Gewaltschutz durch Fußfessel: „Wir brauchen möglichst schnell eine wirksame Lösung“

Erstellt am: Donnerstag, 2. Oktober 2025 von Gregor
Zwei elektronische Fußfesseln liegen auf einem braunen Boden. Fußfessel nach spanischem Modell

Die elektronische Fußfessel soll künftig mehr zum Einsatz kommen. Foto: Christoph Klemp

Datum: 02.10.2025

Gewaltschutz durch Fußfessel: „Wir brauchen möglichst schnell eine wirksame Lösung“

Für das geplante neue Gewaltschutzgesetz gibt es inzwischen einen Referentenentwurf. Fachorganisationen, darunter der WEISSE RING, haben während einer Anhörung des Justizministeriums Lob und Kritik geäußert.

Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) will das Gewaltschutzgesetz ändern und unter anderem bundesweit die Möglichkeit schaffen, Täter zum Tragen elektronischer Fußfesseln nach dem „spanischen Modell“ zu verpflichten.

Dafür setzt sich der WEISSE RING seit etwa zehn Jahren auf Bundes- und Landesebene ein, etwa mit Brandbriefen an die Bundesregierung und einer Petition. Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hat in einer Langzeitrecherche untersucht, wie der Staat Menschen besser vor häuslicher Gewalt schützen könnte und wie erfolgreich die elektronische Fußfessel in Spanien ist.

Seit Sommer liegt ein Referentenentwurf aus Hubigs Ministerium vor, der in Hochrisikofällen die elektronische Aufenthaltsüberwachung im „Zwei-Komponenten-Modell“ vorsieht: Dabei kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer bei sich trägt. Sie löst einen Alarm aus, falls sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern. Die Sperrzonen sind nicht fest, sondern dynamisch.

Höhere Freiheitsstrafen

Darüber hinaus können Familiengerichte laut dem Gesetzentwurf „soziale Trainingskurse“ anordnen. Der Strafrahmen für Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz erhöht sich bei Freiheitsstrafen von zwei auf drei Jahre. Zudem dürfen die Gerichte in Gewaltschutz- und Kindschaftsverfahren Auskünfte aus dem Waffenregister einholen.

Fachorganisationen – zum Beispiel das Deutsche Institut für Menschenrechte, der Deutsche Frauenrat, die Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt und der WEISSE RING – sind an dem Verfahren für das neue Gesetz beteiligt; sie konnten zu dem Entwurf schriftlich Stellung nehmen und sich Anfang dieser Woche während einer Online-Anhörung noch einmal äußern. Viele Rednerinnen und Redner sahen Fortschritte in dem Entwurf und lobten den Ansatz, den Gewaltschutz auf Bundesebene auszuweiten, gaben aber auch kritische Hinweise.

Fallkonferenzen gefordert

Claudia Igney vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) forderte Fallkonferenzen, um Fälle mit hohem Risiko erkennen zu können. Die notwendige Täterarbeit sollte im Gesetz klarer formuliert sein, nicht nur als Option. Igney sprach sich zudem für eine statistische Erfassung und Qualitätskontrolle der Maßnahmen zum Gewaltschutz aus. Und nicht zuletzt, so Igney, müsse der Schutz aller Betroffenen sichergestellt werden, auch von Frauen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung.

Carolin Weyand von UN Women Deutschland bewertete das Gesetzesvorhaben grundsätzlich positiv, einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung müsse aber ein von der Gefährdeten gestellter Antrag vorausgehen. Auch brauche es unbedingt eine „ressortübergreifende Gesamtstrategie“ beim Gewaltschutz sowie flächendeckende Beratungs- und Schutzangebote, die mit dem Gesetz verknüpft werden müssten. Nur dann könne es richtig wirken.

Fußfessel als strafrechtliche Sanktion

Eike Eberle, Geschäftsleiter Öffentliches Eintreten und Justiziar des WEISSEN RINGS, sagte: „Eine bundesweite Regelung für eine Fußfessel bei häuslicher Gewalt ist schon seit dem Jahr 2016 eine offizielle Forderung des WEISSEN RINGS, die seitdem ständig von uns verfolgt wird.“ Der WEISSE RING begrüße die aktuelle Gesetzesinitiative ausdrücklich. Eine ganze Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung des Gesetzes seien sinnvoll. Wichtig sei aber, möglichst schnell zu einer wirksamen Lösung zu kommen. Eberle rief in Erinnerung, dass an fast jedem Tag ein (Ex-)Partner versucht, eine Frau zu töten, und dies an etwa jedem dritten Tag auch gelingt. „Jeder weitere Tag ohne eine Regelung ist nicht zu rechtfertigen.“ Es sei zu überlegen, ob die vorgeschlagenen weiteren Maßnahmen in einem zweiten „Paket“ nachgeschoben werden sollten, wenn sie das Verfahren stark verzögern. Die Verbesserungen müssten jedoch in absehbarer Zeit erfolgen, das Thema dürfe keinesfalls als „einstweilen erledigt“ gelten und von der politischen Agenda verschwinden.

Eberle verwies auf die Stellungnahme des WEISSEN RINGS. Darin heißt es unter anderem, die elektronische Aufenthaltsüberwachung nach spanischem Modell im Gewaltschutzgesetz zu verankern, wäre ein Fortschritt. Für einen wirksamen Schutz von Betroffenen seien allerdings „weitere Maßnahmen, die wir fordern, unverzichtbar – vor allem die Möglichkeit, die elektronische Fußfessel als strafrechtliche Sanktion anzuordnen“. Das familienrechtliche Gewaltschutzverfahren sei nur in seltenen Fällen geeignet, die gravierenden Voraussetzungen der Aufenthaltsüberwachung festzustellen. Die Befristung auf sechs Monate mit einer Möglichkeit, um drei Monate zu verlängern, werde der Gefahrenkonstellation in vielen Fällen nicht gerecht. „Die Praxis zeigt auch, dass die Familiengerichte bei Zuwiderhandlungen zwar eine erneute Gewaltschutzanordnung erlassen, aber so gut wie nie eine Anzeige gemäß § 4 GewSchG bei der Staatsanwaltschaft erstatten“, ergänzte Eberle.

Gesetz könnte Ende 2026 in Kraft treten

Nach eigenen Angaben wertet das Bundesjustizministerium jetzt die Hinweise der Organisationen aus, zum Beispiel zur Risikoanalyse, und prüft, ob und inwieweit sie die Vorschläge in den Referentenentwurf aufnimmt. Der Entwurf der Regierung soll in diesem Herbst oder Winter im Kabinett beraten werden, das parlamentarische Verfahren im Frühjahr oder Sommer des kommenden Jahres beendet sein und das neue Gesetz bis Ende 2026 in Kraft treten. So lautet jedenfalls der Plan.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten Union und SPD bereits angekündigt: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“

Nach der Einführung der Fußfessel in Spanien wurde dort keine Frau, die damit geschützt wurde, getötet. Insgesamt sank die Zahl der getöteten Frauen um 25 Prozent.

Fallzahlen steigen

Häusliche Gewalt nimmt zu. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, wurden im vergangenen Jahr 61.406 Taten erfasst – ein Plus von zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut dem Lagebild der Polizei waren mehr als 66.000 Menschen Opfer von Gewalt in ihrem häuslichen Umfeld. Bei gut 70 Prozent der Fälle waren die Opfer weiblich, bei 30 Prozent männlich. Den Angaben zufolge wurden 32 Menschen durch ihre Partner oder Ex-Partner getötet, 29 davon waren Frauen.

Einige Bundesländer setzen die neue Variante der Aufenthaltsüberwachung schon ein, darunter Sachsen, Schleswig-Holstein und Hessen, das die Fußfessel zuletzt in neun Fällen im Einsatz hatte. Versuchte Übergriffe auf Opfer seien bislang nicht bekannt.

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

Erstellt am: Mittwoch, 1. Oktober 2025 von Gregor
Das Cover der aktuellen Ausgabe.

Datum: 01.10.2025

Angriffe auf Minderheiten und den Staat

In der aktuellen Ausgabe setzt sich das WEISSER RING Magazin mit Rechtsextremismus, aber auch mit anderen Formen der Politisch motivierten Kriminalität auseinander. Die Entwicklung ist alarmierend.

Rechtsmotivierte Straftaten werden zunehmend von Jugendlichen und Heranwachsenden begangen, bundesweit. In Bayern zum Beispiel ist die Zahl der Tatverdächtigen in diesen Altersgruppen von 291 im Jahr 2023 auf 517 im vergangenen Jahr gestiegen, in Brandenburg von 432 auf 737, in Niedersachsen von 308 auf 519. Hauptsächlich handelt es sich um Propagandadelikte, teilweise aber auch um Gewalttaten: In Nordrhein-Westfalen etwa wurden hierbei im vergangenen Jahr 30 Verdächtige zwischen 14 und 20 Jahren ermittelt, in Brandenburg 47, in Sachsen 63. Diese Zahlen gehen aus einer exklusiven Umfrage des WEISSER RING Magazins bei den Landeskriminalämtern und Innenministerien hervor.

Kritische Medienbildung gegen rechte Tendenzen bei jungen Leuten

Reiner Becker, der das Demokratiezentrum im Beratungsnetzwerk Hessen leitet, sagte dem Magazin: „Wir bekommen seit etwa einem Jahr deutlich mehr Beratungsanfragen von Schulen.“ Es gehe „um Propagandadelikte, darum, dass sehr selbstbewusst rechtsextreme Positionen vertreten werden, um rassistische Beleidigung, Bedrohung, manchmal auch um körperliche Gewalt“. Zu den Ursachen erklärte der Politikwissenschaftler: „Wir haben eine Gewöhnung an rechtsextreme Positionen, zum Teil hohe Wahlergebnisse für die AfD. Warum sollten Kinder und Jugendliche davon frei sein?“ Gleichzeitig mangele es an sozialen Angeboten. Zudem spiele die niedrigschwellige, alltagsbezogene Ansprache rechter Akteure im Netz eine Rolle. Becker plädiert deshalb für eine frühe „kritische Medienbildung“ in der Schule sowie eine intensive Jugend- und Beziehungsarbeit.

Die Recherche ist Teil eines Schwerpunkts in der aktuellen Ausgabe des WEISSER RING Magazins zu Politisch motivierter Kriminalität (PMK). Für die Titelgeschichte sprach der auf Rechtsextremismus spezialisierte Autor Michael Kraske mit Betroffenen, Experten sowie Sicherheitsbehörden. Politisch motivierte Kriminalität ist 2024 so stark gestiegen wie nie seit Einführung des neuen Meldesystems im Jahr 2001. Als Ursache verweist das Bundeskriminalamt (BKA) auf die „wachsende Polarisierung und Radikalisierung in der Gesellschaft“. Mit 47,8 Prozent nahmen die rechtsmotivierten Straftaten am stärksten zu. Sie machen rund die Hälfte aller polizeilich registrierten politisch motivierten Taten aus. Darunter sind mehrheitlich Propagandadelikte, doch auch die rechtsmotivierten Gewaltstraftaten stiegen deutlich um 17,2 Prozent auf 1.488.

Ausweitung der Gefahrenzonen

Zu den Folgen rechtsextremer Gewalt sagte Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: „Die Ausweitung der Gefahrenzonen verändert langfristig den Alltag der betroffenen Menschen. Eine häufige Folge ist sozialer Rückzug.“ Das Gewaltpotenzial sei stark gestiegen, sowohl von organsierten Rechtsextremisten als auch von rassistischen Gelegenheits- und Überzeugungstätern. „Es gibt sehr wohl Bundesländer, die Lehren aus dem NSU-Komplex gezogen und ihre Praxis verändert haben“, so Kleffner. Überall, wo es etwa Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, komme es zu effektiver Strafverfolgung. Kleffner nennt Bayern als positives Beispiel. Andererseits habe sich etwa in Sachsen kaum etwas zum Positiven verändert.

In anderen Bereichen der PMK, etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die PMK ebenfalls gestiegen, wenn auch nicht so stark. Im Interview warnt Heike Pooth, Referatsleiterin im Polizeilichen Staatschutz des Bundeskriminalamtes: „Entspannung ist nicht in Sicht.“ Konflikte und Ereignisse im Ausland wirkten sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren seien der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Nahostkonflikt.

Religiöse Repräsentanten am häufigsten von Attacken betroffen

In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts hätten sie stark zugenommen. Das BKA ergreife deshalb verschiedene Maßnahmen, tausche beispielsweise intensiv Informationen mit nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden aus und bewerte permanent die Gefährdungslage, vor allem für die besonders bedrohten jüdischen und israelischen Einrichtungen.

Aus der Antwort des BKA auf eine Anfrage des WEISSER RING Magazins zu den häufigsten Angriffszielen der Politisch motivierten Kriminalität geht hervor, dass die Opfer 2024 in 7.504 Fällen religiöse Repräsentanten waren, in 4.332 Fällen Polizeiangehörige, in 4.027 Fällen Amtsträger, in 3.541 Fällen Mandatsträger (ein Delikt kann mehrere Ziele haben). Asylsuchende wurden ebenfalls besonders häufig attackiert, insgesamt 2.369-mal.

„Entspannung ist nicht in Sicht“

Erstellt am: Freitag, 26. September 2025 von Selina

„Entspannung ist nicht in Sicht“

Rechtsextreme Straftaten sind am stärksten gestiegen, doch auch in anderen Bereichen der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK), etwa der „ausländischen Ideologie“, ist die Zahl der Delikte größer geworden. Im Interview mit dem WEISSER RING Magazin spricht BKA-Referatsleiterin Heike Pooth über Ursachen, Folgen und Gegenmittel.

