt der Schaden? Und wie kann ich helfen?“ Nicht alles in diesem Lernprozess laufe autodidaktisch ab, neben den langjährigen Erfahrungen helfen den beiden die Aufbauseminare der WEISSER RING Akademie.

Außerdem hat Henn eine besondere Initiative gestartet: Er hält Vorträge vor der Bereitschaftspolizei – und in der JVA. Hier konfrontiert er Täter meistens zum ersten Mal mit der Perspektive ihrer Opfer. „Die Reaktionen sind frappierend“, so Henn. Einmal habe ein Sexualstraftäter den Raum verlassen, weil er es nicht mehr ausgehalten habe. Zehn Minuten später sei er zurückgekehrt. „In diesen Sitzungen wird Tacheles geredet, psychologisch lerne ich da unglaublich viel.“ Die Hälfte der Täter bitte nach den Vorträgen sogar noch um Einzelgespräche. Die Begegnungen sind wohl einmalig in Deutschland und könnten ein Vorbildprojekt werden, glauben die beiden. Die Rückfallquote liege bei den Tätern, die die Vorträge besuchten, bei nur fünf Prozent – während sie im Schnitt wohl um das Sechsfache höher ausfalle.

Der Horror von Würzburg

Für Henn geht es beim WEISSEN RING um zwei Ansätze: die organisatorische und die psychologische Hilfe. „Wichtig ist aber vor allem, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Und: Zuhören! Zuhören! Zuhören!“ Genau diese Tugenden waren gefragt nach dem 25. Juni 2021 – nach der Messerattacke von Würzburg.

Als Henn den Fall abends auf seinen Schreibtisch bekam, kabelte er gleich der Betreuungsstelle der Polizei durch: Wir stehen bereit, um zu helfen! „Wichtig ist, so einer Situation mit Bedacht zu begegnen und nicht überstürzt Entscheidungen zu treffen. Wir müssen intensiv mit der Polizei zusammenarbeiten.“ Der WEISSE RING habe die große Stärke, sofort und unbürokratisch zu helfen. Bei dem Attentat starb eine junge Mutter, ihre zwölfjährige Tochter überlebte. Der Lebenspartner und der Bruder des Mädchens waren da aber noch in Brasilien, also organisierte die Opferhilfe einen Flug der beiden, um die Familie in der Stunde dieser Trauer zusammenzubringen.

Die Anteilnahme in Würzburg ist groß. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Insgesamt sieben Opfer des Attentats meldeten sich beim WEISSEN RING, die finanziellen Hilfen beliefen sich auf rund 15.000 Euro. Eine 42 Jahre alte Frau war nach dem Angriff querschnittsgelähmt, ein 16-Jähriger hatte Messerstiche im Rücken erlitten. Eine andere Frau schlug den Angreifer mit der Einkaufstasche und konnte sich auf diese Weise retten – aber sie war daraufhin traumatisiert.

Die Spendenaktion „Würzburg zeigt Herz“ erbrachte insgesamt 200.000 Euro.  Henn zeichnete für einen Spendenaufruf übers Radio verantwortlich und gab in der Presse Interviews. „Ich saß drei Wochen lang ununterbrochen am Schreibtisch – die Informationen liefen kreuz und quer und mussten zusammengeführt werden.“

Immer wieder Messer-Attacken

Die Stadt, das ganze Land sprach über die Tat. Der Horror von Würzburg rief in ganz Deutschland Fragen auf: Wie konnte es zu dieser Tat kommen – und hätte sie verhindert werden können? Nur drei Tage später attackierte ein 32-Jähriger in Erfurt zwei Männer mit einem Messer. Auch im November 2021 schockieren Bluttaten das Land: Ein Geflüchteter aus Syrien stach in einem ICE in der Oberpfalz wahllos auf Passagiere ein, am gleichen Abend richtete ein Mann in einem Bekleidungsgeschäft in München das Messer gegen einen Jungen. Dem Täter im ICE attestierte ein Sachverständiger eine „paranoide Schizophrenie“. Der Angreifer von Würzburg wurde in diesem Jahr von einem Gericht als „nicht schuldfähig“ angesehen.

Zwei Messerangreifer, zwei Geflüchtete, zwei Mal mit psychischen Problemen – nur ein Zufall? Gegenüber der „Welt am Sonntag“ sagte Lukas Welz, der Geschäftsführer der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer: „Uns fehlen einfach die Mittel.“ 30 Prozent der Geflüchteten litten demnach unter einer psychischen Erkrankung, doch nur fünf Prozent würden betreut. Tatsächlich hat ein Großteil der Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind, traumatische Erfahrungen wie Krieg, Folter oder Vertreibung in der Heimat machen müssen. Für die Aufarbeitung und medizinische Betreuung fehlten in Deutschland nicht nur die Mittel, sondern auch das Bewusstsein für diese besondere gesellschaftliche Herausforderung.

Jedoch wurden nicht alle Geflüchteten im Umkehrschluss zu potenziellen Gewalttätern. Einer der mutigen Passanten, die sich in Würzburg dem Täter entgegenstellten, war ein geflüchteter Kurde, der erst einige Monate zuvor nach Deutschland eingereist war. Mit seinem neu erworbenen Rucksack und lauten Schreien stellte er sich dem Täter entgegen, bis die Polizei eintraf. So konnte ein noch schlimmeres Blutbad verhindert werden.

Die Opfer: Frauen

Ob die Tat insgesamt hätte verhindert werden können, darüber stritt die Öffentlichkeit. Der Täter aus Somalia soll laut Zeugen „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“) gerufen haben – seine Opfer waren Frauen. Diese Indizien führten zum Verdacht einer islamistischen Tat, doch eindeutige Beweise für diese Verbindung blieben aus. Der Terrorismusforscher Peter Neumann erklärte gegenüber der „Zeit“, dass islamistische Organisationen nun vermehrt den Einzeltätertypus bewerben. Gleichzeitig warnte er, dass sich der Fall in Würzburg gar nicht so leicht beurteilen lasse: „Ist das überhaupt noch Terrorismus, ist das was ganz anderes, hängt sich da jemand mit seiner psychischen Krankheit nur an solche Slogans ran?“ Was war zuerst da: die psychischen Probleme oder die extremistische Einstellung?

Ein Meer an Kerzen und Blumen in der Würzburger Innenstadt. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Aus Opfersicht ist aber wichtig, dass gerade hier eine Früherkennung und Präventionsarbeit stattfindet. Ein Gutachten zur psychischen Störung nach der Tat erzürnt die Opfer, weil der Täter formell keine Haftstrafe antreten muss, sondern womöglich in die Psychiatrie eingewiesen wird. Doch der Täter von Würzburg war bereits vor dem Amoklauf zwangsweise in psychiatrischer Behandlung gewesen. Einmal hatte er in Würzburg ein Auto angehalten, sich hineingesetzt und sich geweigert, den Wagen zu verlassen. Bewohner der Innenstadt erzählen, dass der Somalier stadtbekannt gewesen war, weil er immer barfuß durch die Straßen lief. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wiegelte in Interviews in der Folge jedoch ab: Diese Aktionen hätten nicht ausgereicht, um den Mann einzusperren. Auch die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, Alois Henn und Martin Koch, teilen diese Ansicht. „Ich halte es auch für ausgeschlossen – du kannst jemanden nicht dafür wegsperren“, so Koch. Und Henn sagt: „Solche Dinge kann man nicht verhindern.“

Ein bisschen Normalität

Henn und Koch haben im Nachgang der Tat viel für die Opfer und die Angehörigen getan – mitunter sind es die kleinen Hilfen, die große Wirkung entfalten. Die Zwölfjährige, die in Würzburg ihre Mutter verlor, lebt nun mit Vater und Bruder zusammen, die erst durch die finanzielle Unterstützung aus Brasilien anreisen konnten. Sie wohnten nun bei ihr, erzählt Henn, und besuchten Deutschkurse. „Sie können sich schon sehr gut verständigen.“

Als eine private Spende in Höhe von 250 Euro für das Mädchen einging, stockte der WEISSE RING auf 400 Euro auf und kaufte ihr ein neues Kinderfahrrad. Es ist nicht viel, aber ein kleines Stück Normalität, nach all den dunklen Stunden.

Vom Loslassen

Erstellt am: Mittwoch, 29. September 2021 von Sabine

Das Ehepaar Jutta und Werner Käding helfen Betroffenen durch schwere Zeiten.

Vom Loslassen

Es gibt viele Gründe, warum sich Ehrenamtliche beim WEISSEN RING engagieren. Bei Jutta und Werner Käding aus Diepholz ist es ein sehr trauriger. Ihr Sohn wurde 1999 unweit ihres Hauses getötet. Heute hilft das Ehepaar mit seiner Erfahrung anderen Betroffenen durch schwere Zeiten.

Man solle sich nicht wundern, so hatte es Werner Käding am Telefon erklärt, wenn das Navi einen in die Wildnis lotst. Denn: „Wir wohnen in der Wildnis.“

Wer sich also aufmacht zu Jutta und Werner Käding, sieht zunächst mal Störche und Maisfelder. Bauernschaften und Sonnenblumen. Kleine Wassergräben und Feldwege ins vermeintliche Nichts, dunklen Ackerboden. Man fährt und hofft, dass das Netz auch hier draußen stabil ist. Und währenddessen kommt aufgrund der zahlreichen Landlust-Szenarien die Frage auf, was denn hier, zwischen Osnabrück und Bremen, eigentlich für Straftaten passieren können, abgesehen vom Kuh-Schubsen und Milchkannendiebstahl?

Dann sitzt man kurze Zeit später in einem Wohnzimmer, der Blick geht weit, wie hier überall eigentlich.  An einer Hecke vorbei, auf ein Feld, hinten am Horizont eine Baumreihe: „Da, sehen Sie die Bäume?“ Am Fuße dieser Bäume starb der Sohn der Kädings.

Im August 1999 war das, der junge Mann hatte gerade seine Kochausbildung bestanden, es sollte gefeiert werden. Bei der Feier auch ein Tellerwäscher aus dem Restaurant, in dem der junge Koch gelernt hatte. Er näherte sich dem Sohn sexuell, der verweigerte sich, da wurde er erwürgt und anschließend mit einer Stange auf den Körper eingedroschen. Nach fünf Tagen fanden sie ihn, es waren gewittrige Tage damals, und ein Polizist sagte zum Vater: „Werner, tu dir das nicht an, sieh dir das nicht an.“ Was sie dann auch nicht machten und was ein Fehler gewesen sein kann – denn „dass ich, dass wir uns nicht verabschieden konnten, darunter haben wir alle gelitten“.

Andere Betroffene verstehen

Ein Kind, das vor seinen Eltern geht, ist die Urangst aller Eltern. Der Verlust des Großen und Ganzen, der Ordnung, ein Abriss der Zeit – für Jutta und Werner Käding eine erschütternde Erfahrung. Sie kennen die Phasen des Trauerns, die Ohnmacht – und den Zorn. Er brachte sie zum WEISSEN RING, was vielleicht nicht die beste Antriebsfeder für eine ehrenamtliche Tätigkeit ist. Aber ein ernst zu nehmender Grund. Und ein großes Pfund in ihrer Arbeit mit anderen Opfern. Sie verstehen, was es heißt, ein Opfer zu sein.

„Schuld und Sühne“ sagt Käding und betont die Sühne so, dass man die Anführungszeichen quasi mithört. Nichts gegen die Polizei. Käding war elf Jahre lang Leiter der Ausländerbehörde von Diepholz, da kennt man sich. Er wurde hier 1953 geboren, seine Frau Jutta zwei Jahre später im Nachbarkreis. Und dass er 19 Jahre lang der 1. Vorsitzende des hiesigen Fußballvereins war, macht ihn in der Gegend auch nicht gerade unbekannter.

Also, nichts gegen die Polizei, die hat ermittelt, was zu ermitteln war, hat sich gleich auf die Suche nach dem Jungen gemacht, obwohl sie das nicht gemusst hätte. Aber die juristische Aufarbeitung, das Verfahren vor Gericht, das hatten sich die Kädings dann doch anders vorgestellt. Man sehe dann erst, sagt Herr Käding, wenn man selber in einem Gericht dabei ist, dass alles gesucht wird, was für den Täter spricht. Ausschließlich um ihn sei es gegangen. Eine Frau von der evangelischen Gefangenenhilfe habe sich um den Mann gekümmert. Bei den Kädings habe sich drei Mal ein Geistlicher angekündigt, gekommen sei er dann aber nie. Was an sich keine Katastrophe war, das erste halbe Jahr nach der Tat seien sie von Freunden und Verwandten nicht einen Abend allein gelassen worden. Aber merken tut man sich so etwas doch.

