„Eine kleine Narbe bleibt immer“

Erstellt am: Montag, 7. Oktober 2024 von Torben

„Eine kleine Narbe bleibt immer“

Moritz Müller spielt in der DEL. Der Profi der Kölner Haie sah sich Anfang 2024 mit einer Hassnachricht konfrontiert. Ein Gespräch über die Folgen.

Ein Eishockeyspieler bewegt sich in Schräglage auf dem Eis.

Moritz Müller ist Eishockey-Profi. Foto: Kölner Haie

Eishockey-Profi Moritz Müller erhielt im Januar 2024 auf seinem Instagram-Profil eine verstörende Hassnachricht. Ein Unbekannter drohte darin unter einem Foto Müllers mit seinen drei Kindern: „Ich würde diese Würmer für so ein schreckliches Spiel von dir töten.“ Im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS erklärt der Kapitän der Eishockey-Nationalmannschaft, was die Hassbotschaft bei ihm ausgelöst hat, was aus seiner Strafanzeige geworden ist und welche Botschaft er für Verfasser von Hassnachrichten hat.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie den Hassbeitrag entdeckt haben?

Als ich den Post das erste Mal gesehen habe, war ich geschockt. Man ist ja doch einiges gewohnt und hat schon einiges gelesen über sich selber, aber das war für mich auf jeden Fall noch mal eine Grenze, die dort überschritten wurde. Das hat mich schon erschüttert.

Wie haben Sie das Erlebnis verarbeitet, und was hat Ihnen dabei geholfen?

Ich denke, ich konnte den Post von Anfang an ganz gut einschätzen. Nichtsdestotrotz hatte ich Sorge, dass meine Kinder zum Beispiel in der Schule oder auf dem Schulhof darauf angesprochen werden. Man ist leider einiges gewohnt, aber dies war nochmal eine neue Eskalationsstufe. Ein bisschen verarbeitet man dies, aber eine kleine Narbe bleibt immer bestehen.

Ein Foto zeigt Bundestrainer Julian Nagelsmann

Brutale Fouls im Netz

Sie werden bewundert und gefeiert, aber auch mit Hassbotschaften überhäuft und mit dem Tode bedroht: Spitzensportlerinnen und Spitzensportler sind in den sogenannten sozialen Netzwerken in hohem Maße digitaler Gewalt ausgesetzt. Eine Spurensuche in der Welt des Leistungssports.

Waren Sie davor schon einmal mit Hass und Hetze im Netz konfrontiert?

Ja, auf jeden Fall. Ich treibe seit 20 Jahren professionellen Sport. Leider gibt es viele Menschen, die das Netz nutzen, um ihren Frust zu äußern. Kritik ist okay, aber alles, was persönlich wird, geht nicht. Ich tue mich nicht so schwer damit, das so einordnen zu können, dass es den Leuten selber nicht gutgehen kann. Ich glaube, jemand, der wirklich glücklich ist, dem kann unmöglich etwas daran liegen, andere Leute zu beschimpfen oder schlechtzumachen.

Warum haben Sie den Beitrag selbst kommentiert?

Ich wollte darauf aufmerksam machen. Die meisten Nachrichten, die ich bekomme, mache ich nicht öffentlich, doch in diesem Fall musste ich es teilen. Ich wollte das nicht einfach so stehen lassen und die Öffentlichkeit wissen lassen, was da vorgeht.

Welche Unterstützung haben Sie von Ihrem Verein bekommen?

Der Club hat mir totale Unterstützung zugesagt. Ich wurde unmittelbar nach dem Post vom Verein gefragt, was ich tun möchte – und was auch immer ich tun möchte, der Verein würde mich dabei unterstützen.

Ist der Täter angezeigt und dafür strafrechtlich belangt worden?

Ich habe Strafanzeige gegen den Täter gestellt, doch das Verfahren wurde leider eingestellt. Die Leute im Internet sind zwar mutig, aber nicht so mutig, ihren Klarnamen zu verwenden und zu sagen, wer sie wirklich sind. Deswegen konnte man den Täter leider nicht ermitteln.

Was würden Sie solchen Menschen persönlich sagen?

Allen Leuten, die solche Sachen schreiben, möchte ich eigentlich nur eine Sache sagen: Ich hoffe, sie sind mit ihrem eigenen Leben genauso kritisch und streng wie mit dem Leben anderer. Ich glaube, dann würde es allen besser gehen.

WEISSER RING sieht wachsende Aggressionen gegen deutsch Behörden

Erstellt am: Montag, 22. Juli 2024 von Sabine

Die Bebilderung dieses Textes wurde mithilfe von künstlicher Intelligenz (Midjourney) erstellt.

Datum: 22.07.2024

WEISSER RING sieht wachsende Aggressionen gegen deutsch Behörden

Ein Jugendamt-Mitarbeiter findet ein beleidigendes Tiktok-Video über seine Arbeit im Netz – und fühlt sich damit alleingelassen. Anlass für eine bundesweite Umfrage der Opferschutzorganisation.

Mainz – Beleidigungen und Angriffe: Der Ton gegenüber Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Behörden hat sich verschärft. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Opferhilfsorganisation WEISSER RING in zahlreichen deutschen Stadtverwaltungen.

Danach haben die allermeisten Kommunen schon einmal digitale Gewalt erlebt. Viele berichteten auch von körperlichen Angriffen auf Beschäftigte innerhalb der vergangenen zwölf Monate, teilte der Weiße Ring mit. Repräsentativ ist die Umfrage allerdings nicht. Von 82 angefragten Verwaltungen hätten sich 44 zurückgemeldet. Für die Auswertung wurden 38 Antworten berücksichtigt, weil die anderen lückenhaft waren.

Beleidigende oder bedrohliche Nachrichten

In den vergangenen zwölf Monaten gab es in 29 Verwaltungen körperliche Angriffe auf Beschäftigte. 35 Städte registrierten Fälle digitaler Gewalt. Dazu gehörten vor allem beleidigende oder bedrohliche Nachrichten über Mail, Messenger-Dienste und in den sozialen Medien. Dazu kamen negative oder beleidigende Rezensionen sowie die Verbreitung privater Informationen ohne Zustimmung.

„Auf die zunehmende Verrohung eingestellt sind die Kommunen oftmals nicht“, stellt der WEISSE RING fest. Lediglich die Hälfte der Behörden habe angegeben, intern über spezielle Richtlinien oder Verfahren im Umgang mit digitaler Gewalt gegen Mitarbeitende zu verfügen (19 Städte).

Hass aus dem Handy

Erstellt am: Dienstag, 2. Juli 2024 von Torben

Hass aus dem Handy

Ein TikTok-Clip wird für den Jugendamtsmitarbeiter Said zum Albtraum. Das Video voller Beleidigungen gegen ihn steht seit mehr als einem Jahr online – alle Versuche, es verschwinden zu lassen, blieben erfolglos. Warum löscht TikTok es nicht? Kommen deutsche Behörden ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Beschäftigten bei digitaler Gewalt nach? Was macht der Hass aus dem Handy mit Menschen wie Said?

Eine Illustration zeigt einen Mann, der erschrocken auf sein Handy schaut.

Illustration: Midjourney

I. Das Video

Für Said begann der Albtraum mit dem Anruf eines Freundes. „Schau dir das Video auf TikTok an, das könnte dich interessieren. Da geht es um dich“, sagte der Freund und schickte ihm einen Link zu TikTok. Der Mann im Video spricht arabisch und beleidigt darin den Mitarbeiter des Jugendamtes sowie dessen Eltern mit derben Worten:

„Ein Schwein,

Sohn eines Schweins,

Sohn einer Hure, arbeitet beim Jugendamt…“

Hass aus dem Handy

Digitale Gewalt gegen Angestellte in Behörden

Said kennt den Mann nicht persönlich, der das Video aufgenommen hat und ihn so massiv beleidigt. Und obwohl Said nicht namentlich genannt wird, ist sofort klar, dass er gemeint ist. Es werden Details erwähnt, die nur auf ihn zutreffen. Es arbeiten nur sehr wenige Männer mit arabischen Wurzeln im Jugendamt seiner Stadt. Said ist Sozialarbeiter und holt in Extremfällen schutzbedürftige Kinder aus gewalttätigen Familien.

So auch in dem Fall, der in diesem Video geschildert wird. Der Mann auf TikTok kennt Einzelheiten aus dem Fall und positioniert sich klar für den Vater, dem die Kinder entzogen wurden, und gegen den Mitarbeiter des Jugendamtes. Gegen Said.

Die Bebilderung dieses Textes wurde mithilfe von künstlicher Intelligenz (Midjourney) erstellt.

Ein belebtes Café nahe dem Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt, aus den Boxen schallt aktuelle Popmusik. Said kommt eine halbe Stunde zu spät zum vereinbarten Termin. Er entschuldigt sich, ein Anruf kurz vor Feierabend habe ihn aufgehalten. Im Extremfall hätte er wieder ein schutzbedürftiges Kind aus einer gewalttätigen Familie holen müssen. Doch heute nicht. Kaffee? Tee? Etwas zu essen? Said winkt ab und beginnt sofort zu erzählen, wie es sich anfühlt, auf TikTok massiv beleidigt zu werden. Er ist sichtlich aufgewühlt. „Dieses Video beschäftigt mich sehr. Und wieso gibt es bei meinem Arbeitgeber niemanden, der für solche Fälle zuständig ist?“

Fast 24.000 Aufrufe verzeichnet das Video inzwischen.

Saids Fall zeigt, wie allein sich Opfer massiver Beleidigungen auf Social-Media-Plattformen fühlen. Wie ein hasserfüllter Clip einen gesellschaftlichen Rückzug auf Raten und Ängste auslösen kann. Und wie Arbeitgeber die Gefahren dieses digitalen Giftes für ihre Mitarbeitenden immer noch unterschätzen.

II. Der Betroffene, privat

Said guckte sich das Video mehrmals an und lud es auf sein Smartphone herunter. Für den Mann in den Vierzigern begann eine emotionale Achterbahnfahrt.

Said ist nicht sein richtiger Name. Er möchte anonym bleiben. Früher war er ein öffentlicher Mensch. Mehr als zehn Jahre engagierte er sich in der Flüchtlingshilfe, gab Interviews und nahm an Podiumsdiskussionen teil. Sein Rat war gefragt. Seine private Telefonnummer kursierte in vielen Gruppen und Netzwerken. Seitdem es das Video gibt, ist das anders. Seine Nummer hat Said seitdem nicht mehr rausgegeben. Said sagte sich sogar von Freunden los, weil sie seinen Wunsch nach Anonymität nicht respektierten und seine Handynummer weiter in WhatsApp-Gruppen teilten.

Die Illustration zeigt einen Mann von hinten, der auf sein Handy schaut.

„Anrufe von Menschen, deren Nummer ich nicht kenne, nehme ich heute nicht mehr an.“ Sein Engagement im Freiwilligenbereich hat er fast auf null reduziert, obwohl es ihm fehlt. Medienanfragen lehnt er fast immer ab.

Said entfernte alle Bilder aus seinen Social-Media- Profilen und änderte seine Namen. Früher hielt er über Facebook Kontakt zu Familienmitgliedern, die in der ganzen Welt verstreut leben. „Heute nutze ich Facebook fast gar nicht mehr.“ Und es fällt auf, dass er deutlich schlanker ist als auf den alten Fotos in den Zeitungen und in den Videos von den Podiumsdiskussionen. Er wiege rund 15 Kilo weniger als damals, bestätigt Said. Er denkt nach und sagt: „Ich habe mich seit diesem TikTok-Clip mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, um mich zu schützen.“ Wenn ihn heute jemand fragt, wo er arbeitet, sagt Said nicht mehr „im Jugendamt“, sondern nur noch „in der Verwaltung“.