Politisch Motivierte Gewalt

Polizeibeamte der Spurensicherung stehen an einem Gleisabschnitt in Düsseldorf, dort wurde neben der Bahnstrecke Feuer in einem Kabeltunnel gelegt, 6 Kabel in Mitleidenschaft gezogen, diese müssen auf einer Länge von 60 Metern ausgetauscht werden. Die Tat soll laut FAZ einen linksextremistischen Hintergrund haben. Foto: picture alliance/dpa | Christoph Reichwein

Politisch motivierte Straftaten haben im Jahr 2024 deutlich zugenommen – auch im Phänomenbereich „ausländische Ideologie“: um 42 Prozent auf 7.343 Fälle. Wie bewerten Sie die Entwicklung und worin sehen Sie die Ursachen?

Dieser Trend setzt sich seit Jahren fort. Bereits 2023 hatten wir einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr registriert, um 33 Prozent auf 5.170 Fälle. Konflikte und Ereignisse im Ausland wirken sich unmittelbar auf das Straftatenaufkommen
in Deutschland aus, insbesondere in einer Vielzahl von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die wesentlichen Gründe für die gestiegenen Fallzahlen in den vergangenen Jahren sind der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der fortwährend intensivierte Nahostkonflikt. In Zusammenhang mit Russland und der Ukraine waren die Delikte in jüngster Zeit eher rückläufig, im Kontext des Nahost-Konflikts haben sie stark zugenommen.

Mit Sorge betrachten wir, dass sich die Gewaltdelikte im Phänomenbereich Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) „ausländische Ideologie“ von 2023 auf 2024 nahezu verdoppelt haben, von 491 auf 975. Darunter waren 467 Körperverletzungen, 361 Widerstandsdelikte und 109 Landfriedensbrüche. Auch hier geht es in erster Linie um die Auseinandersetzung im Nahen Osten. Schwerpunkt der Straftaten ist Berlin, wo zahlreiche pro-palästinensische Demonstrationen stattfinden, die teilweise gewalttätig verlaufen. Besonders betroffen sind jüdische und israelische Einrichtungen, überwiegend von Sachbeschädigung, aber auch Beleidigungen und Bedrohungen von jüdischen Personen sind zu konstatieren.

Weshalb spielen Demonstrationen eine so zentrale Rolle?

Bei ihnen zeigt sich ein hoher Grad an Emotionalisierung, wobei zum Teil antisemitische Inhalte einfließen. Das kann dazu führen, dass Veranstaltungen eskalieren. Wichtig ist die konsequente Verfolgung der Straftaten im Rahmen von Demonstrationen und Veranstaltungen.

Wie versucht das BKA, der Gefahr zu begegnen, und wie fällt Ihre Prognose aus?

Entspannung ist nicht in Sicht, gerade in Bezug auf den Nahostkonflikt, weil sich dort keine Lösung abzeichnet. Wir müssen mit einer weiteren Polarisierung und weiteren Straftaten rechnen, was zu Unsicherheit in der Bevölkerung führen kann. Die Konflikte im Themenbereich PKK/Kurden/Türkei und die damit verbundenen Delikte werden uns ebenfalls weiterhin beschäftigen. Das BKA ergreift deshalb verschiedene Maßnahmen: So führen wir einen intensiven Informationsaustausch mit den nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden durch, bewerten permanent die Gefährdungslage, insbesondere auch für jüdische und israelische Einrichtungen und betreiben ein umfangreiches Internetmonitoring. Ein Ziel ist, Entwicklungen in anderen Ländern, die sich auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken könnten, frühzeitig zu erkennen. Hierzu kooperieren wir mit den Nachrichtendiensten.

Ein häufiger Kritikpunkt ist der mangelnde Informationsaustausch zwischen Behörden, der auch mit den Ländergrenzen zusammenhängt.

Das kann ein Problem sein. National haben wir einen etablierten Informationsaustausch im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum, in dem rund 40 Bundes- und Länderbehörden vertreten sind. Auch im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes für Politisch Motivierte Kriminalität melden die Bundesländer entsprechende Straftaten an das BKA. Auch der internationale Informationsaustausch ist eine wichtige Säule bei der Bekämpfung Politisch Motivierter Kriminalität, wobei dieser mit einigen Ländern schwierig ist. Instrumente wie die Vorratsdatenspeicherung würden die Bekämpfung der Politisch motivierten Kriminalität erleichtern.

„Ein Ziel ist, Entwicklungen in anderen Ländern, die sich auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken könnten, frühzeitig zu erkennen.“

BKA-Referatsleiterin Heike Pooth
Die Straftaten im Phänomenbereich der Politisch Motivierten Kriminalität „links“ sind insgesamt ebenfalls deutlich gestiegen, um gut 28 Prozent auf 9.971 Delikte im Jahr 2024, der Anteil der Gewaltdelikte ging gleichzeitig auf 762 Delikte zurück. Was sind die Gründe dafür?

Hauptgrund für den Anstieg der Straftaten im Phänomenbereich PMK „links“ war das Thema Wahlen. 2024 war ein Superwahljahr mit der Europawahl, drei Landtags- und mehreren Kommunalwahlen. Auch die erwarteten und dann tatsächlichen Wahlerfolge der AfD haben die linke Szene zusätzlich mobilisiert. Insgesamt waren Sachbeschädigungen, insbesondere an Wahlplakaten, und Beleidigungen die herausragenden Straftaten. Erfreulich ist allerdings, dass die Zahl der Gewaltdelikte der PMK „links“ gesunken sind um 16,81 Prozent auf 762 Delikte im Jahr 2024.

Der Rückgang der Gewaltdelikte ist vorrangig auf den Rückgang der gefährlichen Eingriffe in den Straßen-, Bahn- und Luftverkehr zurückzuführen. Der Phänomenbereich PMK „links“ ist stark geprägt von Ereignissen und Kampagnen, die viele Personen mobilisieren können, auch kurzfristig. Im Jahr 2023 wurde zum Beispiel Lützerath in Nordrhein-Westfalen aus Protest gegen die Erweiterung des Tagebaus besetzt und schließlich geräumt. Darüber hinaus gab es im Jahr 2023 eine Vielzahl von Blockadeaktionen der Letzten Generation sowie das Luftablassen der Tyre Extinguisher.

Diese Kampagnen haben sich in 2024 nicht fortgesetzt, sodass auch entsprechende Gewaltdelikte rückläufig waren. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass erfolgreiche Ermittlungsverfahren, Festnahmen und Verurteilungen von zentralen Protagonisten der linken Szene Wirkung gezeigt haben, zum Beispiel die Antifa-Ost-Verfahren.

Der Flächenbrand

Rechte Straf- und Gewalttaten haben einen neuen Höchststand erreicht. Opferberatungsstellen schlagen Alarm.

Wie schätzen Sie die Gefahr durch Linksextreme grundsätzlich ein? Der Großteil der Gewaltdelikte bei der Politisch Motivierten Kriminalität kommt von rechts.

Wir betrachten die linksmotivierte politische Kriminalität mit Sorge, insbesondere auch weil dort einzelne schwere Gewaltdelikte und Straftaten mit hohen Schadenssummen verübt werden. Besorgniserregend sind vor allem klandestin agierende Kleingruppen, die mitunter höchst professionell, organisiert und „persönlich“ agieren, also gezielt Opfer aussuchen und teils schwer verletzen und nach den Taten untertauchen. Wir setzen bei der Verfolgung auf eine enge Zusammenarbeit mit den Ländern. Linksextremismus wird auch künftig eine Gefahr sein. Darauf deuten etwa Angriffe der Gruppe „Angry Birds“ auf das Bahnnetz hin. Auch das Thema „Antifaschismus“ und die aktive Bekämpfung von Personen des rechten Spektrums wird weiterhin ein zentrales Thema bleiben – gleiches gilt für die Themen „Antikapitalismus“, wie die Angriffe auf Wirtschaftsunternehmen, wie zum Beispiel Tesla, zeigen. Eine hohe Bedeutung haben weiterhin auch die Angriffe auf Kritische Infrastruktur wie etwa Bahnanlagen oder Bauprojekte mit zum Teil enormen Sachschäden.

Zur Person und Hintergrund

Heike Pooth ist Referatsleiterin im Polizeilichen Staatsschutz des Bundeskriminalamtes (BKA) in Meckenheim. Aufgabe der Abteilung ist die Bekämpfung der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK), sie befasst sich mit der PMK „rechts“, „links“ und „ausländische Ideologie“. Dem letzten Bereich werden laut einer BKA-Definition Straftaten zugerechnet, wenn es bei den Umständen und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür gibt, dass eine aus dem Ausland stammende, nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tat war, vor allem, wenn sie darauf abzielt, „Verhältnisse und Entwicklungen im In- und Ausland zu beeinflussen“. Bei der Kategorie religiöse Ideologie hingegen müssen Hinweise darauf vorliegen, dass diese Ideologie wesentlich für die Tatbegehung war und die Religion zur Begründung instrumentalisiert wurde, etwa bei Verbrechen von Terrororganisationen wie Al-Quaida oder dem sogenannten Islamischen Staat. Die Abgrenzung zur ausländischen Ideologie ist teils schwierig. Linksextremistische Taten liegen laut BKA zum Beispiel dann vor, wenn „Bezüge zu Anarchismus oder Kommunismus“ ganz oder teilweise Ursache waren, wobei das Delikt nicht das Ziel haben muss, die Freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik oder Teile davon abzuschaffen.

Nichtstun ist schlimmer

Erstellt am: Dienstag, 23. September 2025 von Sabine

Nichtstun ist schlimmer

Seine Karriere bis an die Spitze der Bremer Polizei sei ihm „eher so passiert“, sagt Jürgen Osmers. Umso strategischer plante er seinen Ruhestand – und kam so zum WEISSEN RING.

Jürgen Osmers

Jürgen Osmers im Bürgerpark Bremen. Der 64-jährige pensionierte Polizist kam erst zur Rente zum WEISSEN RING.

„Komm“, sagt er, „wir gehen ein Stück.“ Bürgerpark Bremen, Jürgen Osmers läuft los: in der Hand den Drogeriemarkt-Regenschirm, wir sind hier in Norddeutschland, auf dem Kopf die Werder-Kappe, wir sind in Bremen. Auf den Bürgerparkwegen gehen lächelnde Menschen mit angeleinten Alpakas spazieren, etwas später kommt uns eine Gruppe mit Eseln entgegen. Osmers wohnt hier ganz in der Nähe, im Park geht er joggen, und manchmal dreht er abends noch eine Extrarunde, jetzt lächelt er auch: „Ich muss ja gucken, ob alle Tiere wieder an ihrem Platz sind.“ Er nimmt Kurs auf ein kleines Gehege in der Parkmitte, neben Alpakas und Eseln leben dort Ziegen, Schafe und Bentheimer Schweine.

Osmers, ein drahtiger Mann von 64 Jahren, ist immer in Bewegung. Laufen, Schwimmen, Inlineskaten, früher außerdem Turmspringen und Squash. Vielleicht ist er auch deshalb zur Polizei gekommen damals, ganz genau weiß er es nicht, geplant hatte er nichts. „Das ist mir eher alles so passiert“, sagt er, er meint das Leben und die Karriere. Eigentlich habe er „etwas Kaufmännisches“ machen wollen, wie man das eben so macht in der alten Kaufmannsstadt Bremen. Aber dann seien die Kaufmannslehrstellen knapp gewesen, die Polizei bot Abwechslung und Sport und die Möglichkeit, mit der Ausbildung den anstehenden Wehrdienst gleich mit zu erledigen. So kam Jürgen Osmers zur Polizei, genauer: in den Streifendienst nach Osterholz-Tenever. Hochhaussiedlung, sozialer Brennpunkt, oder wie Osmers es nennt: „Klein-Manhattan“.

Er lernte, dass er mit Sprache und Zugewandtheit Menschen erreichen kann

Er verlangsamt den Schritt, wird kurz nachdenklich. „Man taucht ins pralle Leben ab“, erinnert er sich an seine Einsätze dort. Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, überhaupt die Gewalt. Er lernte, dass er mit Sprache und Zugewandtheit Menschen erreichen kann. Und dass nach einem Verbrechen, wenn die Polizei den Fall zu den Akten gelegt hat, für die betroffenen Menschen trotzdem eine Lücke bleibt. An den WEISSEN RING dachte er damals noch nicht.

Das Leben passierte ihm weiter. Spezialeinsatzkommando. Studium. Gehobener Dienst. Kriminalpolizei. Höherer Dienst. Osmers zog die Uniform aus, übernahm Leitungsposten. Staatsschutz. Ausbildung beim FBI in Quantico, USA. Organisierte Drogenkriminalität. Landeskriminalamt (LKA), am Ende war er dessen Chef. „Es klingt platt“, sagt er, „aber: Das war, trotz vieler Belastungen und auch vieler unschöner Erfahrungen, in der Summe total interessant, befriedigend und bereichernd. 43 Jahre lang.“

2022 stand der Pensionseintritt an, und so ungeplant ihm das Berufsleben passiert ist, so planvoll ging er den Ruhestand an, sozusagen mit Polizeimethoden. Er ermittelte, recherchierte. Surfte im Internet, las Broschüren. Er ging zu Veranstaltungen, sprach mit Menschen. So kam er zum WEISSEN RING, Landesverband Bremen. 60 Ehrenamtliche, darunter zwei aus dem Polizeidienst, Osmers nun als einer der beiden.

Das Leben passierte ihm weiter. Spezialeinsatzkommando. Studium. Gehobener Dienst

Als Jürgen Osmers sein Ehrenamt plante, wandte er auch das Ausschlussprinzip an. Ein Vorstandsamt wollte er erst mal nicht, Verantwortung hatte er lange genug getragen. In die Betreuung der Opfer wollte er auch nicht unbedingt, solche Gespräche hatte der Familienvater zu häufig geführt. „Da nimmt man so einiges Belastendes mit nach Hause“, erinnert er sich.