Täterzentrierte Justiz

Die täterzentrierte Justiz ist ein Problem in Deutschland, vor allem das Strafmaß und dessen Ermittlung sind von Interesse, Opfer und Opferangehörige eher wenig. Der Täter bekam dann zehn Jahre, und Familie Käding hatte das Gefühl, im Prozess deplatziert gewesen zu sein. Dabei hatten sie doch lebenslänglich bekommen, sagt Herr Käding. Und das, sagt Frau Käding, hört tatsächlich nie auf.

Die Zeit nach dem Prozess – dafür finden sie und er wenige Worte, eher Bilder. Der Weihnachtsbaum zum Beispiel, der all die Jahre nicht groß und prächtig genug sein konnte, kam nicht mehr ins Haus. Zu Feiern gingen sie dann doch irgendwann schon mal wieder, nahmen sich aber das Recht heraus, jederzeit zu gehen, wenn es ihnen zu viel wurde. Und an Silvester, da fuhren sie dann immer weg, weil es nach zwei, drei Jahren vorsichtig hieß, „jetzt könnt ihr doch langsam mal wieder“. Konnten sie nicht, wollten sie nicht. Man muss es so machen, sagt sie heute, dass man da am besten durchkommt. Man muss, sagt er, egoistisch werden. In den Entscheidungen, nicht im Leben.

2002 gingen sie zum WEISSEN RING. Opferwerdung, Opferschutz, das alles war ihr Thema geworden und ließ sie nicht los. Also konnte man das doch auch nutzen: erst Stände aufgebaut, Arbeit im Hintergrund, dann wurde es langsam mehr, und irgendwann waren sie halt richtig dabei. Zuhören, Opfer beraten, auf das vorbereiten, was vor Gericht kommen kann, die Menschen stark machen, sich Zeit nehmen – was das eigene Schicksal sie gelehrt hat, das müssen sie nicht alles weitergeben. Aber dem Menschen, der da hilfesuchend sitzt, das Gefühl vermitteln, dass da gegenüber zwei Menschen sitzen, die wissen, was Opfer sein bedeutet – das kann ein Eisbrecher sein.

Schwerpunkt: Sexualdelikte

Gut 13 Jahre nach dem Tod des Sohnes brach zwar nicht das Eis der Kädings, aber ein zweiter Frühling kam in das alte Bahnwärterhaus im niedersächsischen Diepholz. Ihre Tochter brachte das erste Enkelkind zur Welt. Heute sind die Kädings dreifache Großeltern. „Die Kinder“, sagt Jutta Käding, „haben uns wieder ins Leben reingezogen.“ Sie hätten heute wieder mehr Lebensfreude, tolle Enkelkinder seien das, sie geraten ins Schwatzen über die Kinder, natürlich die besten der Welt, wie soll das anders sein? Glanz in den Augen beim Sprechen, begeistert, verliebt, vernarrt. Lebendig.

Jetzt also drei Enkelkinder und Außenstellenleiter beim WEISSEN RING in der Außenstelle Diepholz, was sich provinziell anhören mag, aber nur für Großstädter. Wer hier zu tun hat, lernt dann schnell, dass das Gebiet der Außenstelle so groß ist wie das Saarland. Hier, im Süden, an der Grenze zu NRW, sehr ländlich, im Norden einwohnerstarke Gemeinden bis an Bremen heran, da passiert natürlich auch mehr. Sexualdelikte machen einen großen Schwerpunkt ihrer gemeinsamen Arbeit der insgesamt 15 Kollegen der Außenstelle aus, Gewaltdelikte einen weiteren. Mal ist es ruhig, mal reihen sich die Fälle wie Perlen auf einer Kette, so richtig weiß man nie, was kommt.

„Jeduld und Jelassenheit“

Werner Käding, der ehemalige Beamte, steht inzwischen Behörden sehr kritisch gegenüber, wenn die mit Opfern zu tun haben. Mildtätigkeit, sagt er, kann dieser Staat einfach nicht. Genauso wenig wie Opferhilfe. Wenn sie heute zurückblicken, dann würden sie wieder zum WEISSEN RING gehen, vielleicht ein bisschen eher noch. Vielleicht auch nicht, denn man brauche, es folgt ein Konrad-Adenauer-Zitat: „Jeduld und Jelassenheit“. Geduld, da das Opfer das Tempo bestimmt. Immer. Und Gelassenheit, um sich nicht einfangen zu lassen von dem, was man hört, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht mitreißen zu lassen. Hinten am Horizont die Baumkronen, man kann sie sehen, wenn man sich anstrengt. Vorn, direkt vor dem Fenster, das Klettergerüst und das Trampolin für die vermutlich besten Enkelkinder der Welt.

„Man kann loslassen, das hat uns das eigene Schicksal gelehrt“, hat Jutta Käding irgendwann im Gespräch gesagt.

Man muss es vielleicht, um weiterzumachen. In diesem Jahr, am 9. August, war sie zum ersten Mal am Todestag des Sohnes auf dem Friedhof und hat dabei nicht geweint.

„Vor Corona hatten wir 200 Erstanfragen im Monat, nun sind wir bei 300“

Erstellt am: Montag, 16. August 2021 von Sabine

„Vor Corona hatten wir 200 Erstanfragen im Monat, nun sind wir bei 300“

Seit fünf Jahren bietet der WEISSE RING auch eine Onlineberatung an. Laura Cornish ist von Anfang an dabei. Im Interview erzählt die ehrenamtliche Helferin, wie das Angebot funktioniert – und mit welchen Anliegen sich die Ratsuchenden melden.

Seit fünf Jahren bietet der WEISSE RING auch eine Onlineberatung an. Foto: janeb13/Pixabay

Seit fünf Jahren gibt es die Onlineberatung des WEISSEN RINGS nun. Sie sind seit der ersten Stunde mit dabei. Wie läuft eine Onlineberatung typischerweise ab?

Bei der Onlineberatung haben die Ratsuchenden die Möglichkeit, uns ihre Anfragen komplett anonym zuzusenden. Wir versprechen eine Rückmeldung innerhalb von 72 Stunden. Üblicherweise sind wir allerdings deutlich schneller. Danach findet der Austausch dann im Rhythmus des jeweiligen Beraters oder der Beraterin statt, weil wir im Lauf der Woche zu persönlichen, festen Zeiten online sind, die wir den Ratsuchenden auch mitteilen. In der Regel bekommen diese also ein bis zwei Mal pro Woche eine Antwort von uns. Da wir keine lebensbegleitende Beratung anbieten, haben wir ein Limit von acht Nachrichten von beiden Seiten, das allerdings nicht starr ist und so gut wie nie erreicht wird.

Aber der Austausch läuft ausschließlich per Chat?

Per Nachrichtenaustausch, also wie E-Mail-Verkehr. Einen Live-Chat gibt es noch nicht bei uns.

Und Sie sagten, Sie bleiben deutlich unter den 72 Stunden, wo liegt da der Durchschnitt? Bis wann können Ratsuchende mit einer Antwort rechnen?

Aktuell antworten wir in unter 20 Stunden. Wir sind momentan auch gut aufgestellt.

Wie viele Berater sind Sie denn?

Wir sind 52 Beraterinnen und Berater.

Bekommen Sie seit Beginn der Corona-Pandemie mehr Anfragen?

Vor Corona hatten wir etwa 200 Erstanfragen im Monat, nun sind wir bei rund 300.

Mit welchen Problemen kommen die Ratsuchenden üblicherweise auf Sie zu? Und ist da seit der Corona-Pandemie eine Veränderung zu sehen?

Die Anzahl der Anfragen hat sich erhöht, die Straftaten, mit denen Ratsuchende sich an uns wenden, sind allerdings gleichgeblieben. Der Fokus liegt nach wie vor auf den Sexualdelikten und der häuslichen Gewalt. Außerdem kommen Körperverletzungen und Stalking oft vor.

Und für welchen Kriminalitätsbereich sind Sie zuständig?

Wir Beratenden ordnen uns nicht unterschiedlichen Bereichen zu. In unserer Ausbildung lernen wir alle alles. In der Regel nehmen wir die älteste Anfrage an, wenn wir online kommen.

Was hat Sie motiviert, Onlineberaterin für den WEISSEN RING zu werden?

Ehrenamtliche Arbeit war mir schon immer wichtig. Während des Studiums war ich beispielsweise Lesementorin und habe Deutschunterricht für Geflüchtete gegeben. Und danach war ich auf der Suche nach einer Tätigkeit, die ich mit meinem Vollzeitjob verbinden kann, und genau da bin ich über die Ausschreibung der Onlineberatung gestolpert.

Fünf Jahre sind jedenfalls eine lange Zeit. Die Arbeit scheint Sie zu erfüllen…

Ich bin Sozialpädagogin, fühle mich also vielleicht beruflich bedingt eher zur ehrenamtlichen Arbeit hingezogen. Immerhin hat man ja automatisch Berührungspunkte. Und die Aufgabe beim WEISSEN RING ist ein supertolles Ehrenamt. Der WEISSE RING als Verein spielt da überhaupt eine riesige Rolle, weil unsere Ausbildung so gut ist und auch kontinuierlich fortgeführt wird. Auch die Bindung unter uns Beratenden ist super! Zu wissen, dass wir helfen können, ist einfach schön. Und dass wir helfen können, sehen wir an unseren Zahlen.

Inwiefern drücken die Zahlen das aus? Wie messen Sie das?

Allein dadurch, dass die Anfragen steigen, sieht man, dass sich die Onlineberatung etabliert hat. Anfangs hatten wir bei weitem nicht so viele Anfragen wie heute. Aber man sieht es auch daran, dass die Leute zurückschreiben und dass wir erreichen, dass sie sich an die jeweils zuständige Außenstelle wenden, wo sie noch umfangreichere Hilfe bekommen können.

Schön ist es jedenfalls immer, wenn Leute sich ernstgenommen und gehört fühlen und spüren, ja, der WEISSE RING ist die richtige Anlaufstelle für mich.

Onlineberaterin Laura Cornish
Gab es mal einen Fall, der Sie besonders mitgenommen hat oder einen Moment, in dem Sie ans Aufhören dachten?

Ans Aufhören habe ich höchstens mal gedacht, wenn es bei mir auf Arbeit sehr stressig wurde. Aber da habe ich auch mehr eine Pause erwogen. Pausen sind bei uns generell keine Seltenheit. Manchmal weil Berater eine berufliche Weiterbildung machen oder zum Beispiel weil jemand schwanger ist. Ein Fall aber hat mich nie dazu gebracht, ans Aufhören zu denken. Wir haben außerdem eine tolle Supervision und sprechen untereinander viel.

Und sind Ihnen auch Fälle in positiver Erinnerung geblieben, weil Sie helfen konnten und etwas bewirkt haben?

Ja! Es ist immer schön, wenn es klappt, dass sich die Leute an die zuständige Außenstelle wenden. Die meisten Leute wissen schon davon, wenn sie über die Webseite gekommen sind, und sehen ja, dass es auch Hilfe vor Ort gibt, nur trauen sie sich oft nicht. Die Außenstelle ist aber der Ort, wo sie zur Polizei begleitet werden können oder wo ein Erstberatungsscheck ausgestellt werden kann für eine anwaltliche Beratung oder für eine psychotraumatologische Beratung.

Wir haben mehr eine Lotsenfunktion, stellen viele Informationen zur Verfügung und klären beispielsweise über das Opferentschädigungsgesetz auf. Aber den Antrag dafür gemeinsam stellen – das macht man in der Außenstelle. Schön ist es jedenfalls immer, wenn Leute sich ernstgenommen und gehört fühlen und spüren, ja, der WEISSE RING ist die richtige Anlaufstelle für mich. Wenn sie sich dann obendrein trauen, sich auch im Außen die Hilfe zu holen – umso besser!

Wie feiern Sie den fünften Geburtstag?