III. Die Social-Media-Plattform

Wer bei TikTok ein Video entdeckt, das gegen die Richtlinien des Unternehmens oder gegen Gesetze verstößt, kann es der Plattform melden. Im Fall von Said hat auch die Redaktion des WEISSEN RINGS mehrere solcher Meldungen versucht. Ohne Erfolg. Die Plattform teilte jeweils kurz mit: „Wir haben das Video, das du gemeldet hast, überprüft und festgestellt, dass es nicht gegen unsere Community-Richtlinien verstößt.“

„Du unehrlicher Sohn…“

„Der Hund, der niederträchtige und gemeine,

der beim Jugendamt arbeitet.“

„Die Richterin, ‚die Hure‘…“

„Der Hurensohn…“

„Tatsächlich ist das, was wir für strafbar halten, den Plattformbetreibern häufig völlig egal.“

Hanno Wilk, Oberstaatsanwalt

Diese Beleidigungen gegen Said und die zuständige Familienrichterin verstoßen nicht gegen Community-Richtlinien? Auf einer Plattform, die „eine Quelle der Unterhaltung und Bereicherung“ sein will? Deren „Mission“ es nach eigenem Bekunden ist, „Kreativität zu fördern und Freude zu bereiten“?

Für Experten wie Hanno Wilk kommt die Reaktion von TikTok nicht überraschend. „Die Community-Richtlinien haben andere Kriterien als das deutsche Strafrecht“, sagt der Oberstaatsanwalt. Wilk leitet das Team „Hate Speech“ in der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. „Tatsächlich ist das, was wir für strafbar halten, den Plattformbetreibern häufig völlig egal.“ In Saids Fall handelt es sich mutmaßlich um Beleidigungen nach §185 des Strafgesetzbuches. Die mächtige Trompete TikTok bläst diese Beleidigungen in die Welt, potenziell erreichbar für Millionen Menschen. Hunderte haben auf das Herz neben dem Beitrag geklickt, um zu zeigen, dass ihnen das Video gefällt. Dutzende haben das Video geteilt. Es sind Beleidigungen in Dauerschleife.

Eine Illustration mit einem Mann, der von hinten zu sehen ist, und einem, den man von vorne erkennen kann. Zwei Lampen hängen an der Decke.

IV. Der Betroffene, beruflich

Nachdem Said das Video zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er tagelang nicht schlafen. Gedanken ratterten ihm in Endlosschleifen durch den Kopf:

„Gibt es weitere Videos, vielleicht sogar welche, in denen ich namentlich genannt werde?

Wie viele Menschen wissen davon?

Wie kann ich das rausfinden?“

„Ich habe ein dickes Fell, ansonsten wäre ich an dieser Situation zerbrochen“, sagt Said. Der Job härtet ab. „Wir sind im Jugendamt täglich Gefahren ausgesetzt, erleben häufig Grenzsituationen.“ Es gebe Foren im Internet, in denen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter offen und namentlich angefeindet werden. Said wurde im Einsatz schon mit einem Tisch attackiert und auch bestohlen. Aber die Auswirkungen dieses Videos auf TikTok, dieser digitalen Form von Gewalt, wiegen für ihn weitaus schwerer. „Diese massiven Beleidigungen, vor allem gegen meine Eltern, kann ich nicht einfach so ignorieren“, sagt Said. Manchmal schreie er, um seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Sport und Spaziergänge mit seinem Hund helfen ihm dabei. Seinen Eltern hat er nichts von dem Video erzählt. Nur wenige Menschen sind eingeweiht, „falls mal etwas passiert“, sagt er.

„Ich hatte die Sorge, dass aus dem digitalen Hass ein Mob im echten Leben wird.“

Said

Denn Said betreut den Vater, dem er die Kinder entzogen hat, zunächst auch nach der Veröffentlichung des Videos weiter. Er denkt lange Zeit nicht daran, den Fall abzugeben. „Ich wollte das nicht. Dann hätte er doch genau das erreicht, was er mit diesem Machtspielchen erreichen wollte“, beschreibt Said seine Gedanken. Er wollte nicht an sich selbst zweifeln. Rein fachlich habe es überhaupt keinen Grund gegeben, den Fall abzugeben. Lange Zeit habe das funktioniert, auch wenn er nach jedem Termin völlig ausgelaugt gewesen sei, berichtet Said. Und noch etwas habe ihn beschäftigt: „Ich hatte die Sorge, dass aus dem digitalen Hass ein Mob im echten Leben wird.“ Tatsächlich hat der betroffene Vater Said einmal attackiert und musste sich deshalb sogar vor Gericht verantworten. Auch wenn Said in der Verhandlung das TikTok-Video auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft zumindest erwähnte: Er kann nicht beweisen, dass sein Klient dahintersteckt, auch wenn die Details im Video mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dafür sprechen.

Eine Illustration zeigt einen Mann, der mit seinem Hund spazieren geht. Sie gehen auf einem Weg entlang von Bäumen.

Anzeige gegen den Urheber des Videos hat Said nie erstattet. Er reiht sich damit nahtlos ein in eine überwiegende und schweigende Mehrheit, wie aus der jährlich aktualisierten und repräsentativen Studie „Hate Speech“ des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Landesanstalt für Medien in Nordrhein-Westfalen hervorgeht. Demnach melden Menschen Hasskommentare bei den Plattformen zwar immer häufiger – im Jahr 2019 waren es 25 Prozent der Befragten, die schon mal einen Hasskommentar bzw. dessen Verfasser beim entsprechenden Social-Media-Portal gemeldet haben. Im Jahr 2023 waren es schon 30 Prozent. Beleidigungen im Internet werden jedoch so gut wie nie angezeigt. Die Polizei ermittelt aber nur dann, wenn eine Anzeige vorliegt, denn Beleidigungen sind reine Antragsdelikte. Beratungsstellen wie HateAid weisen darauf hin, dass Betroffene hohe Prozesskosten fürchten oder Angst haben, im Zuge eines Gerichtsverfahrens ihre Privatadresse der gegnerischen Partei preisgeben zu müssen. Und manchen Menschen fehlt auch einfach die Kraft, sich juristisch damit auseinanderzusetzen.

V. Der Arbeitgeber

Said hat klare Vorstellungen davon, wer ihm hätte helfen müssen. Als Angestellter im öffentlichen Dienst sieht er seinen Arbeitgeber in der Pflicht. Einen Tag, nachdem er das Video gesehen hat, meldet er den Vorfall seiner Behörde. „Ich habe gesagt: Folgendes ist passiert, könnt ihr was machen?“ In einer langen E-Mail entgegnet ihm die Stadt, so berichtet es Said, die Beleidigungen seien nicht im dienstlichen Rahmen passiert, sondern in einem privaten Kontext. Die Stadt sei nicht zuständig, er müsse den privatrechtlichen Weg einer Unterlassungsklage gehen, auf Schadenersatz klagen oder Ähnliches. Said ist sauer: „Ich hole schutzbedürftige Kinder nicht privat aus Familien, sondern in meiner beruflichen Rolle. Wenn ich ein grundgesetzliches Wächteramt ausübe, dann erwarte ich von meinem Arbeitgeber, dass er mich schützt!“ Hätte er den Menschen privat verklagt, wäre er womöglich auf Kosten sitzen geblieben. Und er hätte womöglich seine Privatadresse angeben müssen – das wollte er auf keinen Fall. Zumindest seine Teamleitung im Amt habe ihn unterstützt, ihm Supervision ermöglicht. Das habe ihm mental geholfen, erzählt Said.

Transparenzhinweis: Der Kontakt zu Said kam über den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zustande. Der DGB macht seit 2020 mit seiner Initiative „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch!“ bundesweit auf das Thema Gewalt gegen Beschäftigte aufmerksam und arbeitet dabei auch mit dem WEISSEN RING zusammen. Im September 2023 haben WEISSER RING und DGB ein neues Hilfetelefon für betroffene Beschäftigte gestartet (Rufnummer 0800 116 0060).

Man würde die Stadt gern selbst fragen, wieso sie so gehandelt hat und nicht anders und ob das der alltägliche behördliche Umgang mit digitaler Gewalt ist. Aber Saids Wunsch nach Anonymität ist zu respektieren. Also hat die Redaktion des WEISSEN RINGS eine Umfrage unter allen 82 deutschen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern gestartet. Von 38 gaben 92 Prozent an, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von digitaler Gewalt betroffen sind. Die Hälfte der Behörden verfügt nach eigenen Angaben über Richtlinien oder Verfahren wie hausinterne Meldesysteme im Umgang mit digitaler Gewalt. 29 gaben in ihrer Antwort an, dass Beschäftigte in den vergangenen zwölf Monaten körperlich angegriffen wurden.

Das Ergebnis unserer Umfrage wird auch durch eine Studie des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung aus dem Jahr 2022 untermauert, für die mehr als 10.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes befragt wurden: Demnach haben 23 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst bereits Gewalterfahrungen gemacht, 12 Prozent erlebten sogar mehrere Vorfälle innerhalb eines Jahres. „Wir müssen mehr tun, um die Menschen zu schützen, die unser Land jeden Tag am Laufen halten – ob auf dem Amt oder als Retter in der Not“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Vorstellung der Studie. „Das gebietet die Fürsorgepflicht für die Beschäftigten. Und das ist eine Frage des Schutzes unserer Demokratie vor Verrohung, Hass und Gewalt.“

Warum wir gegen Hass und Hetze vorgehen müssen

Hass und Hetze im Internet sind zum Alltag geworden. Wir dürfen menschenverachtende Worte einfach nicht ignorieren, sondern müssen ihnen entgegentreten, sagt Hasnain Kazim.

Fürsorgepflicht? Said kann da nur den Kopf schütteln. Im Gespräch mit vielen Kolleginnen und Kollegen habe sich sein Eindruck verfestigt, dass Mitarbeitende mit digitalen Gewalterfahrungen alleingelassen werden. „Bei persönlichen Angriffen hast du Instrumente wie Hausverbote, aber bei Social-Media-Angriffen sind Arbeitgeber sehr weit davon entfernt, ernsthaft damit umzugehen.“ Vielleicht liegt das auch daran, dass digitale Gewalt immer noch zu wenig als gravierendes Problem wahrgenommen wird.

VI. Der Betroffene, allein

Said fühlt sich von TikTok alleingelassen, weil die Plattform das Video online lässt. Er fühlt sich von früheren Freunden alleingelassen, die seine Not nicht verstanden haben. Und er fühlt sich von seinem Arbeitgeber alleingelassen. „Ich hätte mir jemanden bei der Stadt gewünscht, der mich professionell unterstützt und alle rechtlichen Schritte übernimmt. Eine Stelle, die sagt: Wir kümmern uns drum“, sagt Said. Dann bittet er darum, das Gespräch zu beenden. Er verabschiedet sich höflich und verlässt das Café nach rund eineinhalb Stunden, ohne etwas bestellt zu haben. Später wird er eine WhatsApp-Nachricht schicken mit einem Link zum TikTok-Clip, der vor mehr als einem Jahr erschienen ist und der sein Leben so verändert hat.