Der Bremer Landesvorsitzende, Hans-Jürgen Zacharias, schlug ihm die Öffentlichkeitsarbeit vor. Medienarbeit, Journalistengespräche, das kannte er ja als LKA-Chef. Und die Idee, gleich die komplette  Bandbreite des WEISSEN RINGS vertreten zu sollen, reizte ihn.

„Es klingt platt, aber: Das war, trotz vieler Belastungen und auch vieler unschöner Erfahrungen, in der Summe total interessant, befriedigend und bereichernd. 43 Jahre lang.“

Jürgen Osmers

Hier in der Turnhalle ist man beim „Du“, für Bedrohungssituationen empfiehlt er das „Sie“

„Guten Morgen!“ Zwei Wochen später steht Osmers an einem Wochenende in einer Sporthalle an der Weser, von hier sind es nur wenige Gehminuten zum gewaltigen U-Boot-Bunker „Valentin“ im Bremer Norden. Osmers trägt seine Ruhestands-Uniform: ein weißes Poloshirt mit dem blauen Aufdruck „WEISSER RING“. Vor ihm sitzen 25 Seniorinnen und Senioren auf Turnbänken, sie wollen heute Selbstbehauptung lernen. Osmers setzt sich in Bewegung, er steuert auf Jörg zu, einen Schauspieler und Trainer, bedrängt ihn, rempelt ihn an, berührt ihn. Jetzt mal alle, wie wehrt ihr euch da?

Die Teilnehmer rauschen und drängen durcheinander. „Ich sage Nein!“, ruft jemand. „Stopp!“, empfiehlt ein anderer. „Fassen Sie mich nicht an!“, schlägt eine Dritte vor.

Osmers gibt Tipps. „Sprecht die bedrohte Person an“, rät er. „Brauchen Sie Hilfe?“ Hier in der Turnhalle ist man beim „Du“, für Bedrohungssituationen empfiehlt er das „Sie“. „So erkennen Außenstehende, man ist sich fremd“, sagt er. Es ist das dritte Selbstbehauptungsseminar des WEISSEN RINGS in Bremen, die Warteliste ist lang. Zum zweiten hatte Osmers Radio Bremen eingeladen, der Beitrag lief vor Kurzem im Fernsehen.

„Öffentlichkeitsarbeit ist das Vehikel für die eigentliche Arbeit: für die Opferhilfe“, sagt er. „Die Opferhelfer stehen ja aus gutem Grund nicht in der Öffentlichkeit.“ Er sieht es als seinen Job an, den WEISSEN RING sichtbar zu halten, ebenso die Kriminalitätsopfer. „Es ist eine wichtige Funktion, völlig unabhängig den Betroffenen eine Stimme zu geben. Das macht keine Partei.“

Workshop Selbstbehauptungskurs

In einer Turnhalle gibt Jürgen Osmers einen Workshop und zeigt den Teilnehmenden, was sie gegen Belästigung in der Bahn oder im Zug machen können.

In der Turnhalle stehen zehn Stühle, dazwischen ein schmaler Gang. „Unsere Straßenbahn“, sagt Osmers. „Wer macht mit?“ Zögern bei den Teilnehmern. „Für so wenige Leute fährt die Bahn nicht…“ Beate, eine Kollegin vom WEISSEN RING, setzt sich. Jörg fläzt sich neben sie, streicht ihr durchs Haar. Jetzt wieder alle, was kann sie tun, was können andere Fahrgäste tun? „Fassen Sie mich nicht an!“ Leute  direkt ansprechen, mahnt Osmers, die Stimme einsetzen, „dann weiß der ganze Zug: Da braucht jemand Hilfe!“

„Viele haben Angst, etwas Falsches zu tun. Aber Nichtstun, das ist schlimm.“ Es klingt ein bisschen doppelsinnig, wenn er das sagt.

Ihm sei immer klar gewesen, dass sein Ruhestand kein ruhiger werden würde, sagte er vorher beim Gang durch den Bürgerpark. Geschickt greift Osmers die politischen Vereinsthemen auf und übersetzt sie für Bremen: Er tritt im regionalen Fernsehen auf und spricht mit dem „Weser-Kurier“, der Zeitung vor Ort: über die elektronische Fußfessel als Schutz für Frauen vor gewalttätigen Partnern, über die Belastungen durch True-Crime-Filme für Opferangehörige.

Im Bürgerpark ziehen dunkle Wolken auf. Osmers lässt den Schirm zu und steuert die nahe „Meierei“ an, dort gibt es ein Dach und eine gute Marzipantorte. Er ist zufrieden mit seinem Ruhestandsleben
als Medienmann des WEISSEN RINGS in Bremen. „Damals musste ich immer bei kritischen Themen Rede und Antwort stehen“, sagt der ehemalige LKA-Chef. Er lächelt: „Jetzt darf ich eine richtig gute Sache verkaufen.“

Bundesweite Razzien gegen Hass im Netz

Erstellt am: Mittwoch, 25. Juni 2025 von Selina
Razzien wegen Hasspostings: Frau hält ein Handy in der Hand.

Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 25.06.2025

Bundesweite Razzien gegen Hass im Netz

Das Bundeskriminalamt hat im Rahmen des 12. Aktionstag zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz, bundesweite Durchsuchungen durchgeführt. Vor allem Hasspostings mit rechten Inhalten sind stark angestiegen.

Mit gut 180 Maßnahmen in mehr als 140 Ermittlungsverfahren sind Polizei und Justiz am Mittwoch bundesweit gegen strafbare Hasspostings im Internet vorgegangen. Das teilte das Bundeskriminalamt (BKA) mit, das den zwölften Aktionstag zur Bekämpfung von Hasskriminalität im Netz koordinierte. In mehr als 65 Fällen kam es den Angaben zufolge zu Durchsuchungen, zahlreiche Beschuldigte wurden vernommen.

Die meisten Ermittlungen betreffen Politisch motivierte Kriminalität (PMK) – insbesondere rechtsextreme Inhalte. Etwa zwei Drittel der Hasspostings sind dem Bereich „rechts“ zuzuordnen. Zusätzlich gab es Fälle aus dem Bereich „sonstige Zuordnung“ sowie vereinzelte Fälle aus den Bereichen „religiöse Ideologie“, „links“ und „ausländische Ideologie“.

Zu den häufigsten Vorwürfen zählen Volksverhetzung (§ 130 StGB), das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB), die Billigung von Straftaten (§ 140 StGB) und Beleidigung (§ 185 StGB).

Enormer Anstieg strafbarer Posts

Hintergrund der bundesweiten Maßnahmen ist ein enormer Anstieg strafbarer Hasspostings. Laut BKA haben sich die registrierten Fälle zwischen 2021 (2.411 Fälle) und 2024 (10.732 Fälle) mehr als vervierfacht. Der Großteil stammte aus den Bereichen „rechts“ sowie „sonstige Zuordnung“. Neben einem realen Anstieg der Fälle spielt auch die bessere Aufdeckung durch die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI BKA) eine Rolle.

Das BKA ruft Bürgerinnen und Bürger auf, aktiv gegen Hass und Hetze im Netz vorzugehen – durch das Anzeigen und Melden strafbarer Inhalte bei Polizei, sozialen Netzwerken oder spezialisierten Meldestellen wie „Hessen gegen Hetze“ und „REspect!“.

Weitere Informationen und Anlaufstellen gibt es unter: https://www.bka.de/MeldestelleHetzeImInternet

Psyche & Gewalt

Erstellt am: Samstag, 21. Juni 2025 von Sabine

Psyche & Gewalt

Nach Messerattacken wie in Hamburg und Amokfahrten wie in Mannheim wird intensiv über Gewalt durch Menschen mit einer psychischen Erkrankung diskutiert. Sind sie gefährlicher als andere? Falls ja: Wie lässt sich das Risiko senken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, bei Fachleuten aus der Wissenschaft, Betroffenen, Ministerien und in Statistiken.

Was sich nach Attentaten wie in Aschaffenburg, Mannheim und Hamburg ändern muss.

Kapitel 1: Aschaffenburg und Mannheim

Sie legen Kuscheltiere, Blumen und Kerzen nieder. Und Briefe, in denen sie Anteil nehmen. Viele der 3000 Menschen, die sich am Abend des 23.Januar in Aschaffenburg versammeln, sind schockiert, sprachlos und weinen. Ihre Kerzen tauchen den mitten in der Stadt gelegenen Park Schöntal an diesem Winterabend in ein warmes Licht. Manche der Trauernden appellieren auf Transparenten an den Zusammenhalt; es ist ein stilles Gedenken, das seinen Namen verdient. Während in der Bundesrepublik, kurz vor der Wahl, hitzig debattiert wird.

Am Tag zuvor, am Vormittag, hatte ein 28-Jähriger in dem Park ein Messer gezogen und eine Kindergartengruppe angegriffen. Er erstach ein Kleinkind und einen 41-Jährigen, der helfend einschritt. Drei weiteren Menschen, darunter einer Kindergärtnerin, die sich ihm entgegenstellte, fügte er schwere Verletzungen zu. Vorher war der ausreisepflichtige Asylbewerber aus Afghanistan mehrfach straffällig und psychisch auffällig geworden.

Psyche & Gewalt

Sind psychisch kranke Menschen gefährlicher als andere? Das WEISSER RING Magazin hat nach Antworten gesucht.

Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss an, das forensisch-psychiatrische Gutachten war aber abgeschlossen. Wie die Staatsanwaltschaft auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mitteilte, geht der Gutachter davon aus, dass dem Beschuldigten „infolge einer psychiatrischen Erkrankung die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, gefehlt habe“. Und dass die Erkrankung nicht vorübergehend sei. Falls sie nicht doch geheilt wird, sei „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mit weiteren, auch hochaggressiven Taten zu rechnen“. Daher deutete alles auf ein Sicherungsverfahren hin, mit dem Ziel, den Mann dauerhaft in einer Psychiatrie unterzubringen.

Bereits vor der Attacke im Januar wurde gegen ihn ermittelt – wegen „tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung“. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben, aber ausgesetzt. Der Grund: Der Geflüchtete gab an, freiwillig ausreisen zu wollen. Voraussetzungen für einen Haftbefehl hätten nicht vorgelegen, so die Staatsanwaltschaft.

2018

Münster. Am 7. April 2018 lenkte ein 48-Jähriger in Münster einen Kleinbus in eine Menschenmenge am Kiepenkerl-Denkmal im Stadtzentrum. Vier Menschen starben, mehr als 20 erlitten teils schwere Verletzungen. Der deutsche Täter erschoss sich anschließend selbst. Der Sozialpsychiatrische Dienst der Stadt kannte Jens Alexander R. bereits. Laut Informationen von SZ, WDR und NDR war der Mann bei Polizeieinsätzen als nervenkrank aufgefallen.

Der Angreifer war zu dem Zeitpunkt schon zweimal polizeilich in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden, am 12. Mai 2024 und im August desselben Jahres. In beiden Fällen wurde der 28-Jährige nach kurzer Zeit entlassen, im letztgenannten Fall soll er in einer Flüchtlingsunterkunft eine Bewohnerin mit einem Messer attackiert haben. Dieser Vorfall sei ihr erst nach dem Attentat vom 23. Januar dieses Jahres bekannt geworden, schreibt die Staatsanwaltschaft. Hier ermittle sie jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung.

Wenige Wochen nach dem Messerangriff von Aschaffenburg, am Mittag des dritten März, fährt ein 40-Jähriger in Mannheim mit einem Kleinwagen in eine Menschenmenge. Der Deutsche tötet eine 83-Jährige und einen 54-Jährigen und verletzt elf weitere Menschen teils schwer. Ein Taxifahrer mit pakistanischen Wurzeln stellt sich ihm mit seinem Auto in den Weg. Der Angreifer schießt mit seiner Schreckschusspistole und flieht. Als die Polizei ihn festnimmt, schießt er sich in den Mund, überlebt aber.

2019

Frankfurt. Im Juli 2019 stieß der 40-jährige Habte A. eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn vor einen einfahrenden Zug im Frankfurter Hauptbahnhof. Der Sohn starb, die Mutter überlebte. Habte A. litt an paranoider Schizophrenie. Das Landgericht Frankfurt am Main ordnete wegen der Schuldunfähigkeit des Eritreers die Unterbringung im Maßregelvollzug an.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim erklärte auf Anfrage, die Ermittlungen, unter anderem wegen zweifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes, liefen. Deswegen könne sie weder zum Tatablauf noch zu Motiven nähere Angaben machen. Sie habe ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben, das noch nicht vorliege.

Kurz nach der Tat hatte die Staatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für einen politischen Hintergrund oder mögliche Mittäter gesehen. Wenige Tage später veröffentlichte das Recherchenetzwerk Exif Hinweise darauf, dass der Verdächtige früher der Neonaziszene und der „Reichsbürger“- Bewegung angehört und rechtsradikale Ansichten geteilt haben soll. Im Jahr 2018 war der Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er bei Facebook unter ein Foto von Hitler in einem Kommentar „Sieg Heil from Germany“ schrieb.

Bald nach der Amokfahrt vermuteten die Ermittler, dass ein psychischer Ausnahmezustand eine Rolle spielte. Der Fahrer soll in psychiatrischer Behandlung gewesen sein, im Jahr vor der Tat auch stationär.