Unser Jubiläum feiern wir am Samstag, 9. Oktober 2021. Was auf dem Programm steht, hat uns das Orga-Team allerdings noch nicht verraten.

Wenn wir dieses Gespräch in fünf Jahren wieder führen würden, was sollte sich Ihrer Meinung nach bis dahin verändert haben? Was würden Sie sich wünschen?

Die Entwicklung, die es in den letzten fünf Jahren gab, war groß. Ich würde mir wünschen, dass es so weitergeht. Wir haben ein sehr engagiertes Orga-Team. Da gab es in der Vergangenheit zwar schon Wechsel, doch alle sind stets mit Herzblut dabei. Es wäre spannend, wenn es irgendwann eine richtige Chatberatung mit Livekontakt gäbe. Und obwohl das Team mit 52 Personen zwar gerade ganz gut aufgestellt ist, freue ich mich schon wieder auf die nächste Auswahlrunde 2022. Ich glaube, es ist noch Luft nach oben. In fünf Jahren wird es sicher nicht genauso aussehen wie heute.

Zum Abschluss: Wie würden Sie in zwei oder drei Sätzen zusammenfassen, was für Sie das Schönste ist an der Onlineberatung?

Zu wissen, dass wir Menschen helfen können, die wir sonst wahrscheinlich nicht erreichen würden, ist für mich das Schönste an der Onlineberatung. Das war immer das ultimative Ziel: Einen super niedrigschwelligen Zugang zu bieten. In meiner Arbeit als Sozialpädagogin begegne ich den Leuten, die kein Vertrauen haben in offizielle Stellen, die nicht einfach mal den Hörer in die Hand nehmen und sagen: „Mir ist was passiert und bitte helft mir mal“. Das ist ja ohnehin schon schwer. Aber wenn man dann noch das Gefühl hat, man ist vielleicht nicht richtig oder denkt „mir wird sowieso nicht geholfen“, dann ist es wesentlich einfacher, sich nachts hinzusetzen, eine E-Mail rauszuschicken und mal zu sehen, wer da antwortet. Das ist für mich das Wichtigste und Schönste daran: Zu wissen, uns schreiben Menschen, die sonst vielleicht keine Hilfe bekommen hätten.

Die Unverwüstliche

Erstellt am: Sonntag, 18. Juli 2021 von Sabine

Die Unverwüstliche

Seit 14 Jahren ist Helen Bonert für Opfer ein Fels in der Brandung. Deren Geschichten beschäftigen die Leiterin der Außenstelle Rhein-Sieg zwar, belasten sie aber nicht. Das liegt auch an ihrer bewegten Zeit bei der Bundeswehr, als Helen noch Armin hieß.

Helen Bonert, Leiterin der Außenstelle Rhein-Sieg.

Wie stellt man sich jemanden vor, der täglich mit dem konfrontiert wird, was Menschen anderen Menschen antun? Müsste das nicht jemand sein, dem das Leid in Furchen ins Gesicht geschrieben steht? Mindestens aber müsste diese Person ausschließlich ernst auftreten, schon damit niemand an ihrer Ernsthaftigkeit zweifelt. Wie auch immer man sich einen solchen Menschen vorstellt, wie Helen Bonert jedenfalls nicht.

Die Leiterin der Außenstelle Rhein-Sieg sagt nicht nur „Rhein-Siech“ und „sacht“, was gleich für ordentlich Bodenständigkeit sorgt. Die 70-Jährige kann auch kichern wie ein Mädchen. Das aber irritiert nur im ersten Moment. Wer sich die bedrückenden Geschichten anderer anhört, muss selbst stabil sein. Humor ist da nicht nur eine Abwehrkraft, sondern so etwas wie der höchste Ausweis von Stabilität. Wer mit Bonert nur fünf Minuten spricht, begreift: Die ist unverwüstlich. Fels in der Brandung. Schon äußerlich. „Mit den Leuten heulen bringt gar nichts“, sagt sie. „Empathie ja, Mitleid nein.“

Seit 14 Jahren nimmt sie nun schon die Anrufe von Opfern in ihrer kleinen Mietwohnung am Stadtrand von Siegburg entgegen. „Wir sind die Ersten, die zuhören. Die kommen mit wahnsinnigen Problemen, wissen nicht genau, was sie erzählen sollen. Da will ich zeigen: Wir helfen dir weiter, wir sind für dich da.“ Dann überlegt sie, welche Mitarbeiterin sie schickt. In Corona-Zeiten fallen die sonst üblichen Hausbesuche allerdings flach. Mord übernimmt sie selbst. „Weil ein Riesenaufwand an Papierkram dranhängt. Das will ich den Mitarbeitern nicht zumuten.“

„Ein dummes Brot auf vier Füßen“

Da gab es zum Beispiel den erstochenen Taxifahrer, der nie viel verdient hatte. Die Witwe konnte sich nicht mal ein schwarzes Kleid für die Beerdigung leisten. Da sprang Bonert mit 300 Euro Soforthilfe ein. Sie half auch beim Antrag auf Bestattungsgeld, denn der Staat zahlt genau 1.710 Euro für die Beerdigung von Mordopfern. Weil aber eine Beerdigung „mit allem Pipapo, Kaffee und Kuchen, Trauerkarten, Sarg“ ungefähr 5.000 Euro kostete, sorgte Bonert dafür, dass der WEISSE RING den Rest übernahm.

Im vergangenen Jahr hatte sie einen Fall von sexuellem Missbrauch, eine Jugendliche war von einem Jungen vergewaltigt worden. Danach versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Die Mutter schenkte ihr noch während des Aufenthalts in der Psychiatrie einen Doggenwelpen. Nun wird der Hund auch dank Bonerts Hilfe zum PTBS-Hund ausgebildet. PTBS steht für posttraumatische Belastungsstörung. Nach der Ausbildung darf das Tier das Mädchen in die Schule begleiten. „Normalerweise ist eine Dogge kein Hund, der schlau ist“, sagt Bonert, „sondern ein dummes Brot auf vier Füßen.“ Das ist eine dieser Stellen, an denen Bonert kichert. „Dieser Hund aber ist soweit gut genug, dass man ihm die Ausbildung zutraut.“

Bonert kann aber auch bei Kleinigkeiten helfen. Einmal hat sie eigenhändig ein Schloss ausgetauscht für eine Frau, damit ihr Mann nicht mehr ins Haus kam.

„Ich habe viele böse Sachen gesehen, viele Tote, den Krieg in Jugoslawien.“

Helen Bonert über ihre Zeit bei der Bundeswehr

Seit 2006 engagiert sich Bonert für den WEISSEN RING. Ein Jahr später wurde sie Leiterin der Außenstelle. Kurz zuvor war sie mit 55 in Pension gegangen, nach Jahrzehnten bei der Bundeswehr. „Dann ist urplötzlich Urlaub und der wird immer länger und kein Schwein ruft dich an. Wenn noch dein Mann stirbt, und der war gut, und der war richtig gut, dann werden dir die Beine weggezogen. Da kommt der Punkt, an dem du dich fragst: Was machst du mit deinem Leben? Du musst was machen, sonst gehst du kaputt.“ Sie suchte im Internet. Sie wollte was für sich tun. Sie wollte was für andere tun. Sie wollte was zu tun haben. Sie wollte selbst Entscheidungen treffen können, wie sie es von ihrem Beruf gewohnt war. „Das kann ich nun alles, teilweise 40 Stunden die Woche.“ Dass die Geschichten der Opfer sie zwar beschäftigen, aber nicht belasten, hat auch mit ihrer Zeit bei der Bundeswehr zu tun. „Ich habe viele böse Sachen gesehen, viele Tote, den Krieg in Jugoslawien.“

Als sie zur Bundeswehr ging, dort Elektrotechnik studierte und dann bei der Luftwaffe Karriere machte, hieß sie allerdings noch nicht Helen, sondern Armin Bonert. Frauen durften damals nur in der medizinischen Abteilung arbeiten. Bonert aber war biologisch noch ein Mann. Ein Electronic Warfare Officer, elektronische Kampfführung also, unter anderem dafür zuständig, das Transportflugzeug Transall innerhalb von 21 Tagen so umzubauen, dass es auf keinem Radar auftauchte. Zum Beweis landeten sie in unter Beschuss in Sarajevo. Bis nach China kam Bonert, horchte dort die Russen aus, wie sie sagt. „Ich habe einen Spezialauftrag bekommen, den hatte nur ich.“

Ihre Kinder durften weiter Papa sagen

Bonert heiratete zweimal, wurde zweimal Vater. Doch sie habe sich immer schon komisch gefühlt, aber „ich wusste nicht, warum ich so bin, wie ich bin.“ Es war noch nicht die Zeit, in der man im Internet mal kurz nachschauen konnte, was mit einem los ist. Erst mit Mitte 40 erfuhr Bonert, dass es so etwas gibt: Transsexualität oder Transidentität. Geboren im falschen Körper. Nun musste etwas passieren. Sie vertraute sich ihrem Chef an, der sprach mit seinem Chef. Bonert war der erste bekannte Fall von Transidentität bei der Bundeswehr. Sie bekam ein Jahr Krankschreibung für die Behandlung, die Operationen, den Weg von Armin zu Helen. Helen war der Name, den ihre Mutter für den Fall vorgesehen hatte, dass sie ein Mädchen auf die Welt bringen würde. „Kim hätte nicht gepasst“, sagt Bonert.

Ihre Kinder durften weiter Papa sagen, für alle anderen hieß sie fortan Helen. „Ich habe einen 70-Seiten-Essay geschrieben, wie ich in der Bundeswehr behandelt werden möchte“, sagt Bonert. Diskriminiert fühlte sie sich dort nie. Nur einmal sah sie ein Stabsoffizier doof an. „Den habe ich zu einem Gespräch eingeladen. Der kam mit seiner Meinung rein in mein Büro und mit meiner wieder raus.“ Bei der Luftwaffe konnte sie nach dem Abschluss der geschlechtsangleichenden Operationen 1999 nicht bleiben, nur der Sanitätsdienst war offen für Frauen. „Ich war froh, dass ich nicht gehen musste.“ Dort war sie für alle bildgebenden medizinischen Verfahren der Bundeswehr zuständig, Röntgengeräte, Mikroskope. „Den höchsten militärischen Orden habe ich als Frau bekommen, nicht als Mann.“

„Wir sind mildtätig und gemeinnützig, aber dumm sind wir nicht.“

Helen Bonert

Die Arbeit im Ehrenamt hat ihr dann eine neue Aufgabe gegeben. Manchmal wünscht sie sich allerdings ein wenig mehr Anerkennung. „Danke zu sagen, ist sehr oft schwierig. Viele Opfer sagen hinterher sogar, sie könnten nicht Danke sagen. Aber dann geht am Ende des Jahres die Schelle, und jemand steht da mit einem Blumenstrauß.“

Es gibt auch Menschen, die bei ihr anrufen und am Ende unzufrieden sind. „In vielen Fällen haben sie Geld erwartet und keines bekommen. Wenn Leute finanzielle Erwartungen äußern, bin ich knochenhart. Dann kriegen die nichts. Wir sind mildtätig und gemeinnützig, aber dumm sind wir nicht.“ Sie hat mal die Betreuung eines Opfers abgebrochen, als eine Mitarbeiterin von dem Mann sexuell angegangen wurde. „Es gibt aber auch einfach Leute, die kommen mit meiner Art nicht klar“, sagt sie.

Zwei Jahre will Bonert noch die Anrufe entgegennehmen, dann soll Schluss sein. „Ich erziehe gerade meine Stellvertreterin. Wenn sie laufen kann, höre ich auf.“

Die Unverwüstliche – Helen Bonert, ehrenamtliche Mitarbeiterin des WEISSEN RINGS.

Lotsen aus dem Tal

Erstellt am: Mittwoch, 14. Juli 2021 von Sabine

Lotsen aus dem Tal

Heinz Habermann und Gudrun Midding sind seit einigen Jahren für den WEISSEN RING im Main-Kinzig-Kreis tätig. Beide haben viel Erfahrung im Umgang mit Opfern. Nach der schrecklichen Tat in Hanau waren sie zur Stelle.

