Die Justiz muss regelmäßig Rechtsgüter gegeneinander abwägen. In Deutschland wird – nach den Erfahrungen mit den Diktaturen im Nationalsozialismus und in der DDR – das Grundrecht der Meinungsfreiheit von Staatsanwälten und Richtern oft für schützenswerter befunden als das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das ein Kläger durch eine Beleidigung verletzt sieht. Schlagzeilen machte das Urteil im sogenannten Künast-Fall: Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast war auf Facebook als „Drecksau“, „Schlampe“ und Schlimmeres beschimpft worden, was das Landgericht Berlin in erster Instanz als zulässige Meinungsäußerungen in einer Sachauseinandersetzung wertete.
Die Meinungsfreiheit ist zweifellos eines der höchsten Güter im deutschen Recht. Lange wurde aber übersehen, dass die großzügige Auslegung von Meinungsfreiheit bei Hassern und Hetzern negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit anderer hat.
Auch das belegt die Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft: 54 Prozent der Befragten gaben an, sich wegen Hassrede im Internet seltener zu ihrer politischen Meinung zu bekennen. 47 Prozent sagten, sie würden sich insgesamt seltener an Diskussionen im Netz beteiligen. Und immerhin 15 Prozent der Befragten haben wegen der Hasskommentare ihr Profil bei einem Online-Dienst deaktiviert oder gelöscht. Bei den unter 24-Jährigen gilt das sogar für jeden Vierten.
Wenn Menschen sich wegen Hassrede nicht mehr an Debatten im Netz beteiligen, ist nicht nur ihre persönliche Meinungsfreiheit eingeschränkt. Der Rückzug hat auch Auswirkungen auf die abgebildete Meinung im öffentlichen Raum. Das wiederum führt zu einer Wahrnehmungsverschiebung der gesellschaftlichen Realität, warnen die IDZ- Forscher: „Wenn die Hater*innen in Kommentarspalten dominieren, entsteht der Anschein, sie seien auch gesellschaftlich in der Mehrheit.“ Das IDZ hat seiner Studie „#Hass im Netz“ deshalb einen warnenden Untertitel gegeben: „Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie“.
Johann Kühme, der Polizeipräsident, legte bei der Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg Beschwerde ein gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Beleidigungen nicht zu verfolgen. Der Generalstaatsanwalt gab Kühme recht und wies die Staatsanwaltschaft an, Ermittlungen aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft reichte die Akten weiter an die neue Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet – Niedersachsen (ZHIN), die zum 1. Juli 2020 ihre Arbeit aufgenommen hatte. Leiter der neuen Spezialabteilung ist Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue.
Laue, 48 Jahre alt, Familienvater, ist ein selbstbewusster Jurist, der sich der gesellschaftlichen Bedeutung seiner Arbeit bewusst ist. Er sagt Sätze wie: „Wir wollen nicht Leute mundtot machen – wir ermöglichen offene Diskussionen.“ Oder: „Unsere Arbeit soll dabei helfen, Meinungen frei zu äußern – indem wir die ausschließen, die mit Hass daherkommen.“ Er hat eine Verfahrensliste angelegt, auch die Namen Helmut D., Michael H., Amra M., Georg T., Andreas G. finden sich darauf. Die Liste wird ständig fortgeschrieben, zuletzt fasste sie knapp 80 Fälle. Elf der Fälle betreffen den Oldenburger Polizeipräsidenten Kühme und den Tatvorwurf der Beleidigung nach Paragraf
185 Strafgesetzbuch.
3. Forderungen
Dem Oldenburger Polizeipräsidenten unterstehen 3.000 Polizeibeamte und 500 Verwaltungskräfte – lauter Profis, die für ihren Chef Beweismaterial sichern und Taten juristisch einschätzen können. Bei den meisten Menschen, die Hass oder Belästigung im Internet erfahren, ist das anders. Ein Beispiel: Fast die Hälfte aller Frauen im Alter zwischen 18 und 36 Jahren hat schon einmal unverlangt ein sogenanntes Dick-Pic zugeschickt bekommen, ein Bild eines zumeist erigierten Penis. Das hat eine Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov ergeben.
