Er ist unser „Mr. Zivilcourage“

Erstellt am: Mittwoch, 25. Oktober 2023 von Sabine

Er ist unser „Mr. Zivilcourage“

Dieser Mann ist die Personifikation von Zivilcourage beim WEISSEN RING: Günter Koschig aus Goslar gelingt es, sogar Hollywood-Schauspieler von seinen Projekten und Ideen zu überzeugen. Wie schafft er das?

Einen Schal der „Goslarer Zivilcourage Kampagne“ hat Günther Koschig fast immer parat. Foto: Christian J. Ahlers

Er kann einfach nicht anders. Günter ­Koschig hat den Mann, der aus dem Goslarer Lokal tritt, torkelnd den Außen­bereich durchquert und mit dem Auto­schlüssel in der Hand die Parkplätze ansteuert, gleich mit scharfem Blick ins Visier genommen. Koschig sitzt an einem Tisch am Ausgang, legt Messer und Gabel weg, springt auf und fängt den Betrunkenen ab. Er setzt ihn auf eine Bank, Koschigs Tochter kommt dazu, sie sprechen mit dem Restaurantpersonal, ­rufen einen Freund des Mannes an und warten, bis dieser den Betrunkenen schließlich abholt.

Dass das halb verspeiste Essen auf seinem Teller längst kalt geworden ist, ist Koschig nicht mal die kleinste Bemerkung wert, beschwerdelos nimmt er das Besteck wieder in die Hände. Als wäre nichts ­geschehen, als wäre sein Verhalten das normalste auf der Welt. Auch Gäste an anderen Tischen ­hatten ­aufgeblickt und den offensichtlich stark alkoholi­sierten Mann beobachtet. Aber niemand machte ­Anstalten, ihm in den Weg zu treten und ihn davon abzuhalten, in sein Auto zu steigen und loszu­fahren. Regt sich Koschig wenigstens darüber auf, über mangelnde Zivilcourage? Fehlanzeige.

Der Leiter der Außenstelle im niedersächsischen Goslar nutzt seine Energie lieber, um sein Lieblingsthema an anderer Stelle voranzubringen. Wenn man so mag, könnte man sagen: Günter Koschig ist die Verkörperung von Zivilcourage. 2010 initiierte er die „Goslarer Zivilcourage Kampagne (GZK)“, den ­Anlass dazu gab der Tod Dominik Brunners nach ­einer gewalttätigen Auseinandersetzung an einem Münche­ner S-Bahnhof im Jahr zuvor. Im Polizeidienst war Koschig Berater für Kriminalprävention, beim WEISSEN RING gehört er seit 1996 dem ­Fachbeirat Kriminalprävention an, das besondere ­Engagement in Richtung Zivilcourage war nahe­liegend. Das Ziel aus Koschigs Sicht: Handlungskompetenzen anbieten, die nicht überfordern.

Zusammen mit Projektpartnern wirbt der ­WEISSE RING hier im Harz und überall, wo es Koschig hin verschlägt, seitdem für ein Mut machendes Mit­einander. Erklärvideos, Lesungen des Autors Fadi Saad in Schulen und Vorträge gehören zum ­Programm und auch die Ehrung von „Alltags­helden“. Zum Beispiel den jungen Mann, den ­Koschig ein paar Stunden vor dem Vorfall im Lokal ausgezeichnet hat. Der hatte zwei Einbrecher ­beobachtet und dafür gesorgt, dass die Polizei das Duo festnehmen konnte. Koschig meint: „Diese Ehrungen sind das Wichtigste, weil sie den Menschen Mut machen, nicht wegzusehen, sondern die 110 zu wählen und den Opfern zu helfen.“

,,Ich habe das Gefühl, hier in meinem Wirkungsbereich etwas erreichen zu können."

Günther Koschig

Es reicht Koschig, wenn Veranstaltungen, die er ­organisiert, gut besucht werden. Nicht nur, aber vor allem, wenn er Kinder und Jugendliche mit ­seinen Aktionen erreichen kann, „da geht mir das Herz auf“. Ihnen will er die Zivilcourage-Regeln nahebringen: Beobachte die Situation genau! Fordere andere zum Mithelfen auf! Präge dir Tätermerkmale ein! Wähle den Notruf 110! Kümmere dich um das Opfer! Bleib als Zeuge am Tatort! ­Gefährde dich nicht selbst! „Die jungen Leute sind unsere Zukunft. Wir müssen uns darum kümmern, dass sie Vertrauen in die Polizei haben und Empathie für die Opfer“, meint Koschig.

Für „seine“ Sache, das Werben für Zivilcourage, hat der 68-Jährige genau 116 Unterstützer und Unter­stützerinnen gewinnen können, die für GZK-Postkarten und -Plakate posiert haben. Darunter sind zahlreiche Promis, die Liste reicht von Scorpions-­Sänger Klaus Meine bis zur Boxweltmeisterin Regina Halmich. Solche „Magneten“ sind wichtig: „Wenn wir mit Regina Halmich in eine Schule gehen und über Zivilcourage sprechen, wirkt das anders, als wenn man dort nur das ­Strafgesetzbuch vorträgt“, erläutert er, und dabei ­rutschen die freundlichen Augenbrauen ein Stück nach oben über den Brillenrand hinaus, so wie ­immer, wenn er ins Erzählen kommt und seinen Ausführungen Nachdruck verleihen möchte. Natürlich, der ehemalige Polizist ist durchaus stolz auf die Kontakte in die Promi-Welt. Aber Koschig ist niemand, der sich überschätzt, der Name des WEISSEN RINGS sei der Türöffner gewesen für die Ansprache von bekannten Personen.

Der Erfolg bei den Promis kommt allerdings nicht von ungefähr. Koschig sieht sich als „Netzwerker“, der sich Leute sucht, die ähnlich ticken. Er sagt: „Ich habe ein gewisses Sendungsbewusstsein, andere zu ­motivieren.“ Günter Koschig ist auch das, was seine Frau Angelika „dickfellig“ nennt, manch einer könne das als aufdringlich empfinden, andere wiederum als sympathisch. Der 68-Jährige sagt: „Man kann sich auch einen Korb einfangen, aber dann macht man weiter.“ Man müsse resilient sein, wenn es mal nicht klappt.

Einer der langjährigsten GZK-Unterstützer ist der Schauspieler und ehemalige Mr. Universum Ralf Moeller. 1996 hat Koschig ihn das erste Mal getroffen, bei der ­Eröffnung des „Planet Hollywood“ in Berlin. Koschig hielt den Kontakt über die Jahre aufrecht, vor mehr als zehn Jahren überzeugte er den Star und dessen Management und traf Moeller im Hamburger Hotel „Atlantik“ zum GZK-Fotoshooting. „Er war total cool drauf“, ­erinnert sich der Außenstellenleiter beim Gespräch im August. Gerade am Vortag erst hat er mit dem in Los ­Angeles lebenden Moeller telefoniert. Die beiden Männer verbindet neben dem gesellschaftlichen Engagement indes auch ein weiteres Thema: Bodybuilding.

Beim Bodybuilding hat Günter Koschig seine Frau ken­nengelernt, in einem Anbau am Haus in einem ­Goslarer Stadtteil finden allerlei Fitnessgeräte, Sportutensilien und ein großflächiger Spiegel Platz. Wie ­Koschig bei all den Terminen und Verpflichtungen für den Verein und seine Kampagne noch Zeit fürs Training hier findet, ist ein kleines Rätsel. Fakt ist aber: Der Mann hält sich fit.

Koschig ist ein Macher, immer in Bewegung, ein Tausend­sassa, er meint es ernst. Schnallt sich einen Gleitschirm um, um auf eine Baumpflanzaktion aufmerksam zu ­machen, zieht sich ein Super-Mario-Kostüm an und ­erklärt aus der Ukraine geflüchteten Kindern, wie man sich in einem Notfall am besten verhält. Sammelt Sachspenden für die Menschen in der Ukraine, bemüht sich um die Integration von Geflüchteten im Badminton­verein, dessen Vorsitzender er ist. Und nebenbei ist ­Koschig auch noch Stand-Up-Paddeling-Instructor, er bringt anderen den Trendsport bei.

Das alles nimmt Zeit in Anspruch. Zeit, die auch von der Familienzeit abgeht. Seine Frau und die beiden Töchter waren oft dabei, wenn Koschig im Namen des WEISSEN RINGS unterwegs war, kilometerweit durch ganz Deutschland fuhr für ein weiteres Fotoshooting, eine weitere Veranstaltung. Sie gehören dazu, sie tragen ­Koschigs Engagement mit, sie halten zusammen, sie sind auch aufrichtig miteinander. Beim Abendessen in dem Restaurant mit Frau, die ebenfalls ehrenamtliche Mitarbeiterin ist, und einer der zwei Töchter hört man in den Zwischentönen, dass es auch Entbehrungen sind, die dieses Ehrenamt und die Außenstellenleitung mit sich bringen, die nicht leichtfertig abzutun sind.