Beim Namen Hanau fällt den meisten direkt der rechtsextreme Terror im Februar 2020 ein. Foto: Christoph Hardt/Geisler-Fotopress

Wenn zwei Menschen lange und eng miteinander arbeiten, genügt manchmal ein kurzer Blick. Heinz Habermann und Gudrun Midding engagieren sich ehrenamtlich für den WEISSEN RING und betreuen Kriminalitätsopfer im Main-Kinzig-Kreis. Ende März sitzen sie in einem Raum des Trauerzentrums in Hanau; das Fenster zum sonnigen Garten ist weit geöffnet. Habermann, 69 Jahre alt, blaues Hemd und graue Haare, hat vor sich auf dem Tisch einige Mappen mit Informationen ausgebreitet. Als die Frage aufkommt, welche Art von Fällen sie bisher betreut haben, schaut er kurz zu Midding herüber. Die 58-Jährige sitzt ihm schräg gegenüber und wird daraufhin gleich eine Geschichte erzählen, die eigentlich Thema für einen Horror-Thriller wäre. Doch genau dieser Horror für die Opfer bedeutet mitunter für diese beiden die harte Realität.

„Wir haben Opferfälle vom Handtaschendiebstahl bis zu Sexual- und Tötungsdelikten“, sagt Habermann. Beim Namen Hanau fällt den meisten direkt der rechtsextreme Terror im Februar 2020 ein. Habermann und Midding haben auch die Opfer dieses Tages und deren Angehörige betreut. Aber beide bekommen hautnah mit, dass Mord und Totschlag auch fernab der breiten öffentlichen Wahrnehmung geschehen. Die Opfer werden oft dermaßen aus der Bahn geworfen, dass die Arbeit der Ehrenamtler schon in den kleinsten Details eine große Unterstützung sein kann – und sei es ein Glas Wasser.

Mordanschlag nur knapp überlebt

Midding erzählt nun den Fall einer Spanierin, deren Partner in Drogengeschäfte verwickelt war. Dafür musste er mit dem Leben bezahlen – und streng genommen gilt das auch für sie, obwohl sie überlebte. Die Frau wusste nichts von den „Geschäften“ ihres Partners. Das Paar wurde von sieben Tätern, Mitgliedern eines Drogenclans, im eigenen Haus überfallen und über mehrere Stunden dort festgehalten. Der Lebensgefährte wurde ermordet, die Frau konnte gerade noch entkommen, bevor das gemeinsame Haus in Flammen aufging. „Sie hatte nichts mehr – nur noch das, was sie am Leib trug“, erzählt Gudrun Midding.

Die Frau überlebte also knapp einen Mordanschlag, sah ihren Lebensgefährten sterben und stand vollkommen mittellos da. Der Schock in so einer Situation ist nur schwer zu ermessen – doch noch gravierender war die Einsamkeit des Opfers nach dem Schock. „Da war es wichtig, dass einfach jemand da ist“, so Midding. „Ich habe sie zum Prozess begleitet und den ganzen Tag im Gericht gesessen. Sonst wäre sie auf sich allein gestellt gewesen.“ Es sei auf Kleinigkeiten angekommen: mal ein Glas Wasser reichen oder ein Taschentuch, mal dem Richter signalisieren, dass das Opfer eine Pause benötige. Kleine Hilfen mit großer Wirkung.

Über mehrere Jahre begleitete Midding die Frau, die auch um finanzielle Hilfen kämpfte. Die Opferentschädigung wurde ihr jedoch vorenthalten, da das Versorgungsamt anzweifelte, dass sie vom Doppelleben ihres Partners nichts gewusst habe. „Die Frau war komplett verzweifelt. Da ist man kurz davor, aus eigener Tasche zu helfen“, so Midding. Diese Gefahr besteht häufig: dass das Engagement der Ehrenamtler in ihren privaten Bereich hineinreicht. Midding sagt deshalb: „Da muss man schon einen Cut machen.“

Über Ehrenamtsbörse zum WEISSEN RING

Neben dem harten Fall der Spanierin hat Midding auch mit Opfern von sexuellem Missbrauch zu tun – auch bei Übergriffen innerhalb einer Familie und bei kleinen Kindern. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen teilen sich die Schwerpunkte auf. Insgesamt sieben Ehrenamtler helfen den Opfern im Main-Kinzig-Kreis, vor Corona trafen sie sich alle vier Wochen. Nun sprechen sie sich telefonisch ab oder begegnen sich in zur Verfügung gestellten Räumen wie hier im Hanauer Trauerzentrum. Betroffene können sich über das Opfer-Telefon melden oder übers Internet Kontakt aufnehmen.

Gudrun Midding wurde im Jahr 2010 durch eine Ehrenamtsbörse auf den WEISSEN RING aufmerksam. Zuvor hatte sie mit ihrem Mann eine Firma für Abfallentsorgung geleitet. Zunächst hospitierte sie, seither ist sie als feste Mitarbeiterin dabei. In einem Grundseminar zur Begleitung und in Aufbauseminaren zu Psychologie, Strafrecht, Prävention oder Mobbing hat sie sich seither fortgebildet. Das ist ein enormer Aufwand für ein Ehrenamt und brachte den einen oder anderen Bekannten natürlich zu der Frage: Warum tust du dir das alles an? Midding sagt: „Die Opfer haben keine Lobby, sie brauchen Hilfe.“ Viele Betroffene hätten einen Tunnelblick entwickelt; da helfe es ungemein, neue Perspektiven aufzuzeigen.

Genau darum ging es auch Heinz Habermann. Er sagt: „Die Polizei schaut meistens auf den Täter, die Opfer werden alleingelassen.“ Damit spricht er aus Erfahrung: 32 Jahre lang arbeitete er als Kriminalbeamter, zehn Jahre als hauptamtlicher Bürgermeister. Seit 2014 befindet er sich im Ruhestand. Langeweile kommt bei ihm aber nicht auf, Habermann besitzt von jeher eine soziale Ader. So engagiert er sich auch im Vorstand einer regionalen Wohnungsbaugenossenschaft; durch diese Funktion konnte er bereits mehreren Opfern zu einer dringend benötigten Wohnung verhelfen. Darüber hinaus ist er noch als ehrenamtlicher Ortsgerichtsschöffe in seiner Heimatgemeinde tätig.

Heinz Habermann und Gudrun Midding engagieren sich ehrenamtlich für den WEISSEN RING und betreuen Kriminalitätsopfer im Main-Kinzig-Kreis. Hidding sagt: „Man merkt in unserer Arbeit relativ schnell, dass man wirklich etwas bewirken kann.“ Und Habermann nickt wissend. Foto: Ron Ulrich

Schon während seiner Zeit als Polizist kümmerte er sich um Jugendliche und Menschen mit Migrationshintergrund. Nach seinem Ausscheiden wies ihn ein ehemaliger Kollege darauf hin, dass es Vakanzen beim WEISSEN RING gebe. Seither betreut Habermann auch Fälle, die ihn später nicht loslassen – so wie bei einem weiblichen Opfer, dem in den Kopf geschossen wurde. Glücklicherweise nutzte der Täter eine umgebaute Schreckschusswaffe, anderenfalls hätte das Opfer den Angriff sicherlich nicht überlebt. Manchmal kommt die „déformation professionelle“ als Polizist noch durch: Zwar ermittelt Habermann natürlich nicht mehr selbst, aber er hat ein besonderes Augenmerk darauf, wie die Polizei vorgeht.

Durch Berufe viel über Umgang mit Opfern gelernt

Eine seiner Betreuungen erstreckte sich über zweieinhalb Jahre. Das Opfer war offenbar psychisch erkrankt und rief ihn ständig an. „Ich konnte auch nicht ,nein’ sagen, aber in diesem Fall bin ich an meine Grenzen gestoßen.“ Generell haben die Ehrenamtler vom WEISSEN RING auch eine „Lotsenfunktion“, so Habermann. Sie können in solchen Fällen Kontakte herstellen zu anderen Anlaufstellen, zu juristischer Beratung oder therapeutischer Hilfe. Nicht jeder und jede im Ehrenamt hat schließlich ein Jura- oder Medizin-Studium abgeschlossen, doch das Leben und ihre Arbeit waren für die meisten von ihnen „Universität“ genug. So würden Habermann und Midding sich zwar wünschen, dass noch mehr Personen beim WEISSEN RING helfen, schränken aber auch ein, dass das Engagement eine gewisse Lebenserfahrung voraussetze.

Beide haben durch ihre vorherigen Berufe bei der Polizei und in der Firmenleitung viel für den Umgang mit Opfern gelernt: Sie zeichnet ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft, Menschenkenntnis und Empathie aus. Das ist nicht unwichtig, wenn sie abwägen müssen, welche Reaktionen und Hilfen individuell zu ihrem jeweiligen Gegenüber passen. Dazu gehört auch, die Opfer darauf vorzubereiten, welche emotionalen Auswirkungen ein Gerichtsprozess haben kann. Manche Opfer unterschätzen oder überschätzen sich auf dem Weg, der vor ihnen liegt. Habermann und Midding können hier durch ihre Erfahrung helfen, doch ebenso wichtig: Sie agieren vor allem uneigennützig und unprätentiös. Auch bei den Geschichten, die sie erzählen, drängen sie sich nicht in den Vordergrund.

Nach der schrecklichen Tat in Hanau sofort zur Stelle

Diese Qualitäten und ihre Erfahrung waren besonders im vergangenen Jahr gefordert – nach dem rechtsextremen Terror in Hanau, bei dem ein Attentäter neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordete, danach seine Mutter und sich selbst erschoss. Von der schrecklichen Tat erfuhren Habermann und Midding am gleichen Abend durch die Medien. Die Bundesgeschäftsstelle in Mainz und das Landesbüro Hessen informierten sie über dieses sogenannte Großschadensereignis, nur wenige Tage nach der Tat saß Habermann bei Angehörigen daheim. Der WEISSE RING half neben der Sofortunterstützung beim Umzug von Angehörigen, die weiterhin in der Nähe des Tätervaters lebten, und bei Erholungsmaßnahmen. Selbst „mittelbar Geschädigten“ wie einem Mann, der auf der Flucht seinen Laptop fallen ließ, griff die Organisation unter die Arme. Die Tatortreinigung in einem Kiosk am Kurt-Schumacher-Platz in Höhe von 6.000 Euro übernahm die Opferhilfe ebenso. Insgesamt zahlte der Verein finanzielle Hilfen in Höhe von über 63.000 Euro.

Dennoch konnten nicht alle Wünsche der Opfer erfüllt werden, wenn beispielsweise ein traditionelles Beerdigungsessen für mehrere hundert Personen geplant wurde. In solchen Fällen müssen die Mitarbeiter die Verhältnismäßigkeit prüfen. „Bei den 1.000 Euro Soforthilfe ging es erst einmal darum, die größte Not zu lindern. Der WEISSE RING und auch die Stadt Hanau waren insgesamt sehr großzügig“, sagt Habermann. Trotz der Pandemiemaßnahmen besteht auch weiterhin Kontakt zu den Opfern und Angehörigen, obwohl diese sich auch in einer eigenen Initiative zusammengeschlossen haben und die Stadt Hanau einen speziellen Opferbeauftragten eingesetzt hat.

Dem WEISSEN RING war es wichtig, sofort und schnell da zu sein – auch über die Soforthilfe hinaus. So bieten Hilfen bei Erholungsurlauben nicht nur bei den Angehörigen von Hanau eine wichtige Möglichkeit, zumindest zeitweise Abstand zu gewinnen. Und: Die Arbeit der Ehrenamtler geht auch dann weiter, wenn die Opfer nicht mehr im öffentlichen Fokus stehen und sich dann alleingelassen fühlen.

Die Betreuung von Kriminalitätsopfern kann viele Jahre der Hilfe beanspruchen. Dafür setzen sich Habermann und Midding in ihrer Freizeit ein und haben auf diese Art etliche Opfer aus dem dunklen Tal gelotst. Midding sagt über ihr Engagement: „Man merkt in unserer Arbeit relativ schnell, dass man wirklich etwas bewirken kann.“
Und Habermann nickt wissend.

„Ein Schritt nach dem anderen“

Erstellt am: Mittwoch, 26. Mai 2021 von Sabine

„Ein Schritt nach dem anderen“

Seit sieben Jahren engagiert sich Elfi Wolff für den WEISSEN RING. Sie bewertet nicht, beschwichtigt nicht, macht einen Schritt nach dem anderen. Eine zentrale Rolle spielt dabei ein dick gepolstertes braunes Ledersofa.