Der Clip ist immer noch online. Seit mehr als einem Jahr.

Den Fall des Vaters, um den es in dem Video geht, hat Said mittlerweile doch an einen Kollegen abgegeben.

Hallo 2024, Tschüss X!

Erstellt am: Dienstag, 2. Januar 2024 von Sabine

Foto: Patrick Pleul/dpa

Datum: 02.01.2024

Hallo 2024, Tschüss X!

Warum wir den Twitter-Nachfolger X verlassen haben – und wie unser neues Jahresthema für 2024 lautet.

Der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, hat zum Jahreswechsel die Social-Media-Plattform X (ehemals Twitter) verlassen. „Wir haben festgestellt, dass auf X Rassismus, Antisemitismus, Hassrede und Falschinformationen immer weiter zunehmen“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS „Der Plattform-Betreiber Elon Musk selbst hat die Regeln gegen Desinformation und Hetze auf der Plattform gelockert und lässt damit unkontrollierten Hass wissentlich zu. Unser Jahresthema für 2024 lautet ,Digitale Gewalt‘ – X und der WEISSE RING passen einfach nicht länger zusammen.“.

Immer mehr Profile werden deaktiviert

Der WEISSE RING geht damit einen Schritt, den auch schon andere Organisationen, Unternehmen und Medien gegangen sind. Erst kürzlich verabschiedeten sich ebenfalls der Deutschlandfunk, das Recherche-Zentrum Correctiv und die WDR-„Maus“ von der Plattform. Zahlreiche Unternehmen, darunter auch Werbekunden wie IBM, Disney und Apple, stoppten in den vergangenen Monaten ihre Anzeigen auf der Plattform. Grund dafür war ein Eklat um Antisemitismus und Nazi-Inhalte auf X.

Seit der Übernahme durch Musk im Jahr 2022 hat zudem fast jedes zweite Unternehmen (43 Prozent) die Zahl der Beiträge auf X reduziert oder die Veröffentlichungen sogar ganz eingestellt. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Bitkom Research unter mehr als 600 Unternehmen in Deutschland mit mehr als 20 Beschäftigten von August 2023. Aber nicht nur Unternehmen, sondern auch private Nutzerinnen und Nutzer ziehen sich immer häufiger von X zurück. Laut einer repräsentativen Befragung von Bitkom Research aus dem Herbst 2023 plant jede dritte Privatperson mit X-Account in Deutschland, ihr Profil bei dem Onlinedienst perspektivisch zu löschen.

Das Jahresthema des WEISSEN RINGS

Hass und Hetze beschäftigen die Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS zunehmend. Um auf die wachsende Gefahr durch Hassrede, Beleidigungen und Drohungen im Internet für den Einzelnen und für die Gesellschaft aufmerksam zu machen, hat sich der WEISSE RING für „Digitale Gewalt“ als Jahresthema für 2024 entschieden. Bereits 2021 hatte sich der WEISSE RING mit dem Jahresthema „Hass und Hetze“ gegen die zunehmende Verrohung der Gesellschaft engagiert.

Die Inhalte des WEISSEN RINGS auf Social Media

Der WEISSE RING wird seine Inhalte weiter auf den Plattformen Instagram, Facebook und LinkedIn veröffentlichen. Texte und Recherchen aus der Redaktion des WEISSEN RINGS sind zudem hier auf www.wr-magazin.de zu finden.

Retter in Not

Erstellt am: Dienstag, 24. Oktober 2023 von Torben

Retter in Not

Angriffe auf Einsatzkräfte sind ein großes Problem. Wie sollte unsere Gesellschaft ­darauf reagieren? Eine Analyse der Situation.

In einem Raum stehen vier Personen. Eine Frau drückt mit beiden Händen gegen eine Gummimatte, die ihr ein Mann entgegenhält.

Schubsen für den Ernstfall: Mitglieder der Berufsfeuerwehr Mainz haben im März 2023 bei einem Deeskalationstraining des Deutschen Roten Kreuzes geübt, wie sie auf Angriffe reagieren können. Foto: Andreas Arnold/dpa

Nach spektakulären und gewalttätigen Angriffen auf Rettungskräfte wie in der Silvesternacht in Berlin und im Mai 2023 in einem Hochhaus im nordrhein-­westfälischen Ratingen folgen schnell aufgeregte öffentliche Debatten. Genauso schnell ist das Thema Gewalt gegen Einsatzkräfte danach wieder aus den Schlagzeilen ­verschwunden. Übergriffe auf Helfer sind mittlerweile alltäglich und gehen längst nicht nur von gesellschaftlichen Minderheiten oder Randgruppen aus. Wie sollte unsere Gesellschaft ­darauf reagieren? Eine Analyse.

Ein Rettungswagen mit Blaulicht, der unter dem Beschuss mit Pyrotechnik langsam durch eine Berliner Straße rollt.

Die Besatzung eines Feuerwehrwagens, die Randalierer per Lautsprecher auffordert, ihre Angriffe mit Feuerwerkskörpern einzustellen. Und die dann den Rückzug antritt, weil unbeirrt weiter auf sie gefeuert wird.

Diese Bilder aus der Silvesternacht haben Deutschland schockiert und empört. Der Berliner Feuerwehrmann Baris Coban, Vater von drei Kindern, hat im WDR den Hass geschildert, der ihm und seinen Kollegen ent­gegenschlug: „Steine und Flaschen flogen in Unmengen auf uns – und Knaller, Böller. Einige Jugendliche sind aus der Menge herausgerannt, um mit Schreckschuss­waffen in Gesichtshöhe auf uns zu schießen.“

In den Tagen nach Silvester waren Angriffe auf Rettungs­kräfte das große Thema für Politik und Medien. Hitzig wurde über den Migrationshintergrund von Tätern gestritten. Die CDU fragte im Berliner Abgeordnetenhaus die Vornamen der Verdächtigen ab. Dafür gab es breite öffentliche Kritik, die in der parlamentarischen Anfrage eine rassistische Stigmatisierung von Migrantinnen und Migranten erkannte.

Eine „Inszenierung“ von Gewalt

Professor Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni ­Bielefeld, hat die Exzesse der Silvesternacht in einem ZDF-Interview mit einer gefährlichen Gruppen­dynamik bei den jungen Tätern erklärt: „Die Gewalt, die wir gesehen haben, ist für sie ein Erlebnis.“ Gewaltan­wendung stärke in solchen Situationen die Gruppen­zugehörigkeit. Hinzu käme, dass Polizei und Rettungsdienste als Feindbilder angesehen würden. Weil diese in der Wahr­nehmung der Täter einen Staat verkörpern, in dem sie selbst nur eine Außenseiterrolle einnehmen. In ­einer solchen ­Dynamik würden bei gewalttätigen Gruppen Aggression und Gewalt situativ zur Norm, die das ­Handeln bestimmt. Der Konfliktforscher betont, dass nicht nur die Straftäter selbst zur Eskalation beitrugen. Vielmehr wirkten auch jene als Verstärker, die Randalierer anfeuern oder gewaltsame Videos in den sozialen Medien verbreiten. Zick erkannte in den Silvester­krawallen eine regelrechte „Inszenierung“ von Gewalt.

Wie so oft nach spektakulären Gewaltausbrüchen ­dominierte sowohl bezüglich der Ursachenforschung als auch bei der Frage nach notwendigen Konsequenzen die Suche nach schnellen Antworten und Lösungen. Zwar wies Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zunächst Forderungen nach Gesetzesverschärfungen zurück: „Gott sei Dank sind die Strafvorschriften in den letzten Jahren verschärft worden, aber das muss jetzt auch angewendet werden.“ Gleichwohl prüfte ihre Behörde intern, ob das „gezielte Locken in einen Hinter­halt“ als besonders gefährlicher Angriff auf Polizei und gesetzlich gleichgestelltes Rettungspersonal gewertet werden solle. In einem internen Papier wird angeregt, die Paragraphen 113, 114 und 115 des Strafgesetzbuches entsprechend zu erweitern. Da beträgt der Strafrahmen für ­besonders schwere Delikte gegen Einsatzkräfte ­bereits sechs Monate bis fünf Jahre, wenn etwa eine ­Gewalttat gegen Polizeibeamte oder Notärztinnen mit einer Waffe oder gemeinschaftlich begangen wird. ­Dieser Katalog sollte ergänzt werden, heißt es in dem Papier.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik registrierte bei Angriffen auf Rettungsdienste (ohne Feuerwehr) allein zwischen 2018 und 2021 eine alarmierende Zunahme der Fallzahlen. Die Anzahl der Fälle stieg von 726 auf 1.241.

Die Diskussion dürfte nach dem erschütternden ­Anschlag von Ratingen in Nordrhein-Westfalen, bei dem im Mai zahlreiche Kräfte von Polizei und Feuerwehr durch eine Explosion in einem Hochhaus zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden und im künstlichen Koma versorgt ­werden mussten, neuen Auftrieb er­halten. Ein 57-Jähriger steht im Verdacht, die Explosion gezielt herbeigeführt und Einsatzkräfte mit einer brennenden Flüssig­keit angegriffen zu haben (siehe Seite 12 / 13). Doch als Beleg für gesetzlichen Korrekturbedarf eignet sich diese furchtbare Attacke gerade nicht. Denn die ­zuständige Staatsanwaltschaft Düsseldorf hat gegen den Tatverdächtigen Haftbefehl wegen versuchten Mor­des in neun Fällen erlassen. Versuchter Mord kann in schweren Fällen mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft ­werden. Ein zusätzlicher Straftatbestand wird insofern nicht ­benötigt, um heimtückische Angriffe auf Leib und Leben von ­Rettungskräften hart bestrafen zu können.

Pläne für eine Gesetzesverschärfung zielen also auf ­einen – wenn auch besonders verurteilenswerten – ­Ausnahmefall. In den öffentlichen Debatten bleiben eine gründliche Analyse von Art und Ausmaß der Gewalt gegen Rettungskräfte sowie wirksame Strategien ­dagegen immer wieder in Ansätzen stecken.

Zunahme der Fallzahlen

In welchen Situationen sind Feuerwehrleute oder Rettungs­sanitäterinnen eigentlich Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt? Wie können jene, die anderen Menschen professionell helfen und täglich die eigene Gesundheit riskieren, um Leben zu retten, effektiv ­besser geschützt werden? Diese entscheidenden Fragen sind weiter offen. Wer mit erfahrenen Profis spricht und die Ergebnisse von empirischen Untersuchungen ein­bezieht, gewinnt ein differenziertes Bild. Richtig ist demnach: Rettungskräfte werden in ihrem Arbeitsalltag beleidigt, bedroht, bespuckt, geschlagen oder getreten. Die einfache Antwort, das Problem auf Migrations­biografien oder einzelne soziale Brennpunkte abzuschieben, geht an den Tatsachen vorbei.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik registrierte bei ­Angriffen auf Rettungsdienste (ohne Feuerwehr) allein zwischen 2018 und 2021 eine alarmierende Zunahme der Fallzahlen von 726 auf 1.241. Eindeutige Befunde zu den Ursachen des Anstiegs der Fallzahlen können ­derzeit weder Studien noch Profis aus der Praxis liefern. Wer Experten befragt, erfährt aber zumindest von ­einigen Anhaltspunkten, die, ohne den Anspruch auf Voll­ständigkeit zu erheben, dabei helfen, die Lage ­besser zu verstehen.