Günther Koschig (links) und Schauspieler Ralf Moeller (rechts). Foto: WEISSER RING

Das Heim der Familie Koschig erscheint im Lichte der Umtriebigkeit Günter Koschigs als eine kleine Oase. Es gibt zwar ein Büro mit Schreibtischen für die Vereins­arbeit, an den Wänden Erinnerungsfotocollagen von Treffen mit Promis, Andenken, Auszeichnungen stehen neben allerlei Trophäen, in denen sich das Engagement für den WEISSEN RING und die Zivilcourage-Kampagne manifestiert. Auch im Rest des Hauses gibt es noch an der einen oder anderen Stelle eindeutige Spuren, wie den WEISSER-RING-Kugelschreiber neben der Spüle. Von der großen Sonnenterrasse aus fällt der Blick dann jedoch in einen hübsch angelegten, gepflegten Garten, eine Holzbrücke biegt sich über einen kleinen Teich. Man ­hätte es nicht unbedingt erwartet, dieses idyllische ­Refugium ist das von Günter Koschig, ein Ort der Ruhe. Der wird „leider zu selten genutzt“, aber wenn, dann kann Koschig hier runterkommen. Das „Problem“ aus seiner Sicht: „Dabei kommen mir immer wieder neue Ideen.“

Zurück im Trubel, wenn Koschig durch die Goslarer Innen­stadt läuft, grüßt er nach links und rechts, mit der Oberbürgermeisterin ist er per Du, dann ist er selbst ein bisschen wie ein Promi. Er habe einen tollen Beruf gehabt und immer gute Impulse bekommen, das sei nicht selbstverständlich, er sieht sich in einer privilegierten Lage. „Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben und nicht in einer Einbahnstraße fahren“, sagt der 68-Jährige. Er fühlt sich sichtlich wohl, bei dem was und wie er es tut: „Ich habe das Gefühl, hier in meinem Wirkungsbereich ­etwas erreichen zu können.“ Er wisse, dass er hier, im Harz, nicht das Leid der Welt lindern könne. Aber kleine Schritte können etwas bewirken, davon ist Koschig überzeugt. Und er lebt vor, wie Zivilcourage im Kleinen funktioniert, wie das ganz praktisch aussehen kann, ­eigentlich für jeden umsetzbar, sollte man meinen: indem man sein Essen einfach mal kalt werden lässt, um für andere da zu sein.

Er wurde selbst Opfer – und hilft jetzt anderen mit seiner Erfahrung

Erstellt am: Dienstag, 8. August 2023 von Sabine

Er wurde selbst Opfer – und hilft jetzt anderen mit seiner Erfahrung

Johannes Duda ist Außenstellenleiter des WEISSEN RINGS im Kreis Coesfeld. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie sich viele Betrugsopfer fühlen – und warnt mit seiner Geschichte andere. Aber das ist nicht alles.

Wenn Johannes Duda über Betrugsmaschen aufklärt, weiß er, wovon er spricht.

„Das würde mir nicht passieren“ – wenn Johannes Duda diesen Satz hört, kann er nur mit dem Kopf schütteln. Immer wieder kommt der. Zum Beispiel von Teilnehmenden der Präventionsveranstaltungen, bei denen er über Betrugsmaschen und Tricksereien aufklärt. Den besten Beweis dafür, dass niemand so genau sagen kann, ob er oder sie nicht doch einmal auf Betrüger reinfällt, hat Duda seit vergangenem Jahr an der Hand. Denn da ist es ihm selbst passiert.

Vor ihm liegen die Unterlagen ausgebreitet. Die Notizzettel, auf denen er aufgeschrieben hat, wann ihn welche Nummer angerufen hat. Die Google-Play-Karten, die er gekauft hat und die jetzt wertlos sind. Die Anzeige, die er bei der Polizei aufgegeben hat. Und die Nachricht über die Einstellung des Ermittlungsverfahrens – ohne Ergebnis.

„Ihr Geld ist auf dem Weg, aber…“

Es war Anfang 2022, als sein Telefon klingelte und ein Herr Lauterbach am anderen Ende verkündete, Johannes Duda habe bei einem Gewinnspiel 49.000 Euro gewonnen. Das Geld sei auf dem Weg, sagte der nette Mann, der Bote aber müsse bezahlt werden. Bargeld dürfe er allerdings nicht annehmen, sondern nur Google-Play-Guthabenkarten. Die gibt es im Super- oder Drogeriemarkt an der Kasse zu kaufen, im Wert von bis zu 500 Euro.

Zwei solcher Karten sollte Johannes Duda also besorgen, um den Boten zu bezahlen. Als der 74-Jährige damit vom Drogeriemarkt zurückkam und wieder mit dem Mann telefonierte, forderte ihn dieser auf, den Code auf den Rückseiten der Karten freizurubbeln und durchzugeben. Was Johannes Duda zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Mit der Buchstaben-Zahlen-Kombination des Codes kann sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung den Gutschein einlösen.

„Das ist schon großer Mist, dass mir das passiert ist – in meiner Funktion“, sagt Duda und schüttelt wieder einmal den Kopf. Seine Funktion: Seit 16 Jahren leitet er die Außenstelle des WEISSEN RINGS im Kreis Coesfeld, insgesamt 36 Jahre engagiert er sich dort schon ehrenamtlich. Eigentlich kennt er allerhand Betrugsmaschen. Weiß auch, dass man am Telefon vorsichtig sein muss. Und dass die Betrüger und Betrügerinnen sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um ihren Opfern das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Geordnet, pflichtbewusst, mit trockenem Humor

Nach so langer Zeit, sagt er, gebe es kaum ein Delikt, mit dem er noch nicht zu tun gehabt habe. Begonnen hat sein Engagement mit der Sendung „Aktenzeichen XY: ungelöst“. Die Fälle und deren Aufarbeitung haben ihn immer interessiert – und auch die Möglichkeit, den Betroffenen zu helfen. Beruflich hatte er nie mit Kriminalität zu tun: Johannes Duda ist gelernter Groß- und Außenhandelskaufmann. Zuletzt arbeitete er im medizinischen Krankenhausarchiv im Kreis und half bei der Digitalisierung der Krankenakten. Er komme auf 51 Berufsjahre, betont er. Wer könne das heute schon noch von sich behaupten?

Ein bisschen ist Johannes Duda so, wie sich eine Zugezogene einen typischen Westfalen vorstellt. Geordnet, pflichtbewusst, mit trockenem Humor. „Keiner da“, ruft es nach dem Läuten von drinnen, bevor er die Haustür öffnet. Duda lebt in einem Reihenhaus in Nottuln, einer 20.000-Einwohner-Gemeinde im Kreis Coesfeld nahe Münster. Auf dem Weg ins Dachgeschoss, wo er sich sein Büro eingerichtet hat, geht es an einem besonderen Zimmer vorbei: dem mit der Musiksammlung. Schallplatten und CDs füllen mehrere Wandregale. Darunter die Beatles, Abba, James Last – und die Amigos. „Das erfolgreichste Gesangsduo Europas“, sagt Johannes Duda, „und Botschafter des WEISSEN RINGS!“

Die Musik ist für ihn ein guter Ausgleich zur Außenstellenleitung. Genauso wie sein weiteres Ehrenamt: Er übernimmt Fahrdienste für Menschen mit Behinderungen, von deren Wohnung zur Werk-statt, in der sie arbeiten. „Ich wollte auch mal was anderes sehen“, sagt er dazu. Etwas, das nichts mit Kriminalität zu tun hat.

„Das ist schon großer Mist, dass mir das passiert ist – in meiner Funktion.“

Johannes Duda

„Ich kann das einfach nicht nachvollziehen.“

Denn nicht immer ist es leicht, die Dinge, die er beim WEISSEN RING mitbekommt, hinter sich zu lassen. Immer wieder hat er erlebt, wie Ehrenamtliche irgendwann das Handtuch geworfen haben, weil die Geschichten derer, die sie betreut haben, sie nicht losgelassen haben. „Wenn ich meine Haustür hinter mir schließe, muss ich das, was ich erfahren habe, draußen lassen“, sagt er. Aber: „Das war auch ein Lernprozess.“

Doch auch wenn er sagt, dass es ihm gut gelingt, die Erfahrungen anderer nicht zu sehr an sich heranzulassen, scheint es doch etwas mit ihm zu machen. Den Eindruck gewinnt man, wenn man ihm dabei zuhört, wie er von Fällen aus der Umgebung erzählt. Dabei deutet er immer wieder aus dem Fenster – nicht auf ein bestimmtes Haus, eher in eine Richtung. Dort hinten sei das gewesen, wo ein Junge für Sex bezahlt wurde. Und da – an einem Ort, der in einer anderen Richtung liegt – gebe es Gewalt in einer Beziehung, einer der Beteiligten wisse nicht, wie das zu lösen sei. Und dann die Frau, die im Altenheim von einem Pfleger missbraucht wurde. Immer wieder Kopfschütteln. Und immer wieder derselbe Satz: „Ich kann das einfach nicht nachvollziehen.“ Es scheint wie ein Lernprozess, der nie ganz abgeschlossen sein wird.