Elfi Wolff, Leiterin der Außenstelle Frankfurt an der Oder.

Nein, kein Besprechungstisch. Es ist ein Sofa, auf das Elfi Wolff ihre Kundinnen oder Kunden einlädt. Ein breites, dick gepolstertes braunes Ledersofa mit gemütlichen Armlehnen. Darauf setzen sie sich, Elfi Wolff zeigt ganz beiläufig, wie man das Fußteil ausfahren und die Beine hochlegen kann, und dann fragt sie: „Möchten Sie erzählen?“

Wolff arbeitet seit sieben Jahren als Ehrenamtliche beim WEISSEN RING, sie leitet die Außenstelle in Frankfurt an der Oder – und ist zugleich die einzige Ansprechpartnerin vor Ort. Das Büro mit dem Sofa liegt im Hinterraum ihres Kosmetik- und Fußpflegestudios. Warme Cremetöne kleiden die Wände, ein dicker Vorhang lässt vergessen, was hinter der Verbindungstür passiert, der Schreibtisch wirkt penibel aufgeräumt: Hier ist Zeit und Raum nur für den Gast.

„Kunden“ oder „Geschädigte“ nennt Wolff die Kriminalitätsopfer, die sie besuchen. Kunden, „denn ich biete ja auch einen Service an“. Das Wort Opfer mag sie nicht. „Das legt einen Menschen gleich auf diese Rolle fest.“ Außerdem werde „Opfer“ seit ein paar Jahren als Schimpfwort verwendet, das sehe sie oft in der Stadt an Wände gesprüht: „Du Opfer!“

Für Wolff sind diese Menschen einfach in einer Notlage und brauchen Hilfe. Sie kann helfen, weil sie sich auskennt. Und so hört sie sich an, was vorgefallen ist, und erklärt, was sie tun kann. Wer keine sichere Wohnung mehr hat, dem verhilft sie schnell zu einer Unterkunft. Wer bestohlen wurde, bekommt Geld für das Nötigste. Menschen, die Behörden und komplizierte Formulare fürchten, begleitet sie. Sie unterstützt, berät, vermittelt. Und manchmal hört sie einfach nur zu oder begleitet Geschädigte auf Spaziergängen, „damit sie mal den Kopf frei kriegen“. Wolff bewertet nicht, beschwichtigt nicht. Sie macht einen Schritt nach dem anderen.

Elfi Wolff und ihr Sofa.

Bevor sie ihren Salon eröffnet hat, arbeitete Wolff als Krankenschwester, zuletzt auf der Intensivstation. Gespräche mit Patienten seien ihr nie schwergefallen: „Ich konnte mit Todkranken ganz normal über ihre Beschwerden reden, bis zum Tag, an dem sie starben. Die Dinge beim Namen nennen und erklären, was man tun kann. Ein Schritt nach dem anderen.“ War sie innerlich trotzdem betroffen, von Mitleid erfüllt? Wolff überlegt. Die sonst so feste, ruhige Stimme wird weicher. „Nein, in dem Moment nicht. Da habe ich einfach funktioniert. Das ist auch heute so.“ Sie habe viel darüber nachgedacht: Ob sie vielleicht kalt sei? Aber nein. Sie schüttelt den Kopf mit dem kurzen dunkelblonden Haar. „Wäre ich emotional beteiligt, könnte ich nicht helfen.“ Später, viele Stunden nach einem Gespräch, da setze dann das Kopfkino ein. Und an manche Patienten von damals denke Sie jetzt noch, 30 Jahre später.

Wie um die Parallele zu betonen, war es ausgerechnet ein Krankenhaus, durch das Wolff zum WEISSEN RING kam. Sie lag als Patientin auf einer Station, auf der ein Mit-Patient bestohlen wurde. Sie kamen ins Gespräch, der Bestohlene fragte, ob sie ihn begleiten würde auf die Polizeistation. „Da lagen Flyer vom WEISSEN RING aus, und ich habe darin gelesen. Ich dachte, das finde ich gut, da will ich mich engagieren. Damit kann ich leben.“ Das sagt sie öfter: Damit kann ich leben. Sie wolle sich nicht vereinnahmen lassen, erklärt Wolff, sich nicht in eine Politik oder Bewegung hineinziehen lassen. Sie möchte nur einfach in konkreten Situationen helfen. Aktiv werden, wenn sie gebraucht wird. Dann wurde sie also nie angesprochen, ob sie sich engagieren wolle? „Nein! Das hab ich mir selbst gesucht.“

Berührungsängste? Nö.

Selbstbestimmtheit: Die hat sie als Kind fürs ganze Leben geprägt. Aufgewachsen ist Wolff in Penkun, mit 2.000 Einwohnern die kleinste Stadt Mecklenburg-Vorpommerns, kurz vor der polnischen Grenze. Das malerische Örtchen liegt umgeben von Seen und Feldern. Häuschen mit roten Dächern scharen sich um die Kirche, etwas abseits, von Wald umgeben, thront ein Schloss aus dem 12. Jahrhundert. „Schöner kann man nicht aufwachsen“, sagt sie: „Wie wir als Kinder den ganzen Tag herumgezogen sind und machen konnten, was wir wollten – das war die absolute Freiheit.“ Von Penkun ging es nach Schwedt, dann Rostock, Eisenhüttenstadt, verschiedene Orte in Baden-Württemberg, dann zurück in den Osten nach Frankfurt/Oder. Dazwischen bereiste sie fast die ganze Welt. Irgendwann schulte Wolff um auf Kosmetik und Fußpflege, gründete ihr eigenes Studio, wo sie selbst bestimmen kann und Austausch mit Menschen hat, der ihr so viel bedeutet.

Seit gut einem Jahr lebt sie nun in Fürstenwalde, zwischen Frankfurt/Oder und Berlin. Beim Herumziehen blieb es also. War das nicht anstrengend? „Nein! Ich habe immer leicht Leute kennengelernt, schon durch die Arbeit. Und ich habe mir auch immer schnell meinen Lieblingsbäcker gesucht, meinen Lieblingsblumenladen und Lieblingsfriseur. Durch den Friseur kennt man sowieso bald den halben Ort.“ Wolff lacht, kraftvoll, aus dem Bauch heraus. Berührungsängste? Nö, habe sie nie.

„Das alles hat meinen Horizont unheimlich erweitert.“

Elfi Wolff

Vielleicht ist es diese Mischung aus Selbstbestimmtheit, Tatkraft und fehlender Berührungsangst, mit der sie ihre Arbeit beim WEISSEN RING so gut macht. Lernen musste sie trotzdem viel. Anders als andere Ehrenamtliche, die auf ein Berufsleben bei der Polizei oder als Anwalt zurückblicken, fehlte ihr jede Basis. In der Ausbildung für Ehrenamtliche lernte sie das Grundsätzliche für den Umgang mit Kriminalitätsopfern. Im Selbststudium schaffte sie sich das deutsche Rechtssystem drauf, Straf- und Sozialgesetze, unzählige Behörden, Verbände und Hilfsvereine und deren Funktionen. Eine Opfer-Anwältin und Zusammenkünfte mit anderen Engagierten halfen dabei. „Das alles hat meinen Horizont unheimlich erweitert.“ Fortbildungen kamen dazu, für den Umgang mit Betrugsopfern zum Beispiel. Eigentlich hätte sie gern auch längst eine weitere zu Missbrauchsfällen und Stalking absolviert – sie machen den Großteil ihrer Arbeit aus –, doch die Pandemie verhinderte dies bisher.

Schon beim ersten Fall ging es um Missbrauch, Wolff erinnert sich genau. Sie begleitete ihren Vorgänger Wolfgang Mücke, und ohne es zu merken, ergriff sie in dem Gespräch irgendwann das Wort, und die Geschädigte sprach bald nur noch mit ihr. „Herr Mücke sagte später, er habe selbst noch einiges gelernt.“ Wolff schmunzelt, die Augen blitzen.

Drei Schlösser an der Wohnungstür

Gibt es Fälle, die ihr besonders in Erinnerung geblieben sind? „Zwei.“ Das kommt prompt. Zwei junge Frauen. Die eine überlebte einen Mordversuch, vorher war sie von einer Gruppe junger Männer und Frauen gefoltert worden, die Haare wurden ihr abgebrannt. „Sie ist geflüchtet, wurde aber wieder gefangen und dann in die Oder geworfen. Nur mit Glück konnte sie sich an der Spundwand festhalten.“ Wolff besuchte die junge Frau zu Hause, sie hatte an der Wohnungstür drei Schlösser. „Als sie die verriegelt hat und sagte, dass die Täter in der Nähe wohnen, da wurde mir schon mulmig.“ Heute sitzen die Täter im Gefängnis, die junge Frau hat Wolff ein Foto geschickt. Ihre Haare sind wieder gewachsen.

Es ist schön zu wissen, dass es wieder aufwärts geht. Von dem anderen Fall hat sich jede Spur verloren: eine junge Frau aus Tunesien, die krank war und nach Deutschland verschleppt wurde, mit dem Versprechen, von einem Arzt behandelt zu werden. Stattdessen wurde sie als Sexsklavin gefangen gehalten. Sie konnte fliehen – mit nichts am Leib als einem Nachthemd. „Dieses Mädchen war so eingeschüchtert, und sie tat mir so leid“, sagt Wolff. Sie besorgte ihr sofort eine weite Hose mit passender langer Tunika. „Damit sie sich wenigstens angemessen gekleidet fühlt.“

„Ich wäre gern Millionärin, um allen helfen zu können.“

Elfi Wolff

Was bekommt man für ein Weltbild, wenn man immer wieder in solche Abgründe schaut? Wolff hat die Frage schon oft gehört: „Ich sag immer, die Welt ist schlecht, aber ich kenne mehr gute Menschen als schlechte.“ Desillusioniert sei sie trotzdem. Zum Beispiel die Enkel- oder Polizeitricks, mit denen ältere Menschen betrogen werden – Wolffs Stimme klingt nun doch etwas nach Kloß im Hals. „Da werden Leute um die Früchte ihres gesamten Lebens gebracht. Um das Geld, mit dem sie später einen Heimplatz bezahlen wollten.“ Schützen könne man diese Menschen trotzdem kaum: die Kinder weit entfernt, der Geist nicht mehr so schnell und klar. „Da wäre ich gern Millionärin, um allen helfen zu können.“

Was hilft ihr, wenn sie mal Abstand braucht? Wolffs Lebensgefährte sei ein guter Gesprächspartner, mit ihm rede sie ganze Abende lang. „Den Fernseher schalten wir gar nicht mehr ein.“ Überhaupt: Nachrichten, das Weltgeschehen, das lasse sie nicht mehr ständig auf sich einprasseln, das schaue sie in den Mediatheken, wenn sie es will. Auch die Zeiten des Reisens und Umherziehens scheinen vorbei. Heute ist es Ruhe, die ihr guttut. Heute möchte sie nichts lieber als die Stille in ihrem Zuhause genießen.

Die Kraft und Sicherheit, die Wolff ausstrahlt, jetzt mit Anfang sechzig, die schöpft sie aus dieser Ruhe. Wolff legt sie in jedes Wort, wenn sie ihre Kunden fragt: „Möchten Sie erzählen?“

Der Anschlag, der alles veränderte

Erstellt am: Montag, 5. April 2021 von Sabine

Der Anschlag, der alles veränderte

Am 19. Dezember 2016 steuerte ein islamistischer Terrorist einen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. 13 Menschen starben. Der Anschlag veränderte die Arbeit des WEISSEN RINGS.

Der Berliner Breitscheidplatz aus der Luft. Foto: Christoph Soeder

2016

Am Abend des 19. Dezember 2016 erreicht Sabine Hartwig eine Nachricht aus Sizilien. Es ist eine E-Mail von ihrem Cousin, er macht sich in der Ferne Sorgen um sie: „Bine, bist du dabei?“, fragt er. Wobei? Hartwig wundert sich. Erst als sie den Fernseher einschaltet, sieht sie, was zwei S-Bahn-Stationen weiter, am Breitscheidplatz, passiert ist: Ein Lastwagen ist in den Weihnachtsmarkt gerast, überall liegen Trümmer, Blaulichter blinken, immer mehr Rettungswagen fahren vor. Menschen wurden verletzt, Menschen wurden getötet. Die Journalisten im Fernsehen sprechen von einem Anschlag.