„Um das Problem der ­Gewalt gegen Rettungskräfte zu diskutieren, ist ­Silvester in Berlin oder Hamburg das denkbar schlechteste ­Beispiel.“

Maximilian Eggeling

Max Eggeling hat selbst mehrere Jahre lang als Rettungs­sanitäter gearbeitet. Aktuell schult er als selbstständiger Coach Rettungskräfte im Umgang mit Aggressionen im Einsatz. Außerdem ist er ehrenamtlich als Zugführer und Einsatzleiter bei der Freiwilligen Feuer­wehr in Lüneburg tätig. „Um das Problem der ­Gewalt gegen Rettungskräfte zu diskutieren, ist ­Silvester in Berlin oder Hamburg das denkbar schlechteste ­Beispiel“, sagt Eggeling. Die begangenen Straftaten müssten nun ­konsequent verfolgt werden. Silvester sei jedoch ein „absoluter Ausreißer“, eine Ausnahme von der Regel, die davon ablenkt, was sich im Arbeitsalltag der Rettungs­kräfte abspielt. Wo es meistens nicht um verabredeten Krawall geht, sondern um scheinbar ­banale Begeg­nungen, die gefährlich eskalieren. „Man sollte stattdessen darauf schauen, wie man diese Situa­tionen ­verändern kann“, rät Eggeling.

„Leute in Extremsituationen“

Während seiner Tätigkeit im Rettungsdienst fing ­Eggeling mit dem Kampfsport an, weil er das Gefühl hatte, sich ­besser schützen zu müssen. Bei einem ­Einsatz schleuderte ein Mann ein Fahrrad auf seinen Kollegen. Der musste mit einem gebrochenen Bein in die ­Klinik. Zwar wurde ­Eggeling selbst nie zusammen­geschlagen, aber be­leidigt und bedroht, einmal auch festgehalten und zu Boden gerissen. Mit seinem heutigen Wissen als Coach sagt Eggeling: „Wir müssen uns klarmachen: Da treffen wir auf Leute in Extremsituationen.“ Schließlich rechnet morgens niemand damit, dass der eigene Vater abends einen Herzinfarkt erleidet: „In solchen Mo­menten ist die Zündschnur bei Betroffenen kürzer. Da ­können dann auch ansonsten friedliche Leute aggressiv reagieren.“ Es sei durchaus nachvollziehbar, dass besorgte ­Angehörige mitunter nicht verstehen, warum man ohne Blaulicht zum Krankenhaus fährt oder die Erstver­sorgung vermeintlich so lange dauert. Die ­Erfahrung hat Eggeling gelehrt: Viele Familien sind überhaupt nicht auf die Möglichkeit krisenhafter ­Ereignisse ­eingestellt. „Wenn dann ein Notfall eintritt, löst das eine Überforderung aus, die in Aggression und Gewalt ­umschlagen kann.“ Die Gefahr lauert demnach in ­vermeintlichen Routineeinsätzen.

Die Feuerwehr-Unfallkasse (FUK) in Niedersachsen hat vor zwei Jahren eine Umfrage unter den Freiwilligen Feuerwehren des Bundeslandes veröffentlicht, 2.500 Aktive haben daran teilgenommen. Ein Befund: Jeder Dritte hat schon Gewalt erfahren, sei es verbal oder ­körperlich. Eine aktuelle Folgeuntersuchung kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Durchaus überraschend: 85 Prozent waren Einzeltäter. „Auffällig ist, dass Gewalt in den allermeisten Fällen in Alltagssituationen ausbricht“, sagt der niedersächsische FUK-Direktor ­Thomas Wittschurky. Typischerweise passiere das bei Straßensperren. Da werde beleidigt und bedroht, ohne überhaupt den Grund für den Einsatz zu kennen. „Die Gewalt geht also von scheinbar ganz normalen Leuten aus“, sagt Wittschurky.

„Für uns war überraschend, dass die Gewalt in drei Viertel der Fälle von den Hilfsbedürftigen, also von Patienten selbst oder deren Angehörigen ausgeht.“

Professor Peter Sefrin

Das Spektrum reiche von ­Drohungen über den berühmten Mittelfinger bis zu ­sexuellen ­Belästigungen: „Einige Betroffene haben auch über drastische Gesundheitsschäden durch Verletzungen berichtet.“ Zu körperlicher Gewalt komme es meistens bei einer Straßensperre oder der Brandbekämpfung, so Wittschurky. Oftmals eskalieren Konflikte, wenn sich Menschen in ihrer Alltagsroutine gestört fühlen. Wenn sie nicht den gewohnten Weg zur Arbeit nehmen können oder ein Termin zu platzen droht. Offenkundig fällt es vielen schwer, persönliche Belange für wichtige öffentliche Interessen zurückzustellen. Leben zu retten hat Vorfahrt – dieser eigentlich selbstverständliche Grundkonsens wird offenbar immer häufiger infrage gestellt. Stattdessen wird an Einsatzorten gepöbelt, gespuckt und geschlagen.

Eine bundesweite empirische Untersuchung zum Thema hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) vorgelegt. Körperliche Gewalt erleben die allermeisten Rettungssanitäter oder Notärztinnen demnach seltener als ein- bis zweimal pro Monat, verbale Gewalt hingegen sehr viel ­häufiger. „Für uns war überraschend, dass die Gewalt in drei Viertel der Fälle von den Hilfsbedürftigen, also von Patienten selbst oder deren Angehörigen ausgeht“, sagt Professor Peter Sefrin, Co-Autor der Studie und Spezialist für Notfallmedizin beim DRK. Weil ihnen die Versorgung nicht schnell genug geht oder der Patient kurz Schmerzen verspürt, wenn mit einem Einstich in die Haut ein Zugang zur Versorgung gelegt wird. Sefrin kritisiert eine übergroße Anspruchshaltung in der Gesell­schaft. Im Notfall sollen Schmerzen augenblicklich gelindert oder besser noch beseitigt werden. Wenn nicht, gibt es Ärger.

Mehrere Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr rüsten sich mit Helmen und Schutzmasken aus

11. Mai 2023, 9 Uhr 49: Zu diesem Zeitpunkt werden Rettungskräfte in Ratingen alarmiert, Einsatzort ist ein Hochhaus. Zahlreiche Helfer und Helferinnen werden Opfer einer Explosion, die mutmaßlich von einem 57-Jährigen zu verantworten ist. Foto: David Young/dpa

Weitere wichtige Ergebnisse der nicht repräsentativen DRK-Studie: Angriffe passieren nicht nur in Groß­städten, sondern auch in mittleren und in Kleinstädten. Und nicht nur an sozialen Brennpunkten, sondern auch in bürgerlichen Wohngegenden. Zu Übergriffen kommt es vor allem abends und nachts sowie an den Wochenenden. „Ganz oft spielen Alkohol und Drogen eine Rolle, wenn es zu Gewalt kommt“, sagt Sefrin. „Wir konnten vor allem Jugendliche als Täter ausmachen, fast immer in Verbindung mit dem Konsum von Alkohol und ­Drogen.“ Auch in sogenannten gutbürgerlichen Stadtvierteln sind Täter, die Rettungskräfte attackieren, der Studie zufolge häufig alkoholisiert.

„Beleidigt, belästigt, bedroht“

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Studie „Gewalt gegen Rettungsdienstpersonal“, die im Jahr 2022 im Bundesgesundheitsblatt veröffentlicht wurde. Demnach wurden pro Woche durchschnittlich 29 Prozent des ­befragten Rettungspersonals beleidigt, belästigt oder verbal bedroht. Acht Prozent waren körperlichen ­Angriffen ausgesetzt. Die meisten Angriffe wurden ­ebenfalls Patienten und deren Angehörigen zugerechnet. Zwei Drittel der angreifenden Personen waren nach dem Eindruck der Betroffenen während der Tat alkoholisiert. Die empirischen Befunde zeigen: Es gibt nicht den einen typischen Fall, aber eben doch markante Muster. Einzel­täter und Gruppengewalt – beide Phänomene setzen Rettungskräften zu.

Notfallmediziner Sefrin benennt Risikofaktoren: „Die Zunahme von Gruppengewalt gegen Rettungskräfte ist ganz und gar nicht auf Silvester beschränkt. Auch ­Großveranstaltungen sind gefährliche Orte.“ Da bilden sich Gruppen, die miteinander in Streit geraten, immer auch unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen. „Das ­Gewaltpotenzial rund um Volksfeste oder Sportver­anstaltungen ist hoch“, sagt Sefrin. In der Vergangenheit seien Gewalttäter fast aus-schließlich männlich ­gewesen. Mittlerweile greifen Sefrin zufolge aber auch Frauen zu massiver Gewalt, werfen Flaschen oder ­ziehen an den Haaren. Als eine weitere Gefahrenzone benennt er die Bahnhöfe in Großstädten, wo vor allem an den Wochenenden gewaltbereite Menschen aufeinandertreffen. Außerdem sei fast immer Alkohol im Spiel, wenn Jugendliche nachts auf der Straße unterwegs sind.

Die Illustration zeigt einen Feuerwehrhelm mit zerbrochenem Schutzvisier.

Illustration: Alexander Lehn

Deeskalationstrainer Eggeling kennt beide Situationen aus eigener Erfahrung: die Eskalation bei einem Routine­einsatz, aber auch dynamische Gruppengewalt. Im ­vergangenen Sommer wurde sein Löschzug zu einem Kellerbrand in Lüneburg gerufen. Vor der brennenden Gaststätte stand eine große Menschenmenge auf der Straße. „Als ich, zuerst allein, am Einsatzort ankam, stand eine Gruppe von etwa zehn Leuten um mich rum und hat dann gegen den Einsatzwagen geschlagen. Da konnte es nur eine richtige Entscheidung geben: Rückzug“, sagt Eggeling. In solchen Momenten könnten auch professionelle Feuerwehrleute allein nichts ausrichten: „Da geht Eigenschutz vor.“ Dann ist es die Aufgabe der Polizei, Straftäter zu stoppen und Gewalttaten zu ­ermitteln. Allerdings, so Notfallmediziner Sefrin, verzichten Rettungskräfte nach Angriffen häufig auf eine Anzeige, weil viele der Zeitaufwand abschrecke. Oder weil sie davon ausgingen, dass es ohnehin nicht zu einer Verurteilung kommt. „Nur bei ganz massiver Gewalt wird überhaupt eine Tat angezeigt. Das ist die Praxis“, so Sefrin. Daher sei „von einer ganz hohen Dunkelziffer auszugehen“.