Die Details einer Straftat wolle er oftmals lieber nicht so genau wissen. Das helfe ihm, das alles nicht zu nah an sich heran zu lassen. Im vergangenen Jahr habe er hauptsächlich mit Betroffenen von Sexualstraftaten zu tun gehabt. Nicht alle würden Anzeige erstatten, weil dadurch für sie „vieles ins Rollen“ kommen würde. Auch Scham sei immer wieder ein Thema, das sei verständlich, meint Duda.

Pragmatischer Umgang mit eigener Betrugsgeschichte

Sein eigener Fall, der Google-Play-Karten-Betrug, ist da ganz anders gelagert: Ein paar Tage nachdem er dem unbekannten Anrufer die Gutschein-Codes durchgegeben hatte, rief dieser erneut an. Es habe einen Zahlendreher gegeben. Statt 49.000 habe er 94.000 Euro gewonnen. Um das Geld zu bekommen, solle er erneut eine 500-Euro-Karte besorgen. „Da wusste ich, dass da etwas nicht stimmt“, sagt Duda. Er ging direkt zur Polizei – auch wenn ihm bewusst war, dass die bei solchen Taten wenig tun kann.

Heute sagt er: „Ich wusste nicht, was Google-Play-Karten sind. Hätte ich das gewusst, wäre es mir vielleicht schon früher komisch vorgekommen.“ Die 1.000 Euro, die jetzt weg sind, hätten wehgetan. Doch er geht mit seiner Erfahrung pragmatisch um und behält sie nicht für sich. Stattdessen spricht er offen darüber – mit der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis und auch bei Veranstaltungen des WEISSEN RINGS. Es beschäftigt ihn, dass immer wieder vor allem ältere Menschen Opfer von Betrügereien werden.

Wie viele es sind, dazu gibt es keine klaren Zahlen. In der Polizeilichen Kriminalstatistik fallen Anrufmaschen wie Enkeltrick, Schockanrufe, falsche Polizisten oder falsche Gewinnversprechen allgemein unter „Sonstigen Betrug“. Nicht jedes Bundesland erfasst Informationen zu diesen Straf-taten genauer. Zudem tauchen viele davon nicht in der normalen Statistik auf, weil die Täter und Täterinnen häufig im Ausland sitzen. Und nicht jedes Opfer wendet sich an die Polizei. Aus den Zahlen der Polizei geht hervor, dass es bei einem großen Teil der Taten beim Versuch bleibt. Die Aufklärungsquote allerdings ist einstellig und die Schadenssummen zum Teil enorm – allein in NRW lag der Schaden 2021 bei etwa 30,3 Millionen Euro, der durch „vollendete Inlands- und Auslandsstraftaten zum Nachteil älterer Menschen“ entstanden ist, unter die der Anrufbetrug zählt.

Einstellige Aufklärungsquote

Die Polizei warnt und gibt Hinweise, wie man sich schützen kann. Johannes Duda kennt diese Tipps. Er weiß, was zu tun ist, wenn die EC-Karte gestohlen wurde: „Nicht nur bei der Bank sperren lassen, sondern auch durch die Polizei.“ Die Bank sperrt nämlich nur für PIN-basierte Kartenzahlungen, die Polizei hingegen kann eine sogenannte Kuno-Sperrung auslösen. Kuno steht für „Kriminalitätsbekämpfung im unbaren Zahlungsverkehr unter Nutzung nichtpolizeilicher Organisationsstrukturen“, die Sperrung der Karte wirkt dann für sämtliche Zahlungen. Duda weiß, was bei der Masche der falschen Polizisten alles nicht stimmt: „Auf dem Display des Telefons wird niemals die 110 angezeigt.“ Der 74-Jährige empfiehlt: „Bei unbekannter Nummer nie mit Namen melden, nicht zurückrufen, nicht ‚Ja‘ sagen.“

Nun kennt er sich eben zudem noch mit dem Betrug rund um Google-Play-Gutscheine aus. Wegen seiner eigenen Erfahrung und auch, weil es Maschen wie den Enkeltrick so lange gibt und immer wieder Menschen Geld verlieren, ist Duda überzeugt: Niemand sollte sich zu sicher sein, dass es ihm oder ihr nicht doch auch einmal selbst passiert.

Sie lassen Zeugen im Gericht nicht allein

Erstellt am: Mittwoch, 31. Mai 2023 von Sabine

Sie lassen Zeugen im Gericht nicht allein

Die Zeugenbetreuungszimmer sind ein besonderes Hilfsangebot des WEISSEN RINGS im Norden Deutschlands: Ehrenamtliche in Bremen und Bremerhaven wie Marion Schild und Doris Meyer unterstützen gezielt Opfer, die vor Gericht aussagen müssen.

Marion Schild (rechts) und Doris Meyer (links) stehen Zeuginnen und Zeugen im Gericht zur Seite.

Der Parkettboden knarzt, der Geruch im Flur erinnert an den in alten Gemäuern, vielleicht auch ein bisschen an Weihrauch: Das „Alte Gerichtshaus“ in Bremen, in dem das Landgericht untergebracht ist, wurde 1895 fertiggestellt und steht unter Denkmalschutz. Das Gebäude ist nicht einfach nur alt, es ist vor allem Ehrfurcht gebietend für diejenigen, die es betreten. Für die, die der Buntglas-Justitia über dem Treppenaufgang entgegenschreiten und die schwere Eichenholztür zum Schwurgerichtssaal aufwuchten müssen. Für die, die unter einem imposanten Kronleuchter und zwischen den aufwändig vertäfelten Wänden im Zeugenstand Platz nehmen müssen und sich dort allein schon wegen der imposanten Raumgestaltung klein und ziemlich verloren fühlen dürften.

Es sei denn, der Zeuge oder die Zeugin hat zuvor die Post vom Gericht mit der Ladung zur Aussage aufmerksam durchgeschaut – denn der Umschlag enthält in Bremen und Bremerhaven immer auch den Hinweis auf die Zeugenbetreuung des WEISSEN RINGS: eine Besonderheit in der Struktur des Vereins, die es nur im Land Bremen gibt. Denn die Einheiten der „Zeugenbetreuungszimmer“, kurz ZBZ, haben einen anderen Aufgabenzuschnitt als die Außenstellen vor Ort: Diese sind hier im Norden nur für die Opferfallbearbeitung zuständig, während in den ZBZ ausschließlich Zeugen betreut werden, die in einem Prozess erscheinen müssen. Dazu gehört auch, auf Wunsch im Gerichtssaal zwischen Zeuge und Angeklagtem zu sitzen – wie eine Art Puffer: „Vielen Zeugen hilft schon zu wissen, dass sie nicht alleingelassen sind“, sagt Marion Schild.

Seit 1998 eine Institution

Sie kennt sich im Bremer Landgerichtsgebäude bestens aus. Schnell schreitet Schild beim Rundgang die langen Flure entlang, weist hierhin und dorthin, organisiert kurzerhand eine Besichtigung des riesigen Sitzungssaals 218. Während ihres Referendariats war sie hier ein und aus gegangen, und so kehrte die verrentete Juristin 2018, als der Verein via Internet Mitarbeiter für die Zeugenbetreuung suchte, gern an diesen Ort zurück.

1998 schuf das Land Bremen die besonderen Voraussetzungen für die ZBZ, eine bisher einzigartige Einrichtung in Deutschland: Der Gesetzbegeber beschloss, dass Opfer sexueller Gewalt einen besonders sensiblen Umgang benötigen. Deshalb stellen in Bremen und Bremerhaven die Gerichte seit 2002 je einen Raum in ihren Gebäuden zur Verfügung und der WEISSE RING wiederum das Personal, um dort Opferzeugen, aber auch alle sonstigen Zeugen zu beraten und zu begleiten.

Nicht immer muss es ein persönliches Gespräch sein, vieles lasse sich telefonisch klären, berichtet Doris Meyer, denn die meisten Menschen riefen zuerst einmal bei den ZBZ an. In Bremerhaven landen sie dann bei Meyer und ihren Kolleginnen und Kollegen im Amtsgericht. Wer vorbeikommt, tritt in ein rotes Backsteinhaus, zwischen 1913 und 1916 errichtet als preußischer Staatsbau, innen schlichter gestaltet, trotz der Stuckdecken.

Keine Fragen über die Tat

Anders als die Außenstellen vermitteln die ZBZ-Mitarbeitenden keine finanziellen Hilfen, ansonsten haben aber auch sie eine Lotsenfunktion, verweisen an Trauma-Ambulanzen oder Selbsthilfegruppen. Auch hier, im geschützten Rahmen der Zeugenbetreuung, fragten die Ehrenamtlichen nicht nach der Tat, betonen die beiden Frauen. „Wir glauben den Opfern und Zeugen. Sie werden hier wahrgenommen als Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen“, so die Rentnerin Meyer, die in ihrem Berufsleben unter anderem in der Sozialberatung tätig war und seit 2014, als sie in der Zeitung ein Mitarbeiter-Gesuch entdeckte, beim ZBZ mitarbeitet.

