Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 7. Mai 2025 von Selina
Cover von Podcast "NSU Watch": Es geht um Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg.

Hören

Eskalation rassistischer Gewalt in Magdeburg

NSU Watch und VBRG e.V.

Angst, Einschränkungen und soziale Isolation. So geht es Menschen mit Migrationsgeschichte nach dem Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet und 86 schwer verletzt wurden und über 1.200 Betroffene. Der Täter: ein 50-jähriger Psychiater, saudi-arabischer Herkunft. In Magdeburg stieg die Zahl der rassistischen Angriffe nach dem Anschlag erheblich. In der 55. Folge der Podcast-Serie von der bundesweiten Initiative „NSU Watch“ und dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), berichten Betroffene und Opferberater von der Zeit nach dem Anschlag. Sie berichten über Menschen, die migrantisch wahrgenommen werden und deshalb Angst haben und überlegen, die Stadt zu verlassen. Bereits am Abend des Anschlages wurde ein 18-jähriger Student von einer Männergruppe bedroht und geschlagen. Ein 13-Jähriger wurde im Fahrstuhl seines Wohnhauses von Erwachsenen rassistisch beleidigt und gewürgt. Der Podcast zeigt eindrücklich: Rassistische Gewalt eskaliert weiter und Kinder werden nun auch häufiger zu Opfern, weil migrantische Menschen in Sippenhaft genommen werden.

verband-brg.de/folge-55-eskalation-rassistischer-gewalt-in-magdeburg/

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Erstellt am: Montag, 31. März 2025 von Gregor

Union und SPD wollen die spanische Variante der Fußfessel im Bund einführen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Datum: 31.03.2025

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Nachdem der Landtag eine Gesetzesreform beschlossen hat, kann die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell in Schleswig-Holstein eingesetzt werden. Die Landesregierung verspricht sich davon einen besseren Schutz. Die Zahl der Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, ist auch im Norden gestiegen.

Kiel/Mainz. Im Kampf gegen häusliche Gewalt setzen die Bundesländer zunehmend auf die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild. Kürzlich hat der schleswig-holsteinische Landtag mit breiter Mehrheit – nur die FDP stimmte nicht zu – eine entsprechende Gesetzesreform verabschiedet. Bislang konnte die sogenannte Aufenthaltsüberwachung in dem Bundesland nur bei terroristischen Gefährdern genutzt werden, künftig ist das auch bei Partnerschaftsgewalt und Stalking möglich. Voraussetzung ist ein richterlicher Beschluss. Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) sagte in Kiel, die Fußfessel werde Lücken beim Schutz schließen und diesen verbessern.

Wie bundesweit ist in Schleswig-Holstein die Zahl der von häuslicher Gewalt Betroffenen gestiegen, im vergangenen Jahr um 8,8 Prozent auf 9.360. Gut 71 Prozent der Opfer waren Frauen. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor.

Beim spanischen Modell kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer bei sich trägt. Dadurch wird sowohl der Standort des Täters als auch der Betroffenen überwacht, und die Sperrzonen sind nicht fest, sondern dynamisch. Der Alarm wird ausgelöst, falls sich der Überwachte und das Opfer einander nähern.

In Spanien wurde keine der geschützten Frauen getötet

Sachsen und Hessen setzen die neue Technik schon ein. Das Saarland hat ein Gesetz dafür verabschiedet, und in weiteren Bundesländern wird derzeit darüber diskutiert, etwa in Niedersachsen, wo ein Gesetzentwurf in Arbeit ist.

Die noch amtierende Bundesregierung hatte zu Jahresbeginn ein neues Gewaltschutzgesetz auf den Weg gebracht, das die elektronische Aufenthaltsüberwachung vorsieht. Der alte Bundestag hat den Entwurf jedoch nicht mehr beschlossen. Laut dem Papier könnten Familiengerichte in Risikofällen für drei Monate eine Fußfessel anordnen und die Maßnahme um drei Monate verlängern.

Der WEISSE RING hatte sich auf Bundes- und Länderebene intensiv für die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell eingesetzt, unter anderem mit Brandbriefen an die Bundesregierung und einer Petition.

Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hatte in einer umfassenden Recherche aufgezeigt, wie der Staat Menschen besser vor häuslicher Gewalt schützen könnte und wie erfolgreich die Aufenthaltsüberwachung in Spanien eingesetzt wird: Dort wurde seitdem keine Frau, die mit Hilfe der Fußfessel geschützt wurde, getötet. Insgesamt ging die Zahl der getöteten Frauen um 25 Prozent zurück.

Jetzt reicht es uns!

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Jetzt reicht es uns!

Beleidigungen und Drohungen sind im Netz für viele Menschen Alltag. Wenn sie Strafanzeige stellen, werden die Verfahren oft ohne Ergebnis eingestellt. Prominente setzen sich zunehmend zur Wehr, indem sie die digitale Gewalt öffentlich machen. Juristisch ist das Veröffentlichen privater Nachrichten jedoch heikel.

Die Moderatorin Lola Weippert steht vor einem roten Hintergrund. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Lola Weippert, Foto: Felix Rachor

„Ich stech‘ dich ab. Deine Art ist so zum Erbrechen.“

Moderatorin Lola Weippert, bekannt aus „Temptation Island“ und „Let‘s Dance“, erhält täglich Hassnachrichten und manchmal sogar Morddrohungen auf Instagram. „Es ist ein ständiges Hass-Rauschen“, sagt sie im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS. Sie sei den Tätern offenbar „zu laut, zu emotional, zu demokratisch, zu unabhängig“.

Lola Weippert, 1996 in Rottweil geboren, ist eine deutsche Moderatorin bei RTL, bekannt durch „Prince Charming“ und „Temptation Island“. Sie begann ihre Karriere bei bigFM und moderierte später für RTL+. Sie setzt sich gegen Bodyshaming und Hass im Netz ein und lebt in Berlin.

Weippert ist eine von vielen prominenten Betroffenen. „Du bist eine Person des öffentlichen Lebens, und wenn du das postest oder sagst, dann musst du damit leben, dass du solche Nachrichten erhältst“, hört sie als Argument immer wieder. Doch seit ein paar Jahren bildet sich eine Art Gegenbewegung. Betroffene schweigen nicht mehr. Sie posten: Auf Instagram veröffentlichen sie die Beleidigungen und Drohungen. Weippert teilt Videos, in denen sie die Nachrichten einblendet. Um zu zeigen, welchem „geistigen Durchfall“ sie täglich ausgesetzt ist, und um zum Nachdenken anzuregen.

„Ich hoffe, du wirst von einer Gruppe Syrer vergewaltigt.“

Josi klärt auf Instagram unter @josischreibt_ über politische und feministische Themen auf – und kassiert jede Menge Hass dafür. „Früher habe ich regelmäßig Morddrohungen per Privatnachricht bekommen“, berichtet die Influencerin. Um ihre Psyche zu schützen, hat Josi ihr Profil jetzt so eingestellt, dass nur noch Followerinnen und Follower ihr privat schreiben können. Gegen den Hass in den Kommentarspalten hilft das nicht: „Da bekomme ich immer noch sehr regelmäßig degradierende, beleidigende oder sexistische Kommentare“, sagt sie. Auch Josi geht mit den Hassnachrichten in die Öffentlichkeit, macht sie sichtbar. „Die Ausmaße kann sich eine Person, die nicht im gleichen Umfang wie ich online aktiv ist, gar nicht vorstellen – es sei denn, sie sieht diese.“ Dadurch hole sie die Macht über sich selbst zurück und darüber, was auf ihrem Profil geschieht.

Die Influencerin Josischreibt steht vor einem grünen Hintergrund. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Josi, Foto: Manuela Clemens

Josi, bekannt unter dem Instagram- Namen @josischreibt_, ist eine deutsche Influencerin mit etwa 200.000 Followern. Sie thematisiert auf ihrem Account insbesondere Feminismus und Agoraphobie. Ihre Inhalte umfassen persönliche Erfahrungen, Aufklärung und Diskussionen zu diesen Themen.

„Scheiß N****. Abgehobene Slut.“

Aktuell ist die Musikerin und Schauspielerin Nura Habib Omer, bekannt aus der Amazon-Serie „Die Discounter“, besonders betroffen. Auf einem eigens dafür erstellten Instagram-Account postet sie seit Januar die rassistische und sexualisierte verbale Gewalt, die sie erfährt. Zur Weihnachtszeit habe sich die Situation zugespitzt, „also habe ich beschlossen, die Nachrichten nicht nur für mich zu dokumentieren, sondern öffentlich zu machen“, sagt Omer. Viele Leute glaubten, Hass im Netz sei selten. Mit ihrem Account wolle sie zeigen, dass es ein strukturelles Problem ist, und gleichzeitig eine gewisse Kontrolle zurückgewinnen.

Nura Habib Omer ist eine deutsche Rapperin, bekannt als Teil des Duos SXTN. Nach der Auflösung von SXTN startete sie eine Solo-Karriere und thematisiert in ihrer Musik Rassismus, Feminismus und gesellschaftliche Themen. Sie ist zudem Schauspielerin, unter anderem in der Amazon-Serie „Die Discounter“.

Im Gegensatz zu anderen Betroffenen postet sie die Nachrichten nicht anonymisiert, sondern mit den Profilen der mutmaßlichen Täter. „Für mich ist es ein wichtiger Schritt, damit nicht ich allein als Opfer dastehe, sondern dass auch klar wird, wer den Hass schürt und diese menschenverachtenden Inhalte verbreitet“, sagt Omer. Die Menschen hinter den Angriffen müssten die Verantwortung für ihr Handeln spüren, denn die Privatnachrichten voller Rassismus und Sexismus sind in der Regel strafbar.

Das Veröffentlichen dieser privaten Kommunikation mit den Namen der Verfasser aber auch: „Die identifizierende Veröffentlichung einer privaten Nachricht stellt in der Regel eine Persönlichkeitsrechtsverletzung dar, denn jeder Verfasser darf selbst entscheiden, ob und in welchem Personenkreis eine Nachricht veröffentlicht werden soll“, erklärt Christian Solmecke, Anwalt für Internet- und Medienrecht. Solmecke ist selbst auch als Influencer im Internet unterwegs. Betroffene könnten sich gegen die Versender wehren, indem sie Strafanzeige stellen und auch zivilrechtlich gegen sie vorgehen. Solmecke rät davon ab, Nachrichten mit Verfassernamen zu veröffentlichen, um nicht selbst belangt zu werden.

Grundsätzlich schütze das Rechtssystem Betroffene ausreichend und biete auch hinreichend Möglichkeiten, sich zu wehren, erklärt der Anwalt. „Wie so oft scheitert es aber immer wieder an der Umsetzung in der Praxis.“ Die Regulierung der Plattformen führe oft nicht zum Ziel, da die Kommunikation, etwa mit Instagram, „mühselig“ sei. Auch der zivilrechtliche Weg könne schwierig werden, denn oft müsse der Versender erstmal identifiziert werden können.

Nura Habib Omer sieht darin ein Problem. „Wenn mich jemand im Internet massiv beleidigt und bedroht und ich diese Angriffe öffentlich dokumentiere, um auf das Problem aufmerksam zu machen, dann wird mir als der Betroffenen quasi der Spieß umgedreht“, sagt sie. Ausreichend geschützt durch das Rechtssystem fühlt sich Omer nicht. Eine Anzeige habe ins Nichts geführt. „Es fühlt sich oft so an, als würde das ganze Thema von den zuständigen Stellen nicht ausreichend ernst genommen.“

17.193

Frauen und Mädchen wurden laut Lagebild des Bundesinnenministeriums 2023 Opfer digitaler Gewalt, zum Beispiel von Cyberstalking oder anderen Delikten in den sozialen Medien.

13.479

weibliche Opfer waren es noch 2022. Mit 25 Prozent ist das demnach ein deutlicher Anstieg der weiblichen Opferzahlen im Vergleich zum Vorjahr.

„Ermüdend“ nennt Josi ihre Erfahrungen mit dem Justizsystem als Opfer von digitaler Gewalt. Sie habe bei der Polizei Hasskommentare angezeigt, doch laut ihrer Aussage stellte die Staatsanwaltschaft die Verfahren ein. Josi betont: Es lohne sich dennoch, Anzeige zu erstatten, allein damit die Fälle sichtbar werden und in den Statistiken auftauchen.

„Ich habe Dinge zur Anzeige gebracht. Ich muss allerdings sagen, dass es mich schockiert, dass es nie Konsequenzen gab“, sagt Lola Weippert. Die mutmaßlichen Täter hätten bei Vernehmungen angegeben, ihr Handy sei gestohlen oder ihr Account gehackt worden. „Damit war das dann leider schnell abgetan, was ich als erbärmlich empfinde“, sagt Weippert. Auf Anfrage bestätigt die Berliner Generalstaatsanwaltschaft: Zwei Verfahren wurden eingestellt, da ein Tatverdächtiger nicht identifiziert werden konnte. Außerdem erklärt die Behörde, dass dies eher die Regel als eine Ausnahme sei. Die Staatsanwaltschaft habe die Aufgabe, die Aussagen des Beschuldigten mit den vorhandenen Beweismitteln zu widerlegen. Oft könnten die Restzweifel nicht beseitigt werden – im vorliegenden Fall also, ob die Behauptung zutrifft, das Handy sei gestohlen worden.