Experten halten härtere Strafen, die immer wieder ­gefordert werden, für ungeeignet, um die Gewalt zu stoppen. Die Autorinnen und Autoren der Studie ­„Gewalt gegen Rettungsdienstpersonal“ um die Soziologin ­Friederike Leuschner von der Kriminologischen ­Zentralstelle in Wiesbaden analysieren, dass die bereits erfolgten Erhöhungen des Strafrahmens für Angriffe auf Einsatzkräfte „in der Praxis nicht relevant“ seien. Die entsprechenden Delikte, deren schärfere Sanktionierung speziell die Berufsgruppen Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste schützen soll, seien nämlich ­bereits durch andere Straftatbestände abgedeckt, deren Strafrahmen höher ist. So liegt die Höchststrafe für ­versuchten Mord – siehe den Fall in Ratingen – bei ­einer lebenslangen Haftstrafe. Gefährliche Körper­verletzung kann mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden. Massive Gewalt gegen Rettungspersonal kann also nach geltendem Strafrecht effektiv verfolgt ­werden. Zudem fehlt Leuschner zufolge ein wissenschaftlicher Nachweis, ob Strafverschärfungen überhaupt eine ­abschreckende Wirkung erzielen. Durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2017 wurden Rettungskräfte mit der Polizei gleichgestellt. Seither sind auch nach Angriffen auf eine Rettungssanitäterin oder einen Feuerwehrmann Ermittlungen wegen tätlichen Angriffs bei einer Dienst- oder Vollstreckungshandlung möglich. Dadurch können wie beschrieben schon jetzt schwere Gewalt­taten, die von einer Gruppe oder mit einer Waffe verübt werden, mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. Doch das sind absolute Ausnahmen. Da viele Taten wie beschrieben unter Alkoholeinfluss erfolgen, werden Strafen in der Praxis ohnehin sehr viel eher gemindert als ausgereizt.

„Je früher ich das Potenzial zur Eskalation erkenne, desto größere Chancen bestehen, dass es nicht zum Äußersten kommt.“

Max Eggeling

„Weder allgemeine Appelle noch Gesetzesverschär­fungen werden das Problem lösen“, sagt Notfall­mediziner Sefrin. „Die gesetzlichen Regelungen sind absolut ausreichend, sollten aber auch konsequent ­angewendet werden.“ Wie bei vielen anderen Delikten dauert es auch bei Angriffen gegen Rettungskräfte ­mitunter lange, bis es zu einem Gerichtsprozess kommt – wenn überhaupt. Um Gewalt zu verhindern, bringe eine weitere Strafverschärfung gar nichts, ­ergänzt Eggeling. In seinen Seminaren schult er auch Feuerwehren in Deeskalation. Mit seinem praktischen Ansatz sorgt er bei Schulungen regelmäßig für ­Empörung unter den Kollegen. Einigen gilt er sogar als Nestbeschmutzer.

Denn Eggeling setzt bei seinem Deeskalationstraining nicht bei den Tätern an, sondern bei eigenen Handlungs­optionen. „Erst mal ist schwer zu verstehen, dass man als Opfer etwas ändern soll“, erklärt Eggeling. Aber aus der systemischen Psychologie sei bekannt, dass man das Verhalten anderer nur indirekt beeinflussen kann – nämlich durch sein eigenes Verhalten. Nur so lässt sich ein Konflikt entschärfen, wenn sich Ärger und Wut hochschaukeln. Der Coach sensibilisiert die Teil­nehmenden seiner Seminare dafür, frühzeitig zu ­erkennen, wo und wie Gewalt entsteht. Er rät Einsatzkräften, immer auch die Umgebung im Blick zu haben, wo Angehörige und Schaulustige stehen: „Je früher ich das Potenzial zur Eskalation erkenne, desto größere Chancen bestehen, dass es nicht zum Äußersten kommt.“ Wenn jemand beispielsweise alle Ansagen ­ignoriere und trotzdem versuche, Absperrungen zu überwinden, empfiehlt Eggeling, unverzüglich die ­Polizei einzuschalten.

„Wir müssen uns immer klarmachen, warum es zur ­Gewalt kommt.“

Max Eggeling

In seinen Kursen lernen die Kollegen, dass es im ­Einsatz durchaus Handlungsspielräume gibt, die sie anfangs nicht erkennen. „Wenn ich selbst aggressiv an einer ­Absperrung auftrete, werde ich eben nicht deeskalieren, sondern im Gegenteil schaukelt es sich dann hoch“, ­erklärt Eggeling. In jedem Löschzug gebe es immer auch Kollegen, die schnell hochfahren. „Wichtig ist, sich klarzumachen: Wir sind die Profis und müssen ­angemessen damit umgehen, wenn Menschen in Extrem­situationen überreagieren und aggressiv ­werden.“ Viele Situationen lassen sich mit kleinen ­Korrekturen in der eigenen Ansprache entschärfen. An Straßenabsperrungen, wo regelmäßig Frust in Gewalt umschlägt, sollte nicht einfach gesagt werden: Hier ist gesperrt. Besser ist es zu erklären: Die Ortsdurchfahrt ist zwar wegen eines Einsatzes gesperrt, aber es gibt eine Umleitung. Die dauert zwar länger, führt aber ­sicher zum Ziel.

Hilfreich sei es, sich als Rettungskraft zu fragen: Was kann ich den Leuten in einer Stresssituation anbieten? „Wir müssen uns immer klarmachen, warum es zur ­Gewalt kommt“, sagt Eggeling. Der Dialyse-Patient, der regelmäßig nach ihnen geschlagen habe, weil er schwer an Alzheimer erkrankt war, konnte sein Verhalten ebenso wenig steuern wie der Drogenabhängige im ­kalten Entzug. „Es ist unsinnig, bei diesen Patientengruppen moralische Kriterien anzulegen oder nach ­härteren Strafen zu rufen“, sagt Eggeling. Damit seine Kollegen nicht panisch reagieren, wenn es trotz aller Bemühungen um Deeskalation doch zu Angriffen kommt, bringt Eggeling ihnen auch Befreiungs- und Ausweichtechniken zum Selbstschutz bei. In Umfragen äußern Betroffene immer wieder den Wunsch nach ­solchen Schulungen. Denn die Folgen von Gewalt­erfahrungen wirken auch ohne sichtbare Verletzungen lange nach: mit Schlaflosigkeit oder Flashbacks, bei ­denen traumatische Erlebnisse in Gedanken immer ­wieder quälend durchlebt werden. Trotz der großen Nachfrage wird Deeskalationsmanagement längst noch nicht flächendeckend für Rettungskräfte angeboten. Hier kann Prävention konkret ansetzen.

Eine Person in Feuerwehrkleidung hält eine andere Person bei einer Übung am Kragen fest. Die hintere Person schaut zu einer anderen Person, die im Vordergrund des Fotos von hinten zu sehen ist.

Deeskalationstrainer Max Eggeling bei einer Übung mit Feuerwehrkräften. Foto: Sebastian Heinatz

Aber es braucht auch Aufklärung in der Bevölkerung. Immer wieder kommt es vor, dass Eltern ihren Kindern das Feuerwehrfahrzeug zeigen möchten, während ein Brand gelöscht wird. Kitas und Schulen können vermitteln, dass Rettungseinsätze kein Familienspektakel sind. Darüber hinaus braucht es auch Aufklärung darüber, wer nach einem Notruf eigentlich zum Einsatzort eilt. Viele in seiner Region, so Zugführer Eggeling, wüssten gar nicht, dass es in Lüneburg keine Berufsfeuerwehr gibt. Der Kollege, der aktuell einen Brand bekämpft, hat womöglich gerade eben noch als Klempner ein defektes Rohr ausgewechselt. „In Deutschland sind über 90 Prozent der Feuerwehrleute ehrenamtlich tätig“, sagt ­Eggeling. „Das sind alles Profis, aber keine haupt­amtlich Angestellten. Das weiß kaum jemand.“ Angefeindet werden also ganz häufig ausgerechnet diejenigen, die ihre Freizeit dafür opfern, um anderen zu helfen. Die Kommunen sind gefragt, sehr viel besser darüber zu informieren und auf diese Weise größeres Verständnis zu schaffen.

Aus seinen Erfahrungen bei der Feuerwehr regt ­Eggeling eine weitere Maßnahme an, von der er sich eine deutlich größere Akzeptanz für Rettungskräfte in der Bevölkerung erhofft. Er selbst hatte bei Einsätzen in der lokalen Heavy-Metal-Disco nie Probleme, weil er da viele Leute kennt. Und bei Notrufen in Stadtteilen mit einem hohen Migrationsanteil war er immer froh, wenn der türkischstämmige Kollege dabei war: „Der hat eine ganz andere Ansprache und einen besseren Zugang zu den Anwohnern gehabt.“ In der Region Lüneburg habe die Feuerwehr sowohl Geflüchtete als auch viele Frauen aufgenommen. Das wirke sich spürbar ­positiv aus und sei ein gutes Vorbild. Eggeling ist davon überzeugt: „Je breiter wir bei den Rettungskräften aufgestellt sind, umso besser.“

Der Hass und das Recht

Erstellt am: Freitag, 4. Juni 2021 von Torben

Der Hass und das Recht

Der wachsende Hass im Internet verletzt nicht nur Menschen, er gefährdet auch die Demokratie. Juristische Folgen haben diese Angriffe gegen einzelne Personen und gegen den Staat nur selten – bislang.

Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Fuck off, Idiot.
Spacko.
Vollpfosten.

Die Beleidigungen poppen an jenem Novemberwochenende im Minutentakt auf. Johann Kühme liest sie auf Facebook, auf Twitter, in seinem E-Mail-Postfach.

Übler Hetzer.
Linker Rassist.
Dreckiger Kommunisten-Bastard.

Sogar eine Morddrohung ist dabei. Unter dem Betreff „Johann Kuehme verrecke“ kündigt „Anonymous nobody“ per E-Mail an, das „Schwein“ erschießen zu wollen.

1. Wut

Hasskommentare sind Alltag im Internet. Vier von zehn Deutschen haben schon einmal solche Kommentare gelesen, wie aus einer Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena hervorgeht. Jeder zwölfte Befragte war selbst bereits Ziel von Hasskommentaren. Meistens richtet sich der Hass gegen Minderheiten: Muslime, Flüchtlinge – generell Menschen mit Migrationshintergrund. Homosexuelle. Arbeitslose. Behinderte. Auch Frauen bekommen der Studie zufolge häufig Hass ab, einfach weil sie Frauen sind.

Johann Kühme gehört keiner dieser Minderheiten an. Er ist 62 Jahre alt, ein Pastorensohn aus dem Osnabrücker Land, Vater von zwei erwachsenen Kindern. Von Beruf ist er Polizist, genauer: Präsident der Polizeidirektion Oldenburg in Niedersachen, ein politischer Beamter mit SPD-Parteibuch. Damit gehört er einer Gruppe an, die laut der IDZ-Studie mittlerweile ebenso viel Hass auf sich zieht wie Menschen mit Migrationshintergrund: Amtsträger und Politiker.

Der Amtsträger Kühme zog Hass auf sich, als er öffentlich den Hass gegen Amtsträger verurteilte. Kühme hatte im Herbst 2019 eine Reihe von Konferenzen organisiert, zu denen er Amts- und Mandatsträger aus dem Bereich seiner Polizeidirektion einlud; er wollte mit ihnen über das Problem der zunehmenden Hassbotschaften sprechen. In seiner Begrüßungsrede warnte Kühme vor einer Verrohung der Gesellschaft und davor, dass aus Worten Taten werden können. Er erinnerte an den Anschlag auf die Synagoge in Halle und an den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. „Es geht um Ihre Sicherheit“, sagte er den Politikern und Amtsträgern.

Es ging Kühme aber auch um die Sicherheit der Demokratie. Kurz vor der ersten Konferenz hatte der Landrat des Kreises Hameln-Pyrmont mit 50 Jahren den vorzeitigen Ruhestand beantragt; der Hass, der ihn getroffen hatte nach dem Missbrauchsskandal auf dem Campingplatz in Lügde, hatte ihn krank und dienstunfähig gemacht. Nur wenige Tage später trat in Hannover der Vorsitzende des Landeselternrats von seinem Ehrenamt zurück; die Verleumdungen und Beschimpfungen waren ihm zu viel geworden. Kühme fragte: Wie soll unsere Gesellschaft funktionieren, wenn niemand mehr ein Amt übernehmen möchte wegen des Hasses?