Die mutmaßlichen Täter haben sich laut den Staatsanwaltschaften nicht zu den Vorwürfen geäußert. Noch ist vieles unklar, doch eines haben die Attentate von Mannheim und Aschaffenburg gemeinsam: Die Beschuldigten hatten psychische Probleme, und es gab Warnsignale. Nach Fällen wie diesen werden immer wieder Fragen laut: Wie gefährlich sind psychisch kranke Menschen? Gibt es Schutzlücken? Das WEISSER RING Magazin hat sich auf die Suche nach Antworten begeben, mit dem Fokus auf eine bessere Prävention.

Kapitel 2: Wahn und Warnsignale

Henning Saß ist einer der erfahrensten forensischen Psychiater Deutschlands. Er hat in vielen aufsehenerregenden Fällen Gutachten erstellt, etwa beim rassistischen, psychisch kranken Attentäter von Hanau oder bei NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Das Haus des emeritierten Professors der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule liegt auf einem Hügel und bietet einen guten Blick über Aachen. Saß, ein sportlich wirkender Mann Anfang 80, hat einige wissenschaftliche Aufsätze bereitgelegt und bietet etwas zu trinken an. Mit seiner ruhigen Stimme schafft er auch bei dem komplexen wie brisanten Thema eine entspannte Atmosphäre.

2020

Hanau. Am 19. Februar tötete der 43-jährige Deutsche Tobias R. in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen mit ausländischen Wurzeln. Nach seinen Angriffen auf Bars und einen Kiosk tötete er seine 72-jährige Mutter und sich selbst. Gutachter Henning Saß sah beim Täter klare Anzeichen für eine paranoide Schizophrenie.

Aufmerksam verfolgt der Psychiater, der schnell und präzise antwortet, die Diskussion nach Attentaten wie in Aschaffenburg und Mannheim. „Nach solchen Einzeltaten, die in die Schlagzeilen kommen, betrachte ich die Debatte mit großer Sorge, weil sie zu einer Diskriminierung der psychisch Kranken insgesamt führen kann“, sagt er. „Aussagen wie ,Menschen mit psychischen Erkrankungen sind gefährlicher‘ sind unsinnig.“ Man müsse differenzieren. Während die meisten Betroffenen nicht gewalttätig seien, bestehe bei bestimmten Krankheiten tatsächlich ein deutlich erhöhtes Risiko, „und zwar in doppelter Hinsicht: Gewalt auszuüben und Opfer davon zu werden“. Das treffe insbesondere auf die schizophrenen Psychosen zu, aber etwa auch auf die dissoziale Persönlichkeitsstörung und die Substanzkonsumstörungen.

Die Rechtslage

Wenn bei psychisch kranken Menschen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, kann eine „freiheitsentziehende Unterbringung“ in einer psychiatrischen Klinik angeordnet werden. Geregelt ist dies in den Psychisch-Kranken- beziehungsweise Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzen der Bundesländer. Ziele seien Gefahrenabwehr und Hilfe für die Erkrankten. Eine Unterbringung – für die es eine ärztliche Einschätzung braucht – wird in der Regel vom Gesundheitsamt beantragt. Die Entscheidung fällt das Amtsgericht. Nur wenn es nicht schnell genug entscheiden kann, kommt eine „vorläufige Unterbringung wegen Gefahr im Verzug“ durch das Amt selbst infrage. Zudem kann eine Unterbringung nach einer Verurteilung oder einem Sicherungsverfahren beschlossen und im Maßregelvollzug vollstreckt werden. Gemäß § 63 Strafgesetzbuch ist dies bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen möglich, die zum Tatzeitpunkt schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren und bei denen weiter erheblich rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Die Dauer ist nicht befristet, sondern von der Risikoeinschätzung abhängig, die mindestens einmal pro Jahr erfolgt. Laut § 64 StGB können Menschen mit Suchterkrankungen, die unter Drogeneinfluss oder infolge ihrer Abhängigkeit straffällig geworden sind, in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Die Unterbringung ist in der Regel auf zwei Jahre befristet. Darüber hinaus können Polizeibehörden psychisch auffällige Personen bei Gefahr im Verzuge festhalten und einem Arzt oder Psychiater vorstellen.

Saß verweist unter anderem auf eine schwedische Studie zum Gewaltrisiko von Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wurde. Die Wissenschaftler betrachteten die Entwicklung von 250.000 Patientinnen und Patienten. Dafür werteten sie Register aus. Insgesamt hatten die Erkrankten demnach ein drei- bis viermal höheres Risiko, gewalttätig zu werden oder Gewalt zu erfahren. Bei einer akuten Schizophrenie kann der Faktor höher liegen. Eine andere Untersuchung fokussierte sich auf diese Krankheit und kam zu dem Ergebnis, dass zehn Prozent der männlichen Patienten eine Gewalttat begangen hatten.

Die psychische Erkrankung, betont der Professor, sei aber jeweils – neben Drogen, Alkohol, männlichem Geschlecht, Jugend und prekären sozialen Bedingungen – nur ein Risikofaktor. Und damit nur eine potenzielle Ursache für Gewalt.

Unsichere Lebensverhältnisse beträfen auch Geflüchtete: „Sie sind sozial und ökonomisch entwurzelt, haben oft keinen Kontakt zu ihrer Familie und wissen nicht, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Das kann sie psychisch labilisieren und anfällig für extremistische Gedanken machen.“

„Am Ende bleibt die Unsicherheit“

Ein Mann schlägt eine Frau brutal zusammen. Er gilt als schuldunfähig. Während die Betroffene um psychologische Hilfe kämpfen muss, bekommt der Täter sofort eine Behandlung.

Ich war auf dem Weg zu meinem Mieter. Als ich das Wohnhaus betrat, kam mir ein Mann entgegen. „Guten Tag“, mehr habe ich nicht zu ihm gesagt. Er fragte, ob ich hier wohne, und ich antwortete, dass ich hier eine Wohnung habe. Er schrie mir hinterher: „Wohnst du hier?“ Dann packte er mich an den Haaren, zog mich die Treppe hinunter und prügelte auf mich ein. Ich kannte den Mann nicht, war ihm nie zuvor begegnet.

Es stellte sich heraus, dass er paranoide Schizophrenie hat. Mir war es wichtig, dass er weggesperrt wird, weil ich am eigenen Leib erfahren habe, wie hochgradig gefährlich er ist. Das Gericht war der Meinung, er sei schuldunfähig, und steckte ihn in eine forensische Klinik. Es wertete die Tat als schwere Körperverletzung, aber für mich war es versuchter Mord. Er holte im Laufe der Tat extra einen Metallgegenstand aus seiner Wohnung, um damit weiter auf mich einzuschlagen. Wäre mein Mieter nicht gekommen, hätte er mich getötet.

Meine Anwältin sagte, dass es gut sei und er in der Klinik bleiben werde. Aber im Nachhinein ist da eine Unsicherheit. Was ist, wenn er einen Psychologen hat, der es gut mit ihm meint und ihn früh entlässt? Aus Gerichtsunterlagen kennt er meine Adresse. Was ist, wenn er Rache möchte? Ich werde über eine Entlassung nicht informiert. Dazu kommen die Kosten. Der Mann ist mittellos. Alles musste ich selbst bezahlen, die

Gerichtskosten, die 4000 Euro für die zehn ausgeschlagenen Zähne. Ich bin selbstständig und kann bis heute nur zwei Stunden am Tag arbeiten. Ich habe einen Grad der Behinderung von 40 attestiert bekommen. Meine Wortfindungsstörung ist besser geworden, aber mein Neurologe sagte mir, dass alles an Verbesserung nun ausgeschöpft sei. Nach drei Jahren habe ich eine kleine Rente bekommen. Meine Eigentumswohnung musste ich verkaufen.

Drei Monate habe ich nach einem Therapieplatz gesucht. Der Traumatherapeut war schon kurz vor dem Ruhestand, aber nachdem er vom Fall gehört hatte, nahm er mich auf. Alles musste von mir organisiert werden, mir hat niemand geholfen außer meiner Betreuerin vom WEISSEN RING. Der Täter kam in eine Klinik, bekam ein Therapieangebot, auch für seine Cannabis-Sucht. Um die Täter kümmern sie sich, um die Opfer nicht. Es sollte so etwas wie einen Code für Opfer von solchen Delikten geben. Diesen könnte das Gericht für eine schnelle psychologische Unterstützung an die Krankenkasse weiterleiten. Opfer sollten informiert werden, wenn der Täter wieder freikommt. Und Menschen mit einer solchen Gewaltbereitschaft sollten strenger beobachtet werden.

Petra

Treffen die Risikofaktoren Wahnerkrankung und Extremismus aufeinander, können sie sich vermischen und verstärken, so Saß. Wie im Fall des Hanauer Terroristen, wo bei der posthumen Begutachtung eine „Amalgamierung“ erkennbar war, also eine Verbindung von „Psychose, rassistischer Ideologie und Verschwörungsdenken“.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) waren bei der Gewaltkriminalität allein im vergangenen Jahr 217.277 Fälle registriert, bei einem Anstieg von 1,5 Prozent gegenüber 2023. Ob ein Verdächtiger psychisch krank war, wird in der Regel jedoch nicht in der PKS erfasst.

Psychisch erkrankte Menschen sind nicht gleich „Gefährder“.

Erste Hinweise auf das Ausmaß des Gewaltproblems bei psychisch Kranken können Statistiken des Maßregelvollzugs geben. Tendenziell ist die Zahl der untergebrachten Straftäter gestiegen, wie aus einer Länderumfrage des WEISSER RING Magazins hervorgeht. In Hessen zum Beispiel nahm die durchschnittliche Belegung von 672,5 Patienten im Jahr 2015 auf 939,2 im Jahr 2024 zu, in Berlin von 801 auf 848, in Rheinland-Pfalz von 604 auf 715. Darunter sind allerdings nicht nur Gewalttäter, sondern auch Menschen, die gemäß Paragraph 64 des Strafgesetzbuches (StGB) aufgrund einer Suchterkrankung im Maßregelvollzug sind. Bei Personen, die nach § 63 untergebracht worden sind, zählen Körperverletzung, Tötungs- sowie Sexualdelikte zu den häufigsten Taten. Auch bei diesem Paragraphen sind die durchschnittlichen Belegungszahlen in einem Großteil der Bundesländer gestiegen, in Schleswig-Holstein zum Beispiel von 242 Patienten im Jahr 2015 auf 257 im vergangenen Jahr, in Baden-Württemberg von 535 auf 805 und im Saarland von 89 auf 129.

Die Hamburger Sozialbehörde teilt auf Anfrage mit: „Die Zahl der schwer psychisch erkrankten Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung Straftaten begangen haben, ist in Hamburg wie auch in anderen Bundesländern in den vergangenen Jahren angestiegen.“ Zu den wenigen Bundesländern, die die vor einer Unterbringung begangenen Gewalttaten – etwa Mord, Totschlag, Körperverletzung und Sexualdelikte – detailliert aufschlüsseln können, zählt Baden-Württemberg: Die Zahl dieser Delikte ist von 523 im Jahr 2013 auf 789 zehn Jahre später gestiegen. Im Jahr 2023 saßen dort 3232 Menschen im Maßregelvollzug. Wie viele Geflüchtete unter den Patienten sind, ist in keiner Länderstatistik erfasst.

2020

Trier. Am 1. Dezember 2020 fuhr ein 51-jähriger Mann mit einem Geländewagen durch die Fußgängerzone von Trier und tötete sieben Menschen, darunter ein Baby. 22 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Der deutsche Täter war betrunken und litt an einer paranoiden Schizophrenie. Schuldunfähig sei er zum Tatzeitpunkt jedoch nicht gewesen. Das Landgericht Trier verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe und ordnete die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Britta Bannenberg empfängt in ihrem auffallend aufgeräumten Büro, wo alles seine Ordnung zu haben scheint, auch dank der unzähligen Ordner. Die Kriminologin war früher Langstreckenläuferin. Bannenberg – offenes Lächeln, starker Händedruck – ist nach wie vor fit und ausdauernd, in mehrfacher Hinsicht: Die Professorin der Universität Gießen, an der sie unter anderem die kurzen Wege schätzt, forscht seit gut 20 Jahren zu Amok und Terror. „Es handelt sich um sehr seltene Taten, die in den vergangenen Jahren aber zugenommen haben“, sagt Bannenberg. Zudem hätten die Sicherheitsbehörden eine Reihe von Anschlägen verhindert. Zu den möglichen Gründen für den Anstieg zählten die vielfältigen Herausforderungen in jüngster Zeit, etwa die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die stärkere Zuwanderung seit 2015. All dies könne dazu beitragen, dass manche Menschen in eine Krise geraten, andere dafür verantwortlich machen und einen enormen Hass entwickeln, zum Beispiel auf Zugewanderte.

Bannenberg beschäftigt sich intensiv mit den Attentätern, um Erkenntnisse für die Ursachen und die Prävention zu gewinnen. Sie beobachtet gewisse Nachahmungseffekte beim Zeitpunkt der Tat und bei den Methoden: Täter fühlten sich durch andere Täter und die Berichterstattung über sie angeregt, jetzt zu handeln, hätten oft aber schon vor Jahren über einen Anschlag nachgedacht. Zum Teil seien sie ideologisch, etwa islamistisch oder rassistisch, zum Teil persönlich motiviert.

2021

Witzenhausen. Ein 31-Jähriger fuhr am 29.Oktober 2021 mit einem Kleinwagen vor einem Kindergarten in eine Gruppe von drei Mädchen. Eine Achtjährige starb, eine Sieben und eine Achtjährige wurden schwer verletzt. Das Landgericht Kassel ordnete die dauerhafte Unterbringung in der Psychiatrie an. Aufgrund seiner paranoiden Schizophrenie galt der Mann mit türkischer Staatsangehörigkeit zum Tatzeitpunkt als schuldunfähig.