Die Schauspielerin und Musikerin Nura ist in der Hocke und streckt ihre Hände am Boden entlang nach vorne. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Foto: Tatsiana Tribunalova

Weippert und andere Betroffene haben das Gefühl, als Opfer digitaler Gewalt hilflos und allein zu sein. Der bundesweit aktive Verein HateAid möchte das ändern und bietet Betroffenen rechtliche Beratung, psychologische Hilfe und Unterstützung beim Melden von Hassinhalten. In Baden-Württemberg und Bayern gibt es die Meldestelle „Respect“. Eine weitere Meldestelle ist „HessenGegenHetze“. Gemeldete Fälle werden dort geprüft und bei Verdacht auf strafbare Inhalte an die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) weitergeleitet. „Die Veröffentlichung der gegen sie gerichteten Hassbotschaften wirkt für die Betroffenen gegebenenfalls vorübergehend als ein entlastendes Ventil“, sagt auf Anfrage Adina Murrer, Pressesprecherin des Hessischen Innenministeriums. Murrer empfiehlt aber, Kontakt mit spezialisierten Beratungsstellen aufzunehmen.

2023 gab es einige Erfolge: In Hessen wurden 85 Verfahren mit Strafbefehl beantragt, davon 62 rechtskräftig abgeschlossen. 56-mal gab es Geldstrafen (15–180 Tagessätze) und einmal eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten zur Bewährung. Von 37 weiteren Verfahren mit Anklage wurden zehn abgeschlossen, mit sechs Geldstrafen (60–135 Tagessätze) und einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten zur Bewährung.

Nach Angaben von HateAid mussten Täter in der Vergangenheit Geldstrafen und -entschädigungen zwischen 600 und 2.500 Euro zahlen. Der Verein berichtet, dass etwa 93 Prozent seiner Gerichtsprozesse erfolgreich verlaufen seien.

Betroffene fordern stärkere Regularien. Lola Weippert wünscht sich von Plattformen eine Verifizierung per Personalausweis bei der Kontoerstellung. Hass im Netz sei gefährlich und könne im schlimmsten Fall zu Suizid führen, wie das Beispiel der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr zeigt. Sie nahm sich nach massiven Hasswellen das Leben. Weippert selbst leidet an „schlechten“ Tagen unter Todesängsten und Panikattacken aufgrund solcher Nachrichten: „Hoffe, du kriegst Krebs und deine Eltern auch.“

Transparenzhinweis:
Die Moderatorin Lola Weippert ist Botschafterin des WEISSEN RINGs und unterstützte die Kampagne „Schweigen macht schutzlos“. Josi vom Instagram-Account @josischreibt_ hat bereits in der Vergangenheit bei dem Format „Nachgefragt“ des WEISSEN-RING- Instagram-Accounts mitgemacht. Auch die ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGs unterstützen als Lotsen durchs Hilfssystem Betroffene von digitaler Gewalt.

Wenn dein Gesicht in einem Porno zu sehen ist

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Wenn dein Gesicht in einem Porno zu sehen ist

Collien Ulmen-Fernandes ist Opfer von Deepfake-Pornos geworden. In einer mehrteiligen Dokumentation berichtet sie offen von ihren Erfahrungen und fordert mehr Schutz für Betroffene. Die Redaktion des WEISSEN RINGS sprach mit ihr und der Journalistin Marie Bröckling über die Recherche.

Die deutsche Journalistin Marie Bröckling und die bekannte Moderatorin Collien Ulmen-Fernandes stehen nebeneinander. Gemeinsam sprechen sie über Deepfake-Pornos.

Fotos: Christian Friedel, Birgit Tanner

Ein Essen mit einem Produzenten hat das Leben von Collien Ulmen-Fernandes verändert. Der Mann fing plötzlich an herumzudrucksen, erinnert sich die Schauspielerin und Moderatorin. „Er habe mit mir einige Zeit lang auf LinkedIn in Kontakt gestanden, sagte er.“ Etwa ein halbes Jahr lang sei der Austausch auf dem Karriere-Portal unverbindlich gewesen, dann habe sie angefangen, mit ihm zu flirten, Nacktbilder zu schicken, sogar Sexvideos.

Doch es war nicht die Schauspielerin, die hier kommunizierte. Weder die Fotos noch die Videos hatte sie aufgenommen. Es handelte sich um Deepfake-Pornos – Videos, in denen mit künstlicher Intelligenz (KI) das Gesicht einer Person auf den Körper einer anderen gesetzt wird. Betroffene wissen häufig nichts davon.

Collien Ulmen- Fernandes, geboren am 26. März 1981 in Hamburg, ist eine deutsche Moderatorin. Bekannt wurde sie durch ihre Moderation bei Viva. Sie ist auch als Schauspielerin tätig, unter anderem in der ZDF-Serie „Traumschiff“. Sie ist mit dem Schauspieler Christian Ulmen verheiratet.

„Ich bin froh, dass der Produzent mir davon berichtet hat“, sagt Ulmen-Fernandes im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS. „Ich wurde unfreiwillig zu jemandem gemacht, der in dieser Branche Männer anbaggert.“ Sie empfindet dieses Vorgehen als perfide und massiv rufschädigend, spricht von „digitalem sexuellem Missbrauch“.

Collien Ulmen-Fernandes ging mit dem Thema auf die Produktionsfirma Tower Productions zu. Daraufhin entstand eine mehrteilige Dokumentation für das ZDF-Doku-Format „Die Spur“. Das Besondere: Ulmen-Fernandes brachte nicht nur die Idee ein, sondern sprach auch ausführlich über ihre eigenen Erfahrungen mit Deepfake-Pornos.

Marie Bröckling ist eine Daten- journalistin, die sich auf Themen wie Strafjustiz und China spezialisiert hat. Sie berichtete regelmäßig für NBC News und ZDF. Für ihre Arbeit wurde sie 2023 von „Medium Magazin“ als eine der „Top 30 unter 30“- Journalisten ausgezeichnet. Seit 2025 arbeitet sie bei dem Medienunternehmen Correctiv.

„Jetzt, wo ich weiß, in welchem Umfang ich Männer in der Branche angebaggert habe, ist es mir umso wichtiger, darauf aufmerksam zu machen, dass das nicht wirklich ich war“, sagt sie. „Man wird unfreiwillig ausgezogen.“ So beschreibt sie den Missbrauch in der Doku. Die neuen Deepfakes seien von echten Nacktbildern kaum zu unterscheiden.

Einblicke in ein verborgenes System

Wer steckt dahinter? Daten-Journalistin Marie Bröckling ist der Frage in einer sechsmonatigen Recherche nachgegangen. Sie wollte Einblicke in einen verborgenen Bereich gewinnen. Bröckling meldete sich auf Webseiten an, die Deepfake-Inhalte veröffentlichen, schrieb Szenemitglieder an. „Ich habe spätabends gearbeitet, wenn die Nutzer aktiv waren.“ Die ersten Kontakte führten sie zu weiteren Plattformen und schließlich zu den Herstellern.

Bröckling lernte ein System kennen, das von vielen Konsumenten, Produzenten, App- und Webseitenentwicklern getragen wird – und vielen Menschen schadet. „Es gibt Fälle im Schulkontext, in denen Jugendliche Deepfakes von Menschen aus ihrem Umfeld durch Apps erstellen.“ Aber auch Professionelle, die mit Spezialsoftware aufwändige Deepfakes von Prominenten anfertigen. Um für die Nutzer eine möglichst authentische Illusion zu schaffen, arbeiten sie teilweise tagelang, perfektionieren etwa die Augen- und Mundbewegungen. Eine Methode ist es, Bilder von einem Gesicht auseinanderzubauen und neu zusammenzusetzen. Den Produzenten gehe es nicht zwingend um Geld; manchen genüge die Anerkennung der Szene.

Ein Tablet zeigt die Kamera-Aufnahmen von der deutschen Journalistin Marie Bröckling und der bekannten Moderatorin Collien Ulmen-Fernandes. Gemeinsam sprechen sie über Deepfake-Pornos.

Fotos: Christian Friedel, Birgit Tanner

Was Macher und Konsumenten ignorieren: Die Videos zeigen Opfer. „Mir war klar, dass wir respektvoll mit den Informationen umgehen“, sagt Bröckling. Auf einer Porno-Messe spielte sie der Darstellerin Aische Pervers zwar einen Clip vor, in dem ein anderes Gesicht auf den Körper der Frau montiert worden war. Vorher hatte die Journalistin Pervers aber gefragt, ob sie das Material sehen möchte. Bröckling sprach vor den Interviews mehrfach mit allen Betroffenen, um sicherzustellen, dass sie dazu bereit waren.

In einer weiteren Szene trifft sich Collien Ulmen-Fernandes mit ihren Moderationskolleginnen Lola Weippert und Mareile Höppner. Beide sind ebenfalls Opfer von Deepfake-Pornos. Sie sprechen über ihre Erfahrungen und Gefühle – nicht alleine vor der Kamera, sondern gemeinsam, an einem Tisch, in einem lichtdurchfluteten Raum.

Mangel an Gesetzen?

Die Dokumentation endet damit, dass Ulmen-Fernandes zur Polizei geht und die Deepfakes mit ihrem Gesicht anzeigt. Noch habe sich daraus nichts ergeben. „Leider werden Frauen in Deutschland nicht hinreichend vor digitalem sexuellem Missbrauch geschützt“, kritisiert die Schauspielerin. Während der Recherche berichtete ihr eine Anwältin, dass bisher jeder ihrer Fälle wegen Geringfügigkeit eingestellt worden sei. „Ich habe eine Frau interviewt, die bereits zum fünften Mal umziehen musste, weil im Internet, neben Deepfake-Pornografie von ihr, mehrfach ihre Adresse veröffentlicht wurde“, so Ulmen-Fernandes. Männer hätten darunter Vergewaltigungsfantasien ausgetauscht.

Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) sieht auf Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS keine dringende Notwendigkeit für ein neues Gesetz zur Bekämpfung von Deepfakes. Es betont, die Paragrafen im Strafgesetzbuch, insbesondere zu Verleumdung und Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen, böten ausreichende Möglichkeiten zur Strafverfolgung. Deepfakes werden in keinem der Gesetze erwähnt.

„Nach meiner Recherche werden die Gesetze nicht angewendet, in Deutschland wurde bisher kein Fall geahndet.“

Marie Bröckling

„Ein eigenes Gesetz hätte eine Signalwirkung, Opfern, aber auch Tätern gegenüber“, meint Marie Bröckling. In Foren hätten Hersteller von Deepfakes und Konsumenten oft nichts von der Strafbarkeit gewusst. Das Justizministerium sollte Gerichte und Staatsanwaltschaften mehr auf die existierenden Gesetze hinweisen, fordert die Journalistin. „Nach meiner Recherche werden die Gesetze nicht angewendet, in Deutschland wurde bisher kein Fall geahndet.“

Collien Ulmen-Fernandes spricht sich dennoch dafür aus, Anzeige zu erstatten, da so die Fälle in der Statistik erfasst werden und das Ausmaß bekannt wird. „Dieser digitale sexuelle Missbrauch passiert vielen Frauen. Irgendwann kann der Staat nicht mehr wegsehen.“

„Dieser digitale sexuelle Missbrauch passiert vielen Frauen. Irgendwann kann der Staat nicht mehr wegsehen.“

Collien Ulmen-Fernandes

„Die Scham muss die Seite wechseln“, dieser Satz hat die von Missbrauch betroffene Französin Gisèle Pelicot berühmt gemacht. Auch Ulmen-Fernandes kennt ihn. Damit die Forderung Wirklichkeit wird, müsse Tätern auch juristisch gespiegelt werden, dass ihr Handeln falsch ist, mahnt sie: „Wenn Fälle von bildbasiertem sexuellem Missbrauch jedoch wegen ‚Geringfügigkeit‘ eingestellt werden, sagt das ja auch etwas aus.“ Deepfake-Pornos können für die Opfer traumatische Folgen haben, deshalb will sich die Schauspielerin weiter öffentlich für Opferschutz einsetzen.

Brutale Fouls im Netz

Erstellt am: Montag, 7. Oktober 2024 von Torben

Brutale Fouls im Netz

Sie werden bewundert und gefeiert, aber auch mit Hassbotschaften überhäuft und mit dem Tode bedroht: Spitzensportlerinnen und Spitzensportler sind in den sogenannten sozialen Netzwerken in hohem Maße digitaler Gewalt ausgesetzt. Eine Spurensuche in der Welt des Leistungssports.

Ein Foto zeigt Bundestrainer Julian Nagelsmann

Bundestrainer Julian Nagelsmann. Foto: Tom Weller/dpa

I. Der Hass

Bundestrainer Julian Nagelsmann hat in seiner Zeit als Coach des Fußballvereins Bayern München 450 Morddrohungen erhalten, nachdem die Bayern im April 2022 gegen Villareal aus der Champions League ausgeschieden waren. Sogar seine Mutter wurde bedroht, sagte Nagelsmann bei einem Pressegespräch am 15. April 2022.