Ein folgenschwerer Satz

Und dann sagte Kühme den Satz, der für Aufregung sorgen sollte. Den Nährboden für den Hass und seine Folgen düngten auch „Mittäter“ in den Parlamenten, so Kühme: „Ich bin entsetzt und schäme mich, wenn Bundestagsabgeordnete der AfD muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger pauschal als Kopftuchmädchen und Messermänner bezeichnen oder die Nazi-Gräueltaten als Vogelschiss in der deutschen Geschichte verharmlosen.“ Die Lokalpresse zitierte den Satz, wütende AfD-Politiker verbreiteten das Zitat, in den Kommentarspalten des Internets brach der Hass aus.

Das mehr als 100 Jahre alte Oldenburgische Staatsministerium im Dobbenviertel mit seinen vielen Villen ist ein geschichtsträchtiger Ort: Hier, gleich gegenüber dem Oldenburgischen Landtag, saßen Beamte des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der Nationalsozialisten und schließlich der Bundesrepublik Deutschland. Den letzten Ministerpräsidenten des Landes Oldenburg und ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten des demokratischen Landes Niedersachsen, Theodor Tantzen, traf 1947 oben in seinem Büro der Schlag – er starb im Dienst am Schreibtisch.

Heute ist Tantzens geräumiges Büro das Dienstzimmer des Polizeipräsidenten. Und hier liegen nun auf dem Schreibtisch zwei Papierstapel mit Ausdrucken von Kommentaren aus dem Internet. Der kleinere Stapel enthält Lob und Zustimmung für Kühmes Satz, der andere, telefonbuchdick, den gesammelten Hass gegen ihn. „Norddeutscher Vollblutsidiot“, „Kloputzer“, „Volkspolizist“: Johann Kühme ist kein ängstlicher Mann, auch ein raues Wort kann er aushalten. Aber hatte er auf seinen Konferenzen die Amtsträger nicht aufgefordert, sich dem Hass konsequent entgegenzustellen und die Hasser anzuzeigen? Und hatte er nicht angekündigt, dass die Polizei die Taten ebenso konsequent verfolgen werde? Kühme stellte in gut einem Dutzend Fällen Strafantrag.

Johann Kühme, 62 Jahre alt, ist seit 2013 Präsident der Polizeidirektion Oldenburg – und damit zuständig für mehr als 1,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

2. Regeln

Politiker betonen gern, im digitalen Raum gälten die gleichen Regeln wie im analogen Raum. Tatsächlich finden sich im Strafgesetzbuch etliche Paragrafen, die viel von dem Hass, der täglich in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke zu sehen ist, unter Strafe stellen.

Hier einige Beispiele, allesamt aus Niedersachsen:

Helmut D. schrieb vor dem Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke: „Aufhängen den Drecksack“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 111, Öffentliche Aufforderung zu Straftaten.

Michael H. schrieb, nachdem Lübcke 2019 ermordet worden war: „Einer weniger“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 140, Belohnung und Billigung von Straftaten.

Amra M. schrieb nach dem Tod des CDU-Politikers Norbert Blüm, der sich für Flüchtlinge eingesetzt hatte: „Blüm, der Volksverräter“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 189, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener.

Georg T. schrieb: „Nieder mit dem Judenregime und der Judenpresse“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 130, Volksverhetzung.

Andreas G. nannte einen AfD-Kommunalpolitiker „Nazibastard“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 187, Verleumdung.

Digitaler Hass bleibt meistens folgenlos

Die Morddrohung gegen Johann Kühme verstößt gegen Paragraf 241, Bedrohung. Bezeichnungen wie „Idiot“, „Spako“ oder „Vollpfosten“ wertet der Polizeichef als Beleidigung, ein Verstoß gegen Paragraf 185. Alle diese Taten können mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen geahndet werden. Das Problem ist nur, dass die Taten fast immer ohne Folgen bleiben, wenn sie im digitalen Raum begangen werden.

Das hat erstens damit zu tun, dass diese Taten nur selten angezeigt werden. Zweitens ist es bei anonymen Taten im Internet häufig schwierig, den Täter zu ermitteln. So auch im Fall der Morddrohung gegen den Oldenburger Polizeipräsidenten: „Anonymous nobody“ kann nicht identifiziert und somit auch nicht belangt werden. Drittens kommt es, wenn die Taten doch angezeigt werden und der Täter ermittelt wird, selten zu einer Verurteilung. Das wiederum hat damit zu tun, dass der Ermessensspielraum für Staatsanwälte und Richter groß ist bei der Auslegung des Gesetzes. Das gilt nicht so sehr bei Morddrohungen, aber auf jeden Fall bei der Frage, ob eine verbotene Beleidigung vorliegt oder eine erlaubte Meinungsäußerung.

Ein Beispiel, auch dies aus Niedersachsen: In einer Ratssitzung – es ging um die Abschiebung zweier Roma-Familien – wurde der Oberbürgermeister von Göttingen 2016 vom Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker wiederholt vor Zeugen als „Verbrecher“ beschimpft. Der Oberbürgermeister erstattete Anzeige, die örtliche Staatsanwaltschaft beantragte einen Strafbefehl über 30 Tagessätze zu je 60 Euro. Das Amtsgericht lehnte es aber ab, den Strafbefahl zu erlassen, das Landgericht bestätigte die Ablehnung in zweiter Instanz. Begründung: Es handle sich nicht um eine Beleidigung, sondern lediglich um eine „überzogene Kritik der beanstandeten Abschiebungen“, also um eine Meinungsäußerung.

Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue von der Staatsanwaltschaft Göttingen sagt noch heute, fast fünf Jahre nach der Ratssitzung: „Wir haben das nicht verstanden, aber der Rechtsweg war damit zu.“ Somit darf man den Oberbürgermeister von Göttingen, der nach derzeitigem Kenntnisstand nie ein Verbrechen begangen hat, ungestraft öffentlich einen Verbrecher nennen.

Meinungsfreiheit – ein hohes Gut

Im Dienstzimmer des Oldenburger Polizeipräsidenten gingen im Lauf des Jahres 2020 nach und nach rund ein Dutzend Antwortschreiben der Staatsanwaltschaft ein. In jedem Brief stand, dass die angezeigte Aussage von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Alle Schreiben schlossen mit dem Satz: „Ich lehne daher die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen ab.“ Hochachtungsvoll, Unterschrift Staatsanwalt.

Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue, 48 Jahre alt, leitet seit Juli 2020 die neu eingerichtete Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet mit Sitz in Göttingen, Niedersachsen. Foto: Jan-Michael Rebuschat

Die Justiz muss regelmäßig Rechtsgüter gegeneinander abwägen. In Deutschland wird – nach den Erfahrungen mit den Diktaturen im Nationalsozialismus und in der DDR – das Grundrecht der Meinungsfreiheit von Staatsanwälten und Richtern oft für schützenswerter befunden als das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das ein Kläger durch eine Beleidigung verletzt sieht. Schlagzeilen machte das Urteil im sogenannten Künast-Fall: Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast war auf Facebook als „Drecksau“, „Schlampe“ und Schlimmeres beschimpft worden, was das Landgericht Berlin in erster Instanz als zulässige Meinungsäußerungen in einer Sachauseinandersetzung wertete.

Die Meinungsfreiheit ist zweifellos eines der höchsten Güter im deutschen Recht. Lange wurde aber übersehen, dass die großzügige Auslegung von Meinungsfreiheit bei Hassern und Hetzern negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit anderer hat.

Auch das belegt die Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft: 54 Prozent der Befragten gaben an, sich wegen Hassrede im Internet seltener zu ihrer politischen Meinung zu bekennen. 47 Prozent sagten, sie würden sich insgesamt seltener an Diskussionen im Netz beteiligen. Und immerhin 15 Prozent der Befragten haben wegen der Hasskommentare ihr Profil bei einem Online-Dienst deaktiviert oder gelöscht. Bei den unter 24-Jährigen gilt das sogar für jeden Vierten.

Wenn Menschen sich wegen Hassrede nicht mehr an Debatten im Netz beteiligen, ist nicht nur ihre persönliche Meinungsfreiheit eingeschränkt. Der Rückzug hat auch Auswirkungen auf die abgebildete Meinung im öffentlichen Raum. Das wiederum führt zu einer Wahrnehmungsverschiebung der gesellschaftlichen Realität, warnen die IDZ- Forscher: „Wenn die Hater*innen in Kommentarspalten dominieren, entsteht der Anschein, sie seien auch gesellschaftlich in der Mehrheit.“ Das IDZ hat seiner Studie „#Hass im Netz“ deshalb einen warnenden Untertitel gegeben: „Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie“.

Johann Kühme, der Polizeipräsident, legte bei der Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg Beschwerde ein gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Beleidigungen nicht zu verfolgen. Der Generalstaatsanwalt gab Kühme recht und wies die Staatsanwaltschaft an, Ermittlungen aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft reichte die Akten weiter an die neue Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet – Niedersachsen (ZHIN), die zum 1. Juli 2020 ihre Arbeit aufgenommen hatte. Leiter der neuen Spezialabteilung ist Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue.

Laue, 48 Jahre alt, Familienvater, ist ein selbstbewusster Jurist, der sich der gesellschaftlichen Bedeutung seiner Arbeit bewusst ist. Er sagt Sätze wie: „Wir wollen nicht Leute mundtot machen – wir ermöglichen offene Diskussionen.“ Oder: „Unsere Arbeit soll dabei helfen, Meinungen frei zu äußern – indem wir die ausschließen, die mit Hass daherkommen.“ Er hat eine Verfahrensliste angelegt, auch die Namen Helmut D., Michael H., Amra M., Georg T., Andreas G. finden sich darauf. Die Liste wird ständig fortgeschrieben, zuletzt fasste sie knapp 80 Fälle. Elf der Fälle betreffen den Oldenburger Polizeipräsidenten Kühme und den Tatvorwurf der Beleidigung nach Paragraf
185 Strafgesetzbuch.

3. Forderungen

Dem Oldenburger Polizeipräsidenten unterstehen 3.000 Polizeibeamte und 500 Verwaltungskräfte – lauter Profis, die für ihren Chef Beweismaterial sichern und Taten juristisch einschätzen können. Bei den meisten Menschen, die Hass oder Belästigung im Internet erfahren, ist das anders. Ein Beispiel: Fast die Hälfte aller Frauen im Alter zwischen 18 und 36 Jahren hat schon einmal unverlangt ein sogenanntes Dick-Pic zugeschickt bekommen, ein Bild eines zumeist erigierten Penis. Das hat eine Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov ergeben.

„Das ist doch Nötigung!“, empört sich Anna-Lena von Hodenberg, eine Frau von 38 Jahren: „Das ist genauso, als würde jemand auf der Straße seine Hose runterlassen!“ Auf der Straße passiert das aber vergleichsweise selten. Weil, davon ist von Hodenberg überzeugt, das öffentliche Herunterlassen der Hose gesellschaftlich geächtet ist und geahndet wird: Exhibitionismus steht unter Strafe. Lässt aber ein Exhibitionist im Internet seine Hosen herunter, passiert zumeist: nichts. Die Gesellschaft weiß nicht, wie sie sich dazu verhalten soll; es gibt kaum Anzeigen, es gibt kaum Bestrafung. Die betroffenen Frauen bleiben allein mit dem „Dick-Pic“, ihrer Demütigung, ihrer Scham, vielleicht auch mit ihrer Angst.