Die Rechtswissenschaftlerin hat weitere Merkmale gesammelt: Fast alle Täter sind demnach männlich und die meisten psychisch gestört, ein Drittel auch psychisch krank. Dennoch seien sie in der Lage, die Tat detailliert zu planen. Im Gegensatz zu den paranoid schizophrenen Tätern seien die persönlichkeitsgestörten in der Regel schuldfähig und wüssten genau, was sie täten und weshalb. Sie wollten möglichst viele Menschen töten, Aufmerksamkeit und eine Art Heldenstatus bekommen und sich an der Gesellschaft oder bestimmten Gruppen rächen. Es handele sich um Einzelgänger, die soziale Defizite aufweisen, keine Empathie hätten und sich einerseits überlegen, andererseits gedemütigt fühlten. „Die Kälte zeigt sich im Tötungsakt“, so Bannenberg.

Kapitel 3: Maßregelvollzug und Missstände

Die Sonne scheint auf die graugrüne Fassade, die im Licht beinahe freundlich wirkt. Auf den ersten Blick erinnert das Gebäude an eine moderne Schule – bis Kameras, Sicherheitsdienst und eine drei Meter hohe Hochsicherheitstür klarmachen: Dies ist kein Platz für Kinder. In der forensischen Psychiatrie am Europakanal im bayerischen Erlangen werden Straftäter mit schweren psychischen Erkrankungen behandelt. Sie sind nach Paragraf 63 des Strafgesetzbuchs (StGB) verurteilt worden und wurden als schuldunfähig eingestuft. Das Nachbargebäude entspricht eher dem Bild, das viele vom Maßregelvollzug haben: schmutzige Betonwände, ausgebleichtes Orange an den Fensterrahmen – ein Ort, der auf Abstand hält. Hier sind Menschen untergebracht, die nach Paragraf 64 StGB verurteilt wurden. Sie sind schwer suchtkrank und haben dadurch Straftaten begangen. „Das Gebäude wird noch saniert“, sagt Chefarzt David Janele.

2021

Würzburg. Am 25. Juni 2021 tötete ein 24-jähriger in der Würzburger Innenstadt drei Frauen und verletzte mehrere weitere Personen mit einem Messer. Der Mann war bereits zuvor wegen psychischer Probleme auffällig geworden. Das Würzburger Landgericht, das die Taten unter anderem als dreifachen Mord wertete, ordnete die dauerhafte Unterbringung des zum Tatzeitpunkt wegen einer paranoiden Schizophrenie schuldunfähigen Somaliers in die Psychiatrie an.

Die Führung beginnt in dem sanierten Gebäude, bei den psychisch erkrankten Straftätern. Pflegekräfte und Patienten sind auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden. „Alle tragen Alltagsklamotten“, erklärt Janele. Dies unterstütze die therapeutische Behandlung, da eine weniger „klinische“ Atmosphäre helfen könne, die Rehabilitation zu erleichtern. Locker geht es hier deshalb nicht zu. Es befinden sich Gitter an den Fenstern, die kleinen Zimmer sind nur mit dem Nötigsten ausgestattet: Bett, Tisch, Bad. Und niemand kommt einfach raus. „Paragraf 63 ist unbefristet – das schärfste Schwert der Justiz und der tiefste Eingriff ins Persönlichkeitsrecht.“ Beengt wirkt die Station nicht, obwohl die Zahl der schuldunfähigen Täter gestiegen ist. In Bayern wurden 2015 2.561 Menschen behandelt, zehn Jahre später liegt die Zahl bei rund 3.000. Eine Zunahme um etwa 17 Prozent, die Chefarzt Janele auch in seinem Klinikum wahrnimmt. Aber: „Bei uns, wie auch in ganz Bayern, haben wir im Maßregelvollzug ausreichend Betten sowie Kapazitäten, um alle gut zu versorgen.“

Eine Aussage, die nicht alle Bundesländer treffen. Das WEISSER RING Magazin hat bundesweit Träger forensischer Kliniken angefragt. In Berlin gibt es 549 ordnungsbehördlich genehmigte Betten, im Oktober 2024 waren aber 622 belegt. Im Jahr 2024 kam es wiederkehrend dazu, dass Patienten aufgrund von Platzmangel nicht aufgenommen wurden. Im März 2024 waren nur 75,4 Prozent aller Personalstellen besetzt: „Aufgrund der massiven Überbelegung und des eklatanten Personalmangels kann nicht bei jedem Patienten die Häufigkeit der Therapiesitzungen angeboten werden, die sich aus der Risiko-Nutzen-Abwägung ergeben und notwendig wären“, sagt die Senatsverwaltung.

2022

Berlin. Am 8. Juni 2022 fuhr ein 29-Jähriger mit seinem Auto in eine Menschenmenge auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Eine Lehrerin starb, 32 Menschen wurden verletzt. Wegen einer gutachterlich bestätigten chronischen paranoiden Schizophrenie wurde der Deutsch-Armenier vom Landgericht Berlin dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht.

Und das sind nicht die einzigen Probleme in Berlin. Die räumliche Enge in der Forensik hat in der Vergangenheit zu Konflikten sowie Gewalt beigetragen, was wiederum eine hohe Zahl von isolierten Patienten zur Folge hatte. Ein Umstand, mit dem der ehemalige ärztliche Leiter Sven Reiners aus Gewissensgründen nicht zurechtkam und deshalb kündigte.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ist Träger von sechs Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt ist das Patientenaufkommen in den vergangenen zehn Jahren von 1236 auf 1357 gestiegen. Auf Anfrage entgegnet ein LWL-Sprecher, die Häuser seien gut besetzt. Gleichwohl
räumt er ein: „Der Stellenmarkt der forensischen Kliniken unterliegt mehrfachen Herausforderungen.“ Gründe seien Fachkräftemangel, Stadt Land-Gefälle, Überalterung. Auf die Frage, ob sie in ihrer Einrichtung die Patienten gut versorgen können, antwortet das LWL knapp: „Die Versorgung ist per Gesetz geregelt.“

„Ich fühlte mich verarscht“

Eine Frau wurde vergewaltigt. Für die Betroffene unverständlich: Obwohl ein Gutachten den Täter als schuldfähig einstufte, möchte der Richter ihn in eine forensische Klinik schicken.

Er hätte mich getötet, wenn niemand gekommen wäre. Er sagte es mir auch immer wieder, während er mich vergewaltigte und würgte. Dabei wollte ich nur auf die Toilette gehen. Es war morgens, um neun Uhr, in einer Kneipe. Meine Freundin wartete draußen. Als ich nicht wiederkam, ging sie hinein, um nach mir zu sehen. Der Täter floh. Später werde ich erfahren, dass er an diesem Tag noch eine weitere Frau vergewaltigt hat.

Vor Gericht hörte ich das Gutachten eines Psychologen: Er erklärte, warum der Täter zu beiden Tatzeitpunkten schuldfähig war. Der Gutachter betonte, dass er die Taten nicht aufgrund eines Alkoholproblems begangen hat. Der Täter sei bei mir so brutal gewesen, das hätte er auch nüchtern gemacht, sagte der Gutachter. Laut ihm war er auch nicht betrunken, da er motorisch nicht eingeschränkt war. Ich roch auch keinen Alkohol während der Tat. Der Barkeeper sagte mir später, er gab dem Mann nur zwei Bier und einen Kurzen.

Acht Jahre Haft bekam der Täter. Nach zwei Jahren und neun Monaten soll er in eine Entzugsklinik, bis sein Alkoholproblem gelöst sei. Ein Alkoholproblem, das laut Gutachter gar nicht existiert. Ich fühlte mich verarscht. Während der acht Prozesstage schien es, als sei der Richter auf der Seite der beiden Opfer. Jetzt habe ich das Gefühl, dass er voreingenommen war. Es kommt mir so vor, dass er in der Akte „morgens in einer Kneipe“ las und dazu seine Vorstrafen: Einmal schlug er einen Mann mit einer Flasche. Das Opfer ist teilerblindet. Auch bei dieser Tat war wohl Alkohol im Spiel, daher sah der Richter trotz des Gutachtens ein Alkoholproblem.

Ich glaube, dass dem Gericht der Schutz von Frauen wichtig ist, aber meine Schädigungen hatten nicht genug Gewicht bei der Urteilsfindung. Der Richter sah die Bisswunden an meinem Körper, die gebrochenen Rippen, die Prellungen – aber nicht, was die Tat nachhaltig für mich bedeutet. Ich bin arbeitsunfähig mit 28 Jahren, habe Ängste und Probleme mit öffentlichen Verkehrsmitteln, habe eine posttraumatische Belastungsstörung, ich konnte lange nicht ohne Begleitung auf öffentliche Toiletten gehen.

Ich glaube daran, dass sich Menschen in Haft positiv entwickeln können – aber nicht bei ihm. Er wäre bereit gewesen zu töten. Ich akzeptiere das Urteil nicht. Am 11. Juni wird der Bundesgerichtshof über den Fall diskutieren. Eine erneute Verhandlung bedeutet auch, dass alles noch mal von vorne losgeht. Ich muss wieder jedes intime Detail der Vergewaltigung vor Gericht erzählen.

Nele

Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme

Zurück in Erlangen. Das alte Gebäude mit den Verurteilten nach Paragraf 64 StGB sieht voll belegt aus. Auf den dunklen Gängen tummeln sich viele Männer, im Aufenthaltsraum schaut eine Gruppe fern. „Der Paragraf 64 war lange nicht trennscharf zwischen wirklich schwer Suchtkranken und Menschen, die nur mal Suchtmittel probiert haben. Seit der Reform des Paragrafen 2023 kommen wirklich nur Menschen zu uns, die schwer abhängig sind“, so Janele. Daher sinke die Zahl der Patienten langsam wieder. Der Maßregelvollzug versteht sich auch als Präventionsmaßnahme. Durch medikamentöse, psycho-, störungs- und deliktspezifische Therapien – teils einzeln, teils in Gruppen – sollen Rückfälle verhindert werden. Das Bundesjustizministerium hat 2020 eine bundesweite Untersuchung dazu veröffentlicht. Schuldunfähige Straftäter aus forensischen Kliniken werden demnach seltener rückfällig. Nach drei Jahren liegt die Rückfallquote bei Entlassenen aus Gefängnissen bei 45 Prozent, aus forensischen Kliniken zwischen zehn und 38 Prozent.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt Janele. Unter Suchterkrankten sei das Risiko eines Rückfalls höher als unter psychisch erkrankten Menschen.

Kapitel 4: Prävention und Politik

Nach den jüngsten Attentaten ist der Umgang mit psychisch auffälligen Menschen, die ein erhöhtes Gewaltrisiko haben können, zum Politikum geworden. Auch Union und SPD gehen in ihrem Koalitionsvertrag darauf ein: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen“, heißt es in dem Papier. Die Regierungsparteien planen „eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement“. Viel konkreter werden die Koalitionspartner nicht, ebenso wenig wie bei ihrem Ziel, zu verhindern, dass Waffen legal in die Hände psychisch Kranker gelangen.

Die Bundesländer beschäftigen sich ebenfalls mit dem Thema. Das saarländische Innenministerium beispielsweise teilt auf Anfrage mit, es betrachte „mit Sorge, dass psychisch kranke Gefährder beziehungsweise Gewalttäter wiederholt in Erscheinung getreten sind“. Rheinland-Pfalz stellt auch im Strafvollzug eine „starke Zunahme“ bei den psychisch auffälligen und erkrankten Gefangenen fest. Bremen gibt zu bedenken, dass die Zahl psychischer Erkrankungen in Deutschland insgesamt stetig steigt und damit auch der Anteil der von den Betroffenen begangenen Straftaten, ohne dass diese per se mit den Krankheiten zusammenhängen müssten.

2023

Berlin. Am 3. Mai 2023 verletzte ein Mann mehrere Kinder mit einem Messer auf dem Schulhof einer Berliner Grundschule. Der Täter wurde in einem Gutachten als psychisch krank und schuldunfähig eingestuft und auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Landgericht Berlin in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen.

Bei der Innenministerkonferenz stehen „Früherkennung und Bedrohungsmanagement“ auf der aktuellen Agenda weit oben. Die Konferenz sieht Lücken in dem Bereich und fordert in erster Linie, bundesweit Sicherheits- und Gesundheitsbehörden sowie Ausländer- und Waffenbehörden miteinander zu vernetzen und den Informationsaustausch zu erleichtern – wenn nötig mithilfe von Gesetzesänderungen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) erklärt auf Anfrage, Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder Störungen seien nach Anschlägen und Anschlagsversuchen in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Das BKA beteiligt sich an einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, deren Ziel die Früherkennung schwerer Gewalttaten ist. Auch das Bundeskriminalamt betont, dass nur wenige Erkrankungen mit einem erhöhten Risiko für Gewalt einhergehen. Und dass eine Erkrankung in der Regel höchstens in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren Gewalt auslösen könne.

Schon jetzt können Polizeibehörden Personengebundene Hinweise (PHW) sammeln, darunter Psychische und Verhaltensstörung (PSYV), wenn das für die Eigensicherung der Beamten und zum Schutz der Person nötig ist. Im bundesweiten Informationssystem der Polizei waren zuletzt etwa 16.000 Menschen mit einer psychischen Störung erfasst. Die Hinweise sind umstritten, auch aus Datenschutzgründen. In Hessen, teilt das Innenministerium mit, wurden im Jahr 2024 307 Tatverdächtige mit dem Hinweis „Psychische oder Verhaltensstörung“ registriert, darunter 21 Asylsuchende. Im Jahr 2019 waren es 255 Verdächtige mit PSYV, drei Jahre zuvor 154. Wie die Polizei diese Hinweise nutzt, werde wie in anderen Ländern nicht statistisch erfasst.