Fußballerin Svenja Huth freute sich nach der Weltmeisterschaft in Australien im November 2023 über Nachwuchs. Der offizielle Kanal der DFB-Frauen veröffentlichte auf X (ehemals Twitter) ein Bild der Spielerin mit ihrer Ehefrau und einem Kinderwagen. Unter dem Beitrag vom 27. November 2023 sammelten sich Hasskommentare.

Wir haben auf Hass und Hetze lange jeweils im Einzelfall reagiert. Jetzt halten wir auch juristisch und politisch dagegen.

Michael Schirp, Sprecher des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Eishockey-Nationalspieler Moritz Müller wurde bei einem Spiel seines Klubs Kölner Haie gegen Ingolstadt wegen eines Fouls vom Platz gestellt. Auf Instagram schrieb ein Unbekannter am 7. Januar 2024 unter ein Bild Müllers mit seinen drei Kindern, dass er für diese Leistung die Kinder des Sportlers töten würde.

Leichtathlet Owen Ansah ist der erste Deutsche, der die 100 Meter in unter zehn Sekunden lief. Nach seinem Rekordlauf bei den deutschen Meisterschaften in Braunschweig am 29. Juni 2024 hagelte es rassistische Kommentare in den sozialen Medien.

Brutale Fouls im Netz

Digitale Gewalt im Spitzensport

Fußballerin Sharon Beck vom SV Werder Bremen erhielt im August 2024 bei X (ehemals Twitter) eine antisemitische Hass-Nachricht, in der der israelischen Nationalstürmerin und ihrer Familie der Tod gewünscht wird.

Es sind fünf Beispiele aus drei Sportarten, die zeigen: Es sind keine Einzelfälle. Ob Sieg oder Niederlage, freudiges Ereignis oder Rekord. Hassbotschaften sind für Spitzensportlerinnen und Spitzensportler trauriger Alltag. Die Kommentare sind antisemitisch, rassistisch, homophob, bösartig und bedrohlich.

„Cybermobbing ist bereits seit vielen Jahren ein sehr ernst zu nehmendes Problem“, sagt Ulf Baranowsky, Geschäftsführer der Fußballer-Spielergewerkschaft VDV. Michael Schirp, Sprecher des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), resümiert: „Wir haben auf Hass und Hetze lange jeweils im Einzelfall reagiert. Wir sind aber inzwischen an einen Punkt gekommen, wo das, ebenso wie bloße Bekenntnisse oder Solidaritätsbekundungen mit Betroffenen, nicht mehr ausreicht. Wir halten jetzt auch juristisch und politisch dagegen.“

II. Ein Wendepunkt

Die Weltmeisterschaft der deutschen U17-Fußballer im Winter 2023 in Indonesien markiert einen Wendepunkt im Umgang der großen Sportverbände und Vereine mit dem Thema Hass und Hetze. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte zum Einzug der Nachwuchs-Kicker ins Viertelfinale ein Bild der vier deutschen Nationalspieler Paris Brunner, Charles Herrmann, Almugera Kabar und Fayssal Harchaoui auf seinem Facebook-Account gepostet. Unter dem Bild liefen dermaßen viele rassistische Kommentare ein, dass der DFB sich gezwungen sah, die Kommentarfunktion abzuschalten. Kurz zuvor waren bei der U21-EM in Georgien und Rumänien bereits die deutschen Nationalspieler Youssoufa Moukoko und Jessic Ngankam rassistisch beleidigt worden. Sie hatten jeweils einen Elfmeter im Spiel gegen Israel verschossen. „Wenn wir gewinnen, sind wir alle Deutsche. Wenn wir verlieren, kommen diese Affen-Kommentare“, sagte der damals 18-jährige Moukoko. Die Vorfälle wirkten wie ein Weckruf für die Verbände.

Mit Blick auf sportliche Großereignisse wie die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und die Olympischen Spiele in Paris intensivierten Sportverbände wie der DFB, der DOSB oder die Deutsche Fußball Liga (DFL) gemeinsam ihren Kampf gegen Hassrede. Denn solche Großereignisse bieten nicht nur den Aktiven eine große Bühne, sondern auch den Verfassern von Hassbotschaften im Netz. „Wer meint, im Stadion oder beim Sport überhaupt sei es okay, da dürfe man auch mal rassistische, homophobe, antisemitische oder muslimfeindliche Sprüche raushauen, der irrt gewaltig“, teilte DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann mit, als die großen Sportverbände im Mai 2024 eine neue Allianz aus Verbänden und Strafermittlern vorstellten. „Fair Play endet nicht an der Seitenlinie.“

 

Eine Illustration, die ein wütendes Smiley zeigt

Böse Fouls in den sozialen Medien gegen Spitzensportlerinnen und Spitzensportler sollen seitdem verstärkt auf den Schreibtischen der Staatsanwaltschaften landen: Seit Mai 2024 kooperieren die Sportverbände offiziell mit der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main. Die Verbände arbeiten eng mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen und erstatten Strafanzeigen, wenn gewalttätige, rassistische oder diskriminierende Sprache verwendet wird.

Dass die Sorge der großen Verbände begründet war, zeigte sich dann während der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und den Olympischen Spielen in Paris. Nach Angaben des hessischen Justizministeriums hat die ZIT allein bis Juli 2024 mehr als 1.000 Hasskommentare gemeldet bekommen und davon mehr als 800 strafrechtlich relevante Hasskommentare identifiziert, die sich allein auf das DFB-Team bezogen. Eine abschließende Auswertung sei derzeit in Arbeit, teilte die ZIT auf Anfrage des WEISSEN RINGS mit. Bei den Olympischen Spielen in Paris registrierte die Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) mehr als 8.500 gezielte Beschimpfungen gegen Athletinnen und Athleten sowie ihr Umfeld.

III. Online-Hass in der Bundesliga

In der Fußball-Bundesliga entstanden zeitgleich mehrere Allianzen aus Justiz, Polizei und Fußballvereinen. In Bayern gibt es eine Kooperation des bayerischen Fußball-Verbandes mit der Münchner Generalstaatsanwaltschaft. Einem Aufruf des Fußball-Bundesligisten VfL Bochum unter dem Motto „Wer hetzt, verliert“ haben sich sämtliche NRW-Klubs der Bundesliga und 2. Bundesliga angeschlossen, sie kooperieren seit April 2024 mit der Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen (ZAC NRW) bei der Staatsanwaltschaft Köln. Der VfL Bochum hatte die Kooperation bereits im Dezember 2023 ins Leben gerufen.

Ex-Bundesliga-Profi Andreas Luthe, der seine aktive Profilaufbahn in diesem Jahr beim VfL Bochum beendete, saß bei der Auftaktveranstaltung auf dem Podium. Der Fußballer erlebte im Januar 2023 selbst, wie es sich anfühlt, das Ziel von Hass und Hetze zu sein. Der Torwart hatte mit dem 1. FC Kaiserslautern, bei dem er damals noch unter Vertrag stand, ein Spiel in Hannover gewonnen. Er selbst hatte mit guten Paraden in der Schlussphase maßgeblichen Anteil an dem Sieg. Eigentlich ein schöner Tag für Luthe, doch es folgte kübelweise Hass. „Bekomme ganz widerliche Nachrichten von @Hannover96-#Fans. Wusste gar nicht, dass Familien den Tod zu wünschen so in Mode geraten ist. Der Trend ist an mir vorbeigegangen…“, schrieb Luthe damals auf seinem Twitter-Account.

Der Verein mit der größten Social-Media-Reichweite unter den an „Wer hetzt, verliert“ beteiligten Klubs ist Borussia Dortmund. Der BVB hat bei Instagram 21 Millionen Follower, bei Facebook 15 Millionen und bei „X“ (ehemals Twitter) fast 4,5 Millionen.

Ein Foto zeigt Julian Bente. Er arbeitet beim Fußballverein Borussia Dortmund.

Schwer beschäftigt: Julian Bente aus dem Social-Media-Team von Borussia Dortmund. Foto: Hendrick Decker/BVB

Dortmund, im August 2024. Im Raum „Berlin“ im fünften Stock der Geschäftsstelle des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund hängen großformatige Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Jahre 1989. Eines zeigt den jubelnden Kapitän Michael Zorc. Auf einem anderen reckt Andreas Möller im BVB-Trikot den DFB-Pokal in die Höhe, daneben steht lachend Norbert Dickel, der heutige Stadionsprecher des BVB. Mit Anfeindungen auf Social Media mussten sich diese drei ehemaligen Fußballprofis damals nicht beschäftigen. Heute steht das Thema sehr weit oben auf der Agenda des Vereins.

„Ein entschlossenes Vorgehen gegen Hate Speech im Netz ist uns bei Borussia Dortmund enorm wichtig“, sagt Sascha Fligge, Direktor Kommunikation beim BVB, der Redaktion des WEISSEN RINGS. „Dank verschiedener Maßnahmen haben wir die Möglichkeit, die Verfasser von Hasskommentaren strafrechtlich zu verfolgen und unsere Spieler somit noch besser zu schützen. Auch mit Blick auf die Größe unserer Kanäle arbeiten wir weiter daran, unsere Kommentarspalten in den sozialen Medien so sauber wie möglich zu halten.“

Julian Bente aus dem Social-Media-Team und Syndikus-Anwältin Kristina Rothenberger betreuen bei Borussia Dortmund das Projekt „Wer hetzt, verliert“. „Wenn Kommentare oder Nachrichten im Netz nicht mehr bloß freie Meinungsäußerungen sind, können wir jetzt über dieses digitale System Anzeige erstatten“, erklärt Rothenberger. „Wir wollen deutlich machen, dass es bei aller Emotion und Leidenschaft im Sport auch Grenzen gibt – das Internet ist kein rechtsfreier Raum“, ergänzt die Syndikus-Anwältin, beim BVB zuständig für alle rechtlichen Belange auf und neben dem Platz.

„Wer hetzt, verliert“ funktioniert so:

Die Vereine dokumentieren die Fälle, machen Screenshots und sammeln alle verfügbaren Informationen zum Absender der Hassbotschaften. Diese Dokumente werden dann auf dem Computer einfach in einen Ordner geschoben und landen über eine Schnittstelle bei der ZAC. Dort überprüfen die Expertinnen und Experten die angezeigten Posts auf strafrechtliche Relevanz und leiten im Verdachtsfall Ermittlungsverfahren ein. „Insgesamt besteht ein sehr enger Austausch mit den beteiligten Vereinen. Konkrete Sachverhalte werden daher teils im Vorfeld einer Anzeigenerstattung auch telefonisch erörtert“, schildert Staatsanwalt Dr. Christoph Hebbecker, Pressesprecher der ZAC NRW. Doch häufig gestaltet sich die Identifizierung der hinter den Kommentaren stehenden Personen schwierig – nicht zuletzt, weil die Polizei hierbei auf die Kooperation großer Plattform-Betreiber wie Meta oder Google angewiesen ist.

"Ich werde attackiert, weil ich schwarz bin, meine Frau Ellen, weil sie mit einem Schwarzen zusammen ist."

Dennis Schröder, Basketball-Nationalspieler (Quelle: Der Spiegel)

Nach Spielen des BVB werden die Vereinskanäle mit Hunderten Kommentaren geflutet, besonders bei Niederlagen. „Kritik an den Spielern ist völlig in Ordnung, aber sobald es ausfallend wird, reagieren wir“, sagt Julian Bente. „So traurig das ist, es wird gefühlt immer mehr.“ Mehr Kanäle, mehr Follower, mehr Hass. Besonders bedrückend: An Aktionsspieltagen der Deutschen Fußball Liga gegen Rassismus oder Antisemitismus ist der Anteil von Hass und Hetze in den sozialen Netzwerken besonders hoch. Als Borussia Dortmund in der Saison 2022/2023 in Gladbach im Regenbogen-Trikot als Zeichen für mehr Vielfalt und gegen jede Form von Diskriminierung auflief und das Spiel verlor, folgten mehrere Tausend negative bis beleidigende Kommentare auf der Facebook-Seite des BVB. Auf dem Bild, an dem sich die Leute damals abgearbeitet haben, war lediglich das Trikot zu sehen, auf dem die Logos der Sponsoren in Regenbogenfarben leuchteten. „Das war wirklich krass“, erinnert sich Bente, der an diesem Tag stundenlang am Laptop saß und die übelsten Kommentare händisch ausblenden musste.

Heute setzt der BVB zusätzlich zum menschlichen Community-Management des Social-Media-Teams auf die Hilfe einer KI, um die Masse der Kommentare auf den klubeigenen Kanälen zu sichten. Das Filterprogramm „GoBubble“ durchsucht Instagram, Facebook und Twitter nach vorgegebenen Wörtern und Emojis und blendet anstößige Beiträge automatisch aus. Der Clou: Während der Kommentar für alle anderen ausgeblendet ist, wird dieser dem Verfasser weiter angezeigt. „So fühlt er sich nicht dazu animiert, weitere Hasskommentare nachzulegen, wie es sonst nach dem Löschen erfahrungsgemäß passiert“, erklärt Bente.

„Oft findet man Hass und Hetze auf unseren offiziellen und öffentlichen BVB-Kanälen, die wir im Social-Media-Team betreuen – aber uns war es besonders wichtig, die Spieler beim Projekt ‚Wer hetzt, verliert‘ mit ins Boot zu nehmen. Denn wir wissen, dass sie in ihren Privatnachrichten noch sehr viel heftiger angefeindet werden als unter unseren öffentlichen Beiträgen“, sagt Bente. Kristina Rothenberger informierte die Spieler von den Profis bis zur U17 über die neue Kooperation. Das seien sehr gute Gespräche gewesen, in denen die Spieler offen erzählt hätten, welche Erfahrungen sie mit Hass und Hetze machen und wie sie damit umgehen. Und das sei sehr unterschiedlich.