Wissen, Empathie, zuhören können: Das braucht es laut Schild, um Zeugenbetreuerin zu werden. Aktuell hat sie am Standort Bremen 14 Kollegen und Kolleginnen, die ihre Aufgabe „sehr ernst nehmen“, lobt Schild. Auf sie kommen pro Jahr rund 150 Anfragen von Zeugen und Zeuginnen, die beraten oder betreut werden möchten. In Bremerhaven sind es insgesamt zwölf Mitarbeitende und um die 120 Beratungen, coronabedingt ging die Zahl etwas zurück, es wäre aktuell „viel mehr Betreuung möglich“, sagt Meyer.

„Wir glauben den Opfern und Zeugen. Sie werden hier wahrgenommen als Menschen, die Hilfe und Unterstützung brauchen."

Doris Meyer

Die Arbeit für die ZBZ sei einfacher als die in den Außenstellen, sagen die ZBZ-Koordinatorinnen Meyer und Schild übereinstimmend. Die Kollegen und Kolleginnen, die Opferfälle bearbeiten, müssten sich sehr viel mehr mit den Schicksalen der Menschen beschäftigen als sie. Für Schild ist es denkbar, etwa Telefonate für ihr Ehrenamt auch von zu Hause zu erledigen. Für Meyer – an der Schleuse scherzt sie mit dem Justizpersonal, man kennt sich – kommt das nicht infrage: Durch die Tätigkeit im Büro im Gerichtsgebäude gelinge es ihr besser, sich abzugrenzen, die professionelle Distanz zu halten. Ihr Zuhause soll ihr Rückzugsort bleiben.

Ihr Ziel: stabilisieren

Im Zusammenhang mit den Vorgängen am Gericht geht es oft darum, den geladenen Zeugen zu erklären, dass sie eine Aussagepflicht haben und wer wo im Sitzungssaal sitzt. Dazu liegen in beiden Büros Schaubilder bereit, mitunter wird der Saal auch vorab besichtigt. Nicht immer finden die Verhandlungen in großen Sälen statt, aber wer die Räumlichkeiten schon mal gesehen hat, gewinnt an Ruhe, meint Marion Schild. Ihre Kollegin Meyer ergänzt, dass es darum geht zu stabilisieren, Begleitung für den Termin anzubieten und Ängste abzubauen, etwa vor dem Zusammentreffen mit den Angeklagten.

„Viele Opfer fragen sich, warum sie als Zeugen geladen sind, und sind aufgeregt, weil sie nichts Falsches sagen wollen“, sagt Meyer. Beim gemeinsamen Warten darauf, dass das Gericht jemanden in den Zeugenstand ruft, steht daher die Beruhigung im Vordergrund: Einmal musste eine junge Frau zu einer Missbrauchstat aussagen, während der Wartezeit sprang sie auf, wollte nicht mehr aussagen. „Es war schwierig, sie wieder einzufangen und ihr die Situation zu erklären“, aber es gelang, schildert Meyer. Durch das Informieren und Betreuen nehme man den Gerichten Arbeit ab, meint Meyer. Auch Schild sagt: „Ich frage mich, wieso andere große Städte nicht nachziehen und Zeugenbetreuungszimmer einrichten.“

Augenkontakt mit dem Richter

Wenn Zeugen in den Gerichtssaal gerufen werden, in der Mitte Platz nehmen und alle Augen auf sie gerichtet sind – was tun? Marion Schilds Tipp: „Blickkontakt halten mit dem Vorsitzenden Richter, auch wenn der Verteidiger Fragen stellt“, das bringe Ruhe rein. „Oft sagen die Zeugen nachher, dass es gar nicht so schlimm und das Gericht sehr freundlich war.“

,,Vielen Zeugen hilft schon zu wissen, dass sie nicht allein – gelassen sind."

Marion Schild

Eines machen die zwei Ehrenamtlichen deutlich: Für die Betreuer und Betreuerinnen besteht kein Zeugnisverweigerungsrecht – das bedeutet, in der Theorie könnten auch sie in den Zeugenstand gerufen und gefragt werden, was der Zeuge ihnen erzählt hat. In der Praxis kam das allerdings noch nicht vor. Genauso wenig wurden die ZBZ-Mitarbeitenden bisher von einer Verhandlung ausgeschlossen, was Schild als Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements durch die Gerichte interpretiert: „Die anderen Beteiligten – Richter, Staatsanwälte, Anwälte – haben sich an uns gewöhnt.“ Meyer bestätigt: „Wir erfahren viel Wertschätzung, auch von Polizei und Politik“, das sei immens wichtig, denn „wir arbeiten hier alle ehrenamtlich, woher sonst sollen wir unsere Motivation ziehen?“

Zum Engagement für die Opfer hat Schild noch eine Anekdote parat: Einmal fragte ein Anwalt eine ZBZ-Mitarbeiterin, auf welcher rechtlichen Grundlage sie eigentlich im Saal anwesend sei. „Die Kollegin konterte schlagfertig, dass er als Jurist das doch wissen müsse – damit war das Thema erledigt.“ Die Betreuer und Betreuerinnen sind aber nicht nur vor und während des Prozesses an der Seite der Zeugen: „Manche Menschen müssen nach dem Urteilsspruch aufgefangen werden“, sagt Meyer und betont wie ihre Kollegin in Bremen: „Wir lassen die Zeugen auch dann nicht allein.“

Die Welt sehen – und dabei helfen, sie zum Positiven zu verändern

Erstellt am: Donnerstag, 13. April 2023 von Sabine

Die Welt sehen – und dabei helfen, sie zum Positiven zu verändern

Linn Sommerhoff lebt und arbeitet in Brüssel, engagiert sich aber trotzdem für den WEISSEN RING. Wie klappt das?

Linn Sommerhoff, Jugendbeauftragte des Landesverbands NRW/Rheinland. Foto: privat

Es klingelt nur ein Mal, und dann taucht Linn Sommerhoff auf dem Laptopbildschirm auf. Das Gespräch mit ihr findet über Facetime statt, denn seit knapp zwei Jahren lebt die Wirtschaftsjuristin in Brüssel. Der Umzug war für sie kein Grund, ihr Engagement beim WEISSEN RING in der Heimat an den Nagel hängen  – im Gegenteil: „Online lässt es sich auch aus dem Ausland toll zusammenarbeiten.“ Seit 2021 ist die 28-Jährige gemeinsam mit Tobias Petrulat Jugendbeauftragte des Landesverbands NRW/Rheinland, ist dort also Ansprechpartnerin für die Jungen Mitarbeiter bis 35 Jahre und arbeitet überwiegend an Präventionsprojekten. Für die jungen Ehrenamtlichen, laut Sommerhoff allesamt sehr engagiert und aktiv, ist die Koordination über das Internet völlig selbstverständlich.

Arbeiten im Herzen der EU

..Soziale Gerechtigkeit ist mir ein großes Anliegen."

Linn Sommerhoff

In die belgische Hauptstadt kam Linn Sommerhoff nach ihrem Jura-Staatsexamen in Deutschland, in Brüssel hängte sie einen Master dran: Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Außenpolitik. Da war der Dreh- und Angelpunkt der europäischen Politik idealer Studienort. Danach arbeitete sie für ein paar Monate in einem Think-Tank und ihr wurde klar: Hier will ich bleiben. Ganz bescheiden, fast nebenbei, erwähnt sie ihre aktuelle Arbeitsstelle. „Seit September 2022 arbeite ich bei einer NGO, als Policy Assistant, also in einem absoluten Einstiegsjob“, erzählt sie mit einem Lächeln. Sie hilft bei der Strategieentwicklung der Nichtregierungsorganisation, nimmt an Sitzungen der EU-Institutionen teil und berichtet darüber und behält die Entwicklung sozialpolitischer Themen im Blick, für die sich ihr Arbeitgeber einsetzt.