Hartwig, 66 Jahre alt, arbeitet seit mehr als 20 Jahren für den WEISSEN RING, seit 2002 ist sie die Berliner Landesvorsitzende. Sie versteht sofort: Dies ist eine Größenordnung, die alles sprengt, was wir kennen im Verein. Sie geht ins nahe Landesbüro, allein steht sie dort im Flur und sagt sich: Okay, der Verein kennt das vielleicht noch nicht, aber du kennst es. Das ist eine Großlage, so wie damals bei der Polizei. Und du ziehst das jetzt an dich, so wie damals bei der Polizei.

30 Jahre lang war Sabine Hartwig leitende Kriminalbeamtin bei der Berliner Polizei, 20 Jahre davon arbeitete sie im Mobilen Einsatzkommando. Oft genug hat sie eine BAO eingerichtet, wie es im Polizeideutsch heißt, eine „Besondere Aufbauorganisation“. Eine BAO braucht die Polizei, wenn die üblichen Zuständigkeiten und Mittel nicht ausreichen für einen komplexen Einsatz. So etwas braucht jetzt auch der WEISSE RING, entscheidet Hartwig, hier, im Landesbüro an der Berliner Bartningallee.

13 Menschen sind gestorben auf dem Breitscheidplatz, Dutzende wurden verletzt, körperlich oder seelisch oder beides, es gibt traumatisierte Augenzeugen und Ersthelfer. Die Opfer kommen aus verschiedenen deutschen Bundesländern, viele auch aus dem Ausland: aus Israel, Italien, Polen, Tschechien oder aus der Ukraine. Die Opfer haben Angehörige, die nicht wissen, an wen sie sich wenden können.

Schon am Morgen des 20. Dezember klingeln die Telefone im Landesbüro Sturm. Eine Studentin sucht ihre Mutter. Kinder, Eltern, Geschwister beklagen sich, dass sie bei den Hotlines nicht durchkommen oder zu falschen Krankenhäusern geschickt wurden. Die Presse ruft an, Journalisten wollen Informationen, Interviews, Opferkontakte, Fotos.

2020

„Das war das Allerschlimmste“, erinnert sich Martina Linke vier Jahre später im großen Besprechungsraum des Landesbüros, damals Lagezentrum, an die vielen Presseanfragen: Tagespresse, Frühstücksfernsehen, Abendschau. Berliner Lokalmedien, überregionale Medien, Journalistenanrufe aus Israel oder Italien. Ein Boulevardreporter fragt, ob der WEISSE RING ihm nicht Zugang zu einer Intensivstation verschaffen könne, er möchte ein schwerverletztes Opfer fotografieren.

Linke, Jahrgang 1954, war früher ebenfalls bei der Kriminalpolizei. Sie hatte mit Raub und Erpressung zu tun, mit Mord und Totschlag, später wurde sie die Opferschutzbeauftragte des Landeskriminalamts. Schon aus der Polizeiarbeit kennt sie Sabine Hartwig, seit 2012 ist sie ihre Stellvertreterin beim WEISSEN RING. Diese Dimension ist dennoch neu für sie. Bis heute betreut Martina Linke Opfer des Anschlags auf dem Breitscheidplatz.

Der Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin veränderte auch den WEISSEN RING. Foto: Christoph Soeder

2016

Großlage bedeutet auch: Viele Menschen stellen Fragen, viele Menschen geben Antworten. Die Folge kann ein Durcheinander sein, Kompetenzwirrwarr, Gerüchte, Falschinformation. Sabine Hartwig legt ein paar Regeln fest. Die erste richtet sich an ihre drei Mitarbeiterinnen im Landesbüro und lautet: Bitte dokumentiert alles! Alle Erfahrung in so einer Situation zeigt, dass man nachmittags wieder vergessen hat, was vormittags besprochen wurde.

Der Breitscheidplatz liegt im Ortsteil Charlottenburg. Erste Anlaufstelle für Opfer wäre demnach die Außenstelle West I. Aber Hartwig ist klar, dass eine Außenstelle das unmöglich allein schaffen kann. Sie informiert die anderen Berliner Außenstellen. Am Ende werden es 125 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sechs Landesverbänden des WEISSEN RINGS sein, die Anschlagsopfer betreuen.

Das Telefon in Berlin läutet weiter Sturm. Die zweite Regel, die Sabine Hartwig ausgibt, lautet: Niemand gibt Auskünfte an Journalisten, nur ein festgelegter Personenkreis spricht. Presseanfragen müssen über die Pressestelle der Bundesgeschäftsstelle in Mainz laufen. Medienanfragen können Menschen, die eigentlich anderes zu tun haben, nämlich Verbrechensopfern zu helfen, unter Stress setzen. Andererseits brauchen Opferhelfer die Medien auch. „Tue Gutes und rede darüber“, das ist nicht nur ein Spruch: Opfer und Angehörige müssen wissen, an wen sie sich wenden können, damit ihnen geholfen werden kann. Und auch Spender sollen erfahren, wo ihre Spenden gerade besonders nötig gebraucht werden. Denn Opferhilfe kostet Geld.

Bereits um 9.55 Uhr kommt am 20. Dezember grünes Licht aus Mainz für einen Opferhilfe-Fonds über 50.000 Euro. Die Obergrenze für finanzielle Soforthilfen für die Opfer des Terroranschlags steigt auf 1.000 Euro. „Wir können den Anschlagsopfern helfen“: Diese Nachricht streut Sabine Hartwig in ein breites Netzwerk. Mails gehen raus an die Polizei Berlin, an Landeskriminalamt, Bundeskriminalamt, Generalstaatsanwaltschaft, Generalbundesanwalt.

Gleichzeitig stellen sich die bekannten Fragen. Das Opferentschädigungsgesetz greift nicht, wenn die Tat mit einem Kraftfahrzeug verübt wurde. Auch nicht, wenn ein hasserfüllter islamistischer Terrorist einen Sattelzug als Waffe gegen unschuldige Weihnachtsmarktbesucher einsetzt. Welche Ansprüche haben die Betroffenen stattdessen? Das Landesbüro nimmt Kontakt zur Verkehrsopferhilfe auf, zur Unfallhilfe, zum Landesamt für Gesundheit und Soziales.

Regeln helfen, eine Großlage zu bewältigen. Es gibt aber keine Regel, die dabei hilft, die vielen Opferberichte zu bearbeiten.

2020

„Ich hatte eine junge Frau am Telefon“, erinnert sich Tina Wiedenhoff. „Sie rief für ihren Freund an, der als Ersthelfer am Breitscheidplatz war. Er wollte wissen, ob die Frau überlebt hat, der er geholfen hat. Er selbst hat es nicht geschafft, bei uns anzurufen, er konnte es nicht.“

Wiedenhoff, 55 Jahre alt, arbeitet seit 30 Jahren für den WEISSEN RING, sie ist die Büroleiterin in Berlin. „Der junge Mann hatte stundenlang bei der verletzten Frau gesessen. Ihr Bein war abgerissen. Die Freundin beschrieb mir die Frau ganz genau, sie trug eine weinrote Jacke. Der erste Notarzt ging vorbei. Diese weinrote Jacke, die hat sich mir so eingeprägt. Ich habe mir das die ganze Zeit vorgestellt, wie der junge Mann da neben der Frau mit der weinroten Jacke saß.“

Hat die Frau überlebt? „Ich weiß es nicht. Ich habe hinterher in den Berichten immer nach Hinweisen auf diese Frau gesucht.“ Wiedenhoff fand keine Hinweise.

2016

Sabine Hartwig legt noch etwas fest: Wir brauchen Supervision für unsere Mitarbeiter. Helfen kann bedeuten: da sein, zuhören, mitfühlen. Hilfe kann aber auch materiell sein. Bloß welche materielle Hilfe ist für wen die richtige? Eingeübte Mechanismen können in so einer Situation ins Leere laufen. Oft brauchen Kriminalitätsopfer anwaltliche Unterstützung, der WEISSE RING hilft mit Erstberatungsschecks. Doch zeitnah nach einem Terroranschlag lindern solche Schecks keine Not, wenn der Täter zuerst auf der Flucht ist und wenig später von der Polizei erschossen wird. Der Familie eines toten Terroropfers hilft es auch nichts, wenn der Verein zerstörte Kleidung und Schuhe ersetzt. Aber sie braucht vielleicht Reisekosten. Heilbehandlungen müssen finanziert werden, Finanzengpässe aufgefangen. Jemand muss die Koordination der Hilfen übernehmen. Sabine Hartwig teilt für die Weihnachtstage Sonderschichten ein im Landesbüro.

Ein junger Mann, selbstständig, liegt wochenlang im Koma, die Ärzte operieren ihn wieder und wieder, anschließend geht er für Monate in die Reha. Weihnachtsmarkttrümmer haben ihn getroffen, der Lastwagen hatte sie in die Luft geschleudert. Kopf, Arme, Hüfte, Beine, die linke Körperseite ist schwer verletzt. Wie soll der junge Mann die Miete für sein Büro weiterbezahlen? Zerstört der Anschlag auch seine berufliche Existenz?

Ein anderer Mann liegt ein Dreivierteljahr auf der Intensivstation. Seine Töchter studieren, sie müssen aus Süddeutschland anreisen. Die Ehefrau nimmt sich eine kleine Wohnung in Berlin, um bei ihrem Mann sein zu können. Wer trägt die Kosten? Bringt der Anschlag die Familie in schwere Finanznöte?

Der WEISSE RING hilft dem jungen Mann und der Familie. Ehrenamtliche Hilfe kann für Menschen niederschwellig wirken, die vor staatlicher Unterstützung zurückschrecken. Es gibt aber auch Leute, die lehnen spendenfinanzierte Hilfe ab, mit dem Satz: Andere Menschen haben das Geld nötiger als ich, ich komme schon klar. Wieder andere, darunter Opfer, Angehörige, Augenzeugen, bieten anschließend ihre Mitarbeit als ehrenamtliche Helfer an.

2020

Vier Jahre nach dem Terroranschlag ist der Breitscheidplatz festungsgleich gesichert. Hohe Zäune umringen ihn, schwere Metallpoller ragen aus dem Beton, Polizistensichern den Platz in Einsatzuniform. Der Terroranschlag hat deutschen Weihnachtsmärkten die heimelige Leichtigkeit genommen, den Rest gegeben hat ihnen in diesem Jahr das Corona-Virus: Ein Dutzend Holzbuden stehen wie hingewürfelt über den Platz verteilt, vielleicht doppelt so viele Besucher sind unterwegs.

Auf den Stufen der Gedächtniskirche stehen Blumen, Fotos, Gedenklichter. Die Namen der Getöteten sind in den Beton geschnitten, vor den Stufen zieht sich ein goldener Riss durchs Pflaster. Kurz vor dem Jahrestag werden die Andenken täglich mehr.

Sabine Hartwig, 70 Jahre alt, ist seit 2009 Trägerin des Bundesverdienstkreuzes am Bande. Foto: Karsten Krogmann

Im Landesbüro nennt Sabine Hartwig ein weiteres wichtiges Stichwort zur Opferhilfe nach Ereignissen dieser Dimension: Nachsorge. Opferhilfe endet nicht mit einem Stichtag. Hier im Landesbüro gab es im Juni 2017 ein Hinterbliebenen-Treffen. Im März 2019 folgte ein Verletzten-Treffen. Einige Zitate von Verletzten:

„Der Austausch im privaten Raum, ohne Politiker, war hervorragend.“

„Ich habe meine eigenen Beeinträchtigungen erst jetzt richtig erkannt und weiß jetzt, dass ich ein Trauma erlitten habe.“

„Das Kennenlernen von Gleichgesinnten war ein großer Gewinn.“

„Der Abend im Friedrichstadtpalast war eine Bombe.“ Der WEISSE RING hatte zu einem Kontrastprogramm zu den aufwühlenden Gesprächen eingeladen: eine Revue im berühmten Friedrichstadtpalast.