"Wir wollen schon bei unseren Jugendspielern die Weichen stellen. und sie dafür sensibilisieren, dass es keine Schwäche ist, darüber zu sprechen, und dass Beleidigungen und Bedrohungen durch keine Rote Karte, keinen verschossenen Elfmeter oder sonst wie zu rechtfertigen sind."

Kristina Rothenberger

„Eine Fußballmannschaft ist sehr divers“, sagt Rothenberger. Das Team vereint Spieler vom 17- bis zum 35-Jährigen, vom Introvertierten bis zum Extrovertierten. Manche glauben, Hass auszuhalten gehöre dazu im Profisport, andere nehmen sich das sehr zu Herzen, wieder andere bleiben den sozialen Netzwerken gleich ganz fern. „Wir wollen schon bei unseren Jugendspielern die Weichen stellen und sie dafür sensibilisieren, dass es keine Schwäche ist, darüber zu sprechen, und dass Beleidigungen und Bedrohungen durch keine Rote Karte, keinen verschossenen Elfmeter oder sonst wie zu rechtfertigen sind“, sagt Rothenberger.

Manchmal staunen Rothenberger und Bente über die Urheber der Hassnachrichten. „Nicht wenige setzen sich sogar hin und schreiben eine E-Mail – teilweise mit Klarnamen“, sagt Rothenberger. „Wir beobachten, dass gerade nach Niederlagen unserer Mannschaft viel Hass und Hetze kommen“, so Bente. „Und es kommt auch nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus dem Ausland.“

Seit dem Projektstart von „Wer hetzt, verliert“ im Frühjahr 2024 haben die beteiligten Vereine aus der 1. und 2. Liga nach Angaben der ZAC NRW insgesamt 16 Anzeigen erstattet. In zehn Fällen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Von diesen zehn Ermittlungsverfahren wurden fünf eingestellt, da ein Beschuldigter nicht ermittelt werden konnte. In einem Verfahren konnte ein Beschuldigter ausfindig gemacht werden. Das Verfahren wurde an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft Bielefeld abgegeben. In den übrigen Verfahren dauern die Ermittlungen noch an. „Tatvorwurf war zumeist Beleidigung, teils aber auch Bedrohung oder Volksverhetzung“, sagt ZAC-Sprecher Hebbecker.

„Facebook ist besonders toxisch“

Dr. Daniel Nölleke erforscht das Thema Online-Hass im Leistungssport an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er spricht im Interview über Hass bei den Olympischen Spielen in Paris, über Gruppendynamik in Fankurven und erklärt, warum er den Einsatz von künstlicher Intelligenz gegen Hassrede im Internet problematisch findet.

Acht der 16 bei der ZAC NRW eingegangenen Anzeigen hat Borussia Dortmund gestellt. „Wir konzentrieren uns dabei auf Fälle, bei denen es uns realistisch erscheint, dass diese auch strafrechtlich verfolgt werden können“, erläutert die BVB-Anwältin. Manche Dinge seien zwar schwer erträglich zu lesen, hätten aber noch nicht die Hürde zur Strafbarkeit genommen. Während Bedrohungen oft klar einzuordnen seien, sei das bei Beleidigungen schon schwieriger. Zumal die beleidigte Person laut Paragraf 194 im Strafgesetzbuch selbst einen Strafantrag stellen muss. „Es würde sehr viel vereinfachen, wenn wir das allein als Verein machen könnten, um die Spieler zu schützen“, sagt Rothenberger. Eine rechtliche Hürde, die DFB und DOSB bereits an die Politik adressiert haben.

Im Juni 2024 beschäftigten sich die Justizministerinnen und Justizminister der Länder mit dem Phänomen Hate Speech im Zusammenhang mit sportlichen Wettkämpfen. Die Justizministerkonferenz erkannte dabei eine Zunahme von Hass und Hetze nicht nur im Bereich des Sports, sondern nahm „mit Sorge eine gesamtgesellschaftliche Zunahme von rassistischen, antisemitischen oder sonstigen menschenverachtenden Beleidigungen zur Kenntnis“, wie es in einem ihrer Beschlüsse heißt. Die Justizministerkonferenz bat deshalb Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), bis zu ihrer Herbstkonferenz im November 2024 zu prüfen, „ob Beleidigungen, die einen rassistischen, antisemitischen oder sonstigen menschenverachtenden Inhalt haben oder von derartigen Beweggründen getragen sind (sog. Hate Speech) und damit die Grundwerte eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens berühren, unabhängig vom Vorliegen eines Strafantrags verfolgbar sein sollten“. Der Ball liegt jetzt also bei Bundesjustizminister Buschmann.

IV. Die Spitze des Eisbergs

Die Sportpsychologin Marion Sulprizio von der Deutschen Sporthochschule Köln geht davon aus, dass die Dunkelziffer bei von Hass und Hetze betroffenen Sportlerinnen und Sportlern sehr hoch ist. Als Geschäftsführerin von „MentalGestärkt“, einer Initiative zur psychischen Gesundheit im Leistungssport, hat sie am Psychologischen Institut der Sporthochschule direkt mit Betroffenen zu tun. „Wir sehen in der Praxis nur die Spitze des Eisbergs. Der Leistungsdruck im Spitzensport ist ohnehin sehr hoch. Gerade in der Sportwelt wird es leider immer noch viel zu häufig mit Schwäche assoziiert, sich zu outen und zu sagen: Das hat mich sehr verletzt, das setzt mir zu, mir geht’s nicht gut“, sagt Sulprizio. Trainer oder Betreuerinnen sollen von der Verletztheit möglichst nichts erfahren, weil Betroffene fürchten, dann nicht mehr aufgestellt zu werden. Sponsoren sollen es nicht wissen, weil sie abspringen könnten. Kurzum: Es soll nicht öffentlich werden.

Das Foto zeigt Marion Sulprizio. Sie blickt in die Kamera. Hinter ihr an der Wand sieht man das Logo der Deutschen Sporthilfe.

Geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus: Sportpsychologin Marion Sulprizio. Foto: DSHS

Dabei sei die Wucht von Hass und Hetze im Leistungssport nicht zu unterschätzen, sagt Sulprizio: „Früher haben einen die Fans von der Tribüne beschimpft oder mal einen bösen Brief geschrieben. Das waren punktuelle Ereignisse. In Zeiten von Social Media sind Hass und Hetze aber allgegenwärtig.“ Millionen Menschen können bösartige Kommentare zu Leistung, Aussehen oder Gewicht der Sportlerinnen und Sportler lesen. Das könne bei Betroffenen ein massives Gefühl der Ungerechtigkeit und Selbstzweifel auslösen. Bedrohungen seien eine weitere Form digitaler Gewalt. Die Sportpsychologin zählt auf: „Depressionen, Essstörungen oder Angst – die potenziellen Auswirkungen bilden eine breite Palette psychischer Erkrankungen ab.“ „Die Krux ist, dass sie die Social-Media-Kanäle heute für ihre Karriere brauchen. Die können sie nicht einfach ausschalten – da geht es schlicht auch um Reichweiten und Verdienstmöglichkeiten.“ Viele Sportlerinnen und Sportler halten über Social-Media-Accounts Kontakt zu ihren Fans und bauen sich selbst als Marke auf.

V. Auf der Suche nach Auswegen

Wenn der Sport ein Spiegel der Gesellschaft ist, dann wird hier deutlich, dass sich gesellschaftlich etwas massiv verschoben hat. „Es ist sehr offensichtlich, dass da Grenzen verschoben worden sind in Bezug auf Hass und Hetze – auch weil es so vorgelebt wird von populistischen Politikerinnen und Politikern“, sagt Dr. Daniel Nölleke, Juniorprofessor an der Deutschen Sporthochschule Köln. „Weil immer seltener zwischen Fakten und Meinungen getrennt wird. Weil es schnell heißt, das ist ‚Cancel Culture‘ oder ‚Hier wird meine Redefreiheit eingeschränkt‘, sobald etwas gegen Hassrede gesagt wird.“ Dabei spiele die vermeintliche Anonymität im Internet gar nicht die entscheidende Rolle. „Die Leute machen das sehr oft unter ihren Klarnamen“, sagt Nölleke.

„Ich glaube schon, dass man eine Grundhaltung haben muss, dass das in unserer Gesellschaft niemals normal sein darf“, sagte Fußballer Andreas Luthe in einem Interview mit dem SWR. „Ich bin schon der Meinung, dass man Kritik an mir üben darf und ich als Person des öffentlichen Lebens das zu akzeptieren habe“, sagte Luthe zum Auftakt der Allianz „Wer hetzt, verliert“ in Bochum. „Aber sobald es konkrete Drohungen gegen das Leben von mir oder meiner Familie betrifft, dann ist eine Grenze überschritten.“ Er selbst habe die Kommentarfunktion unter seinen Social-Media-Beiträgen abgeschaltet, wenn es wieder mal zu heftig wurde. Peter Schmitt vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) sagt: „Die einen gehen aktiv gegen Diffamierung vor wie Malaika Mihambo. Andere holen sich eine Beratung über den DLV, und wieder andere ignorieren die Posts.“ Die Spielergewerkschaft VDV hat, so erzählt es Geschäftsführer Ulf Baranowsky, aufgrund zahlreicher Hinweise von Spielern unterschiedliche Hilfsangebote entwickelt, von der Rechtsberatung über psychologische Unterstützung bis zu Präventionsschulungen.

Die Moderatorin Lola Weippert steht vor einem roten Hintergrund. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Jetzt reicht es uns!

Der Hass im Netz trifft immer öfter Prominente – und viele von ihnen wollen die digitale Gewalt nicht mehr hinnehmen.

Ein ernüchterndes Fazit zog Ex-Bayern-Trainer Julian Nagelsmann damals im April 2022 bei der Pressekonferenz angesichts der 450 Morddrohungen gegen ihn und seine Mutter: Natürlich könne man das alles anzeigen, aber da werde er nicht mehr fertig. Er lösche diese Kommentare einfach blockweise.

Fußballerin Svenja Huth hat sich mittlerweile für viele völlig überraschend aus der Frauen-Nationalmannschaft zurückgezogen. Die Zeit, so wird sie in einer Mitteilung des DFB zitiert, war „sowohl körperlich als auch mental herausfordernd sowie kräftezehrend, so dass ich für mich zu dem Entschluss gekommen bin, meine Karriere in der Nationalmannschaft zu beenden“. Sie spielt weiter in der Bundesliga für den VfL Wolfsburg.

Eishockey-Profi Moritz Müller hat den Verfasser der bedrohlichen Nachricht angezeigt. „Man ist ja doch einiges gewohnt und hat schon einiges gelesen über sich selber, aber das war für mich auf jeden Fall noch mal eine Grenze, die dort überschritten wurde“, sagte er der Redaktion des WEISSEN RINGS. „Das hat mich schon erschüttert.“

Werder Bremen hat den antisemitischen Hassbeitrag gegen die Spielerin Sharon Beck selbst öffentlich gemacht. „Wir haben das Vorgehen intern und gemeinsam mit der Spielerin diskutiert und den Entschluss gefasst, den Post unzensiert abzubilden, um zu zeigen, was Jüdinnen und Juden in Deutschland aktuell an antisemitischem Hass erleben müssen“, teilte der Verein auf Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS mit. „Die Veröffentlichung des Absenders sollte eine abschreckende Wirkung erzielen.“ Sharon Beck selbst sagte: „Leider ist es nicht das erste Mal, dass ich für meine Herkunft angefeindet worden bin. Ich bin dem Verein, allen Verantwortlichen und Fans unglaublich dankbar für diese herzergreifende Unterstützung. Das bedeutet mir und meiner Familie sehr viel.“

Ein Foto des Leichtathleten Owen Ansah. Er schaut nach einem Lauf nach oben.

Wünscht sich eine Bestrafung der Täter: Owen Ansah. Foto: Sven Hoppe/dpa

Nach den rassistischen Angriffen auf den Leichtathleten Owen Ansah hat sich auch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) der Kooperation von DFB und DOSB mit der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main angeschlossen. Der Schutz der Athletinnen und Athleten vor Diffamierung, Rassismus und persönlichen Beleidigungen sei dem Verband besonders wichtig, sagt DLV-Mediendirektor Peter Schmitt. Und Owen Ansah? Dem ARD-Mittagsmagazin sagte der deutsche Rekordsprinter, ihn beschäftigten die rassistischen Beleidigungen wenig: „Ich lese mir das gar nicht erst durch. Ich konzentriere mich in meinem Leben sowieso nicht auf die negativen Sachen.“ Und doch fügte er hinzu: „Ich würde mir wünschen, dass die Leute, die das schreiben, einfach damit aufhören. Und dass sie ihre gerechte Strafe dafür bekommen.“

Dass es sich lohnt, Hassbotschaften anzuzeigen und Verfasser ausfindig zu machen, vielleicht auch nur zur Abschreckung anderer, zeigen Beispiele der beiden Fußball-Nationalspieler Antonio Rüdiger und Benjamin Henrichs.