„Das ist doch Nötigung!“, empört sich Anna-Lena von Hodenberg, eine Frau von 38 Jahren: „Das ist genauso, als würde jemand auf der Straße seine Hose runterlassen!“ Auf der Straße passiert das aber vergleichsweise selten. Weil, davon ist von Hodenberg überzeugt, das öffentliche Herunterlassen der Hose gesellschaftlich geächtet ist und geahndet wird: Exhibitionismus steht unter Strafe. Lässt aber ein Exhibitionist im Internet seine Hosen herunter, passiert zumeist: nichts. Die Gesellschaft weiß nicht, wie sie sich dazu verhalten soll; es gibt kaum Anzeigen, es gibt kaum Bestrafung. Die betroffenen Frauen bleiben allein mit dem „Dick-Pic“, ihrer Demütigung, ihrer Scham, vielleicht auch mit ihrer Angst.
„Ich rufe gleich die Polizei“
Ein anderes Beispiel. Jemand droht im Internet: „Wir wissen, wo Du wohnst!“ Eine Straftat ist das nicht, weil nur die Androhung eines Verbrechens unter Strafe steht. Der Bedrohte bleibt allein mit seiner Angst.
Gerald Hensel ist so etwas passiert. Ende 2016 war er ein erfolgreicher Werber bei der Agentur Scholz & Friends, als ihn zunehmend etwas störte: Automatisierte Werbebanner von großen Unternehmen waren auch auf rechten Internetseiten zu sehen und finanzierten so diese Hass verbreitenden Seiten mit. Er rief die Aktion „Kein Geld für Rechts“ ins Leben. Prompt richtete sich der Hass gegen ihn, Beschimpfungen, Bedrohungen von Rechts – so schlimm, dass Hensel untertauchen musste. Plötzlich fand er sich ohne Job in einem Hotelzimmer wieder, allein.
Er gründete den Verein Fearless Democracy, aus dem 2019 die gemeinnützige Gesellschaft HateAid hervorging, „die einzige Beratungsstelle Deutschlands, die ausschließlich Betroffene von digitaler Gewalt unterstützt“, wie es auf der Homepage heißt. Geschäftsführerin ist Anna-Lena von Hodenberg.
Wer sich gegen Hass engagiert, erfährt: Hass. Von HateAid findet sich im Internet nur eine Postanschrift, nicht die Adresse des Gesellschaftssitzes in Berlin. „Wir können die Leute nicht schützen, wenn wir unsere eigenen Mitarbeiter nicht schützen können“, sagt von Hodenberg. 26 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat HateAid insgesamt; nur wenige von ihnen arbeiten öffentlich sichtbar. Von Hodenberg, eine ehemalige Fernsehjournalistin, ist eine davon.
Sie fordert: „Wir müssen uns dazu als Gesellschaft verhalten.“ Auch bei digitaler Gewalt brauche es Zivilcourage und einen moralischen Kompass, jemanden, der sagt: „Ich rufe gleich die Polizei!“
Es brauche eine Polizei, die dann auch kommt, und eine Justiz, die dann auch bestraft. „Das Internet ist vielleicht kein rechtsfreier Raum“, sagt von Hodenberg. „Aber es ist ein weitgehend rechtsdurchsetzungsfreier Raum.“ HateAid will das ändern, indem es Menschen dabei unterstützt, nach digitaler Gewalt Klage einzureichen. Viele Betroffene wollen das nicht, sie sind zermürbt vom Hass, sie wollen sich nicht noch einmal den Hassbotschaften aussetzen.
„Müssen sie auch nicht“, sagt von Hodenberg. Beweise sichern per Screenshot? „Machen wir“, sagt sie. Die Finanzierung der Klage? „Machen wir“, sagt sie. Rund 500 Klienten betreut HateAid, 250 Fälle sind zur Anzeige gebracht. Die meisten sind noch offen, die Verfahren dauern.
Es gibt aber schon Erfolge, regelmäßig veröffentlicht HateAid Pressemitteilungen: „10.000 Euro Geldentschädigung für Falschzitat“, „11 Monate Freiheitsstrafe für Rechtsextremist“, „Hausdurchsuchung bei mutmaßlichem Täter im Fall Künast“.