Es gibt positive Geschichten zu erzählen. Der junge Mann, selbstständig, der sein Büro behalten wollte, ist wieder arbeitsfähig, sein Büro läuft gut. Der andere Mann, der so lange im Koma lag, kann kurze Strecken wieder laufen. Eine Familie, allesamt in Therapie, berichtet, wie eng sie zusammengerückt sind durch die traumatische Erfahrung. Die bei dem Anschlag schwerverletzte Tochter hat ein Kind bekommen.

2016

Sabine Hartwig und Martina Linke, beide Referentinnen in der WEISSER RING Akademie, dem Ausbildungszentrum des Vereins, fragen sich: Was wäre, wenn so etwas woanders passiert wäre? In einer Kleinstadt zum Beispiel, wo es nicht so viele Mitarbeiter gibt und kein großes Landesbüro? Müssen wir nicht damit rechnen, dass so etwas wieder geschieht? Wir müssen vorbereitet sein. Wir brauchen Leitlinien, wir brauchen ein Ausbildungsprogramm, wir brauchen ein Netz von Koordinatoren für solche Ereignisse.

2020

Fünf Mal fand inzwischen das Wochenendseminar „Großereignisse“ der WEISSER RING Akademie statt, zuletzt im September 2020 in Fulda, Sabine Hartwig war natürlich wieder dabei. Die Teilnehmer kamen aus Thüringen, Hamburg oder Bayern, Referenten aus der Bundesgeschäftsstelle und von außerhalb trugen vor. Sie sprachenüber den Aufbau eines Lagezentrums, korrekte Dokumentation, über Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit, rechtliche Fragen und über die Nachsorge. Dutzende ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des WEISSEN RINGS haben das Seminar mittlerweile durchlaufen, jeder Landesverband hat inzwischen einen Koordinator für Großereignisse benannt.

Martina Linke, 66 Jahre alt, betreut noch heute Opfer des Anschlags auf dem Breitscheidplatz. Foto: Karsten Krogmann

„Wir sind vorbereitet“, sagt Sabine Hartwig.

Dezember 2020, im Berliner Landesbüro klingelt das Telefon, es rufen wieder Journalisten an. Sie suchen Kontakt zu Überlebenden des Anschlags am Breitscheidplatz für ihre Jahrestags-Berichterstattung. Sabine Hartwig kann ihnen nicht helfen. Seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt musste der WEISSE RING bereits fünf Mal die neu geschaffenen Leitlinien für Großereignisse anwenden:

  • Am 7. April lenkte ein Mann in Münster, Westfalen, einen Kleinbus in eine Gruppe Menschen. Vier Menschen starben, mehr als 20 wurden verletzt.
  • Am 9. Oktober 2019 versuchte ein Mann in Halle, Sachsen-Anhalt, in die Synagoge einzudringen, um Juden zu töten. Er ermordete zwei Menschen, zwei weitere verletzte er auf der Flucht schwer, Dutzende Menschen erlitten Traumata.
  • Am 19. Februar 2020 erschoss ein Mann in Hanau, Hessen, neun Menschen mit Migrationshintergrund in und vor Shisha-Bars. Anschließend tötete er in seinem Elternhaus zuerst seine Mutter und dann sich selbst.
  • Am 24. Februar 2020 fuhr ein Mann in Volkmarsen, Hessen, mit seinem Auto in eine Zuschauergruppe beim Rosenmontagsumzug. Mehr als 150 Menschen wurden verletzt.
  • Zuletzt kam es am 1. Dezember 2020 in Trier, Rheinland-Pfalz, zu einer Amokfahrt. Ein Mann tötete mit seinem Wagen fünf Menschen, 24 weitere verletzte er.

„Gut ist es, nicht hilflos daneben zu stehen“

Erstellt am: Montag, 8. März 2021 von Sabine

„Gut ist es, nicht hilflos daneben zu stehen“

Maja Metzger ist Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS in Halle. Nach dem Terroranschlag im November 2019 betreuten sie und ihre Kollegen Opfer und Angehörige. Wie hat sich die Stadt seither verändert?

Maja Metzger, 51 Jahre alt, kam 2017 zum WEISSEN RING.

Es ist nicht der schlechteste Zeitpunkt, als Maja Metzger im Jahr 2017 angesprochen wird. Ob sie sich vorstellen könne, beim WEISSEN RING mitzuarbeiten in Halle an der Saale. 47 Jahre ist sie damals alt. Der Sohn alt genug, es gibt etwas Platz in ihrem Leben, und sie sagt, dass sie sich das mal anschauen werde. Sich sinnvoll einzubringen, Menschen zu helfen, das höre sich alles ja nicht schlecht an.

Es war auch der Grund, warum sie damals, 1988, noch zu DDR-Zeiten, angefangen hatte, Jura zu studieren – in Leipzig, das lag näher an ihrem Elternhaus im Erzgebirge. Es gab damals in der DDR nur zwei Standorte, an denen man Jura studieren konnte, Leipzig und Halle. Dass sie dann später doch nach Halle kam, lag an der Liebe: Sie lernte in Leipzig ihren späteren Mann kennen. 1993 wurde sie in Halle Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Familie und Soziales – dann war erst einmal das eigene Leben dran.

So sind es jetzt auch schon wieder 20 Jahre in dieser Stadt, die laut Frau Metzger „die graue Diva“ genannt wird, was verwundert, wenn man sie durchstreift. Das liege vielleicht daran, dass früher, in der DDR, die Leuna- und die Buna-Werke nicht weit entfernt lagen. Riesige Chemiekombinate zu Zeiten, als „Schadstoffemissionen“ zwar zu riechen und an den Häuserfassaden zu sehen waren, das Wort dafür aber noch nicht existierte. Was einzig und allein zählte, war die Produktion.

Viel Arbeit und viel Verantwortung

Zwanzig Jahre sind eine Zeit, in der man sich gut an die Stadt gewöhnen kann, in der man lebt. Heute ist Metzger Lokalpatriotin, sie geht, nein ging gerne zum Halleschen FC, was mehr mit Liebe zu tun haben muss als mit Fußball. Und sie hat zwei Päckchen Halloren-Kugeln mitgebracht zum Gesprächstermin, eine zuckersüße Spezialität aus Halle. Das verrät auch etwas über den Menschen Maja Metzger.

Sie schaut sich 2017 den WEISSEN RING an, und vielleicht ist es ein Wink des Schicksals, dass das Grundseminar im Augustinerkloster in Erfurt stattfindet. Eine „tolle Erfahrung“ sei das gewesen. Und wie sie das so erzählt, da strahlen ihre Augen, und die Stimme, die im Gespräch sonst eher zurückhaltend und ruhig, fast vorsichtig klingt, hebt sich um eine Nuance.

Irgendwann während des Gesprächs wird Frau Metzger sagen, dass sie nicht gerne im Mittelpunkt stehe, und so tritt sie auch auf – im positiven Sinn zurückhaltend. Das kommt ihr zugute, speziell bei der Arbeit, die in der ersten Zeit beim WEISSEN RING auf sie wartet. „Ich hatte das nicht erwartet, aber sehr viele der Fälle hatten einen sexuellen Hintergrund.“ Missbrauch, Vergewaltigungen, das werden ihre vorrangigen Beratungsfälle. Letztlich – und das ist ja auch logisch – war schon bei ihrer Anwerbung die Intention: Eine gestandene Frau, lebenserfahren, ist für die meist weiblichen Opfer die angenehmere Ansprechpartnerin. „Es ist viel Arbeit und viel Verantwortung“, sagt sie. „Und es ist eine dankbare Arbeit, in der man sieht, was man bewirken kann.“

Fassungslosigkeit nach den Schüssen

2018 wird sie Außenstellenleiterin in Halle. So hätte es weitergehen können mit dieser wichtigen Arbeit, mit der Verantwortung. Aber dann kommt etwas über Halle, was sich niemand hatte vorstellen können. Am 9. Oktober 2019 in der Mittagszeit. Frau Metzger geht an diesem Tag aus ihrem Büro in der Innenstadt zur Post, ob sie etwas aufgegeben oder abgeholt hat, weiß sie gar nicht mehr. Aber was sie noch weiß, ist, dass, als sie wieder im Büro ist und auf ihr Handy schaut, an die 50 Nachrichten darauf sind. Wo sie sei, ob es ihr gut gehe, solche Sachen. Sie schaut in den Rechner und liest dann etwas von Schüssen in der Hallenser Innenstadt, von einer unklaren Anzahl an Verdächtigen.

Sie ist fassungslos, sucht weiter nach Informationen, irgendwann steht da etwas von einem jungen Mann, der in einem Dönerladen erschossen worden sei. Und ihr Sohn? Der ist doch auch ein junger Mann? Der isst doch auch gerne Döner? Sie lässt die Jalousien herunter und bleibt, wie öffentlich dazu aufgerufen, in ihrem Büro.

Am 9. Oktober 2019 erschießt in Halle ein 27-jähriger Mann einen anderen vor einem Dönerladen: Ein Terroranschlag, der die Stadt veränderte.

Zwei Menschen sterben

Der Terror kommt an diesem Tag nach Halle in Form eines 27-jährigen Mannes, der bei seiner Mutter im Kinderzimmer lebt und der von dort aus eine Revolution starten will – gegen Muslime, Frauen und vor allem gegen Juden. Die Tat ist hinreichend an anderer Stelle beschrieben, ausgeführt mit selbstgebauten Waffen, die Baupläne dazu stammen aus dem Netz. Daher kommen auch sein ganzes kaputtes Weltbild und sein Hass – einen anderen Zugang zur Welt als seinen Computer hatte er nicht.

Zwei Menschen sterben an dem Tag, hätten seine selbstgebauten Waffen nicht so oft geklemmt, wäre die Zahl der Opfer deutlich höher gewesen. In sein eigentliches Ziel, die Hallenser Synagoge, kann er nicht vordringen. Er erschießt eine 40-jährige Frau vor der Synagoge, kurz darauf einen Mann in einem Dönerladen. Ein Ehepaar außerhalb von Halle wird auf der Flucht des Täters von ihm angeschossen. Neun versuchte Morde werden ihm später vor Gericht vorgeworfen, er wird zu lebenslänglicher Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Terrorattacken wie diese werden in Präventions- und Notfallplänen als Großschadensereignisse eingestuft. „Pläne, wie damit umzugehen ist, haben wir ja in der Schublade“, sagt Frau Metzger heute. Bis zu diesem Tag im Oktober 2019 hatte sie aber keine Vorstellung davon, was ein solches „Großschadensereignis“ alles auslösen kann.

Am nächsten Morgen kommen die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS in der Außenstelle zusammen, die gleichzeitig auch das Landesbüro ist. Hier, vor der Glasscheibe, stand am Tag des Anschlags noch ein Polizist mit einer Maschinenpistole.

Eine Stadt im Ausnahmezustand

Maja Metzger trägt das Mobiltelefon bei sich, an dem sich Opfer melden können. Zunächst rufen viele Eltern an, die ihre Kinder nicht erreichen können – Halle ist eine Studentenstadt. Dazwischen Menschen aus der Stadt, die einfach mal reden wollen, über Ängste oder Sorgen. „So ein Angriff aus dem Nichts erschüttert Menschen in ihren Grundfesten“, sagt Frau Metzger. Die übliche Sorglosigkeit, die so alltäglich ist, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, ist von heute auf morgen weg. An ihre Stelle tritt das Gefühl: „Ich kann auf die Straße gehen und komme vielleicht nicht wieder nach Hause.“ Das mache etwas mit den Menschen, ob sie Zeuge wurden oder nicht.

So etwas sei auch nach ein paar Wochen oder Monaten nicht vorbei: „Der Ausnahmezustand hat hier schon ein halbes Jahr gedauert, viele wollten das erst einmal mit sich selbst ausmachen.“ Dann hätten sie sich doch gemeldet, telefonisch. Oder sie kamen einfach vorbei.

Insgesamt werden 36 Opfer betreut, auch Angehörige von Opfern. Der Außenstelle Halle kommen damals zwei Dinge zugute: Einerseits, dass ihr Sitz in der Innenstadt auch der Sitz des Landesverbandes ist. So gib es eine Anlaufstelle, einen großen Raum, einen kleinen Raum, Platz für die Arbeit, die getan werden muss. „Einen Raum, in dem wir uns besprechen können und wo das Besprochene bleiben kann.“

An der Synagoge von Halle hängt eine Gedenktafel für die Todes- und alle weiteren Opfer des antisemitischen Terroranschlags.