Antonio Rüdiger wurde rassistisch beleidigt und wehrte sich mithilfe seines Vereins Real Madrid juristisch gegen den Verfasser der Hassbotschaften. Der Mann hatte unter verschiedenen Pseudonymen in der Online-Ausgabe der spanischen Fußball-Zeitung „Marca“ rassistisch gegen den Spieler gehetzt. Spanische Behörden ermittelten den Verfasser. Ein Gericht verurteilte ihn zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe. Real Madrid bedankte sich in einer Mitteilung über den Fall bei Fans, die die Kommentare entdeckt und den Behörden sowie dem Verein gemeldet hatten.

Der Autor dieses Beitrags ist freier Journalist in Münster und schreibt regelmäßig für die Redaktion des WEISSEN RINGS. Für seine journalistische Arbeit wurde er unter anderem ausgezeichnet mit dem Ernst-Schneider-Preis und dem Journalistenpreis Münsterland. Von 2020 bis 2022 hat Klemp für Borussia Dortmund auf freier Basis Newsletter verfasst.

Benjamin Henrichs von RB Leipzig hat rassistische Angriffe und Nachrichten der Kategorie „Ich werde dich und deine Familie finden …“ erhalten, wie er selbst bei TikTok öffentlich machte. Besonders die Sprachnachrichten hätten ihn hart getroffen, erzählte Henrichs dem YouTuber Bilal Kamarieh, weil er da realisiert habe,

In einem weiteren Fall wählte Henrichs einen anderen, eher ungewöhnlichen Weg: Er recherchierte, so erzählt er es auf YouTube, mit Team-Kollegen die Telefonnummer der Familie des erst 16-jährigen Hass-Kommentators und rief kurzerhand den Vater an. „Weißt du, was dein Junge im Internet macht? Weißt du, was der mir schreibt?“ Henrichs las ihm die Nachricht vor. Der Vater sei geschockt gewesen und habe sich für seinen Jungen geschämt. Der Mann habe seinen Sohn von der Schule abgeholt. Am Telefon entschuldigte sich der Junge kleinlaut bei Henrichs. „Ich habe ihm gesagt: Schämst du dich nicht? Dein Vater schämt sich für dein Verhalten.“ Der Junge, der im Internet so deutliche Worte voller Hass gegen Henrichs gefunden hatte, habe im persönlichen Gespräch am Telefon kein Wort mehr rausgebracht.

WEISSER RING sieht wachsende Aggressionen gegen deutsch Behörden

Erstellt am: Montag, 22. Juli 2024 von Sabine

Die Bebilderung dieses Textes wurde mithilfe von künstlicher Intelligenz (Midjourney) erstellt.

Datum: 22.07.2024

WEISSER RING sieht wachsende Aggressionen gegen deutsch Behörden

Ein Jugendamt-Mitarbeiter findet ein beleidigendes Tiktok-Video über seine Arbeit im Netz – und fühlt sich damit alleingelassen. Anlass für eine bundesweite Umfrage der Opferschutzorganisation.

Mainz – Beleidigungen und Angriffe: Der Ton gegenüber Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Behörden hat sich verschärft. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Opferhilfsorganisation WEISSER RING in zahlreichen deutschen Stadtverwaltungen.

Danach haben die allermeisten Kommunen schon einmal digitale Gewalt erlebt. Viele berichteten auch von körperlichen Angriffen auf Beschäftigte innerhalb der vergangenen zwölf Monate, teilte der Weiße Ring mit. Repräsentativ ist die Umfrage allerdings nicht. Von 82 angefragten Verwaltungen hätten sich 44 zurückgemeldet. Für die Auswertung wurden 38 Antworten berücksichtigt, weil die anderen lückenhaft waren.

Beleidigende oder bedrohliche Nachrichten

In den vergangenen zwölf Monaten gab es in 29 Verwaltungen körperliche Angriffe auf Beschäftigte. 35 Städte registrierten Fälle digitaler Gewalt. Dazu gehörten vor allem beleidigende oder bedrohliche Nachrichten über Mail, Messenger-Dienste und in den sozialen Medien. Dazu kamen negative oder beleidigende Rezensionen sowie die Verbreitung privater Informationen ohne Zustimmung.

„Auf die zunehmende Verrohung eingestellt sind die Kommunen oftmals nicht“, stellt der WEISSE RING fest. Lediglich die Hälfte der Behörden habe angegeben, intern über spezielle Richtlinien oder Verfahren im Umgang mit digitaler Gewalt gegen Mitarbeitende zu verfügen (19 Städte).

Hass aus dem Handy

Erstellt am: Dienstag, 2. Juli 2024 von Torben

Hass aus dem Handy

Ein TikTok-Clip wird für den Jugendamtsmitarbeiter Said zum Albtraum. Das Video voller Beleidigungen gegen ihn steht seit mehr als einem Jahr online – alle Versuche, es verschwinden zu lassen, blieben erfolglos. Warum löscht TikTok es nicht? Kommen deutsche Behörden ihrer Fürsorgepflicht gegenüber ihren Beschäftigten bei digitaler Gewalt nach? Was macht der Hass aus dem Handy mit Menschen wie Said?

Eine Illustration zeigt einen Mann, der erschrocken auf sein Handy schaut.

Illustration: Midjourney

I. Das Video

Für Said begann der Albtraum mit dem Anruf eines Freundes. „Schau dir das Video auf TikTok an, das könnte dich interessieren. Da geht es um dich“, sagte der Freund und schickte ihm einen Link zu TikTok. Der Mann im Video spricht arabisch und beleidigt darin den Mitarbeiter des Jugendamtes sowie dessen Eltern mit derben Worten:

„Ein Schwein,

Sohn eines Schweins,

Sohn einer Hure, arbeitet beim Jugendamt…“

Hass aus dem Handy

Digitale Gewalt gegen Angestellte in Behörden

Said kennt den Mann nicht persönlich, der das Video aufgenommen hat und ihn so massiv beleidigt. Und obwohl Said nicht namentlich genannt wird, ist sofort klar, dass er gemeint ist. Es werden Details erwähnt, die nur auf ihn zutreffen. Es arbeiten nur sehr wenige Männer mit arabischen Wurzeln im Jugendamt seiner Stadt. Said ist Sozialarbeiter und holt in Extremfällen schutzbedürftige Kinder aus gewalttätigen Familien.

So auch in dem Fall, der in diesem Video geschildert wird. Der Mann auf TikTok kennt Einzelheiten aus dem Fall und positioniert sich klar für den Vater, dem die Kinder entzogen wurden, und gegen den Mitarbeiter des Jugendamtes. Gegen Said.

Die Bebilderung dieses Textes wurde mithilfe von künstlicher Intelligenz (Midjourney) erstellt.

Ein belebtes Café nahe dem Hauptbahnhof einer deutschen Großstadt, aus den Boxen schallt aktuelle Popmusik. Said kommt eine halbe Stunde zu spät zum vereinbarten Termin. Er entschuldigt sich, ein Anruf kurz vor Feierabend habe ihn aufgehalten. Im Extremfall hätte er wieder ein schutzbedürftiges Kind aus einer gewalttätigen Familie holen müssen. Doch heute nicht. Kaffee? Tee? Etwas zu essen? Said winkt ab und beginnt sofort zu erzählen, wie es sich anfühlt, auf TikTok massiv beleidigt zu werden. Er ist sichtlich aufgewühlt. „Dieses Video beschäftigt mich sehr. Und wieso gibt es bei meinem Arbeitgeber niemanden, der für solche Fälle zuständig ist?“

Fast 24.000 Aufrufe verzeichnet das Video inzwischen.

Saids Fall zeigt, wie allein sich Opfer massiver Beleidigungen auf Social-Media-Plattformen fühlen. Wie ein hasserfüllter Clip einen gesellschaftlichen Rückzug auf Raten und Ängste auslösen kann. Und wie Arbeitgeber die Gefahren dieses digitalen Giftes für ihre Mitarbeitenden immer noch unterschätzen.

II. Der Betroffene, privat

Said guckte sich das Video mehrmals an und lud es auf sein Smartphone herunter. Für den Mann in den Vierzigern begann eine emotionale Achterbahnfahrt.

Said ist nicht sein richtiger Name. Er möchte anonym bleiben. Früher war er ein öffentlicher Mensch. Mehr als zehn Jahre engagierte er sich in der Flüchtlingshilfe, gab Interviews und nahm an Podiumsdiskussionen teil. Sein Rat war gefragt. Seine private Telefonnummer kursierte in vielen Gruppen und Netzwerken. Seitdem es das Video gibt, ist das anders. Seine Nummer hat Said seitdem nicht mehr rausgegeben. Said sagte sich sogar von Freunden los, weil sie seinen Wunsch nach Anonymität nicht respektierten und seine Handynummer weiter in WhatsApp-Gruppen teilten.

Die Illustration zeigt einen Mann von hinten, der auf sein Handy schaut.

„Anrufe von Menschen, deren Nummer ich nicht kenne, nehme ich heute nicht mehr an.“ Sein Engagement im Freiwilligenbereich hat er fast auf null reduziert, obwohl es ihm fehlt. Medienanfragen lehnt er fast immer ab.

Said entfernte alle Bilder aus seinen Social-Media- Profilen und änderte seine Namen. Früher hielt er über Facebook Kontakt zu Familienmitgliedern, die in der ganzen Welt verstreut leben. „Heute nutze ich Facebook fast gar nicht mehr.“ Und es fällt auf, dass er deutlich schlanker ist als auf den alten Fotos in den Zeitungen und in den Videos von den Podiumsdiskussionen. Er wiege rund 15 Kilo weniger als damals, bestätigt Said. Er denkt nach und sagt: „Ich habe mich seit diesem TikTok-Clip mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, um mich zu schützen.“ Wenn ihn heute jemand fragt, wo er arbeitet, sagt Said nicht mehr „im Jugendamt“, sondern nur noch „in der Verwaltung“.

III. Die Social-Media-Plattform

Wer bei TikTok ein Video entdeckt, das gegen die Richtlinien des Unternehmens oder gegen Gesetze verstößt, kann es der Plattform melden. Im Fall von Said hat auch die Redaktion des WEISSEN RINGS mehrere solcher Meldungen versucht. Ohne Erfolg. Die Plattform teilte jeweils kurz mit: „Wir haben das Video, das du gemeldet hast, überprüft und festgestellt, dass es nicht gegen unsere Community-Richtlinien verstößt.“

„Du unehrlicher Sohn…“

„Der Hund, der niederträchtige und gemeine,

der beim Jugendamt arbeitet.“

„Die Richterin, ‚die Hure‘…“

„Der Hurensohn…“

„Tatsächlich ist das, was wir für strafbar halten, den Plattformbetreibern häufig völlig egal.“

Hanno Wilk, Oberstaatsanwalt

Diese Beleidigungen gegen Said und die zuständige Familienrichterin verstoßen nicht gegen Community-Richtlinien? Auf einer Plattform, die „eine Quelle der Unterhaltung und Bereicherung“ sein will? Deren „Mission“ es nach eigenem Bekunden ist, „Kreativität zu fördern und Freude zu bereiten“?

Für Experten wie Hanno Wilk kommt die Reaktion von TikTok nicht überraschend. „Die Community-Richtlinien haben andere Kriterien als das deutsche Strafrecht“, sagt der Oberstaatsanwalt. Wilk leitet das Team „Hate Speech“ in der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. „Tatsächlich ist das, was wir für strafbar halten, den Plattformbetreibern häufig völlig egal.“ In Saids Fall handelt es sich mutmaßlich um Beleidigungen nach §185 des Strafgesetzbuches. Die mächtige Trompete TikTok bläst diese Beleidigungen in die Welt, potenziell erreichbar für Millionen Menschen. Hunderte haben auf das Herz neben dem Beitrag geklickt, um zu zeigen, dass ihnen das Video gefällt. Dutzende haben das Video geteilt. Es sind Beleidigungen in Dauerschleife.

Eine Illustration mit einem Mann, der von hinten zu sehen ist, und einem, den man von vorne erkennen kann. Zwei Lampen hängen an der Decke.

IV. Der Betroffene, beruflich

Nachdem Said das Video zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er tagelang nicht schlafen. Gedanken ratterten ihm in Endlosschleifen durch den Kopf:

„Gibt es weitere Videos, vielleicht sogar welche, in denen ich namentlich genannt werde?

Wie viele Menschen wissen davon?

Wie kann ich das rausfinden?“

„Ich habe ein dickes Fell, ansonsten wäre ich an dieser Situation zerbrochen“, sagt Said. Der Job härtet ab. „Wir sind im Jugendamt täglich Gefahren ausgesetzt, erleben häufig Grenzsituationen.“ Es gebe Foren im Internet, in denen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter offen und namentlich angefeindet werden. Said wurde im Einsatz schon mit einem Tisch attackiert und auch bestohlen. Aber die Auswirkungen dieses Videos auf TikTok, dieser digitalen Form von Gewalt, wiegen für ihn weitaus schwerer. „Diese massiven Beleidigungen, vor allem gegen meine Eltern, kann ich nicht einfach so ignorieren“, sagt Said. Manchmal schreie er, um seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Sport und Spaziergänge mit seinem Hund helfen ihm dabei. Seinen Eltern hat er nichts von dem Video erzählt. Nur wenige Menschen sind eingeweiht, „falls mal etwas passiert“, sagt er.

