Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

„Es ist wichtig, Brücken für Betroffene von Menschenhandel zu bauen“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Gregor

„Es ist wichtig, Brücken für Betroffene von Menschenhandel zu bauen“

Im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS spricht Professor Tillmann Bartsch, der mit seinem Team mit dem Wissenschaftspreis Opferschutz ausgezeichnet wurde, über die schwierige Situation von Opfern von Menschenhandel, durch sie begangene Taten – und den Sinn einer Straffreiheit dafür.

Viele von Menschenhandel Betroffene werden zum Betteln gezwungen. Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

Viele von Menschenhandel Betroffene werden zum Betteln gezwungen. Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress

Professor Tillmann Bartsch ist mit dem diesjährigen Wissenschaftspreis Opferschutz des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS ausgezeichnet worden. Im Interview spricht er über die wichtigsten Erkenntnisse aus seiner Forschung.

Professor Bartsch, Sie und Ihr Forscherteam haben sich mit der möglichen Straffreiheit für Taten auseinandergesetzt, die von Opfern des Menschenhandels begangen werden. Weshalb halten Sie das Thema für wichtig, und wie ist Ihre Studie entstanden?

Nachdem wir für das Bundesjustizministerium bereits untersucht hatten, inwiefern die Strafvorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels wirken, wurden wir gefragt, ob wir ein Gutachten zum Non-Punishment-Prinzip erstellen könnten. Dieses Forschungsprojekt hat die Servicestelle gegen Arbeitsausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel bei Arbeit und Leben DGB/VHS Berlin-Brandenburg e.V. in Auftrag gegeben, finanziert wurde es mit Mitteln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Aus wissenschaftlicher Sicht war das Thema vor allem aus zwei Gründen interessant. Zum einen gibt es noch nicht viele Arbeiten dazu, zum anderen ist dieses Prinzip in der Praxis von Bedeutung, für den Kampf gegen Menschenhandel: Die Betroffenen machen sich häufig selbst strafbar, etwa indem sie ohne Aufenthaltstitel einreisen, an „Schwarzarbeit“ beteiligt sind oder stehlen, weil sie dazu gezwungen werden. Sie gehen auch deshalb nicht auf die Strafverfolgungsbehörden zu und machen eine Aussage – obwohl sie selbst Opfer sind, zum Beispiel sexuell ausgebeutet werden. Den ermittelnden Behörden fehlen deswegen wichtige Informationen. Ein wirksam im Recht umgesetztes Non-Punishment könnte das ändern.

Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?

Es gibt im deutschen Recht die Möglichkeit der Straffreiheit für von Menschenhandel Betroffene, sie ist in Paragraf 154c der Strafprozessordnung festgeschrieben. Dort heißt es: „Ist eine Nötigung oder Erpressung durch die Drohung begangen worden, eine Straftat zu offenbaren, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Tat, deren Offenbarung angedroht worden ist, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist. Zeigt das Opfer einer Nötigung oder Erpressung oder eines Menschenhandels diese Straftat an und wird hierdurch bedingt ein vom Opfer begangenes Vergehen bekannt, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung des Vergehens absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist.“ Wir haben analysiert, ob das Gesetz den internationalen Vorgaben genügt und inwiefern es in der Strafverfolgung zum Tragen kommt. Dazu haben wir unter anderem geschaut, wie oft der Paragraf in Fällen, die sich dafür hätten eignen können, angewendet wurde. Außerdem haben wir Interviews mit Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Richtern geführt.

Professor Tillmann Bartsch wurde mit dem Wissenschaftspreis Opferschutz ausgezeichnet.

Welche wesentliche Erkenntnis haben Sie gewonnen?

Der Paragraf spielt kaum eine Rolle; das Non-Punishment-Prinzip wird in Deutschland weder in der Praxis noch unter rechtlichen Gesichtspunkten ausreichend umgesetzt. Es gibt zu viele Einschränkungen und Hürden. Eine davon ist der sogenannte Behördenleitervorbehalt. Wenn ein Staatsanwalt das Gesetz anwenden will, muss er sich dies von seiner Behördenleitung abzeichnen lassen. Ein Befragter sagte dazu im Interview: „Gehe nur zu deinem Behördenleiter, wenn du gerufen wirst.“ Manchmal kann das Problem anders gelöst werden, etwa durch eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld. Doch dies ist nur unter strikten Bedingungen möglich. Außerdem ist der Anwendungsbereich der Norm zu eng gefasst, er bezieht sich bislang bisher beispielsweise nicht auf Opfer von Zwangsprostitution. Schließlich handelt es sich nur um eine „Kann-Regelung“. Paragraf 154c Abs. 2 StPO räumt der Staatsanwaltschaft also ein weites Ermessen ein. Betroffene können sich daher nicht sicher sein, dass von der Einstellungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wird.