„Ich rufe gleich die Polizei“

Ein anderes Beispiel. Jemand droht im Internet: „Wir wissen, wo Du wohnst!“ Eine Straftat ist das nicht, weil nur die Androhung eines Verbrechens unter Strafe steht. Der Bedrohte bleibt allein mit seiner Angst.

Gerald Hensel ist so etwas passiert. Ende 2016 war er ein erfolgreicher Werber bei der Agentur Scholz & Friends, als ihn zunehmend etwas störte: Automatisierte Werbebanner von großen Unternehmen waren auch auf rechten Internetseiten zu sehen und finanzierten so diese Hass verbreitenden Seiten mit. Er rief die Aktion „Kein Geld für Rechts“ ins Leben. Prompt richtete sich der Hass gegen ihn, Beschimpfungen, Bedrohungen von Rechts – so schlimm, dass Hensel untertauchen musste. Plötzlich fand er sich ohne Job in einem Hotelzimmer wieder, allein.

Er gründete den Verein Fearless Democracy, aus dem 2019 die gemeinnützige Gesellschaft HateAid hervorging, „die einzige Beratungsstelle Deutschlands, die ausschließlich Betroffene von digitaler Gewalt unterstützt“, wie es auf der Homepage heißt. Geschäftsführerin ist Anna-Lena von Hodenberg.

Wer sich gegen Hass engagiert, erfährt: Hass. Von HateAid findet sich im Internet nur eine Postanschrift, nicht die Adresse des Gesellschaftssitzes in Berlin. „Wir können die Leute nicht schützen, wenn wir unsere eigenen Mitarbeiter nicht schützen können“, sagt von Hodenberg. 26 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat HateAid insgesamt; nur wenige von ihnen arbeiten öffentlich sichtbar. Von Hodenberg, eine ehemalige Fernsehjournalistin, ist eine davon.

Sie fordert: „Wir müssen uns dazu als Gesellschaft verhalten.“ Auch bei digitaler Gewalt brauche es Zivilcourage und einen moralischen Kompass, jemanden, der sagt: „Ich rufe gleich die Polizei!“

Es brauche eine Polizei, die dann auch kommt, und eine Justiz, die dann auch bestraft. „Das Internet ist vielleicht kein rechtsfreier Raum“, sagt von Hodenberg. „Aber es ist ein weitgehend rechtsdurchsetzungsfreier Raum.“ HateAid will das ändern, indem es Menschen dabei unterstützt, nach digitaler Gewalt Klage einzureichen. Viele Betroffene wollen das nicht, sie sind zermürbt vom Hass, sie wollen sich nicht noch einmal den Hassbotschaften aussetzen.

„Müssen sie auch nicht“, sagt von Hodenberg. Beweise sichern per Screenshot? „Machen wir“, sagt sie. Die Finanzierung der Klage? „Machen wir“, sagt sie. Rund 500 Klienten betreut HateAid, 250 Fälle sind zur Anzeige gebracht. Die meisten sind noch offen, die Verfahren dauern.

Es gibt aber schon Erfolge, regelmäßig veröffentlicht HateAid Pressemitteilungen: „10.000 Euro Geldentschädigung für Falschzitat“, „11 Monate Freiheitsstrafe für Rechtsextremist“, „Hausdurchsuchung bei mutmaßlichem Täter im Fall Künast“.

Anna-Lena von Hodenberg, 38 Jahre alt, ist Geschäftsführerin von HateAid und unterstützt Opfer von digitaler Gewalt. Foto: Andrea Heinsohn Photography

„Angriff auf die Säulen unserer Demokratie“

Am meisten Schlagzeilen machte der Fall der Grünen-Politikerin Renate Künast, die mit HateAid gegen das „Drecksau“-Urteil des Landgerichts Berlin angegangen war: Im Beschwerdeverfahren korrigierte das Gericht seine Entscheidung und wertete verschiedene Hasskommentare nun doch als strafbare Beleidigungen. Der Hass gegen Künast endete damit natürlich nicht, aber Anna-Lena von Hodenberg betont: „Wir haben bei keinem Thema so viele positive Zuschriften bekommen wie zu diesem.“

Das ist wichtig, denn wie dem Oldenburger Polizeipräsidenten geht es HateAid nicht allein um den Schutz von Hassopfern, sondern auch um den Schutz der ganzen Gesellschaft. Was die Forscher des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft herausgefunden haben, dass nämlich Hassrede im Netz Menschen zum digitalen Verstummen bringt, ist kein Zufall. Hassrede gibt es von Linken, von Rechten, von Islamisten. „Aber im Moment sind die Rechten am besten organisiert, mit Abstand“, sagt von Hodenberg. Hinter dem, was ein wenig verniedlichend gern „Shitstorm“ genannt wird, steckt häufig eine konzertierte Aktion. Rechte Accounts setzen zeitgleich Tausende Hassnachrichten ab, fluten Profile, legen Internetseiten lahm, schüchtern Menschen ein.

Anna-Lena von Hodenberg nennt das „einen Angriff auf die Säulen unserer Demokratie“. Politiker sollen aus ihren Ämtern gedrängt werden. Journalisten und Wissenschaftler sollen zu bestimmten Themen nicht mehr schreiben und forschen. Ein Werber wie Gerald Hensel soll seine Boykott-Aktion beenden. Andersdenkende sollen zum Schweigen gebracht werden. Bis nur noch ein Sound zu hören ist und den gesellschaftlichen Ton angibt: der von rechts.

Der Forderungskatalog von HateAid, knapp zusammengefasst:

Erstens: Der Staat muss die Rechte der Betroffenen von digitaler Gewalt stärken. Das Strafgesetzbuch trat vor 150 Jahren in Kraft, viele Passagen sind noch nicht in der digitalen Gegenwart angekommen, zum Beispiel die Beleidigungs- und Bedrohungsparagrafen. Gibt es ein öffentliches Interesse, zum Beispiel wegen der Schwere einer Tat im Internet, wegen ihrer großen Reichweite oder weil sie eine Person des öffentlichen Lebens betrifft, muss die Staatsanwaltschaft von Amts wegen Ermittlungen einleiten. „Wenn Politiker aus ihren Ämtern gedrängt werden, ist das keine Privatangelegenheit mehr“, sagt von Hodenberg.

Zweitens: Politik und Ermittlungsbehörden müssen sensibilisiert werden. „Die müssen wissen: Hassrede ist eben nicht wie der Nachbarschaftsstreit am Gartenzaun“, betont von Hodenberg. „Digitale Gewalt ist: Gewalt.“ Es braucht mehr Sonderdezernate und Schwerpunktstaatsanwaltschaften.

Drittens: Betroffene brauchen Unterstützung. Dafür muss ein bundesweites Netz von spezialisierten Be-ratungsstellen aufgebaut werden. Und es braucht geschulte Polizisten, die Betroffene nicht gleich abweisen. „Die Betroffenen sind eh schon gestresst“, sagt von Hodenberg.

Viertens: Deutsches Recht muss in Deutschland durchgesetzt werden. Die Internet-Plattformen müssen haften, wenn Daten nicht gelöscht werden, sie müssen mit den deutschen Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten. „Es gibt eine Verrohung der Gesellschaft, es gibt eine wachsende Aggressivität, in der Pandemie hat es noch einmal zugenommen“, betont von Hodenberg. „Digitaler und analoger Raum gehen ineinander über. Wir sehen Angriffe auf Feuerwehrleute, auf Rettungsassistenten, auf Polizisten. Wir müssen jetzt die Fragen beantworten: Wie wollen wir als Gesellschaft miteinander umgehen? Was wollen wir zulassen?“

Wegen Hass und Hetze beteiligen sich viele Menschen gar nicht mehr an Debatten im Netz. Foto: Assanimoghaddam

4. Hoffnung

Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue ist kein Mann, den man privat häufig in den sozialen Netzwerken findet. Er nutzt WhatsApp „wegen der Kinder“, sagt er, „ansonsten ist mein Interesse da gering“. Wenn er auf Facebook unterwegs ist, sucht er zumeist eine spezielle Seite auf: das Online-Anfragesystem für Strafverfolgungsbehörden.

Laue füllt das dortige Formular aus, wenn er von Facebook zum Beispiel die Identität eines Facebook-Nutzers erfahren möchte, der mit Hassrede Recht gebrochen hat. Facebook ist ein amerikanisches Unternehmen, die Europa-Zentrale sitzt in Irland. Der Staatsanwalt kann bei Facebook nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss anklopfen, sondern er muss sich den Regeln des Plattform-Betreibers beugen. Ein Internet-Unternehmen wie Twitter kann einfach so den Account des amerikanischen Präsidenten abschalten, von jetzt auf gleich. Die deutsche Justiz muss dagegen ein englischsprachiges Online-Formular ausfüllen, wenn sie eine Auskunft eines solchen Unternehmens haben möchte – und dann auf Antwort hoffen.

778 Ermittlungsverfahren wegen Hasskriminalität hat das Land Niedersachsen 2020 statistisch erfasst, im Vorjahr waren es 697. Ist das viel? Ist das wenig? Es sind jedenfalls nur die Fälle, die bei Polizei und den niedersächsischen Staatsanwaltschaften angekommen sind. Bei der Zentralstelle in Göttingen landen nur die „bedeutsamen“ Fälle, so nennt es das Justizministerium.

Auf Laues Liste finden sich prominente Namen wie Renate Künast, Annalena Baerbock, Sahra Wagenknecht oder Wolfgang Schäuble, aber auch eine Richterin, ein Stadtratsabgeordneter oder eben der Oldenburger Polizeipräsident. Die Liste wird immer länger. Richtig lang wird sie werden, wenn das Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität in Kraft getreten ist, glaubt Laue: Es beinhaltet eine Meldepflicht für die Betreiber der Internet-Plattformen bei Straftaten wie Bedrohungen mit Verbrechen, Billigung von Straftaten, Volksverhetzung. Beleidigungen, üble Nachrede oder Verleumdung gehören aber auch dann nicht zu den meldepflichtigen Straftaten.

Staatsanwalt mit Erziehungsauftrag

Laue möchte nicht vom Internet als „rechtsdurchsetzungsfreiem Raum“ sprechen, so wie sie es bei HateAid tun. Er nennt es einen „Raum, wo man sich jetzt schon nicht mehr so sicher sein kann“, er meint die Hasser und Hetzer. Ja, er wisse, dass gerade Beleidigungsverfahren zu oft eingestellt werden. „Aber wir arbeiten daran mit, die Rechtsprechung ein bisschen zu verändern“, sagt er. Und ja, er verspüre einen gewissen Erziehungsauftrag: „Wenn da morgens um sieben die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss klingelt und fragt: Wo ist denn Ihr Handy? Wo das Tablet? Wo der Computer? Wenn man auf dem Dorf wohnt, die Nachbarn in den Fenstern hängen und sehen, dass da Streifenwagen vor der Tür stehen, wenn man dann auch noch monatelang auf das Handy verzichten muss, weil es ausgewertet wird – das ist schon nicht so toll für den Betroffenen.“

Es ist ein kleines Team, mit dem Laue in der Zentralstelle arbeitet: er als Leiter, zwei Staatsanwältinnen, ein Informatiker als IT-Spezialist. „Das ist sagenhaft, was die Leute an Spuren im Netz hinterlassen“, staunt Laue immer wieder: ein anonymes Profil, ein kleines Foto, irgendein Hintergrunddetail. Der Informatiker sucht und forscht, morgens um sieben dann ein Klingeln an der Tür.