Das Büro der jungen Frau liegt mitten im Europaviertel, in einem Gebäude, das typisch ist für Brüssel: alt, etwas heruntergekommen, mit flämischer Klinkerfassade und einem großen Tor. Über das Kopfsteinpflaster vor dem großen Eingangstor brettert schon mal der ein oder andere Diplomatenwagen mit getönten Scheiben. Direkt gegenüber ragt der architektonische Gegensatz in den Himmel: ein riesiges, modernes Glasgebäude der Europäischen Kommission. Es ist das Viertel der Abgeordneten, Juristen, Lobbyisten und ambitionierten Praktikanten. Die Stellen hier sind hart umkämpft, Menschen aus aller Welt hoffen, etwas zu verändern und die europäische Politik zu beeinflussen. So auch die gebürtige Ruhrpottlerin, die sagt: „Soziale Gerechtigkeit ist mir ein großes Anliegen.“

Hilfsprojekte in Tschernobyl

Das Interesse Sommerhoffs für andere Kulturen und deren soziale Situation wurde im Jahr 2004 geweckt. Die meisten Deutschen denken zu dieser Zeit nicht mehr an den Reaktorunfall von Tschernobyl, längst bewegen neue Unglücke die Welt. Nicht so in Mülheim an der Ruhr: Die Eltern von Linn Sommerhoff, sie ist gerade zehn Jahre alt, nehmen in den Sommerferien ein gleichaltriges Mädchen aus Tschernobyl für einen sogenannten Erholungsurlaub auf. „Meine Eltern arbeiten beide im Sozialwesen und haben sich beruflich und privat immer für andere eingesetzt“, erzählt Sommerhoff. Natürlich habe es eine Sprachbarriere gegeben, „aber wir haben es irgendwie geschafft, uns zu verständigen.“ Die damals Zehnjährige lernt: Es gibt Menschen, denen es nicht so gut geht wie ihr selbst. Kurz darauf reist sie im Rahmen eines Hilfsgütertransports mit ihrer Mutter in die Nähe von Tschernobyl. Vor Ort sieht sie die Bedingungen, unter denen die Menschen leben, die Folgen des Unfalls. Und diese ersten Begegnungen haben wohl den Grundstein gelegt für Linn Sommerhoffs berufliche Karriere.

Die 28-Jährige hat einen wachen, offenen Blick. Im ersten Moment wirkt sie jünger als sie tatsächlich ist, aber das ändert sich, sobald sie anfängt zu erzählen: eloquent, ernsthaft und mit Nachdruck. Beim Reden gestikuliert sie viel, besonders, wenn sie über Themen spricht, die ihr am Herzen liegen. Und das sind vor allem Menschen. Seit Jahren ist sie viel unterwegs, aber das Angenehme – die Welt sehen – verbindet sie stets mit dem Nützlichen: Hinsehen und mit anpacken. Mit 16 verbringt sie ihre Ferien in den USA. Während andere Schüler in ihrem Alter die Sehenswürdigkeiten der bekannten Metropolen erkunden, kümmert sich Linn Sommerhoff in den ärmeren Vierteln von Philadelphia um benachteiligte Kinder. 2014 ist sie für zwei Monate in Vietnam und unterstützt lokale Hilfsprojekte.

„Man ist da, um zu helfen“

Tschernobyl, Philadelphia und schließlich Vietnam: Bedrückt sie es nicht, wenn sie direkt mit der Armut der Menschen konfrontiert wird? Nachdenklich streicht sich Linn Sommerhoff eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Eigentlich nicht, nein. Man nimmt die Unterschiede und Probleme natürlich wahr. Aber man ist da, um zu helfen und die Situation zu verbessern. Und die Leute freuen sich sehr darüber. Sie jammern nie, sondern machen das Beste aus ihrer Situation.“

Linn Sommerhoff lebt in Brüssel, ihr Engagement für die Jungen Mitarbeiter im Verein managt sie ganz selbstverständlich über das Internet. Foto: privat

Dann gibt es da noch einen Aufenthalt während des Studiums in einer kleinen Stadt in Weißrussland. „Da wird zum Beispiel einfach mal für zwei Tage das Wasser abgestellt“, erzählt Linn Sommerhoff, und ihre Stimme wird vor Empörung etwas lauter. „Ohne Ankündigung – und nicht einmal im Jahr, sondern immer wieder. Die Menschen, die dort leben, sind das gewohnt und machen kein großes Aufhebens darum.“ Aber diese Situation, das merkt man, hat die Wirtschaftsjuristin nachhaltig beeindruckt. Weil ihr bei diesem Aufenthalt wieder einmal deutlich wird, unter welchen Bedingungen Menschen in anderen Ländern leben müssen. Tatenlos hinnehmen möchte die 28-Jährige das nicht. Deshalb die Entscheidung für den Master im Fach Internationale Beziehungen. Sie sagt auch: „Die Entscheider der EU sitzen meist im zehnten Stock. Da ist es gut, wenn Leute von unten sie immer wieder daran erinnern, wie die Situation außerhalb der Parlaments-Bubble wirklich ist.“

Schnell erste Opfer betreut

Lange Sitzungen inklusive: Linn Sommerhoff vor dem EU-Parlament. Foto: privat

Trotz ihres großen Interesses für fremde Länder, für Hilfsprojekte und das Leben im Ausland: Linn Sommerhoff verbindet viel mit ihrer Heimat. Regelmäßig besucht sie Eltern und Freunde. Und dann ist da noch ihr Ehrenamt in Deutschland. Das nahm 2018 seinen Anfang: „Ich habe – wie alle Jura-Studentinnen – schnell gemerkt, wie trocken und theoretisch das Studium sein kann, und habe nach Möglichkeiten gesucht, mein Wissen praktisch anzuwenden. Aber nicht als Nebenjob, sondern ehrenamtlich.“ Beim Googeln stieß sie auf die Außenstelle Bonn des WEISSEN RINGS, bewarb sich und durchlief das Training. „Danach ging es relativ schnell und ich konnte die erste Betreuung eines Opfers übernehmen. Darüber habe ich mich sehr gefreut.“ In dieser Zeit traf sie oft Opfer, zum Spaziergang oder Kaffee – persönliche Gespräche schaffen mehr Vertrauen als etwa ein Telefonat, man rede dann einfach offener, findet sie. Beim Ehrenamt zeigt sich erneut Linn Sommerhoffs pragmatische Seite und ihr Selbstschutz: „Natürlich gibt es immer wieder Fälle, die einen mehr mitnehmen als andere. Besonders, wenn man die Person bis zum Gerichtsprozess begleitet.“ Aber dafür hatte die damalige Studentin ein Arbeitshandy, das sie abends und am Wochenende ausstellen konnte, um Zeit für sich zu haben und Abstand zu gewinnen, auch in Prüfungsphasen nahm sie sich Auszeiten.

Entscheidungen aus Brüssel haben Einfluss auf den WEISSEN RING

Man könnte annehmen, dass Linn Sommerhoff nach der Arbeit und den zusätzlichen Onlineterminen mit den Ehrenamtlichen aus ihrem Landesverband gerne mal die Tür hinter sich schließt und einen ruhigen Abend allein genießt. Aber so aktiv wie sie im Berufsleben ist, ist sie auch privat. Sie macht sehr gerne Sport, ein Ausgleich zu den langen Sitzungen und Recherchetagen. Und sie hat sich in Brüssel einen internationalen Freundeskreis aufgebaut: „Viele Freunde kommen aus Süd- und Mittelamerika, deshalb versuche ich gerade, nebenbei noch etwas Spanisch zu lernen.“ Oft kochen sie gemeinsam und tauschen landestypische Rezepte aus.

Wie lange Linn Sommerhoff noch in Brüssel bleibt, weiß sie nicht. Ihre Stelle ist auf ein Jahr befristet. Schon jetzt sieht sie deutlich, was sie von hier aus bewirken könnte. „Seit ich diese Nähe zum EU-Parlament und der Kommission habe, ist mir klar geworden, welche Relevanz die EU-Politik auch für Deutschland und die Arbeit des WEISSEN RINGS hat. Man muss sich nur die aktuelle Richtline zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen ansehen. Was hier entschieden wird, beeinflusst auch maßgeblich die Gesetze in Deutschland zu diesem Thema.“ Ein Thema, das der Ruhrpottlerin sehr am Herzen liegt. Ihr Vertrag in Brüssel läuft im Herbst aus. Wo sie weiter dafür kämpfen wird, weiß sie noch nicht. Fest steht: Irgendwo auf der Welt wird sie sich weiterhin für sozialpolitische Themen einsetzen.

„Ehrfurcht vor Ede“ und eine rote Schreibmaschine

Erstellt am: Mittwoch, 1. März 2023 von Sabine

„Ehrfurcht vor Ede“ und eine rote Schreibmaschine

Marion Kollmann gehört zum Inventar: Die Buchhalterin arbeitet seit 45 Jahren hauptamtlich beim WEISSEN RING. Ein Blick zurück auf „die gute alte Zeit“.

Marion Kollmann findet es wichtig, dass Hauptamtliche „gemeinsam für die Sache brennen“.

Normalerweise stellen wir in der Rubrik „Ehrensache“ Ehrenamtliche vor – diesmal machen wir aus gutem Grund eine Ausnahme: Marion Kollmann arbeitet seit 45 Jahren hauptamtlich beim WEISSEN RING. Hier blickt die Buchhalterin zurück auf die Gründungszeit unter Eduard Zimmermann – und wie sich der Verein verändert hat.

Wie kam es dazu, dass Sie 1978 beim WEISSEN RING eingestiegen sind? Wie haben Sie erfahren, dass es den damals noch sehr jungen Verein überhaupt gibt?