„Ich hatte die Sorge, dass aus dem digitalen Hass ein Mob im echten Leben wird.“

Said

Denn Said betreut den Vater, dem er die Kinder entzogen hat, zunächst auch nach der Veröffentlichung des Videos weiter. Er denkt lange Zeit nicht daran, den Fall abzugeben. „Ich wollte das nicht. Dann hätte er doch genau das erreicht, was er mit diesem Machtspielchen erreichen wollte“, beschreibt Said seine Gedanken. Er wollte nicht an sich selbst zweifeln. Rein fachlich habe es überhaupt keinen Grund gegeben, den Fall abzugeben. Lange Zeit habe das funktioniert, auch wenn er nach jedem Termin völlig ausgelaugt gewesen sei, berichtet Said. Und noch etwas habe ihn beschäftigt: „Ich hatte die Sorge, dass aus dem digitalen Hass ein Mob im echten Leben wird.“ Tatsächlich hat der betroffene Vater Said einmal attackiert und musste sich deshalb sogar vor Gericht verantworten. Auch wenn Said in der Verhandlung das TikTok-Video auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft zumindest erwähnte: Er kann nicht beweisen, dass sein Klient dahintersteckt, auch wenn die Details im Video mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dafür sprechen.

Eine Illustration zeigt einen Mann, der mit seinem Hund spazieren geht. Sie gehen auf einem Weg entlang von Bäumen.

Anzeige gegen den Urheber des Videos hat Said nie erstattet. Er reiht sich damit nahtlos ein in eine überwiegende und schweigende Mehrheit, wie aus der jährlich aktualisierten und repräsentativen Studie „Hate Speech“ des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Landesanstalt für Medien in Nordrhein-Westfalen hervorgeht. Demnach melden Menschen Hasskommentare bei den Plattformen zwar immer häufiger – im Jahr 2019 waren es 25 Prozent der Befragten, die schon mal einen Hasskommentar bzw. dessen Verfasser beim entsprechenden Social-Media-Portal gemeldet haben. Im Jahr 2023 waren es schon 30 Prozent. Beleidigungen im Internet werden jedoch so gut wie nie angezeigt. Die Polizei ermittelt aber nur dann, wenn eine Anzeige vorliegt, denn Beleidigungen sind reine Antragsdelikte. Beratungsstellen wie HateAid weisen darauf hin, dass Betroffene hohe Prozesskosten fürchten oder Angst haben, im Zuge eines Gerichtsverfahrens ihre Privatadresse der gegnerischen Partei preisgeben zu müssen. Und manchen Menschen fehlt auch einfach die Kraft, sich juristisch damit auseinanderzusetzen.

V. Der Arbeitgeber

Said hat klare Vorstellungen davon, wer ihm hätte helfen müssen. Als Angestellter im öffentlichen Dienst sieht er seinen Arbeitgeber in der Pflicht. Einen Tag, nachdem er das Video gesehen hat, meldet er den Vorfall seiner Behörde. „Ich habe gesagt: Folgendes ist passiert, könnt ihr was machen?“ In einer langen E-Mail entgegnet ihm die Stadt, so berichtet es Said, die Beleidigungen seien nicht im dienstlichen Rahmen passiert, sondern in einem privaten Kontext. Die Stadt sei nicht zuständig, er müsse den privatrechtlichen Weg einer Unterlassungsklage gehen, auf Schadenersatz klagen oder Ähnliches. Said ist sauer: „Ich hole schutzbedürftige Kinder nicht privat aus Familien, sondern in meiner beruflichen Rolle. Wenn ich ein grundgesetzliches Wächteramt ausübe, dann erwarte ich von meinem Arbeitgeber, dass er mich schützt!“ Hätte er den Menschen privat verklagt, wäre er womöglich auf Kosten sitzen geblieben. Und er hätte womöglich seine Privatadresse angeben müssen – das wollte er auf keinen Fall. Zumindest seine Teamleitung im Amt habe ihn unterstützt, ihm Supervision ermöglicht. Das habe ihm mental geholfen, erzählt Said.

Transparenzhinweis: Der Kontakt zu Said kam über den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zustande. Der DGB macht seit 2020 mit seiner Initiative „Vergiss nie, hier arbeitet ein Mensch!“ bundesweit auf das Thema Gewalt gegen Beschäftigte aufmerksam und arbeitet dabei auch mit dem WEISSEN RING zusammen. Im September 2023 haben WEISSER RING und DGB ein neues Hilfetelefon für betroffene Beschäftigte gestartet (Rufnummer 0800 116 0060).

Man würde die Stadt gern selbst fragen, wieso sie so gehandelt hat und nicht anders und ob das der alltägliche behördliche Umgang mit digitaler Gewalt ist. Aber Saids Wunsch nach Anonymität ist zu respektieren. Also hat die Redaktion des WEISSEN RINGS eine Umfrage unter allen 82 deutschen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern gestartet. Von 38 gaben 92 Prozent an, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von digitaler Gewalt betroffen sind. Die Hälfte der Behörden verfügt nach eigenen Angaben über Richtlinien oder Verfahren wie hausinterne Meldesysteme im Umgang mit digitaler Gewalt. 29 gaben in ihrer Antwort an, dass Beschäftigte in den vergangenen zwölf Monaten körperlich angegriffen wurden.

Das Ergebnis unserer Umfrage wird auch durch eine Studie des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung aus dem Jahr 2022 untermauert, für die mehr als 10.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes befragt wurden: Demnach haben 23 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst bereits Gewalterfahrungen gemacht, 12 Prozent erlebten sogar mehrere Vorfälle innerhalb eines Jahres. „Wir müssen mehr tun, um die Menschen zu schützen, die unser Land jeden Tag am Laufen halten – ob auf dem Amt oder als Retter in der Not“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Vorstellung der Studie. „Das gebietet die Fürsorgepflicht für die Beschäftigten. Und das ist eine Frage des Schutzes unserer Demokratie vor Verrohung, Hass und Gewalt.“

Warum wir gegen Hass und Hetze vorgehen müssen

Hass und Hetze im Internet sind zum Alltag geworden. Wir dürfen menschenverachtende Worte einfach nicht ignorieren, sondern müssen ihnen entgegentreten, sagt Hasnain Kazim.

Fürsorgepflicht? Said kann da nur den Kopf schütteln. Im Gespräch mit vielen Kolleginnen und Kollegen habe sich sein Eindruck verfestigt, dass Mitarbeitende mit digitalen Gewalterfahrungen alleingelassen werden. „Bei persönlichen Angriffen hast du Instrumente wie Hausverbote, aber bei Social-Media-Angriffen sind Arbeitgeber sehr weit davon entfernt, ernsthaft damit umzugehen.“ Vielleicht liegt das auch daran, dass digitale Gewalt immer noch zu wenig als gravierendes Problem wahrgenommen wird.

VI. Der Betroffene, allein

Said fühlt sich von TikTok alleingelassen, weil die Plattform das Video online lässt. Er fühlt sich von früheren Freunden alleingelassen, die seine Not nicht verstanden haben. Und er fühlt sich von seinem Arbeitgeber alleingelassen. „Ich hätte mir jemanden bei der Stadt gewünscht, der mich professionell unterstützt und alle rechtlichen Schritte übernimmt. Eine Stelle, die sagt: Wir kümmern uns drum“, sagt Said. Dann bittet er darum, das Gespräch zu beenden. Er verabschiedet sich höflich und verlässt das Café nach rund eineinhalb Stunden, ohne etwas bestellt zu haben. Später wird er eine WhatsApp-Nachricht schicken mit einem Link zum TikTok-Clip, der vor mehr als einem Jahr erschienen ist und der sein Leben so verändert hat.

Der Clip ist immer noch online. Seit mehr als einem Jahr.

Den Fall des Vaters, um den es in dem Video geht, hat Said mittlerweile doch an einen Kollegen abgegeben.

Hallo 2024, Tschüss X!

Erstellt am: Dienstag, 2. Januar 2024 von Sabine

Foto: Patrick Pleul/dpa

Datum: 02.01.2024

Hallo 2024, Tschüss X!

Warum wir den Twitter-Nachfolger X verlassen haben – und wie unser neues Jahresthema für 2024 lautet.

Der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, hat zum Jahreswechsel die Social-Media-Plattform X (ehemals Twitter) verlassen. „Wir haben festgestellt, dass auf X Rassismus, Antisemitismus, Hassrede und Falschinformationen immer weiter zunehmen“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS „Der Plattform-Betreiber Elon Musk selbst hat die Regeln gegen Desinformation und Hetze auf der Plattform gelockert und lässt damit unkontrollierten Hass wissentlich zu. Unser Jahresthema für 2024 lautet ,Digitale Gewalt‘ – X und der WEISSE RING passen einfach nicht länger zusammen.“.

Immer mehr Profile werden deaktiviert

Der WEISSE RING geht damit einen Schritt, den auch schon andere Organisationen, Unternehmen und Medien gegangen sind. Erst kürzlich verabschiedeten sich ebenfalls der Deutschlandfunk, das Recherche-Zentrum Correctiv und die WDR-„Maus“ von der Plattform. Zahlreiche Unternehmen, darunter auch Werbekunden wie IBM, Disney und Apple, stoppten in den vergangenen Monaten ihre Anzeigen auf der Plattform. Grund dafür war ein Eklat um Antisemitismus und Nazi-Inhalte auf X.

Seit der Übernahme durch Musk im Jahr 2022 hat zudem fast jedes zweite Unternehmen (43 Prozent) die Zahl der Beiträge auf X reduziert oder die Veröffentlichungen sogar ganz eingestellt. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Bitkom Research unter mehr als 600 Unternehmen in Deutschland mit mehr als 20 Beschäftigten von August 2023. Aber nicht nur Unternehmen, sondern auch private Nutzerinnen und Nutzer ziehen sich immer häufiger von X zurück. Laut einer repräsentativen Befragung von Bitkom Research aus dem Herbst 2023 plant jede dritte Privatperson mit X-Account in Deutschland, ihr Profil bei dem Onlinedienst perspektivisch zu löschen.

Das Jahresthema des WEISSEN RINGS

Hass und Hetze beschäftigen die Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGS zunehmend. Um auf die wachsende Gefahr durch Hassrede, Beleidigungen und Drohungen im Internet für den Einzelnen und für die Gesellschaft aufmerksam zu machen, hat sich der WEISSE RING für „Digitale Gewalt“ als Jahresthema für 2024 entschieden. Bereits 2021 hatte sich der WEISSE RING mit dem Jahresthema „Hass und Hetze“ gegen die zunehmende Verrohung der Gesellschaft engagiert.

Die Inhalte des WEISSEN RINGS auf Social Media

Der WEISSE RING wird seine Inhalte weiter auf den Plattformen Instagram, Facebook und LinkedIn veröffentlichen. Texte und Recherchen aus der Redaktion des WEISSEN RINGS sind zudem hier auf www.wr-magazin.de zu finden.

Der Hass und das Recht

Erstellt am: Freitag, 4. Juni 2021 von Torben

Der Hass und das Recht

Der wachsende Hass im Internet verletzt nicht nur Menschen, er gefährdet auch die Demokratie. Juristische Folgen haben diese Angriffe gegen einzelne Personen und gegen den Staat nur selten – bislang.

Foto: Mohssen Assanimoghaddam

Fuck off, Idiot.
Spacko.
Vollpfosten.

Die Beleidigungen poppen an jenem Novemberwochenende im Minutentakt auf. Johann Kühme liest sie auf Facebook, auf Twitter, in seinem E-Mail-Postfach.

Übler Hetzer.
Linker Rassist.
Dreckiger Kommunisten-Bastard.

Sogar eine Morddrohung ist dabei. Unter dem Betreff „Johann Kuehme verrecke“ kündigt „Anonymous nobody“ per E-Mail an, das „Schwein“ erschießen zu wollen.

1. Wut

Hasskommentare sind Alltag im Internet. Vier von zehn Deutschen haben schon einmal solche Kommentare gelesen, wie aus einer Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena hervorgeht. Jeder zwölfte Befragte war selbst bereits Ziel von Hasskommentaren. Meistens richtet sich der Hass gegen Minderheiten: Muslime, Flüchtlinge – generell Menschen mit Migrationshintergrund. Homosexuelle. Arbeitslose. Behinderte. Auch Frauen bekommen der Studie zufolge häufig Hass ab, einfach weil sie Frauen sind.

Johann Kühme gehört keiner dieser Minderheiten an. Er ist 62 Jahre alt, ein Pastorensohn aus dem Osnabrücker Land, Vater von zwei erwachsenen Kindern. Von Beruf ist er Polizist, genauer: Präsident der Polizeidirektion Oldenburg in Niedersachen, ein politischer Beamter mit SPD-Parteibuch. Damit gehört er einer Gruppe an, die laut der IDZ-Studie mittlerweile ebenso viel Hass auf sich zieht wie Menschen mit Migrationshintergrund: Amtsträger und Politiker.