„Aufgrund der Ereignisse in den letzten Wochen und Monaten“ hat das Bundesland beim Landeskriminalamt die Task Force Psychisch Auffällige/Vielschreiber/Gewalttäter (PAVG) eingerichtet. Sie sei Teil der polizeilichen Gefahrenabwehr und prüfe zunächst alle in den Informationssystemen erfassten Personen mit dem Hinweis „Psychische und Verhaltensstörung“. Dabei prüfe die Task Force „Risiko- und Schutzfaktoren“, beispielsweise die Wohnsituation und die familiäre Struktur, Alkohol- und Drogenkonsum, Suizidgefahr, Waffenaffinität und Gewaltneigung. Kritik an der Datenbank und der neuen Einheit weist das Ministerium zurück: Es würden lediglich auffällige, polizeibekannte Personen registriert, bei denen durch ein ärztliches Gutachten oder Attest eine psychische Erkrankung beziehungsweise Auffälligkeit festgestellt worden sei. Im Fokus stünden Menschen, die eine schwere Gewalttat begehen könnten. Dadurch sei der Personenkreis „stark begrenzt“, weshalb Erkrankte weder stigmatisiert noch unter Generalverdacht gestellt würden. Mittlerweile sei die Prüfung zu 80 Prozent abgeschlossen. Sie betrifft rund 1600 Menschen.

2024

München. Ein Mann hat am 23. Juli 2024 in einer Einkaufsstraße im Münchner Stadtteil Pasing einen 18- und einen 25-Jährigen mit einem Messer schwer verletzt. Der Täter war nach Angaben der Justiz zum Zeitpunkt des Angriffs aufgrund einer paranoiden Schizophrenie von dem Gedanken beherrscht gewesen, Deutschland müsse von Muslimen befreit werden. In einem sogenannten Sicherungsverfahren ordnete das Landgericht München 1 die Unterbringung des Mannes in einer Psychiatrie an.

Die Task Force solle Behörden und andere Institutionen informieren, etwa Gesundheitsämter, Gerichte und Ausländerämter. Als Handlungsoptionen nennt das Ministerium Gefährderansprachen, Kontakt-, Annäherungsverbote, bei einer konkreten Gefahr auch Observationen und Gewahrsam oder die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Nordrhein-Westfalen hat ein ähnliches Konzept: „PeRisikoP“ (Personen mit Risikopotenzial). Dabei arbeiten ebenfalls verschiedene Stellen, darunter Justizbehörden und Gesundheitsämter zusammen, um Straftaten psychisch auffälliger Personen zu verhindern. Das ist in einigen Fällen gelungen, in anderen nicht. So zündete in Krefeld Hasan N., den Mitarbeitende des Präventionsprojekt auf dem Schirm hatten, ein Kino an.

Mehrere Länder, darunter Bayern, Berlin, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, erwägen oder planen, ihr Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz zu ändern, um die Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, zu erweitern. Im hohen Norden wird dabei zum Beispiel auch über die Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug diskutiert, um chronischen Erkrankungen und einer möglichen „langanhaltenden Selbst- und/oder Fremdgefährdung“ entgegenzuwirken.

Die Pläne und Maßnahmen haben Lob, aber auch Kritik hervorgerufen: Einige Rechtswissenschaftler sehen die Freiheitsrechte in Gefahr. Und der Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen warnte bereits nach dem Attentat von Aschaffenburg vor „schnellen Lösungen wie Zwangsmaßnahmen“. Er forderte stattdessen: „Eine menschenwürdige psychiatrische Versorgung muss gestärkt werden, insbesondere durch den Ausbau von Krisendiensten und ambulanter Hilfe.“

„Die beste Prävention“, sagt der forensische Psychiater Henning Saß in seinem Haus in Aachen, „ist eine gute psychiatrische Versorgung und eine konsequente Behandlung, die sich nicht nur auf die Akutphase beschränkt, sondern so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist.“ Er macht eine kurze Pause und wiederholt seine Aussage sinngemäß, mit Nachdruck, weil sie ihm so wichtig ist. Im Zweifelsfall, so Saß, könnten Patienten nach einer Unterbringung etwa unter der Auflage entlassen werden, regelmäßig in der Ambulanz oder beim sozialpsychiatrischen Dienst zu erscheinen. Grundsätzlich, betont der Psychiater, brauche es mehr als Neuroleptika und Antidepressiva, etwa Soziotherapie. „Man muss sich zum Beispiel auch um die sozialen Beziehungen der Menschen kümmern, um ihre Wohn- und Arbeitssituation, um sie zu reintegrieren.“

Beim Waffenrecht rät er, psychische Erkrankungen intensiv zu berücksichtigen. Dafür müssten Daten von Gesundheitsämtern ausreichend lange gespeichert und ein Austausch zwischen Behörden über Ländergrenzen hinweg ermöglicht werden. Der Hanau-Attentäter war 2002 in Bayern in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden. Als er gut 15 Jahre später im hessischen Main-Kinzig-Kreis eine Waffenerlaubnis beantragte, lag diese Information der zuständigen Behörde offenbar nicht vor.

Ansonsten ist Saß kritisch, was das Sammeln von Daten angeht. Ein in den vergangenen Monaten diskutiertes Zentralregister für psychisch kranke Menschen lehnt er ab, warnt davor: „Das würde zur Stigmatisierung beitragen und die Schwellenangst, sich bei psychischen Problemen behandeln zu lassen, erhöhen.“ Was wiederum die Prävention behindern würde.

2025

Aschaffenburg. Ein 28-Jähriger hat am 22. Januar in einem Park in Aschaffenburg einen zweijährigen Jungen und einen 41-jährigen Mann mit einem Messer getötet und drei Menschen schwer verletzt. Ermittler hatten schnell Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Mannes gefunden, etwa entsprechende Medikamente in seinen Wohnräumen. Er wurde in der Psychiatrie untergebracht. Laut Gutachten war der Mann zum Tatzeitpunkt schuldunfähig.

Auf dem Campus in Gießen will Kriminologin Britta Bannenberg dazu beizutragen, Amoktaten und Anschläge zu verhindern. Das treibt sie an. Sie hat regelmäßig Kontakt mit Opfern und weiß, was diese durchmachen. Bannenberg hat herausgefunden, dass vor solchen Verbrechen „klare Warnsignale“ zu erkennen sind. „Die Gedanken an die Tat sind jahrelang da, die Tatvorbereitungen geschehen vor allem in den letzten vier bis acht Wochen.“ Dann komme es im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz, bei Behörden oder im Netz vermehrt zu verdächtigen Aussagen. Die Täter bekunden beispielsweise ihre Sympathie für andere Attentäter oder werden konkreter. Gleichzeitig bereiten sie die Attentate intensiv vor, kundschaften mögliche Tatorte aus. Als Beispiel nennt Bannenberg die mehr als 100 Drohungen und anderen bedenklichen Äußerungen des Magdeburg-Attentäters, bei dem mehrere Gefährderansprachen stattfanden, allerdings ohne weitere Konsequenzen. „Manche werden als Querulanten eingestuft und früher oder später nicht mehr ernstgenommen. Das ist falsch. Gerade wenn explizite Aussagen fallen, müssen sie intensiv abgeklärt werden.“ Wichtig sei es herauszufinden, in welcher Verfassung sich ein Mensch befinde, ihn deutlich mit seinen problematischen Aussagen zu konfrontieren und ihn eventuell in der Psychiatrie vorzustellen. Eine Gefährderansprache reiche dazu oft nicht.

Die Polizei sei „ein wichtiges Einfallstor“, helfe in vielen Fällen, müsse aber noch stärker sensibilisiert werden, um gefährliche Personen zu erkennen, ebenso wie andere Behörden und die allgemeine Psychiatrie. „Im Gegensatz zur Forensik gehören dort etwa fremdgefährliche, persönlichkeitsgestörte Menschen nicht zum Alltag.“ Bei der Polizei komme es darauf an, dafür zu sorgen, dass wichtige Informationen in Verdachtsfällen auch in der „letzten Polizeistation“ ernstgenommen und die Gefährdung intern abgeklärt werde.

Um in konkreten Fällen zu helfen, hat Bannenberg das Beratungsnetzwerk Amokprävention entwickelt. Eine Art Hotline für Menschen, die befürchten, jemand aus ihrem Umfeld könnte ein Attentat begehen. Die Ratsuchenden erhalten dort eine erste Einschätzung zur Lage und Hinweise zum Umgang mit dem potenziell gefährlichen Menschen. „Gegebenenfalls schalten wir die Polizei ein“, sagt Bannenberg und fügt hinzu, dass die Sorge von etwa 80 Prozent der Anrufenden berechtigt sei.

2025

Mannheim. Am 3. März 2025, Rosenmontag, fuhr ein 40-jähriger Mann mit seinem Auto in eine Menschenmenge in der Mannheimer Innenstadt. Zwei Menschen wurden getötet, mehrere weitere verletzt. Es gibt laut Staatsanwaltschaft Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung des Täters sowie einen psychischen Ausnahmezustand zur Tatzeit. Ein psychiatrisches Gutachten wurde in Auftrag gegeben. Die Ermittlungen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Ein weiteres Präventionsangebot hat die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOSBW) geschaffen, eine beim Oberlandesgericht Karlsruhe ansässige gemeinnützige Einrichtung. „Unser Ziel ist immer der Opferschutz, auch wenn wir Täter behandeln“, sagt Sylvia Kubath-Heimann, Fachpsychologin für Rechtspsychologie bei BIOS. „Im Rahmen der Führungsaufsicht bei therapeutischer Anbindung können eventuelle Krisen schneller erkannt und es kann eingegriffen werden. So lässt sich auch das Rückfallrisiko begrenzen.“

Darüber hinaus hat BIOS eine Anlaufstelle für Menschen, die Angst haben, ein Gewalt- oder Sexualdelikt zu begehen. BIOS-Sprecherin Sabrina Sengler erinnert an das Attentat in Mannheim: „Der Täter hatte Gewaltfantasien, und es ist bekannt, dass er nach Hilfe suchte“, sagt sie. Er hätte an BIOS vermittelt werden sollen. „Hilfe suchen und Hilfe bekommen ist ein großer Teil bei der Verhinderung von Gewalt- und Sexualstraftaten“, sagt Sengler. Wöchentlich melden sich circa fünf Personen aus Angst, zum Täter werden zu können. Doch aufgrund fehlender Fördermittel könne das Angebot nicht offensiver beworben werden, da es an Therapeuten mangele.

Kapitel 5: Versorgung und Mangel

Prävention bedeutet nicht nur, straffällig gewordene psychisch Kranke zu therapieren, sondern auch, Menschen frühzeitig zu behandeln, damit es nicht erst zu einer Tat kommt. Das WEISSER RING Magazin hat eine Länderumfrage zur Versorgung gemacht. Die Gesundheitsministerien sprechen in ihren Antworten meist von einer Überversorgung bei Psychotherapeutenplätzen. Und von einer Wartezeit auf einen Therapieplatz von vier Wochen.

„Die beste Prävention ist eine gute psychiatrische Versorgung, die so lange andauert, bis der Patient hinreichend stabilisiert ist“

Professor Henning Saß

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt die Rahmenrichtlinien für die Bedarfsplanung fest – auf dieser Grundlage entscheiden die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) über die Zahl der Kassensitze in einer Region. Eine Überversorgung bedeutet, dass die Sitze belegt sind. Aber ob das den tatsächlichen Bedarf deckt, bezweifeln Experten. „Zum Beispiel können nicht alle Einwohner das gesamte Angebot nutzen, da es unter den Psychotherapeuten Spezialisierungen gibt“, sagt der Erlanger Chefarzt Janele. In Sachsen herrscht laut KV eine Überversorgung mit 1.103 Psychotherapeuten, die auf 4,05 Millionen Einwohner kämen. Das entspricht einem Therapeuten für fast 3.700 Einwohner. In anderen Ländern sieht es ähnlich aus.

Nordrhein-Westfalen findet klare Worte: „Die rechnerisch gute Versorgungslage steht im Widerspruch zu den Wartezeiten auf eine Richtlinientherapie.“ Bayern bestätigt, dass die Lage schon lange angespannt sei und die Vorgaben der Planung nicht den tatsächlichen Bedarf abbildeten.

Der G-BA erklärt auf Anfrage, nach den Hausärzten habe keine fachliche Berufsgruppe so viele Kassensitze wie Psychotherapeuten. Studien hätten ergeben, dass es nicht mehr Plätze brauche, sondern eine Umverteilung. Mehr Therapeuten müssten aus der Stadt aufs Land ziehen.

Die Diskussion um Kassensitze betrachtet Janele als nicht zielführend: „Am Ende ist es doch so: Die Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung wie paranoide Schizophrenie gehen damit nicht zu einem einfachen Psychotherapeuten. Der könnte sie nicht allein zielführend behandeln.“ Dazu brauche es eine Mitbehandlung durch einen niedergelassenen Psychiater und mehr ambulante psychiatrische Anlaufstellen für solche Fälle. Darüber hinaus fordert Janele einen Ausbau der rechtlichen Rahmenbedingungen beispielsweise für behandlungsunwillige Patienten mit einem hohen Gefährdungspotential.

2025

Hamburg. Eine 39-jährige Frau stach am 23. Mai im Hauptbahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende ein. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Ein Haftrichter ordnete an, die Verdächtige in einer Psychiatrie unterzubringen. Sie war erst am Tag vor der Tat aus einer solchen Einrichtung entlassen worden. Die Frau soll bereits im Februar auf einem Spielplatz a Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben.