Andererseits haben sie in einer Studentenstadt wie Halle, viele ehrenamtliche Helfer. Wer Metzger heute fragt, was eine Außenstelle aus einem Ereignis wie diesem lernen kann, erhält zur Antwort, dass das, was getan werden muss, auf möglichst viele Schultern verteilt werden müsse. Und was sie selbst gelernt hat? „Dass es gut ist, etwas tun zu können und nicht hilflos daneben zu stehen.“

Die Stadt verändert sich nach dem Anschlag, in den Tagen danach ist das am meisten zu spüren. Menschen rücken näher zusammen, sprechen oder schweigen gemeinsam. Die Zusammenarbeit des WEISSEN RINGS mit den Behörden sei damals enger geworden. Spenden, die in der Stadt gesammelt werden, gehen an die Opferhilfeorganisation und werden weitergereicht: rund 31.000 Euro. Ein Ehepaar, niedergeschossen vom Täter, wird vor Gericht aussagen, dass die einzige Institution, die ihm die ganze Zeit zur Seite gestanden habe, der WEISSE RING war.

Verlust der Sorglosigkeit

Und dennoch: Die Hilfe, das Näherrücken, der Zusammenhalt danach können nichts ungeschehen machen: nicht die Toten, nicht die Verletzten, nicht die Geschockten und die Traumatisierten. Ebenso wenig den Verlust der Sorglosigkeit und den Hass, der sich damals Bahn bricht und bis heute noch bisweilen nachwirkt: Der Täter filmt damals seine Taten und stellt sie live ins Netz. Auch Frau Metzger, die das Geschehen damals selber gar nicht miterlebt, wird es später doch noch sehen: Dieses Video wird ihr kommentarlos auf WhatsApp zugeschickt, fünf, sechs Mal kommt es bei ihr an. Wie oft es wohl andere bekommen haben?

Heute, im Frühjahr 2021, sitzt Frau Metzger in der Außenstelle Halle, der Ausnahmezustand ist vorbei, an den Tatorten erinnern Tafeln an die Tat, hier und da in der Stadt steht „Niemals vergessen Kevin und Jana“ auf Stromkästen gesprüht. Das Unfassbare ist und bleibt unfassbar. Und es lässt so viele andere Dinge kleiner wirken: Dass wegen der Pandemie die Friseure geschlossen sind, ist für Maja Metzger zum Beispiel ziemlich irrelevant. Dass sie nicht zum Halleschen FC kann, stört sie dann doch schon ein bisschen mehr – aber nur ein bisschen. Es gibt, das hat die Zeit gezeigt, wirklich Schlimmeres.

Meister im Wiederaufstehen

Erstellt am: Mittwoch, 3. März 2021 von Sabine

Meister im Wiederaufstehen

Eine krumme Wirbelsäule, ein Herzinfarkt, kein Zugang zum Traumjob – Christoph Fuchs hat in seinem Leben einiges einstecken müssen. Unterkriegen ließ er sich nie, jetzt hilft er anderen Menschen.

Christoph Fuchs, 72 Jahre alt und ist seit elf Jahren beim WEISSEN RING.

Müsste man Christoph Fuchs in einer einzigen Anekdote beschreiben, sie ginge wohl so: Wenige Tage nach einer Operation am Kiefer sitzt er auf dem Heimtrainer in dem Fitnessraum, den er sich in seinem Haus in Lenggries eingerichtet hat. Seine „Alexa“ spielt Bruce Springsteen und Truck Stop, die hört er am liebsten. Ob er sich trotz der OP in nächster Zeit ein Treffen vorstellen könne, für das Interview, fragt man vorsichtig am Telefon. Seine Antwort kommt prompt: „Von mir aus gleich morgen.“

Wenn Fuchs die Treppe im Evangelischen Gemeindehaus in Bad Tölz hochspringt, vergisst man, dass er 72 Jahre alt ist. Seit elf Jahren ist er beim WEISSEN RING und fast genauso lang stellvertretender Leiter der Außenstelle Bad Tölz-Wolfratshausen.

Wegen der Corona-Pandemie trifft er Opfer nun oft im „Grünen Zimmer“, in dem auch dieses Gespräch stattfindet. Grün ist hier nichts. Vor einer weißen Wand ist ein Stuhlkreis aufgestellt, in einem Regal liegen Broschüren aus. Zum Verein kam Fuchs nach seiner vorzeitigen Pensionierung als Kämmerer. „Langweilig war mir nie“, sagt er. Jeden Tag treibt er eine Stunde Sport, geht oft in die Berge, immer die gleiche Runde – „die Aussicht kenn ich ja schon“. Fuchs lacht, dass sich sein Schnauzbart hebt. Er gestikuliert ausladend, hält kaum einen Moment still und natürlich muss man das auf sein Gemüt übertragen: Andere genießen ihren Ruhestand, Fuchs suchte eine Aufgabe, ein Ehrenamt, bei dem er Menschen helfen kann.

Traumberuf Polizist

In einem Bericht im „Tölzer Kurier“ las er, dass der WEISSE RING ehrenamtliche Mitarbeiter sucht, und meldete sich bei der Außenstelle. Als Jugendlicher wollte Fuchs, der in Wackersberg im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen aufgewachsen ist, Polizist werden. „Ich kann nicht dabei zusehen, wenn jemand leidet“, erklärt er, „egal ob Mensch oder Tier.“ Er erinnert sich an einen Mitschüler, der einen lebenden Frosch an einen Zaun genagelt hat – „Das vergesse ich nie, so brutal war das.“ Vor einer Weile ist ihm eine Katze zugelaufen. „Meine Frau und ich wollten eigentlich keine mehr, nachdem die letzte überfahren worden ist“, sagt er. Auf der Straße lief das Tier auf ihn zu und wich nicht mehr von seiner Seite. Natürlich nahm er es mit nach Hause.

Bei der Polizei konnte Fuchs seinen Gerechtigkeitssinn nicht ausleben, denn wegen seiner verkrümmten Wirbelsäule wurde seine Bewerbung abgelehnt. Dabei war er schon damals ein guter Sportler und boxte viel. Sein Orthopäde bescheinigte ihm in einem Gutachten, dass er einsatzfähig ist. Damit bewarb er sich wieder, doch bei der Polizei ließ man sich seine Röntgenaufnahmen zeigen. „Da war ich wieder genauso weit“, sagt Fuchs und lacht laut.

„Da muss man durch“

Er ist, das merkt man schon nach wenigen Minuten Gespräch, ein Meister im Wiederaufstehen. Sein Schwerbehindertenausweis bescheinigt ihm 90 Prozent Behinderungsgrad, wegen seiner krummen Wirbelsäule musste er frühzeitig in den Ruhestand gehen. Seit einem Herzinfarkt hat er acht Stents. „Damals haben sie mich ins Krankenhaus nach München geflogen, ich wär bald gestorben.“ Fuchs ergänzt sofort: „Ich nehme meine Medikamente und spür so gut wie nichts – mir gehts prächtig.“

Im März 2020 fiel er beim Obstbaumschneiden auf die Aluleiter und brach sich den Oberkiefer, das Jochbein und den Augenbogen. Unerhört, wenn es nach Fuchs geht: „Ich bin schon so oft runtergefallen, mir ist nie was passiert“, sagt er trocken. Damals wurde er zwei Mal operiert, konnte lange nichts essen, sogar die Suppe brannte im Mund. O-Ton Christoph Fuchs: „Da muss man durch.“ Vor ein paar Tagen wurden die Schrauben im Kiefer entfernt, seine Wange ist noch leicht geschwollen.

Nach den Absagen von der Polizei machte Fuchs eine Ausbildung beim Landratsamt. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er im Rathaus in Lenggries. Bei seiner Arbeit für den WEISSEN RING hilft ihm das: Anträge an die Versicherung, Briefe an Ämter und Anwälte zu formulieren fällt ihm leicht – „und wenn ich etwas nicht weiß, mach ich mich im Internet schlau“.

Ein Stück weit Gerechtigkeit

Wie bei dem Ehepaar aus Bad Tölz, das im vergangenen Herbst von ihrem Sohn niedergestochen wurde. „Der junge Mann war auf Drogen und geistig verwirrt“, sagt Fuchs. Das Paar lag lange mit Stichverletzungen im Krankenhaus, hat psychische und finanzielle Probleme. Fuchs half bei der Suche nach einem Therapieplatz und trieb über Stiftungen Geld für die beiden auf.

Mit seinem Traumberuf mag es nicht geklappt haben, beim WEISSEN RING lebt Fuchs ihn trotzdem. „Wir haben ja meistens mit Menschen zu tun, denen Unrecht geschehen ist“, sagt er, „und sorgen für ein Stück weit Gerechtigkeit.“ Wenn ein Opfer bei betrügerischen Gewinnspielen kündigt und Drohbriefe erhält, antwortet Fuchs in seinem Namen. „Wenn die merken, da kennt sich jemand mit dem Rechtlichen aus, ist ganz schnell Schluss damit.“ Man hört durchaus Stolz in seinen Worten. „Solche Leute mag ich dann schon in die Schranken weisen.“

Bis vor kurzem schrieb er einmal im Monat die Kolumne „Aber sicher“ für den „Tölzer Kurier“, in der er anonymisiert von seinen Fällen berichtet: von Trickbetrügern und Kaffeefahrten, von Einbrüchen, häuslicher Gewalt, K.-o.-Tropfen und Cybermobbing. Im Bierzelt in Lenggries rannte einmal eine fremde Frau auf ihn zu. „Ich dachte, was ist jetzt los?“, erzählt Fuchs. „Da sagte sie, dass ihr ein fremder Mann an der Haustür eine dubiose Versicherung aufschwatzen wollte – aber wegen meines Berichts war sie vorsichtig.“

100 Kolumnen geschrieben

Im Laufe der Jahre bekam er viele Rückmeldungen von dankbaren Lesern. Genau 100 Kolumnen hat er geschrieben, ehrenamtlich. „Bevor jemand fragt, ob ich nicht lieber aufhören will, wollte ich lieber selbst aufhören“, erklärt er. Nur einen einzigen Monat erschien die Kolumne nicht – als er mit dem Herzinfarkt im Krankenhaus lag. „Meine Frau bremst mich immer ein bisschen.“ Fuchs grinst. „Ich mache normal nicht so lange Pause.“

Seine Frau hat sich daran gewöhnt, dass ihr Mann auch im Ruhestand beinahe jeden Tag einen Termin hat. Er nimmt sich Zeit, hört zu, was das Opfer zu sagen hat, besucht es auch mehrmals – „Da gibts für mich keine Grenzen!“ Gerade ältere Menschen erzählen ihm oft ihre ganze Lebensgeschichte und kramen Urlaubsfotos hervor. „Einmal hat mir eine 80-jährige Dame zwei Topflappen geschenkt, die sie in ihrer Jugend gehäkelt hat – können Sie sich vorstellen, wie alt die waren!“

Ein anderes Mal bekam er einen angetrunkenen Piccolo überreicht. Sein Schnauzbart bebt. Es gibt auch Opfer, denen er nicht helfen kann. Frauen, die häusliche Gewalt erleben und trotzdem immer wieder zu ihren Partnern zurückkehren. Diese Fälle beschäftigen ihn länger. Genauso wie die Familie, die im Nachbarort ausgeraubt wurde und sich nicht einmal mehr etwas zu Essen kaufen konnte. „Es war Winter, es hat geschneit und ich bin mit dem Auto gerutscht“, erinnert sich Fuchs, „aber ich musste da hin und ihnen Bargeld bringen, damit sie übers Wochenende kommen.“

Anders als bei der Polizei kann Fuchs den Opfern bis zur Gerichtsverhandlung und darüber hinaus beistehen. Wie wichtig das ist, merkt er während jeder Verhandlung im Amtsgericht in Wolfratshausen. Dort sitzen die Opfer im Zeugenstand nur zwei Meter vom Angeklagten entfernt. Damit sie dem Täter nicht in die Augen sehen müssen, setzt sich Fuchs dazwischen. Auf dem Fensterbrett im „Grünen Zimmer“ liegt ein Stein mit der Aufschrift „Alles wird gut“. Christoph Fuchs tut alles dafür.