Nach meiner Ausbildung zum Bürokaufmann (damalige Bezeichnung) sah ich in der Allgemeinen Zeitung in Mainz eine sehr kleine, eng geschriebene Stellenanzeige des WEISSEN RINGS. Es wurde Verstärkung für das Büroteam gesucht. Ich entschied spontan, einfach einmal anzurufen. Der Verein war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt.

Erinnern Sie sich noch an den ersten Tag beim WEISSEN RING? Welchen Eindruck hatten Sie?

Oh ja, noch sehr gut. Zunächst waren damals in den 1970er-Jahren alleine schon die hellen Büroräume in Mainz-Finthen für mich beeindruckend. Genauso beeindruckend waren aber auch die Berge von Dokumenten, die auf den Schreibtischen lagen. In Erinnerung ist mir auch die rote elektrische (!) Schreibmaschine geblieben, die für mich der Knaller war.

Wo und in welcher Funktion haben Sie gearbeitet? Hat sich Ihr Arbeitsplatz im Laufe der Jahre verändert?

Funktionen als solche gab es zunächst nicht. Es galt, die Berge von Post zu sortieren und die wichtigsten bzw. eiligsten Vorgänge abzuarbeiten. Dazu gehörte auch die Bearbeitung der Mengen von Kontoauszügen. Im Laufe der Jahre sind Buchhaltungsaufgaben mein Arbeitsgebiet geworden.

Ihre damaligen hauptamtlichen Kollegen und Kolleginnen oder die Gründungsmitglieder, was waren das für Menschen? Was trieb sie an?

Meine einzige Kollegin Elke Funke arbeitete zuvor in der DKF (Deutsche Kriminalfachredaktion) von Gründungsmitglied Eduard Zimmermann. Elke Funke wurde von ihm für den Verein abgeworben und sollte „da mal machen“. Der dritte im Bunde, Geschäftsführer Helmar Schmitz von Hülst, sichtete u. a. die Post, bereitete die verschiedenen Stapel vor und arbeitete zusammen mit uns das Ganze nach und nach ab. Mit der Zeit wurde der Verein immer professioneller. Aufgrund des explosionshaften Wachstums des Vereins war dies aber auch unumgänglich.

Welches Ereignis ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben und wieso?

Oh, da gibt es mehrere. Zum Beispiel die jährlichen Mitgliederversammlungen (heute Bundesdelegiertenversammlung). Das Kennenlernen und der Austausch mit der vergleichsweise „Handvoll an Ehrenamtlichen“. Die Gespräche am runden Tisch mit den Gründungsmitgliedern waren für mich als junger Mensch sehr beeindruckend.

Im Rückblick auf bisher 45 Jahre beim WEISSEN RING: Vermissen Sie etwas aus der „guten alten Zeit“?

Ja, für mich, im Rückblick gesehen, war es eindeutig eine gute Zeit.

Apropos vermissen: Welcher Promi fehlt Ihrer Meinung nach noch als Botschafter des WEISSEN RING?

Das ist ein breites Feld. Ich bin da sehr sachbezogen und fand z. B. die Kampagne mit den Tatort-Kommissaren sehr gelungen und ansprechend. Ein bestimmter Promi fällt mir nicht ein, aber eine bekannte Person aus dem engeren Netzwerk wäre schon schön.

Der Verein war vor allem in der Anfangszeit ja stark verknüpft mit Aktenzeichen xy: ungelöst. Haben Sie die Sendung früher gesehen – schalten Sie heute ein?

XY war zu meiner Jugendzeit Kult. Wie viele andere Kinder wurde ich ins Bett geschickt, wenn „Ede“ kam. Aber nach ein paar Mal heimlich „neben der Tür stehen und schaudernd mithorchen“ verlor ich das Interesse daran. Später, zu Beginn meiner Tätigkeit, war es für mich schon ein „ehrfürchtiges“ Gefühl, Eduard „Ede“ Zimmermann zu sehen und auch noch mit ihm zusammenzuarbeiten. Seitdem lief und läuft XY bei mir wieder.

Aktuell gibt es viele „True-crime-Formate“ im Fernsehen und Internet, die echte Kriminalfälle nacherzählen. Dabei geht es anders als bei Aktenzeichen nicht um Aufklärung, sondern um Unterhaltung. Was halten Sie davon?

Ehrlich gesagt: gar nichts. Das ist für meinen Geschmack zu gestellt und reißerisch. Die Formate vom MDR und mittlerweile auch vom SWR finde ich in Ordnung.

Vereinssitz ist ja in Mainz. Unseren Informationen zufolge wurden Sie dort kürzlich mit einem Fastnachtsorden gesichtet. Hand aufs Herz: Sind Sie Fastnachterin?

Nicht mehr so wie früher; ich war lange Jahre aktiv in einem Fastnachts-Verein. Mitreißen lasse ich mich aber schon noch gerne.

In welchem Kostüm werden wir Sie 2024 sehen?

Gute Frage – das werde ich wieder spontan entscheiden.

Was ist Ihr Tipp oder Rat für Kolleginnen und Kollegen, die heute beim WEISSEN RING anfangen?

Wenn ich dies gefragt werde, kommt mir immer wieder der gleiche Satz in den Sinn: Gemeinsam für die Sache brennen, interessiert sein an Themen und Projekten des Vereins, aber auch an abteilungsübergreifenden Arbeitsabläufen in der Verwaltung.

„Rücksicht nehmen auf die private Situation von jungen Leuten“

Erstellt am: Mittwoch, 7. Dezember 2022 von Sabine

„Rücksicht nehmen auf die private Situation von jungen Leuten“

Benedikt Wemmer ist neuer Vertreter der Jungen Mitarbeiter. Im Interview erklärt er, wie die Stimmung unter den „JuMas“ ist und wann es ein Vorteil ist, wenn Ansprechpartner in ähnlichem Alter zur Verfügung stehen.

Benedikt Wemmer wünscht sich möglichst vielfältige Außenstellen.

Benedikt Wemmer ist bei der Bundesdelegiertenversammlung zum Vertreter der „Jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (JuMas)“ in den Bundesvorstand des WEISSEN RINGS gewählt worden. Ziel der „JuMas“ ist es, junge Menschen einerseits über die Hilfsangebote des Vereins zu informieren und andererseits für das Ehrenamt zu begeistern. Der 32 Jahre alte Wemmer ist seit 2013 Mitarbeiter der Außenstelle in Münster. Hauptberuflich arbeitet der Jurist als Berater im Bereich Zoll- und Außenwirtschaftsrecht. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.

Wie kamen Sie zum WEISSEN RING?

Während meines Studiums habe ich nach einem Ehrenamt gesucht, in dem ich mich weiterentwickeln kann, und bin über eine Freiwilligenagentur auf den Verein aufmerksam geworden. Mir hat beim WEISSEN RING der soziale Aspekt gefallen, dass man sich für die Menschen engagiert. Das finde ich bis heute erfüllend. Anfangs habe ich vor allem Opferfälle begleitet, in den letzten Jahren war ich zunehmend in den Bereichen Prävention und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Das Ehrenamt ist für mich auch ein guter Ausgleich zum Job.

Warum haben Sie sich zur Wahl als Vertreter der „Jungen Mitarbeiter“ im Bundesvorstand aufstellen lassen?

Ich finde es wichtig, dass auch die „Jungen Mitarbeiter“ eine Stimme im Bundesvorstand haben, deshalb habe ich für den Posten kandidiert. Zuletzt hat Dr. Carina Agel unsere Themen in den Bundesvorstand getragen und uns dorthin vernetzt, das möchte ich künftig fortführen.

„Man muss was Gutes tun wollen“

Carina Agel saß acht Jahre lang für die „Jungen Mitarbeiter“ im Bundesvorstand des WEISSEN RINGS, bei der kommenden Wahl tritt sie nicht mehr an. Wie hat sie die Zeit im Vorstand erlebt? Ein Rückblick.

Wie ist die Stimmung unter den jungen Leuten aktuell?

Zurzeit ist sie ganz gut. Wegen der Pandemie war die Arbeit an vielen Stellen nur eingeschränkt möglich, zum Beispiel konnten wir Kampagnen nicht umsetzen. Jetzt aber finden sich regional wieder Gruppen zusammen, und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit unseren Themen und Aktionen wieder durchstarten können.

Der Großteil der Menschen, die sich hilfesuchend an den WEISSEN RING wenden, ist zwischen 21 und 40 Jahre alt. Wie sinnvoll ist es, dass Ansprechpartner in ähnlichem Alter zur Verfügung stehen?

Das kommt stark auf das Delikt an: Wenn es zum Beispiel um Straftaten in den sozialen Medien geht, dann kann es für jüngere Betroffene hilfreich sein, wenn der Ansprechpartner ihre Lebenswelt kennt und ein Verständnis dafür hat, wie die digitale Welt funktioniert – dass man sich nicht einfach bei Facebook, Instagram und Co. abmeldet und die Sache damit erledigt ist. In anderen Fällen kann es aber besser sein, von jemandem betreut zu werden, der oder die mehr Lebenserfahrung hat.