Der Amtsträger Kühme zog Hass auf sich, als er öffentlich den Hass gegen Amtsträger verurteilte. Kühme hatte im Herbst 2019 eine Reihe von Konferenzen organisiert, zu denen er Amts- und Mandatsträger aus dem Bereich seiner Polizeidirektion einlud; er wollte mit ihnen über das Problem der zunehmenden Hassbotschaften sprechen. In seiner Begrüßungsrede warnte Kühme vor einer Verrohung der Gesellschaft und davor, dass aus Worten Taten werden können. Er erinnerte an den Anschlag auf die Synagoge in Halle und an den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. „Es geht um Ihre Sicherheit“, sagte er den Politikern und Amtsträgern.

Es ging Kühme aber auch um die Sicherheit der Demokratie. Kurz vor der ersten Konferenz hatte der Landrat des Kreises Hameln-Pyrmont mit 50 Jahren den vorzeitigen Ruhestand beantragt; der Hass, der ihn getroffen hatte nach dem Missbrauchsskandal auf dem Campingplatz in Lügde, hatte ihn krank und dienstunfähig gemacht. Nur wenige Tage später trat in Hannover der Vorsitzende des Landeselternrats von seinem Ehrenamt zurück; die Verleumdungen und Beschimpfungen waren ihm zu viel geworden. Kühme fragte: Wie soll unsere Gesellschaft funktionieren, wenn niemand mehr ein Amt übernehmen möchte wegen des Hasses?

Ein folgenschwerer Satz

Und dann sagte Kühme den Satz, der für Aufregung sorgen sollte. Den Nährboden für den Hass und seine Folgen düngten auch „Mittäter“ in den Parlamenten, so Kühme: „Ich bin entsetzt und schäme mich, wenn Bundestagsabgeordnete der AfD muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger pauschal als Kopftuchmädchen und Messermänner bezeichnen oder die Nazi-Gräueltaten als Vogelschiss in der deutschen Geschichte verharmlosen.“ Die Lokalpresse zitierte den Satz, wütende AfD-Politiker verbreiteten das Zitat, in den Kommentarspalten des Internets brach der Hass aus.

Das mehr als 100 Jahre alte Oldenburgische Staatsministerium im Dobbenviertel mit seinen vielen Villen ist ein geschichtsträchtiger Ort: Hier, gleich gegenüber dem Oldenburgischen Landtag, saßen Beamte des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, der Nationalsozialisten und schließlich der Bundesrepublik Deutschland. Den letzten Ministerpräsidenten des Landes Oldenburg und ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten des demokratischen Landes Niedersachsen, Theodor Tantzen, traf 1947 oben in seinem Büro der Schlag – er starb im Dienst am Schreibtisch.

Heute ist Tantzens geräumiges Büro das Dienstzimmer des Polizeipräsidenten. Und hier liegen nun auf dem Schreibtisch zwei Papierstapel mit Ausdrucken von Kommentaren aus dem Internet. Der kleinere Stapel enthält Lob und Zustimmung für Kühmes Satz, der andere, telefonbuchdick, den gesammelten Hass gegen ihn. „Norddeutscher Vollblutsidiot“, „Kloputzer“, „Volkspolizist“: Johann Kühme ist kein ängstlicher Mann, auch ein raues Wort kann er aushalten. Aber hatte er auf seinen Konferenzen die Amtsträger nicht aufgefordert, sich dem Hass konsequent entgegenzustellen und die Hasser anzuzeigen? Und hatte er nicht angekündigt, dass die Polizei die Taten ebenso konsequent verfolgen werde? Kühme stellte in gut einem Dutzend Fällen Strafantrag.

Johann Kühme, 62 Jahre alt, ist seit 2013 Präsident der Polizeidirektion Oldenburg – und damit zuständig für mehr als 1,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Foto: Mohssen Assanimoghaddam

2. Regeln

Politiker betonen gern, im digitalen Raum gälten die gleichen Regeln wie im analogen Raum. Tatsächlich finden sich im Strafgesetzbuch etliche Paragrafen, die viel von dem Hass, der täglich in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke zu sehen ist, unter Strafe stellen.

Hier einige Beispiele, allesamt aus Niedersachsen:

Helmut D. schrieb vor dem Tod des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke: „Aufhängen den Drecksack“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 111, Öffentliche Aufforderung zu Straftaten.

Michael H. schrieb, nachdem Lübcke 2019 ermordet worden war: „Einer weniger“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 140, Belohnung und Billigung von Straftaten.

Amra M. schrieb nach dem Tod des CDU-Politikers Norbert Blüm, der sich für Flüchtlinge eingesetzt hatte: „Blüm, der Volksverräter“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 189, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener.

Georg T. schrieb: „Nieder mit dem Judenregime und der Judenpresse“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 130, Volksverhetzung.

Andreas G. nannte einen AfD-Kommunalpolitiker „Nazibastard“. Damit verstieß er mutmaßlich gegen Paragraf 187, Verleumdung.

Digitaler Hass bleibt meistens folgenlos

Die Morddrohung gegen Johann Kühme verstößt gegen Paragraf 241, Bedrohung. Bezeichnungen wie „Idiot“, „Spako“ oder „Vollpfosten“ wertet der Polizeichef als Beleidigung, ein Verstoß gegen Paragraf 185. Alle diese Taten können mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen geahndet werden. Das Problem ist nur, dass die Taten fast immer ohne Folgen bleiben, wenn sie im digitalen Raum begangen werden.

Das hat erstens damit zu tun, dass diese Taten nur selten angezeigt werden. Zweitens ist es bei anonymen Taten im Internet häufig schwierig, den Täter zu ermitteln. So auch im Fall der Morddrohung gegen den Oldenburger Polizeipräsidenten: „Anonymous nobody“ kann nicht identifiziert und somit auch nicht belangt werden. Drittens kommt es, wenn die Taten doch angezeigt werden und der Täter ermittelt wird, selten zu einer Verurteilung. Das wiederum hat damit zu tun, dass der Ermessensspielraum für Staatsanwälte und Richter groß ist bei der Auslegung des Gesetzes. Das gilt nicht so sehr bei Morddrohungen, aber auf jeden Fall bei der Frage, ob eine verbotene Beleidigung vorliegt oder eine erlaubte Meinungsäußerung.

Ein Beispiel, auch dies aus Niedersachsen: In einer Ratssitzung – es ging um die Abschiebung zweier Roma-Familien – wurde der Oberbürgermeister von Göttingen 2016 vom Generalsekretär der Gesellschaft für bedrohte Völker wiederholt vor Zeugen als „Verbrecher“ beschimpft. Der Oberbürgermeister erstattete Anzeige, die örtliche Staatsanwaltschaft beantragte einen Strafbefehl über 30 Tagessätze zu je 60 Euro. Das Amtsgericht lehnte es aber ab, den Strafbefahl zu erlassen, das Landgericht bestätigte die Ablehnung in zweiter Instanz. Begründung: Es handle sich nicht um eine Beleidigung, sondern lediglich um eine „überzogene Kritik der beanstandeten Abschiebungen“, also um eine Meinungsäußerung.

Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue von der Staatsanwaltschaft Göttingen sagt noch heute, fast fünf Jahre nach der Ratssitzung: „Wir haben das nicht verstanden, aber der Rechtsweg war damit zu.“ Somit darf man den Oberbürgermeister von Göttingen, der nach derzeitigem Kenntnisstand nie ein Verbrechen begangen hat, ungestraft öffentlich einen Verbrecher nennen.

Meinungsfreiheit – ein hohes Gut

Im Dienstzimmer des Oldenburger Polizeipräsidenten gingen im Lauf des Jahres 2020 nach und nach rund ein Dutzend Antwortschreiben der Staatsanwaltschaft ein. In jedem Brief stand, dass die angezeigte Aussage von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Alle Schreiben schlossen mit dem Satz: „Ich lehne daher die Aufnahme strafrechtlicher Ermittlungen ab.“ Hochachtungsvoll, Unterschrift Staatsanwalt.

Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue, 48 Jahre alt, leitet seit Juli 2020 die neu eingerichtete Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet mit Sitz in Göttingen, Niedersachsen. Foto: Jan-Michael Rebuschat

Die Justiz muss regelmäßig Rechtsgüter gegeneinander abwägen. In Deutschland wird – nach den Erfahrungen mit den Diktaturen im Nationalsozialismus und in der DDR – das Grundrecht der Meinungsfreiheit von Staatsanwälten und Richtern oft für schützenswerter befunden als das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das ein Kläger durch eine Beleidigung verletzt sieht. Schlagzeilen machte das Urteil im sogenannten Künast-Fall: Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast war auf Facebook als „Drecksau“, „Schlampe“ und Schlimmeres beschimpft worden, was das Landgericht Berlin in erster Instanz als zulässige Meinungsäußerungen in einer Sachauseinandersetzung wertete.

Die Meinungsfreiheit ist zweifellos eines der höchsten Güter im deutschen Recht. Lange wurde aber übersehen, dass die großzügige Auslegung von Meinungsfreiheit bei Hassern und Hetzern negative Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit anderer hat.

Auch das belegt die Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft: 54 Prozent der Befragten gaben an, sich wegen Hassrede im Internet seltener zu ihrer politischen Meinung zu bekennen. 47 Prozent sagten, sie würden sich insgesamt seltener an Diskussionen im Netz beteiligen. Und immerhin 15 Prozent der Befragten haben wegen der Hasskommentare ihr Profil bei einem Online-Dienst deaktiviert oder gelöscht. Bei den unter 24-Jährigen gilt das sogar für jeden Vierten.

Wenn Menschen sich wegen Hassrede nicht mehr an Debatten im Netz beteiligen, ist nicht nur ihre persönliche Meinungsfreiheit eingeschränkt. Der Rückzug hat auch Auswirkungen auf die abgebildete Meinung im öffentlichen Raum. Das wiederum führt zu einer Wahrnehmungsverschiebung der gesellschaftlichen Realität, warnen die IDZ- Forscher: „Wenn die Hater*innen in Kommentarspalten dominieren, entsteht der Anschein, sie seien auch gesellschaftlich in der Mehrheit.“ Das IDZ hat seiner Studie „#Hass im Netz“ deshalb einen warnenden Untertitel gegeben: „Der schleichende Angriff auf unsere Demokratie“.

Johann Kühme, der Polizeipräsident, legte bei der Generalstaatsanwaltschaft Oldenburg Beschwerde ein gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Beleidigungen nicht zu verfolgen. Der Generalstaatsanwalt gab Kühme recht und wies die Staatsanwaltschaft an, Ermittlungen aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft reichte die Akten weiter an die neue Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Internet – Niedersachsen (ZHIN), die zum 1. Juli 2020 ihre Arbeit aufgenommen hatte. Leiter der neuen Spezialabteilung ist Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue.

Laue, 48 Jahre alt, Familienvater, ist ein selbstbewusster Jurist, der sich der gesellschaftlichen Bedeutung seiner Arbeit bewusst ist. Er sagt Sätze wie: „Wir wollen nicht Leute mundtot machen – wir ermöglichen offene Diskussionen.“ Oder: „Unsere Arbeit soll dabei helfen, Meinungen frei zu äußern – indem wir die ausschließen, die mit Hass daherkommen.“ Er hat eine Verfahrensliste angelegt, auch die Namen Helmut D., Michael H., Amra M., Georg T., Andreas G. finden sich darauf. Die Liste wird ständig fortgeschrieben, zuletzt fasste sie knapp 80 Fälle. Elf der Fälle betreffen den Oldenburger Polizeipräsidenten Kühme und den Tatvorwurf der Beleidigung nach Paragraf
185 Strafgesetzbuch.

3. Forderungen

Dem Oldenburger Polizeipräsidenten unterstehen 3.000 Polizeibeamte und 500 Verwaltungskräfte – lauter Profis, die für ihren Chef Beweismaterial sichern und Taten juristisch einschätzen können. Bei den meisten Menschen, die Hass oder Belästigung im Internet erfahren, ist das anders. Ein Beispiel: Fast die Hälfte aller Frauen im Alter zwischen 18 und 36 Jahren hat schon einmal unverlangt ein sogenanntes Dick-Pic zugeschickt bekommen, ein Bild eines zumeist erigierten Penis. Das hat eine Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov ergeben.

„Das ist doch Nötigung!“, empört sich Anna-Lena von Hodenberg, eine Frau von 38 Jahren: „Das ist genauso, als würde jemand auf der Straße seine Hose runterlassen!“ Auf der Straße passiert das aber vergleichsweise selten. Weil, davon ist von Hodenberg überzeugt, das öffentliche Herunterlassen der Hose gesellschaftlich geächtet ist und geahndet wird: Exhibitionismus steht unter Strafe. Lässt aber ein Exhibitionist im Internet seine Hosen herunter, passiert zumeist: nichts. Die Gesellschaft weiß nicht, wie sie sich dazu verhalten soll; es gibt kaum Anzeigen, es gibt kaum Bestrafung. Die betroffenen Frauen bleiben allein mit dem „Dick-Pic“, ihrer Demütigung, ihrer Scham, vielleicht auch mit ihrer Angst.

„Ich rufe gleich die Polizei“

Ein anderes Beispiel. Jemand droht im Internet: „Wir wissen, wo Du wohnst!“ Eine Straftat ist das nicht, weil nur die Androhung eines Verbrechens unter Strafe steht. Der Bedrohte bleibt allein mit seiner Angst.