Was schlagen Sie konkret vor?

Die Vorschrift zur Straffreiheit müsste deutlich geändert und klarer gestaltet werden. Wir haben einen konkreten Vorschlag zur Diskussion gestellt: „Bei Straftaten von Opfern von Menschenhandel oder Ausbeutung soll die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen, wenn die Tat im Zusammenhang mit dem Menschenhandel oder der Ausbeutung steht und nicht wegen der Schwere der Schuld eine Strafe geboten ist. Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, soll das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren unter den Voraussetzungen des Abs. 1 einstellen.“ So muss die Staatsanwaltschaft in der Regel die Vorschrift anwenden. Erfasst würden künftig auch Opfer von Zwangsprostitution und anderen Formen der Ausbeutung im Rahmen des Menschenhandels. Und der Behördenleitervorbehalt würde auch abgeschafft. Auch das ist Gegenstand unseres Vorschlags.

Inwiefern könnte Non-Punishment helfen?

Man sollte das Prinzip nicht überhöhen und glauben, dass damit alle Probleme im Bereich des Menschenhandels gelöst wären. Aber es kann ein wichtiger Baustein bei der Verfolgung von Menschenhandel sein, der die Bereitschaft von Betroffenen, auszusagen, erhöht.

Fachberatungsstellen und auch das Bundeskriminalamt weisen immer wieder darauf hin, dass das Dunkelfeld beim Menschenhandel groß sei.

Aus kriminologischer Sicht kann man diese These sicherlich aufstellen, aber es fehlen eindeutige Belege dafür. Begründen lässt sich die These eines großen Dunkelfelds mit der Komplexität des Deliktes und der Besonderheit der Betroffenen zusammen: Sie kommen oft aus dem Ausland, haben Angst vor den Tätern und wenig Vertrauen in Behörden, wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Bei Arbeitsausbeutung sehen sie sich teilweise nicht als Opfer. Wenn sie nach ihren Maßstäben ordentlich bezahlt werden und die Familie in der Heimat versorgen können, besteht kaum Interesse, Menschenhandel anzuzeigen, auch wenn die Arbeits- und Unterkunftsbedingungen noch so gruselig sind. Hinzu kommt eine enge Bindung an Täter, eine Abhängigkeit, beispielsweise bei sexueller Ausbeutung durch die Loverboy-Masche. All das erschwert die Strafverfolgung. Deswegen ist es wichtig, Brücken für Betroffene zu bauen.

Was wäre aus Ihrer Sicht noch wichtig, um Menschenhandel besser entgegenwirken zu können? Was muss sich in den zuständigen Behörden ändern?

Weil die Fälle selten zur Anzeige gebracht werden, ist viel proaktiv zu ermitteln. Man muss hinterfragen, ob die dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen reichen. Viele Opfer leiden massiv unter den Folgen von Menschenhandel, sind gerade bei sexueller Ausbeutung schwer geschädigt. Das Thema braucht deutlich mehr Aufmerksamkeit – in der Strafverfolgung und in der Wissenschaft. Es ist insgesamt noch viel zu tun, auch in der Gesetzgebung sowie in der juristischen Ausbildung. Im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Studiums findet Menschenhandel bislang kaum Beachtung, weil es in vielen Bundesländern nicht zum Pflichtfachstoff gehört. Dafür beschäftigt man sich intensiv mit Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Das ist – wenn auch hier zugespitzt – hochproblematisch.

Transparenzhinweis:
Professor Tillmann Bartsch ist seit 2022 Professor für Empirische Kriminologie und Strafrecht an der Georg-August-Universität Göttingen und seit 2020 stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. (KFN). Gemeinsam mit Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Nora Labarta Greven und Marco Kubicki ist Prof. Bartsch für die Arbeit „Straffreiheit für Straftaten von Opfern des Menschenhandels? Zur Umsetzung des Non-Punishment-Prinzips in Recht und Praxis“ mit dem diesjährigen Wissenschaftspreis Opferschutz des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS ausgezeichnet worden.

Kampf gegen Menschenhandel ist eine Daueraufgabe

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Sabine

Kampf gegen Menschenhandel ist eine Daueraufgabe

Beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS wird herausragende Forschung zu Opferschutz ausgezeichnet und über Menschenhandel diskutiert.