Wie sehen Sie das Miteinander der jüngeren und älteren Ehrenamtlichen im Verein?

Viele Ältere haben vielleicht das Gefühl: Jetzt kommen die jungen Wilden und finden alles Bisherige schlecht. Das stimmt nicht. Es geht uns „Jungen Mitarbeitern“ nicht darum, dass in den Außenstellen nur noch junge Leute sitzen, wir profitieren ja von den erfahreneren Ehrenamtlichen. Viel besser ist ein guter Mix, wenn wir Männer, Frauen, verschiedene Alters- und Berufsgruppen und so weiter haben, so dass wir möglichst vielfältige Außenstellen haben. Davon profitieren letztlich auch die Opfer.

Was braucht es, damit sich mehr junge Menschen im Verein engagieren?

Es ist heutzutage schwieriger, junge Menschen für ein Ehren­amt zu begeistern, vor allem weil die beruflichen Anforderungen gestiegen sind. Aber der WEISSE RING bietet auch die Möglichkeit, sich persönlich weiterzuentwickeln und Menschen in einer herausfordernden Lebenssituation eine echte Hilfe zu sein. Als Erstes müssen wir eine gewisse Bekanntheit bei diesen Menschen erreichen. Und als Zweites muss das Ehrenamt Rücksicht nehmen auf die private Situation von jungen Leuten: Wenn zum Beispiel eine Außenstelle ihr monatliches Treffen vormittags um 10 Uhr macht, ist das das für Studierende oder Berufstätige oftmals schwer einzurichten.

Bei ihm halten sich Ernsthaftigkeit und Humor in Balance

Seit September ist Dr. Patrick Liesching neuer Vorsitzender des WEISSEN RINGS. Wie er tickt, was ihn bewegt – und was sein Büro über den Juristen verrät.

Der neue Bundesvorsitzende Dr. Patrick Liesching hat nach der Wahl in seiner ersten Rede gesagt: „Die Jungen sind unsere Zukunft“, man solle in sie investieren. Wie beurteilen Sie das?

Das war ein Novum, dass sich ein Bundesvorsitzender direkt am Wahltag hinstellt und das so klar formuliert. Das ist uns allen extrem positiv aufgefallen. Wenn wir bestehende Mechanismen und Strukturen im Verein hinterfragen und das jetzt zum Vorstandsthema wird, stimmt mich das sehr positiv, dass wir hier gemeinsam einen guten Weg gehen werden.

Bei ihm halten sich Ernsthaftigkeit und Humor in Balance

Erstellt am: Montag, 28. November 2022 von Sabine

Bei ihm halten sich Ernsthaftigkeit und Humor in Balance

Seit September ist Dr. Patrick Liesching neuer Vorsitzender des WEISSEN RINGS. Wie er tickt, was ihn bewegt – und was sein Büro über den Juristen verrät.

Patrick Liesching kam vor 17 Jahren zum WEISSEN RING, jetzt ist er Bundesvorsitzender des Vereins. Foto: Christian J. Ahlers

Patrick Liesching sitzt am Besprechungstisch in seinem Büro, hebt den rechten Unterarm, schiebt Jackett und Hemd zurück und sagt: „Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Liesching hatte seine erste Stelle als Strafrichter im osthessischen Fulda angetreten, im Sitzungssaal ging es um ein Sexualdelikt: Das Opfer war eine Frau mit einer geistigen Behinderung, eine Erwachsene auf dem geistigen Stand eines Kindes. Der Täter war in der Nacht aus der Haft entlassen worden und hatte die Frau abgefangen, die gerade auf dem Weg zu ihrer Arbeit in einer Werkstatt war. „Wir mussten von ihr erfragen, was passiert war. Aber in ihrer kindlichen Sprache fehlten ihr die Worte dafür, sie konnte nicht ausdrücken, was ihr widerfahren war. Das hat mich sehr bewegt und sehr angefasst“, sagt Liesching.

Eine undurchschaubare „Sphinx-Fassade“ müsse man in dem Amt aufrechterhalten, „es hat mich immer wieder nachdenklich gemacht, dass man sich als Richter nicht mit Opfern solidarisieren kann.“ In einem anderen Prozess, es ging um einen Mordversuch an einer Frau, wurde die Betroffene vom WEISSEN RING begleitet, Liesching erfuhr, wie die Organisation half. Da wusste er: „In diesen Verein muss ich rein.“

Was verrät sein Büro über Liesching?

Vor 17 Jahren war das. Er engagierte sich in der örtlichen Außenstelle und hatte „nie die Intention, Funktionär zu werden“. Doch bald wurde er erst Stellvertretender Landesvorsitzender in Hessen, dann Landesvorsitzender – und seit Mitte September hat der 50-Jährige das höchste Amt, den Bundesvorsitz, inne. Das Band, an dem während der Delegiertenversammlung sein Namensschild hing, hat Liesching in seinen Schlüsselbund eingehängt, den er auf den Tisch in seinem Büro gelegt hat; im Hauptberuf ist er Chef der Staatsanwaltschaft in Fulda.

Sein Büro in der Staatsanwaltschaft Fulda. Foto: Nina Lenhardt

Was kann ein Büro über den Menschen verraten, der es nutzt? Es gibt welche, die so aufgeräumt und anonym eingerichtet sind, wie die Personen, die in ihnen arbeiten, sich hinter einer zurechtgelegten Fassade verstecken. Und es gibt Arbeitszimmer, die nichts verstecken wollen. Patrick Lieschings Büro gehört zur zweiten Kategorie. In ihm sitzt einer, der sich seinen Kaffee lieber selbst mit der Maschine auf der Fensterbank brüht. An der Wand ein zurückhaltendes Ikea-Gemälde-Paar in Pastellfarben, vor Jahren gekauft, irgendwie sei es dann hier gelandet. Kaffeetasse und Mini-Wimpel: VfB-Merchandise. Er hält dem Verein die Treue, er stammt aus Stuttgart.

Das hört man auch, vor allem wenn er scherzt, und das tut er oft, dann schwäbelt es aus ihm heraus. „Humor ist wichtig, mit einem Halbsatz kann man manchmal viel Druck aus einer Situation nehmen“, sagt Liesching. „Das muss auch in einem Verein möglich sein, der sich für die Belange von Kriminalitätsopfern einsetzt, ohne dass wir gleich zum Karnevalsverein werden.“ Dafür ist für ihn auch Platz in Opfergesprächen: „Wenn man stundenlang miteinander spricht, kann es helfen, wenn man mal miteinander lacht.“ Lautes Lachen ist nicht Lieschings Sache, aber er lächelt über vieles. Er kann es auch über sich selbst – etwa über sein Scheitern bei der Zulassungsprüfung, er wollte ursprünglich Mathe und Sport auf Lehr­amt studieren: „Bei 1,92 Meter Körperlänge ist Bodenturnen eine sehr hohe Hürde.“ Nur Herren­witze findet er nicht lustig, da wird er wieder ernst, zieht scharf die Luft ein und sagt: „Witze über das andere Geschlecht als Versuch, eine ernst gemeinte Diskriminierung hoffähig zu machen, das passt nicht in unsere Zeit.“

Die Jugend im Fokus

Was in diese Zeit passt: Nahbar und ansprechbar wolle er sein, sagt Liesching, jemand, hinter dem sich alle im Verein versammeln können, Haupt- wie Ehrenamt. Er hat selbst eine Leichtigkeit, eine Unprätentiosität inne, wenn er mit anderen spricht. Wenn er zuhört, nachfragt, dem Gegenüber auch etwas zurück- und von sich preisgibt. Bei der Bundesdelegiertenversammlung in Sachsen, gerade erst ins höchste Vereinsamt gewählt, hörte er sich später – die Lichter im Saal waren schon aus – geduldig die Kritik eines jungen Ehrenamtlichen an, dass im Vorstand Ostdeutschland zu schlecht vertreten sei.

Sie will „die Stimme der Basis sein“

Petra Klein ist neue Stellvertretende Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS. Ein Interview über ihre Ziele, Frauen in der Opferhilfe – und warum die Vernetzung auf europäischer Ebene so wichtig für den Verein ist.