Gerald Hensel ist so etwas passiert. Ende 2016 war er ein erfolgreicher Werber bei der Agentur Scholz & Friends, als ihn zunehmend etwas störte: Automatisierte Werbebanner von großen Unternehmen waren auch auf rechten Internetseiten zu sehen und finanzierten so diese Hass verbreitenden Seiten mit. Er rief die Aktion „Kein Geld für Rechts“ ins Leben. Prompt richtete sich der Hass gegen ihn, Beschimpfungen, Bedrohungen von Rechts – so schlimm, dass Hensel untertauchen musste. Plötzlich fand er sich ohne Job in einem Hotelzimmer wieder, allein.

Er gründete den Verein Fearless Democracy, aus dem 2019 die gemeinnützige Gesellschaft HateAid hervorging, „die einzige Beratungsstelle Deutschlands, die ausschließlich Betroffene von digitaler Gewalt unterstützt“, wie es auf der Homepage heißt. Geschäftsführerin ist Anna-Lena von Hodenberg.

Wer sich gegen Hass engagiert, erfährt: Hass. Von HateAid findet sich im Internet nur eine Postanschrift, nicht die Adresse des Gesellschaftssitzes in Berlin. „Wir können die Leute nicht schützen, wenn wir unsere eigenen Mitarbeiter nicht schützen können“, sagt von Hodenberg. 26 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat HateAid insgesamt; nur wenige von ihnen arbeiten öffentlich sichtbar. Von Hodenberg, eine ehemalige Fernsehjournalistin, ist eine davon.

Sie fordert: „Wir müssen uns dazu als Gesellschaft verhalten.“ Auch bei digitaler Gewalt brauche es Zivilcourage und einen moralischen Kompass, jemanden, der sagt: „Ich rufe gleich die Polizei!“

Es brauche eine Polizei, die dann auch kommt, und eine Justiz, die dann auch bestraft. „Das Internet ist vielleicht kein rechtsfreier Raum“, sagt von Hodenberg. „Aber es ist ein weitgehend rechtsdurchsetzungsfreier Raum.“ HateAid will das ändern, indem es Menschen dabei unterstützt, nach digitaler Gewalt Klage einzureichen. Viele Betroffene wollen das nicht, sie sind zermürbt vom Hass, sie wollen sich nicht noch einmal den Hassbotschaften aussetzen.

„Müssen sie auch nicht“, sagt von Hodenberg. Beweise sichern per Screenshot? „Machen wir“, sagt sie. Die Finanzierung der Klage? „Machen wir“, sagt sie. Rund 500 Klienten betreut HateAid, 250 Fälle sind zur Anzeige gebracht. Die meisten sind noch offen, die Verfahren dauern.

Es gibt aber schon Erfolge, regelmäßig veröffentlicht HateAid Pressemitteilungen: „10.000 Euro Geldentschädigung für Falschzitat“, „11 Monate Freiheitsstrafe für Rechtsextremist“, „Hausdurchsuchung bei mutmaßlichem Täter im Fall Künast“.

Anna-Lena von Hodenberg, 38 Jahre alt, ist Geschäftsführerin von HateAid und unterstützt Opfer von digitaler Gewalt. Foto: Andrea Heinsohn Photography

„Angriff auf die Säulen unserer Demokratie“

Am meisten Schlagzeilen machte der Fall der Grünen-Politikerin Renate Künast, die mit HateAid gegen das „Drecksau“-Urteil des Landgerichts Berlin angegangen war: Im Beschwerdeverfahren korrigierte das Gericht seine Entscheidung und wertete verschiedene Hasskommentare nun doch als strafbare Beleidigungen. Der Hass gegen Künast endete damit natürlich nicht, aber Anna-Lena von Hodenberg betont: „Wir haben bei keinem Thema so viele positive Zuschriften bekommen wie zu diesem.“

Das ist wichtig, denn wie dem Oldenburger Polizeipräsidenten geht es HateAid nicht allein um den Schutz von Hassopfern, sondern auch um den Schutz der ganzen Gesellschaft. Was die Forscher des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft herausgefunden haben, dass nämlich Hassrede im Netz Menschen zum digitalen Verstummen bringt, ist kein Zufall. Hassrede gibt es von Linken, von Rechten, von Islamisten. „Aber im Moment sind die Rechten am besten organisiert, mit Abstand“, sagt von Hodenberg. Hinter dem, was ein wenig verniedlichend gern „Shitstorm“ genannt wird, steckt häufig eine konzertierte Aktion. Rechte Accounts setzen zeitgleich Tausende Hassnachrichten ab, fluten Profile, legen Internetseiten lahm, schüchtern Menschen ein.

Anna-Lena von Hodenberg nennt das „einen Angriff auf die Säulen unserer Demokratie“. Politiker sollen aus ihren Ämtern gedrängt werden. Journalisten und Wissenschaftler sollen zu bestimmten Themen nicht mehr schreiben und forschen. Ein Werber wie Gerald Hensel soll seine Boykott-Aktion beenden. Andersdenkende sollen zum Schweigen gebracht werden. Bis nur noch ein Sound zu hören ist und den gesellschaftlichen Ton angibt: der von rechts.

Der Forderungskatalog von HateAid, knapp zusammengefasst:

Erstens: Der Staat muss die Rechte der Betroffenen von digitaler Gewalt stärken. Das Strafgesetzbuch trat vor 150 Jahren in Kraft, viele Passagen sind noch nicht in der digitalen Gegenwart angekommen, zum Beispiel die Beleidigungs- und Bedrohungsparagrafen. Gibt es ein öffentliches Interesse, zum Beispiel wegen der Schwere einer Tat im Internet, wegen ihrer großen Reichweite oder weil sie eine Person des öffentlichen Lebens betrifft, muss die Staatsanwaltschaft von Amts wegen Ermittlungen einleiten. „Wenn Politiker aus ihren Ämtern gedrängt werden, ist das keine Privatangelegenheit mehr“, sagt von Hodenberg.

Zweitens: Politik und Ermittlungsbehörden müssen sensibilisiert werden. „Die müssen wissen: Hassrede ist eben nicht wie der Nachbarschaftsstreit am Gartenzaun“, betont von Hodenberg. „Digitale Gewalt ist: Gewalt.“ Es braucht mehr Sonderdezernate und Schwerpunktstaatsanwaltschaften.

Drittens: Betroffene brauchen Unterstützung. Dafür muss ein bundesweites Netz von spezialisierten Be-ratungsstellen aufgebaut werden. Und es braucht geschulte Polizisten, die Betroffene nicht gleich abweisen. „Die Betroffenen sind eh schon gestresst“, sagt von Hodenberg.

Viertens: Deutsches Recht muss in Deutschland durchgesetzt werden. Die Internet-Plattformen müssen haften, wenn Daten nicht gelöscht werden, sie müssen mit den deutschen Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten. „Es gibt eine Verrohung der Gesellschaft, es gibt eine wachsende Aggressivität, in der Pandemie hat es noch einmal zugenommen“, betont von Hodenberg. „Digitaler und analoger Raum gehen ineinander über. Wir sehen Angriffe auf Feuerwehrleute, auf Rettungsassistenten, auf Polizisten. Wir müssen jetzt die Fragen beantworten: Wie wollen wir als Gesellschaft miteinander umgehen? Was wollen wir zulassen?“

Wegen Hass und Hetze beteiligen sich viele Menschen gar nicht mehr an Debatten im Netz. Foto: Assanimoghaddam

4. Hoffnung

Oberstaatsanwalt Frank-Michael Laue ist kein Mann, den man privat häufig in den sozialen Netzwerken findet. Er nutzt WhatsApp „wegen der Kinder“, sagt er, „ansonsten ist mein Interesse da gering“. Wenn er auf Facebook unterwegs ist, sucht er zumeist eine spezielle Seite auf: das Online-Anfragesystem für Strafverfolgungsbehörden.

Laue füllt das dortige Formular aus, wenn er von Facebook zum Beispiel die Identität eines Facebook-Nutzers erfahren möchte, der mit Hassrede Recht gebrochen hat. Facebook ist ein amerikanisches Unternehmen, die Europa-Zentrale sitzt in Irland. Der Staatsanwalt kann bei Facebook nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss anklopfen, sondern er muss sich den Regeln des Plattform-Betreibers beugen. Ein Internet-Unternehmen wie Twitter kann einfach so den Account des amerikanischen Präsidenten abschalten, von jetzt auf gleich. Die deutsche Justiz muss dagegen ein englischsprachiges Online-Formular ausfüllen, wenn sie eine Auskunft eines solchen Unternehmens haben möchte – und dann auf Antwort hoffen.

778 Ermittlungsverfahren wegen Hasskriminalität hat das Land Niedersachsen 2020 statistisch erfasst, im Vorjahr waren es 697. Ist das viel? Ist das wenig? Es sind jedenfalls nur die Fälle, die bei Polizei und den niedersächsischen Staatsanwaltschaften angekommen sind. Bei der Zentralstelle in Göttingen landen nur die „bedeutsamen“ Fälle, so nennt es das Justizministerium.

Auf Laues Liste finden sich prominente Namen wie Renate Künast, Annalena Baerbock, Sahra Wagenknecht oder Wolfgang Schäuble, aber auch eine Richterin, ein Stadtratsabgeordneter oder eben der Oldenburger Polizeipräsident. Die Liste wird immer länger. Richtig lang wird sie werden, wenn das Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität in Kraft getreten ist, glaubt Laue: Es beinhaltet eine Meldepflicht für die Betreiber der Internet-Plattformen bei Straftaten wie Bedrohungen mit Verbrechen, Billigung von Straftaten, Volksverhetzung. Beleidigungen, üble Nachrede oder Verleumdung gehören aber auch dann nicht zu den meldepflichtigen Straftaten.

Staatsanwalt mit Erziehungsauftrag

Laue möchte nicht vom Internet als „rechtsdurchsetzungsfreiem Raum“ sprechen, so wie sie es bei HateAid tun. Er nennt es einen „Raum, wo man sich jetzt schon nicht mehr so sicher sein kann“, er meint die Hasser und Hetzer. Ja, er wisse, dass gerade Beleidigungsverfahren zu oft eingestellt werden. „Aber wir arbeiten daran mit, die Rechtsprechung ein bisschen zu verändern“, sagt er. Und ja, er verspüre einen gewissen Erziehungsauftrag: „Wenn da morgens um sieben die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss klingelt und fragt: Wo ist denn Ihr Handy? Wo das Tablet? Wo der Computer? Wenn man auf dem Dorf wohnt, die Nachbarn in den Fenstern hängen und sehen, dass da Streifenwagen vor der Tür stehen, wenn man dann auch noch monatelang auf das Handy verzichten muss, weil es ausgewertet wird – das ist schon nicht so toll für den Betroffenen.“

Es ist ein kleines Team, mit dem Laue in der Zentralstelle arbeitet: er als Leiter, zwei Staatsanwältinnen, ein Informatiker als IT-Spezialist. „Das ist sagenhaft, was die Leute an Spuren im Netz hinterlassen“, staunt Laue immer wieder: ein anonymes Profil, ein kleines Foto, irgendein Hintergrunddetail. Der Informatiker sucht und forscht, morgens um sieben dann ein Klingeln an der Tür.

,,Das ist sagenhaft, was die Leute an Spuren im Netz hinterlassen."

Frank-Michael Laue

Die Beschuldigten in Laues Liste – Helmut, Georg, Michael, Andreas – sind auffällig häufig Männer, oft nicht mehr ganz jung. „Ich habe schon den Eindruck, dass wir da was erreichen“, sagt Laue. Er ist ein optimistischer Mensch, er sieht Fortschritte. In fast allen Bundesländern gebe es bereits Zentralstellen und Schwerpunktstaatsanwaltschaften oder sie würden aufgebaut, bei der Polizei gebe es entsprechende Fachabteilungen, neue Gesetze entstünden.

Im November 2020 bekommt der Oldenburger Polizeipräsident Post aus Köln. Die Göttinger Zentralstelle hatte den Fall Peter S. an die dortige Staatsanwaltschaft abgegeben, der Gelsenkirchener S. nannte Kühme einen „wahren Hetzer“. „Der Kommentar des Beschuldigten ist mithin als Beitrag zu einer emotional geführten politischen Debatte zu werten“, heißt es in dem Schreiben. „Die Aufnahme von Ermittlungen habe ich abgelehnt.“ Hochachtungsvoll, Unterschrift Staatsanwalt, Kühme kennt das ja schon.

Wenige Wochen später bekommt Kühme erneut Post. Die Zentralstelle in Göttingen hatte im Fall von Jörg H. einen Strafbefehl beantragt, er beleidigte Kühme auf Twitter mit „Dreckiger Kommunisten Bastard!!!“. Das Amtsgericht befand: Niemand darf den Polizeipräsidenten ungestraft so nennen. Es verurteilte H. zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen. Johann Kühme ruft sofort die Lokalpresse an. Nein, sagt er in seinem repräsentativen Dienstzimmer im ehemaligen Oldenburgischen Staatsministerium, er verspüre kein persönliches Triumphgefühl. „Für mich ist das Urteil ein deutliches Signal, dass Hass und Hetze von der Justiz nicht geduldet werden.“ Neun Verfahren sind noch offen, während er das sagt, Ausgang ungewiss.