BIOS-Psychologin Sylvia Kubath-Heimann mahnt, eines nicht zu vergessen: „Bei der psychischen Erkrankung Schizophrenie kriminalisieren sich nur drei bis zehn Prozent der Betroffenen überhaupt.“ In Deutschland ist laut Schätzungen etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung erkrankt.

 

Psychisch kranke Menschen: Ein illustrierter Mensch mit einem Riss im Kopf.

„Natürlich gibt es auch Rückfälle, etwa wenn Suchtpatienten wieder zu Alkohol oder Drogen greifen. Doch dies führt selten zu erneuter Kriminalität“, sagt Chefarzt David Janele.

Clara (Name geändert) hat eine psychische Erkrankung. „Es hat Jahre gedauert, bis ich meine Borderline-Diagnose annehmen konnte“, sagt sie. Ein Grund sei das gesellschaftliche Stigma gewesen. Selbst unter Fachleuten gälten Menschen mit der Krankheit oft als „unberechenbar“. Mit 17 Jahren war sie erstmals in der Psychiatrie, seitdem regelmäßig. Die Aufenthalte hälfen ihr, aber es gebe viel Verbesserungsbedarf: Eine psychotherapeutische Behandlung finde kaum statt, meist böten die Kliniken nur Gruppengespräche mit Sozialarbeitern oder Beschäftigungstherapie. Patientinnen und Patienten auf einer geschützten Station dürften teils nicht allein ins Bad, seien darauf angewiesen, dass das Personal „Zeit hat“ für alltägliche Bedürfnisse wie Zähneputzen. Das könne auch mal Stunden dauern. „Vermutlich wegen der Überforderung der Pflegekräfte aufgrund des Personalmangels“, sagt Clara.

Der Personalmangel wird auch in Zahlen deutlich

Laut dem zweiten Quartalsbericht 2024 des Institutes für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen erfüllten nur rund ein Drittel der Einrichtungen die Personalstandards: 34,7 Prozent der Erwachsenenpsychiatrien, 34,6 Prozent der Kinder- und Jugendpsychiatrien und 33 Prozent der psychosomatischen Kliniken. Die Daten basieren auf Auswertungen von 1.090 Standorten. Kurz gesagt: Es fehlen 500.000 Pflegepersonal-Arbeitsstunden.

Der Sprecher des LWL in Nordrhein- Westfalen sieht prekäre Situationen in den Allgemeinpsychiatrien: Es sei zu beobachten, dass immer häufiger Menschen aus den Kliniken im Maßregelvollzug landen, weil sie zuvor nicht intensiv genug behandelt worden seien. Der LWL-Maßregelvollzug fordert mit weiteren Trägern forensischer Kliniken eine Reform der Versorgung von Menschen mit schweren Erkrankungen unter dem Titel „Weckruf“.

Als besonders belastend beschreibt Clara den Übergang von der Klinik in den Alltag – oft ohne Anschlussbehandlung: „Ich musste mich immer selbst um einen Therapieplatz kümmern, nach meinem aktuellen habe ich eineinhalb Jahre gesucht.“ Das Problem: Viele Psychotherapeuten behandeln so schwere psychische Erkrankungen wie Borderline nicht. Über die von den Gesundheitsministerien angegebene vierwöchige Wartezeit lacht sie nur müde.

Transparenzhinweis:
Der Artikel wurde am 26. Juni bearbeitet. In einer früheren Version war fälschlicherweise die Rede davon, dass sich zwei Tötungsdelikte im Maßregelvollzug der Karl-Jaspers-Klinik im Bad Zwischenahner Ortsteil Wehnen ereignet hätten. Tatsächlich geschahen die Vorfälle in der allgemeinen psychiatrischen Abteilung der Klinik. Den entsprechenden Absatz haben wir deshalb gelöscht.

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Erstellt am: Montag, 16. Juni 2025 von Juliane

Was die Kriminalstatistik wirklich sagt – und was nicht

Alle Jahre wieder: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird vom Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesinnenministerium vorgestellt und umgehend emotional diskutiert. Das eine Medium schreibt in großen Lettern, wie gefährlich doch alles geworden sei, und das andere versucht, mithilfe von Kriminologen zu erklären, dass das gar nicht stimme mit der Gefährlichkeit. Wer hat recht? Und welche Aussagen trifft überhaupt die PKS? Eine kleine Analyse.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Sobald die Polizeiliche Kriminalstatistik erscheint, beherrscht sie die Medien. Dabei kommt es immer wieder zu wilden Schlagzeilen.

Arbeitsbericht. Das ist ein Begriff, den Kriminologen gerne nutzen, wenn es um die PKS geht. „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist keine verlässliche Grundlage für irgendeine Aussage“, warnt Thomas Feltes. Der Kriminologe hatte bis 2019 an der Ruhr-Universität in Bochum den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft inne. Denn die PKS erfasst keine gerichtlich bestätigten Straftaten, sondern sogenannte Verdachtsfälle – also Anzeigen, unabhängig davon, ob es zur Anklage oder Verurteilung kommt. Laut Statistischem Bundesamt wird weniger als ein Drittel aller Tatverdächtigen tatsächlich verurteilt. Die PKS spiegelt also nicht die Kriminalitätswirklichkeit wider – anhand ihrer Daten können keine Aussagen über aktuell lauernde Gefahren im deutschen Alltag getroffen werden.

Registrierte Gewaltdelikte steigen weiter

In diesem Jahr hat besonders die hohe Zahl der angezeigten Gewaltdelikte 2024 Wellen geschlagen. Während die Gesamtzahl aller Verdachtsfälle seit 2009 stetig sinkt, ist die Zahl der angezeigten Gewaltdelikte zuletzt tatsächlich gestiegen – auf 217.277 Fälle. Das liegt nur knapp unter dem Höchststand im Jahr 2007 mit 217.923 Fällen. Die Zahl ist also sehr hoch. Aber wird das Leben auf unseren Straßen tatsächlich immer gefährlicher, wie die „Bild“-Zeitung auf ihrer Titelseite schrieb? Sinkt die Hemmschwelle zur Gewalt weiter? Das sind Fragen, die die PKS nicht beantworten kann.

Wird das Leben auf den Straßen tatsächlich immer gefährlicher?

Denn es gibt bei den gestiegenen Zahlen einiges zu beachten: Wo mehr angezeigt wird, steigen auch die Zahlen. Im ersten Moment bedeutet es lediglich, dass 2024 mehr Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht wurden – und das ist sogar etwas Gutes. Sensibilisierung, Aufklärung und der Ausbau von Opferschutzstellen haben beispielsweise dafür gesorgt, dass mehr Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt werden. Der aktuellste Periodische Sicherheitsbericht des BKA (2021) zeigt, dass die Anzeigerate bei Körperverletzungen zwischen 2012 und 2017 von 32,9 auf 36,6 Prozent gestiegen ist. Das veränderte Anzeigeverhalten kann direkten Einfluss auf die Statistik haben – ohne dass sich das reale Geschehen im gleichen Maß verändert haben muss. Darauf verweist die PKS 2024 selbst immer wieder. Zahlen zum aktuellen Anzeigeverhalten gibt es allerdings nicht. Natürlich ist es trotzdem wichtig, sich mit der Frage zu beschäftigen: Wo benötigt es jetzt besonders Prävention? Und da kann die PKS durchaus eine Unterstützung sein.

Migration und Kriminalität: Die Faktenlage

Besonders brisant wird die PKS im Zusammenhang mit Migration interpretiert – oft fälschlicherweise. Die „Bild“-Zeitung etwa suggeriert regelmäßig, die Statistik zeige eine klare Verbindung zwischen Migration und Kriminalität. Dabei betonte BKA-Präsident Holger Münch bei der Vorstellung der PKS 2024 ausdrücklich: „Es liegt nicht an der Herkunft.“ Auch das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München kommt in seiner aktuellen Studie „Steigert Migration die Kriminalität?“ zu einem eindeutigen Ergebnis: „(Flucht-)Migration hat keinen systematischen Einfluss auf die Kriminalität.“ Dies entspricht dem internationalen Forschungsstand.

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 36 %.

Zuwanderer machen weniger als 20 % aller Tatverdächtigen aus.

Amnesty International hat Anfang April einen offenen Brief mit dem Titel „Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist als Instrument zur Bewertung der Sicherheitslage ungeeignet“ gemeinsam mit mehr als 40 Organisationen und Initiativen veröffentlicht, um gegen das verbreitete Narrativ von den „kriminellen Migrant*innen“ vorzugehen.

Auch ist die Kategorie „Nichtdeutsche“ wenig aussagekräftig. Sie umfasst nämlich sehr unterschiedliche Gruppen – von Touristen und reisenden Straftätern über Geflüchtete bis hin zu dauerhaft hier lebenden Personen ohne deutschen Pass.

Die Fakten: Trotz eines Anstiegs der ausländischen Bevölkerung um 72 Prozent zwischen 2005 und 2023 lag die Zahl der allgemeinen registrierten Straftaten 2024 laut PKS rund 11,7 Prozent unter dem Niveau von 2005, wie der Mediendienst Integration veröffentlichte. Die gestiegene Zuwanderung hat also – anders als häufig behauptet – nicht zu einem gleichzeitigen Anstieg von erfassten Straftaten geführt.

Erheblich verzerrt wird die PKS durch sogenanntes Racial Profiling

Auch bei den als „Zuwanderer“ klassifizierten Tatverdächtigen verzeichnete die PKS einen Rückgang um 3,6 Prozent. Das Bundeskriminalamt weist zudem darauf hin, dass die nichtdeutsche Bevölkerung in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist. Entsprechend sei es statistisch zu erwarten, dass auch die Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger absolut steigt. Zuwanderer machen weniger als 20 Prozent aller Tatverdächtigen
aus. In Deutschland leben 83,6 Millionen Menschen, von denen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 21,3 Millionen Menschen eine Einwanderungsgeschichte haben und 12,3 Millionen Ausländer sind.

Bei den Gewaltdelikten allerdings stieg die Zahl der ausländischen Tatverdächtigen um 7,5 Prozent auf 85.012. Aber auch
diese Zahl muss eingeordnet und sollte nicht absolut betrachtet werden. Erheblich verzerrt wird die PKS nämlich durch sogenanntes Racial Profiling: Laut einer Umfrage des Sachverständigenrats für Integration und Migration werden Personen, die als „ausländisch“ wahrgenommen werden, etwa doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie als „deutsch“ wahrgenommene Menschen. Auch BKA-Präsident Holger Münch spricht von einem Verzerrungseffekt und sagt: „Wenn uns jemand sehr fremd erscheint, neigen wir eher dazu, Anzeige zu erstatten.“

„Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden“

 

Schlagzeilen über die Polizeiliche Kriminalstatistik

Auch die Lebenssituation spiele eine Rolle: In Massenunterkünften für Geflüchtete leben meist junge Männer teilweise Jahre auf engstem Raum zusammen. Kriminologin Gina Wollinger verweist darauf, dass es in Unterkünften häufiger zu Kontrollen komme oder bei Konflikten die Polizei gerufen werde als in privaten Kontexten. Sie sagt: „Wo mehr kontrolliert wird, wird auch mehr gefunden.“

Pandemie-Effekte und ihre Spätfolgen

Ein weiteres großes Thema in den Medien war nach der Vorstellung der PKS 2024 die gestiegene Zahl der Verdachtsfälle im Bereich Gewaltkriminalität, bei denen der mutmaßliche Täter ein Kind oder Jugendlicher war. Oft wurde der Begriff „junge Täter“ verwendet. Auch diese Aussage ist auf Grundlage der PKS nicht korrekt. Schließlich fehlt die juristische Schuldfeststellung, und solange gilt in Deutschland die Unschuldsvermutung. Ein wichtiger Punkt bei der Betrachtung der Zahlen: Die Folgen der Corona-Pandemie wirken bis heute nach, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. „Forschungsergebnisse zeigen, dass psychische Belastung gerade bei Kindern und Jugendlichen über diese Zeit der Beschränkung hinauswirkt, also aktuell noch andauert“, so BKA-Chef Münch. Solche Ausnahmesituationen beeinflussen die Kriminalitätszahlen. Dank der PKS wird deutlich, dass die betroffene Altersgruppe weiterhin Unterstützung benötigt, um die psychische Belastung durch die Pandemie zu verarbeiten. Panikmache durch stigmatisierende Aussagen wie „Kinder und Jugendliche werden immer gefährlicher“ helfen nicht.

Mehr Prävention statt Schuldzuweisung

Fazit: Die Diskussion über Kriminalität braucht mehr Sachlichkeit. Weitere Stigmatisierung von Menschen mit einer Migrationsgeschichte führt nicht zu einem gewaltfreien Miteinander. Kaum eine Rolle spielt in der aufgeheizten Diskussion, dass Migranten zunehmend Zielscheibe von Gewalt und Hass werden. Die erfassten rechten Delikte sind in den letzten Jahrzehnten angestiegen und erlangten 2024 einen neuen Rekord mit 42.788 Verdachtsfällen. Beratungsstellen für Opfer von rassistischer Gewalt verzeichnen immer mehr Betroffene. Dazu benötigt es weiter Präventionsarbeit: Psychologische Betreuung, Integrationsarbeit und Bekämpfung sozialer Ungleichheit sind wirksamer als pauschale Schuldzuweisungen. Die PKS kann Hinweise geben, wo es Handlungsbedarf gibt, etwa bei Gewaltdelikten oder Jugendkriminalität – aber sie ist kein Spiegel objektiver Realität. Kriminalität ist komplexer, als sie in Zeitungsschlagzeilen oft dargestellt wird.