Der Weg im Kampf gegen Menschenhandel ist noch weit – darin sind sich während der Podiumsdiskussion alle einig. Foto: Lena Everding

„Es hängt bislang oft vom Zufall ab, ob Betroffene von Menschenhandel erkannt werden oder nicht“, sagt Tillmann Bartsch, Professor für Empirische Kriminologie und Strafrecht, am Donnerstag im festlichen Saal des Schlosses Biebrich in Wiesbaden. Bartsch und sein Forscherteam sind gerade mit dem Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes (BKA) und des WEISSEN RINGS geehrt worden, für ihre Arbeit zum Thema: „Straffreiheit für Straftaten von Opfern des Menschenhandels? Zur Umsetzung des Non-Punishment-Prinzips in Recht und Praxis“. Der Professor bedankt sich für die Auszeichnung der Studie und fügt hinzu: Es wäre eine noch größere Freude, wenn diese dazu beitragen könnte, den Faktor Zufall im Kampf gegen Menschenhandel zu reduzieren.

Der Preis, über den eine unabhängige, interdisziplinäre Jury entscheidet, ist in diesem Jahr zum zweiten Mal verliehen worden. Damit sollen Forschungsarbeiten zum Opferschutz gewürdigt und die Bedürfnisse von Betroffenen sichtbarer gemacht werden. Schirmherr der Preisverleihung ist Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU).

BKA-Vizepräsidentin Helen Albrecht sagte, in der jüngsten Polizeilichen Kriminalstatistik seien 1,3 Millionen Opfer erfasst worden – ein Höchststand. Und das sei nur das „Hellfeld“. Der Wissenschaftspreis solle ihnen symbolisch „ein Gesicht geben“ und die Prävention stärken. Barbara Richstein, Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS, erklärte: „Wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Basis für nachhaltigen Opferschutz.“ Dadurch sei es zum Beispiel möglich, ein genaueres Bild von den Folgen von Straftaten für Betroffene zu bekommen.

Bartsch und sein Team haben herausgearbeitet, dass die Möglichkeit der Straffreiheit bei Taten, die von Opfern von Menschenhandel begangen werden, in Deutschland bislang kaum umgesetzt wird. Das erschwert den Opferschutz und die Verfolgung von Menschenhandel. Die Jury lobte unter anderem, die Studie sei methodisch breit gefächert und enthalte einen eigenen Gesetzesvorschlag.

Den Nachwuchspreis erhielt Dr. Marius Riebel für seine Dissertation „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ – laut Jury eine akribische Darstellung und Einordnung aller Möglichkeiten, Opfer im Rahmen von Verfahren zu informieren und zu schützen. Riebel sagte, er hoffe, dass seine Vorschläge für eine bessere Berücksichtigung von Opferinteressen sowohl in der Justiz als auch in der Wissenschaft intensiv diskutiert werden.

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Dr. Marius Riebel, Gewinner des Wissenschaftspreises, erklärt im Interview, wie die Interessen von Betroffenen besser berücksichtigt werden könnten.

Nach der Preisverleihung widmete sich eine Podiumsdiskussion den Betroffenen von Menschenhandel „im Blick von Polizei, Wissenschaft und Gesellschaft“. Tanja Cornelius, beim BKA Expertin für Menschenhandel, betonte: „Bevor wir den Opfern helfen können, müssen wir sie identifizieren.“ Das sei eine ressortübergreifende Arbeit, bei der auch zivilgesellschaftlichen Einrichtungen eine wichtige Rolle spielten. Helga Gayer, heute als Beraterin tätig und früher ebenfalls beim BKA, bezeichnete die Bekämpfung von Menschenhandel als Daueraufgabe – die vor einer neuen Herausforderung stehe. Nachdem das Thema in Europa eine relativ hohe Priorität gehabt habe, stehe es nun im Spannungsfeld mit der Debatte um „irreguläre Migration“.

Joachim Renzikowski, Professor für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, kritisierte, es fehle der politische Wille, Menschenhandel konsequent zu bekämpfen. Renzikowski plädierte zudem für eine bessere finanzielle Ausstattung der Fachberatungsstellen und ein „humanitäres Aufenthaltsrecht für Opfer von Menschenhandel“.

Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS, forderte unter anderem informierte sowie mündige Verbraucherinnen und Verbraucher. Diese sollten etwa auf Anzeichen von Arbeitsausbeutung achten, ihre Kaufentscheidung überdenken – und bei direkten Hinweisen oder Beobachtungen die zuständigen Behörden oder Beratungsstellen kontaktieren.