,,Das ist sagenhaft, was die Leute an Spuren im Netz hinterlassen."

Frank-Michael Laue

Die Beschuldigten in Laues Liste – Helmut, Georg, Michael, Andreas – sind auffällig häufig Männer, oft nicht mehr ganz jung. „Ich habe schon den Eindruck, dass wir da was erreichen“, sagt Laue. Er ist ein optimistischer Mensch, er sieht Fortschritte. In fast allen Bundesländern gebe es bereits Zentralstellen und Schwerpunktstaatsanwaltschaften oder sie würden aufgebaut, bei der Polizei gebe es entsprechende Fachabteilungen, neue Gesetze entstünden.

Im November 2020 bekommt der Oldenburger Polizeipräsident Post aus Köln. Die Göttinger Zentralstelle hatte den Fall Peter S. an die dortige Staatsanwaltschaft abgegeben, der Gelsenkirchener S. nannte Kühme einen „wahren Hetzer“. „Der Kommentar des Beschuldigten ist mithin als Beitrag zu einer emotional geführten politischen Debatte zu werten“, heißt es in dem Schreiben. „Die Aufnahme von Ermittlungen habe ich abgelehnt.“ Hochachtungsvoll, Unterschrift Staatsanwalt, Kühme kennt das ja schon.

Wenige Wochen später bekommt Kühme erneut Post. Die Zentralstelle in Göttingen hatte im Fall von Jörg H. einen Strafbefehl beantragt, er beleidigte Kühme auf Twitter mit „Dreckiger Kommunisten Bastard!!!“. Das Amtsgericht befand: Niemand darf den Polizeipräsidenten ungestraft so nennen. Es verurteilte H. zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen. Johann Kühme ruft sofort die Lokalpresse an. Nein, sagt er in seinem repräsentativen Dienstzimmer im ehemaligen Oldenburgischen Staatsministerium, er verspüre kein persönliches Triumphgefühl. „Für mich ist das Urteil ein deutliches Signal, dass Hass und Hetze von der Justiz nicht geduldet werden.“ Neun Verfahren sind noch offen, während er das sagt, Ausgang ungewiss.

Hassobjekt Frau

Erstellt am: Mittwoch, 3. März 2021 von Torben

Hassobjekt Frau

Viele Frauen werden im Internet beschimpft, bedroht und belästigt – weil sie Frauen sind. Die Auswirkungen sind oft verheerend. Influencerin Louisa Dellert will sich aber nicht zum Schweigen bringen lassen.

Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Mehr als 14.000 Mädchen und junge Frauen ließ das Kinderhilfswerk Plan International im vergangenen Jahr für seinen Welt-Mädchenbericht befragen. 58 Prozent der Befragten gaben an, bereits im Internet beschimpft, belästigt oder bedroht worden zu sein. Von den etwa Tausend Befragten aus Deutschland waren es sogar 70 Prozent. Der Bericht der Hilfsorganisation macht die Ausmaße der digitalen Gewalt deutlich, die Mädchen und Frauen im Internet entgegenschlägt.

Sie unterscheidet sich nicht nur in ihrem Umfang von dem, was Männer im Netz erleben. Wie in der analogen Welt haben frauenfeindlicher Hass, Belästigungen und Bedrohungen auch online eine ganz eigene Qualität. Demütigungen und Beleidigungen, die das Aussehen von Mädchen und Frauen betreffen, fallen etwa darunter, Vergewaltigungsdrohungen, sexualisierte Belästigungen, Stalking oder unaufgefordert verschickte Penis-Bilder. Das betrifft nicht nur Frauen, die etwa als Journalistinnen oder Politikerinnen besonders in der Öffentlichkeit stehen. Davon berichteten auch die jungen Befragten des Welt-Mädchenberichts.

„Ich habe viel geweint“

So wenig wie diese digitale Gewalt vom analogen Rest der Gesellschaft losgelöst ist, sind es ihre Auswirkungen. „Ich saß Wochenenden zu Hause und habe ganz viel geweint“, sagt die Influencerin Louisa Dellert über ihre Erfahrungen mit sexistischem Hass im Netz. „Dieser eine gemeine Kommentar hat meinen ganzen Tag begleitet“, erinnert sie sich. „Weil ich traurig war, an mir gezweifelt habe und das Gefühl hatte, dass ein fremder Mensch da jetzt über mein Leben bestimmen kann.“

Mehr als 440.000 Menschen folgen der 32-Jährigen heute auf Instagram. Als sie ihren Account 2013 eröffnete, ging es dort vor allem um Fitness und Ernährung. Dann begann sie, sich zunehmend anderen, politischeren Themen zu widmen. Der Einsatz für einen nachhaltigen Lebensstil ist mittlerweile Dellerts Markenzeichen. Sie setzt sich auf ihrem Instagram-Account aber auch mit Schönheitsidealen, Sexismus und Rassismus auseinander. In Live-Videos interviewt sie Politiker wie Jens Spahn, Annegret Kramp-Karrenbauer, oder Karl Lauterbach. Dellert ist eine junge Frau mit einer lauten Stimme, einer klaren Haltung. Besonders seit sie sich feministischen Themen widme, erklärt sie, erhalte sie immer mehr Hasskommentare. Die Absender: in der Regel Männer.

Verheerende psychologische Auswirkungen

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ließ bereits im Jahr 2017 digitale Gewalt gegen Frauen und ihre Auswirkungen untersuchen. Ein Meinungsforschungsunternehmen befragte Frauen in acht Ländern. Fast ein Viertel davon gab an, bereits Online-Missbrauch oder -Belästigung erlebt zu haben. 41 Prozent der Betroffenen erklärten, sich dabei mindestens einmal auch körperlich bedroht gefühlt zu haben.

Die psychologischen Auswirkungen frauenfeindlicher Online-Gewalt sind der Befragung zufolge oft gravierend: Mehr als die Hälfte der Betroffenen berichtete von einem verringerten Selbstwertgefühl, von Stress, Angstzuständen, Panikattacken und von Schlafproblemen. Das bestätigt auch die Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm, die sich auf die Unterstützung von Opfern sexueller Gewalt als Nebenklageanwältin spezialisiert hat.

Sie erlebe es häufig, erklärt sie, „dass geschlechtsspezifische digitale Gewalt sowohl im sozialen Nahraum, als auch im öffentlichen Raum massive Konsequenzen für die Betroffenen hat“. Ihre Mandantinnen zögen sich zum Beispiel völlig zurück, seien eingeschüchtert und litten immer wieder unter starken Ängsten.

Mehr als 440.000 Menschen folgen der 32-Jährigen heute auf Instagram. Als sie ihren Account 2013 eröffnete, ging es dort vor allem um Fitness und Ernährung. Dann begann sie, sich zunehmend anderen, politischeren Themen zu widmen. Der Einsatz für einen nachhaltigen Lebensstil ist mittlerweile Dellerts Markenzeichen. Sie setzt sich auf ihrem Instagram-Account aber auch mit Schönheitsidealen, Sexismus und Rassismus auseinander. In Live-Videos interviewt sie Politiker wie Jens Spahn, Annegret Kramp-Karrenbauer, oder Karl Lauterbach. Dellert ist eine junge Frau mit einer lauten Stimme, einer klaren Haltung. Besonders seit sie sich feministischen Themen widme, erklärt sie, erhalte sie immer mehr Hasskommentare. Die Absender: in der Regel Männer.

Verheerende psychologische Auswirkungen

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ließ bereits im Jahr 2017 digitale Gewalt gegen Frauen und ihre Auswirkungen untersuchen. Ein Meinungsforschungsunternehmen befragte Frauen in acht Ländern. Fast ein Viertel davon gab an, bereits Online-Missbrauch oder -Belästigung erlebt zu haben. 41 Prozent der Betroffenen erklärten, sich dabei mindestens einmal auch körperlich bedroht gefühlt zu haben.

Die psychologischen Auswirkungen frauenfeindlicher Online-Gewalt sind der Befragung zufolge oft gravierend: Mehr als die Hälfte der Betroffenen berichtete von einem verringerten Selbstwertgefühl, von Stress, Angstzuständen, Panikattacken und von Schlafproblemen. Das bestätigt auch die Berliner Rechtsanwältin Christina Clemm, die sich auf die Unterstützung von Opfern sexueller Gewalt als Nebenklageanwältin spezialisiert hat.

Sie erlebe es häufig, erklärt sie, „dass geschlechtsspezifische digitale Gewalt sowohl im sozialen Nahraum, als auch im öffentlichen Raum massive Konsequenzen für die Betroffenen hat“. Ihre Mandantinnen zögen sich zum Beispiel völlig zurück, seien eingeschüchtert und litten immer wieder unter starken Ängsten.

Foto: Privat

Eine funktionierende Netzgemeinde kann Betroffenen das Gefühl geben, nicht alleine zu sein. Hetzerische, beleidigende oder gar bedrohliche Inhalte zu löschen liegt jedoch im Verantwortungs-bereich der Plattform-Betreiber. Facebook, Instagram, Youtube oder Twitter – die Social-Media-Plattformen haben jeweils eigene Richtlinien, müssen sich darüber hinaus nach geltenden Gesetzen richten. Längst nicht immer kommen die Plattformen ihrer Verantwortung dabei ausreichend nach, auch wenn frauenfeindlicher oder anderer Hass von Nutzerinnen gemeldet wird.

Hass kann strafbar sein

Viele Hasskommentare oder E-Mails verstoßen nicht nur gegen die Richtlinien von Social-Media-Plattformen, sondern überschreiten auch die Schwelle der Strafbarkeit. Meistens gehe es dabei um Beleidigungen, Bedrohungen, Stalking oder Nötigung, erklärt Anwältin Christina Clemm. „Häufig aber werden auch heimlich angefertigte Aufnahmen oder einvernehmlich aufgenommene intime Bilder gegen den Willen der Betroffenen veröffentlicht.“

Sie empfiehlt in solchen Fällen, die Nachrichten zunächst digital zu sichern, also etwa Screenshots von ihnen zu machen. „Dann können Betroffene Strafanzeigen erstatten. Oft funktioniert dies am besten über eine Anzeige im Internet.“ „Selbstverständlich gibt es das große Problem, dass digitale Gewalt häufig anonym erfolgt und auch über Server, die die Herkunft verschlüsseln“, sagt die Anwältin. Sie sei jedoch überrascht, wie oft Täter unter ihrem Klarnamen posten, oder E-Mail-Adressen benutzen, durch die sie identifiziert werden können.

Auch Louisa Dellert bringt immer wieder Hasskommentare zur Anzeige. Die Screenshots der Nachrichten leitet sie jedoch nicht direkt an die Polizei weiter, sondern online an die Organisation HateAid. Die überprüft, ob wahrscheinlich eine Straftat vorliegt, und übernimmt nicht nur die Anzeige, sondern gegebenenfalls auch das weitere juristische Vorgehen. Für die Betroffenen von Hass im Netz ist das kostenlos, die Organisation finanziert ihre Arbeit dadurch, dass erstrittene Schmerzensgelder an sie gespendet werden.