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

„ Ohne Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS eine Arbeitsstatistik.“

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins. Jörg Ziercke

Jörg Ziercke war von 2004 bis 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA). 2018 wurde er Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, seit 2022 ist er Ehrenvorsitzender des Vereins.

Sie haben als BKA-Präsident lange die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) verantwortet und vorgestellt. Was ist die PKS für Sie?

Die Kriminalstatistik ist eine valide Annäherung an die reale Wirklichkeit – allerdings ohne zu wissen, wie nah man herankommt. Um zu verstehen, was die tatsächliche Situation ist, müssen das Hellfeld – also polizeilich registrierte Fälle – und das Dunkelfeld betrachtet werden. Bei der Internetkriminalität etwa gibt es ein großes Dunkelfeld. Ohne mehr Dunkelfeld-Forschung und eine Gewichtung von Delikten ist die PKS lediglich eine Arbeitsstatistik der Polizei. Die Ergebnisse hängen zudem stark von der Bevölkerung ab, da nur fünf bis acht Prozent der Anzeigen durch die Polizei erstattet werden. Die PKS ist eng mit der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Kriminalität und dem Vertrauen in die Polizei verknüpft.

Lassen sich mit der PKS Schlagzeilen wie „Das Leben auf unseren Straßen wird immer gefährlicher“ begründen?

Nicht wirklich. Man kann sagen, dass die Zahlen gestiegen oder örtliche Brennpunkte erkannt worden sind. Aber ich bin gegen dramatisierende Schlagzeilen wie die von Ihnen genannte, da sie das Sicherheitsgefühl der Menschen stark beeinflussen können. Die Person, die nachts auf der Straße
bei einem Überfall um Hilfe ruft, bekommt eventuell keine Hilfe, weil die Angst die Straßen leergefegt hat. Zivilcourage braucht Unterstützung auch durch andere Personen. Bei der Vorstellung der Statistik werden die Trends und Schwerpunkte der Arbeit der Polizei durch den Bundesinnenminister und das Bundeskriminalamt der Öffentlichkeit ausführlich erläutert. Erfahrene Journalistinnen und Journalisten bewerten die Zahlen und Aussagen zusätzlich. Das Hauptproblem ist die reißerische Überschrift.

Welche Zahlensammlung bräuchten wir, um ein genaueres Bild von der Sicherheit zu bekommen?

Eine Gewichtung der Straftaten wäre sinnvoll. Ein Mord wird statistisch genauso gezählt wie ein Diebstahl. Die enorme Anzahl der Ladendiebstähle oder Sachbeschädigungen relativiert das Gesamtbild der Kriminalität. Die Zahl der Straftaten ist zwar insgesamt höher, aber die Schwere der verschiedenen Straftaten wie zum Beispiel durch einen Mordfall geht in den Gesamtzahlen unter. Ferner müsste die Polizei- mit der Strafverfolgungsstatistik der Justiz im Zusammenhang betrachtet werden. Das Problem ist, dass alles zeitversetzt stattfindet: Eine Tat, die jetzt passiert, wird nicht sofort abgeurteilt. Zu bedenken ist auch,
dass die Einstellungsquoten der Staatsanwaltschaften bei polizeilich durchermittelten Fällen aus unterschiedlichen Gründen hoch sind, circa 60 Prozent. Neben den deliktischen Verurteilungsquoten der Gerichte sollte man sich die Rückfallquoten der verurteilten Täter anschauen. Mit dieser Bewertung kämen wir der Realsituation ein ganzes Stück näher. Sinnvoll wäre auch eine Verlaufsstatistik für Beschuldigte – von der Anzeige bis zur Verurteilung –, aus der sich die Wirksamkeit der Maßnahmen von Polizei und Justiz ablesen ließe.

Wie sicher leben wir Ihrer Meinung nach in Deutschland?

Wir leben immer noch in einem der zehn sichersten Länder der Welt. Diese Bewertung ergibt sich aus dem Vergleich mit anderen Staaten. Eines sollten wir aber nicht übersehen: Die täglichen Nachrichten liefern uns die besonders schwere Kriminalität aus aller Welt ins Wohnzimmer. Auch das beeinflusst unsere Angst vor Kriminalität!

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Erstellt am: Montag, 2. Juni 2025 von Gregor
Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Viele Opfer haben sich vergeblich überwunden und einen Antrag auf Unterstützung gestellt. Foto: dpa

Datum: 02.06.2025

Repräsentative Studie: 12,7 Prozent der Befragten von sexualisierter Gewalt betroffen

Eine neue Studie hat die Häufigkeit, den Kontext und die Folgen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche untersucht. Die Ergebnisse sind alarmierend.

Etwa jeder Achte in Deutschland zwischen 18 und 59 Jahren ist als Kind oder Jugendlicher mindestens einmal Opfer sexualisierter Gewalt geworden – hochgerechnet sind das 5,7 Millionen Menschen. Mit 20,6 Prozent ist bei Frauen ein deutlich höherer Anteil betroffen als bei Männern mit 4,8 Prozent. Die Täter sind überwiegend männlich und lediglich in 4,5 Prozent der Fälle weiblich.

Repräsentative Studie mit 3000 Teilnehmenden

Das geht aus einer repräsentativen, am Montag veröffentlichten Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm und des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg hervor. Die Forschenden haben in Kooperation mit dem Umfrageinstitut infratest dimap eine repräsentative Stichprobe von Menschen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren angeschrieben. Rund 3000 Personen nahmen teil. Die Institute untersuchten sowohl die Häufigkeit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche als auch den Kontext und die Folgen der Taten. Es handelt sich um die erste bundesweite und repräsentative Studie zu diesem Thema.

„Die Ergebnisse weisen auf ein erhebliches Dunkelfeld hin, das im Vergleich zu früheren Untersuchungen nicht abgenommen hat, obwohl das Bewusstsein um die Problematik gewachsen ist und Präventionsmaßnahmen in Deutschland ausgeweitet wurden“, erklärt Prof. Dr. Harald Dreßing, der die Studie koordiniert hat und die Forensischen Psychiatrie am ZI leitet. Dieses gehört zum Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG).

Tatorte Familie und digitale Kanäle

Bei jüngeren Frauen, den 18-29-Jährigen, war die Betroffenenrate am höchsten: 27,4 Prozent. Unter allen Befragten gaben die meisten an, in der Familie oder durch Verwandte sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Wobei Männer laut der Studie viel öfter in Sport- und Freizeiteinrichtungen, im kirchlichen Zusammenhängen und in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe betroffen waren. Dies zeige, wie wichtig „differenzierte Schutzkonzepte“ für Kinder und Jugendliche seien, mahnen die Forschungsinstitute.

Gut 37 Prozent der Opfer hatten demnach bislang nicht mit anderen Menschen über die sexuellen Angriffe gesprochen, aus Scham und aus Angst, dass ihnen niemand glaube.

31,7 Prozent der Fälle betrafen digitale Kanäle. Dabei erhielten die Betroffenen beispielsweise ungewollt pornographisches Material, wurden zu sexuellen Handlungen aufgefordert oder gezwungen, sexuelle Bilder zu teilen.

Betroffene haben psychische Schwierigkeiten

Ein weiterer wichtiger Befund: Den von sexualisierter Gewalt Betroffenen gehe es psychisch deutlich schlechter als Nichtbetroffenen. „Es ist wichtig, dass wir die Forschung zum Ausmaß und den Kontexten von sexualisierter Gewalt verstetigen und weiter voranbringen. Nur so können wir Präventionskonzepte und die gezielte medizinische Versorgung von Betroffenen wirklich verbessern“, fordert Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg. Er ist Direktor des ZI und Sprecher des DZPG-Standorts Mannheim-Heidelberg-Ulm.

Die Untersuchung wurde mit Eigenmitteln der Institute finanziert sowie mit Hilfe der WEISSER RING Stiftung, des Vereins Eckiger Tisch und des Kinderschutzbundes.

Hamburger Messerangriff: Hotline für Betroffene

Erstellt am: Samstag, 24. Mai 2025 von Christiane
Nach dem Messerangriff in Hamburg ist für Betroffene eine Hotline eingerichtet worden.

Nach dem Messerangriff in Hamburg ist für Betroffene eine Hotline eingerichtet worden. Foto: Christian Charisius/dpa

Datum: 24.05.2025

Hamburger Messerangriff: Hotline für Betroffene

Am Freitagabend hatte es am Hamburger Hauptbahnhof einen Messerangriff gegeben. Eine Hotline für Betroffene ist bereits eingerichtet.

Nach dem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof können sich Betroffene an die Hotline 0800/0007558 wenden. Das Telefon steht Hilfesuchenden rund um die Uhr zur Verfügung und ist mit erfahrenen Psychologinnen und Psychologen des Zentrums für Trauma und Konfliktmanagement besetzt. Melden können sich Opfer des Angriffs und ihre Angehörigen ebenso wie Augenzeugen oder Ersthelfer.

Eingerichtet hat die Hotline der Hamburgische Opferbeauftragte. Es wird zudem einen Runden Tisch zu dem Messerangriff geben, an dem auch der WEISSE RING Hamburg teilnehmen wird.

Am Freitagabend hatte laut Polizeiangaben eine 39-jährige Frau gegen 18 Uhr im Bahnhof an Gleis 13 und 14 auf Reisende eingestochen. Insgesamt 18 Menschen wurden verletzt, vier davon lebensgefährlich. Mittlerweile sind sie in einem stabilen Zustand. Die Polizei sprach bereits kurz nach der Tat von „sehr konkreten Hinweisen“ auf eine psychische Erkrankung der Tatverdächtigen. Ein Haftrichter ordnete an, sie in einer Psychiatrie unterzubringen. Wie die Polizei mitteilte, lauten die Tatvorwürfe versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Hinweise auf ein politisches Motiv gebe es nicht.

Die Angreiferin, die wohnungslos ist und aus Braunschweig kommt, war erst am Donnerstagmorgen aus einer psychiatrischen Einrichtung in Niedersachsen entlassen worden. Laut einem Bericht des „Spiegel“ fixierte ein 19-jähriger Geflüchteter aus Syrien die Verdächtige am Bahnsteig, bis die Polizei kurz darauf eintraf und sie festnahm.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft soll die Frau bereits im Februar auf einem Spielplatz am Flughafen ein sechsjähriges Mädchen geschlagen haben. Daraufhin seien Ermittlungen wegen des Verdachts der Körperverletzung eingeleitet worden, die noch liefen. Nach dem Vorfall habe die Polizei einen Amtsarzt hinzugezogen, der sie in der Klinik unterbringen ließ. Dort habe eine Mitpatientin die Tatverdächtige im März angezeigt, weil sie sie getreten haben soll. Am Tag vor der Tat soll ein Rettungsdienstmitarbeiter am Flughafen die Polizei informiert haben, nachdem ihm die Frau wegen Wunden im Gesicht aufgefallen sei.

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Erstellt am: Montag, 12. Mai 2025 von Gregor
Auf dem Foto präsentiert eine Person eine elektronische Fußfessel am Fußgelenk.

Die Fußfessel ist in Spanien längst gängige Praxis. Foto: Christian Ahlers

Datum: 12.05.2025

Vier Prozent mehr Opfer von häuslicher Gewalt

Rund 266.000 Menschen sind im vergangenen Jahr Opfer häuslicher Gewalt geworden, zwei Drittel davon waren Frauen. Insgesamt ein deutlicher Anstieg, doch zwischen den Bundesländern gibt es große Unterschiede.

Die Zahl der registrierten Opfer von häuslicher Gewalt hat 2024 offenbar deutlich zugenommen, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Laut einem Bericht der „Welt am Sonntag“ wurden im vergangenen Jahr bundesweit 266.000 Opfer erfasst, zwei Drittel davon sind Frauen. Das geht aus Statistiken hervor, die die Innenministerien und Polizeibehörden der Länder gemeldet haben. Sie fließen in ein „Lagebild Häusliche Gewalt“ des Bundeskriminalamtes ein, das das BKA mit Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) und Familienministerin Karin Prien (CDU) wohl im Sommer vorstellt. Die Zahlen umfassen Angriffe von Partnern, früheren Partnern und Familienangehörigen. Fachleute gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund: Viele Betroffene zeigen die Gewalt nicht an, etwa aus Angst vor dem Täter.

Stärkster Anstieg in Niedersachsen

Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind teils enorm: So stieg die Zahl der registrierten Opfer in Niedersachen (plus 12,3 Prozent auf 30.209), Schleswig-Holstein (plus 8,8 Prozent auf 9342) und Baden-Württemberg (plus 8,7 Prozent auf 27.841) besonders stark, während sie in Mecklenburg-Vorpommern (minus 1,6 Prozent auf 5249), im Saarland (minus 2,7 Prozent auf 3890) und Bremen/Bremerhaven (minus 3,7 Prozent auf 3514) sank.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die neue, schwarz-rote Koalition verschiedene Maßnahmen angekündigt, um der Gewalt entgegenzuwirken. So will sie die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild einführen. Dafür plant die Regierung deutschlandweit einheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz.

Fußfessel als ein Gegenmittel

Der WEISSE RING hatte sich zuvor jahrelang für die Fußfessel engagiert, auch in Brandbriefen an die Politik und mit einer Online-Petition. Die Redaktion wies in einer umfangreichen Recherche unter anderem nach, wie erfolgreich das Modell in Spanien ist. Bei der modernen Variante der „Aufenthaltsüberwachung“ kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer trägt. Der Alarm ertönt, wenn sich der Überwachte und die Betroffene einander nähern.

Union und SPD versprechen zudem, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder festschreibt – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ auszubauen. Auch sei eine intensivere Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit geplant. Wie dies konkret geschehen soll, schreibt das Bündnis nicht.

Den Stalking-Paragraphen möchte die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese benutzen Männer mitunter, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.