Die Jungen, sie sind ihm ein wichtiges Thema. Er, der selbst jünger wirkt, sprach schon vor den Delegierten über sie. „Wir müssen unseren Verein nicht wie in der Politik in Wahlperioden denken, sondern in Dekaden.“ Die Generation Eduard Zimmermann sei immer noch eine Säule des Vereins, aber in zehn Jahren wahrscheinlich nicht mehr da, „dann bricht uns viel Ehrenamt und Bekanntheit weg.“ Der Verein müsse jetzt die jüngeren Generationen an Bord holen, „dann kriegt das einen Drive“. Aber er weiß, dass er 50 Jahre alt ist; er maße sich nicht an zu wissen, wie die Jungen ticken, „aber wir haben junge Mitarbeiter, die das wissen.“

Liesching weiß, was Ehrenamt bedeutet. Das Engagement an der Basis hat ihn geprägt, nach wie vor geht er zu Treffen „seiner“ Außenstelle in Fulda. Mit Respekt erzählt er von den Leistungen der Ehrenamtlichen aus seinem Landesverband, die er persönlich kennt, von zwei Frauen, die parallel viele heftige Fälle reinbekamen: „Die klagen nicht, es gibt kein Nörgeln, sie machen das aus Überzeugung.“ Von einigen Ehrenamtlichen höre er, dass es immer mal sehr fordernd auftretende Opfer gebe, mit denen sie umgehen müssten. Nicht jedem sei klar, dass die Mitarbeitenden kein Geld bekommen und die Opferhilfe in ihrer Freizeit machen, aber vielleicht sei das auch zu viel verlangt von Menschen, die gerade Opfer geworden sind, meint Liesching.

Welche Themen Liesching angehen will

Das Ehrenamt habe ihn sehr verändert, sagt Patrick Liesching. Zum Beispiel: „Man bekommt ein anderes Verständnis für andere Generationen.“ Wäre er nicht im Verein, er würde sich umgeben mit Menschen aus dem Job, der Familie, seiner Peergroup. Durch den Verein aber höre er, wie junge Menschen sprechen, oder wie es ist, als Pensionär einen wichtigen Teil des Lebens, den Beruf, hinter sich zu lassen und im Ehrenamt Struktur für den Tag zu suchen. „Das sind Lebenswelten, mit denen ich mich jetzt, mit 50, sonst noch nicht befasst hätte“, sagt er nachdenklich.

Patrick Liesching denkt auch über sein Ich nach, das schimpfen könne, wenn es nicht gut läuft, ist kritisch mit dem eigenen Berufsstand: Opferschutz sei noch nicht in alle Bereiche der Justiz vorgedrungen. Er schnappt sich eines der dicken Gesetzesbücher, zitiert aus einer weit hinten in der Strafprozessordnung versteckten Vorgabe, dass Opfer über Versorgungsansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz zu informieren sind. „In der Praxis ist es fast so, als gäbe es diesen Paragrafen gar nicht.“ Er beschwert sich nicht, er tut etwas dagegen: Am Nachmittag wird er sich vor junge Juristinnen und Juristen stellen und 43 Folien zu „Opferbeteiligung im Strafverfahren“ an die Wand werfen – dieser Paragraf ist der allererste Punkt, um den es gehen wird.

In seiner Amtszeit als Vereinsvorsitzender soll es ebenfalls um das Opferentschädigungsrecht gehen. Es habe durch die Veröffentlichungen des WEISSEN RINGS dazu „einen Einschlag“ gegeben, die Politik habe an verschiedenen Stellen reagiert, „da müssen wir jetzt dranbleiben.“ Wenn das reformierte Gesetz 2024 in Kraft tritt, „müssen wir im Blick haben, wie die Neuerungen umgesetzt werden.“ Auch Morde an Frauen, bei denen die Täter die Partner oder Ex-Partner sind, stehen auf Lieschings Agenda. Alle drei Tage stirbt in Deutschland eine Frau auf diese Weise, er weiß: „Es ist nicht irgendeine Statistik, man sieht, dass es ein Thema ist.“ Er selbst hat das in den vergangenen drei Jahren gesehen, in jedem Jahr gab es einen solchen Frauenmord im Zuständigkeitsbereich seiner Behörde in Fulda: „Das macht es so greifbar.“

An seinem Arbeitsort wohnt Liesching auch mit seiner Familie. Für sie ist jedes zweite Wochenende reserviert, denn ohne Planung gelingt die Balance zwischen Work und Life nicht bei seinen zwei Aufgaben – der hauptamtlichen für die Staatsanwaltschaft, der ehrenamt­lichen für den WEISSEN RING. In Fulda fühlt er sich zu Hause. Er ist Mitglied in einem Chor mit Spezialisierung auf populäre Musik, Tenor ist seine Stimmlage, er kann aber auch im Bass aushelfen. Eventuell erwägt Liesching sogar, den örtlichen Fußballverein zu unterstützen, sollte dieser den Sprung in die 3. Liga schaffen. Sagt er und grinst.

Ein guter Scherz

Das tut er auch, wenn er auf die bronzefarbene Justitia auf seinem Schreibtisch angesprochen wird. Der Göttin der Gerechtigkeit hat er zwei kleine Kunststoff-Emojis in ihre Waagschalen gelegt, Symbole dafür, wie es laufen kann vor Gericht: entweder gut oder schlecht. Die Ergänzung der kleinen Skulptur um die bunten Figürchen ist ein Scherz, ein ziemlich guter sogar. Die Kombination ist eine Art Sinnbild Lieschings: Die Justitia steht für die Ernsthaftigkeit, mit der er von dem Gänsehautmoment berichtet, als er nichts für das Opfer mit der geistigen Behinderung tun konnte. Die Emojis stehen für das Humorvolle, wenn er Gespräche mit einem Halbsatz oder mehr auflockert. Und diese beiden Eigenschaften halten sich gegenseitig ziemlich gut in Balance.

„Man muss was Gutes tun wollen“

Erstellt am: Mittwoch, 14. September 2022 von Sabine

„Man muss was Gutes tun wollen“

Carina Agel saß acht Jahre lang für die „Jungen Mitarbeiter“ im Bundesvorstand des WEISSEN RINGS, bei der kommenden Wahl tritt sie nicht mehr an. Wie hat sie die Zeit im Vorstand erlebt? Ein Rückblick.

Seit mehr als zehn Jahren engagiert sich Carina Agel für den WEISSEN RING.

Sie erscheint noch früher als der Reporter am vereinbarten Treffpunkt vor einer Bäckerei in Hochheim, einer übertrieben idyllischen Kleinstadt mit Kopfsteinpflaster bei Wiesbaden. Dabei ist dieser doch schon eine ­Viertelstunde zu früh. Es ist ganz so, als wolle Carina Agel gleich zu Beginn klarstellen: Ich nehme das ernst.

Carina Agel, 37, saß acht Jahre lang für die „Jungen ­Mitarbeiter“ im Bundesvorstand des WEISSEN RINGS, die Gruppe der Ehrenamtlichen zwischen 18 und 35 Jahren. Bei der Wahl im Herbst wird sie nicht wieder antreten. Sie ist vor einem Jahr Mutter einer Tochter geworden, und in wenigen Tagen wird sie wieder als Juristin für das Bundeskriminalamt (BKA) arbeiten. Irgendwo muss sie ja kürzertreten.

Agel ist es offenbar wichtig, eine gewisse Distanz ­einzuhalten. Das macht sie nicht, indem sie sich kühl und abweisend gibt, sie ist professionell freundlich. Sie trägt eine hellbraune Lederjacke, die in ihrer Unaufdringlichkeit zu unterstreichen scheint: Hier möchte jemand nicht durch Klamotten auffallen, sondern durch Handeln.

Seit mehr als zehn Jahren engagiert sich Agel für den WEISSEN RING. Vorher betreute sie ehrenamtlich ­Straftäter im Gefängnis, vermittelte ihnen alltägliches Leben. Dann lernte sie im Jura-Studium den WEISSEN RING kennen. Fortan kümmerte sie sich nicht mehr um Täter, sondern um Opfer. Man hat fast den Eindruck, sie bemühe sich um einen gewissen Ausgleich. Erst Täter, dann Opfer.

Warum genau sie sich damals für den WEISSEN RING entschieden hat, weiß sie gar nicht mehr so genau. „Das ist schon so ewig her“, sagt sie.

Na gut, anders gefragt: „Warum engagieren Sie sich dort bis heute?“

„Ich finde es gut, dass sich jemand für die Opfer ­einsetzt. Opfer müssen in Notsituationen unterstützt werden.“

Sie begann wie viele Ehrenamtler beim WEISSEN RING als Opferbetreuerin. Vor allem jene Fälle blieben ihr im Kopf, in denen die Opfer in ihrem Alter waren. „Ich war einfach froh, dass ich selbst so etwas nicht erlebt habe“, sagt sie. Vor acht Jahren wurde sie in den Bundesvorstand gewählt, als Vertreterin der Jungen Mitarbeiter.  Man hatte sie gefragt, sie hatte zugesagt.

Was die Junge Gruppe bewegt

Konkrete Bedürfnisse der jungen Ehrenamtler ganz nach oben zu transportieren, das war ihr Ziel. „Ich habe im Vorstand vorgestellt, was Themen für uns sind.“ K.o.-Tropfen, Cybermobbing, Stalking: Straftaten, von denen besonders junge Menschen betroffen sind und deren Gefahr junge Menschen auch besser vermitteln können. Wenn sie zum Beispiel in Clubs auf K.o.-Topfen aufmerksam machten, dann könnten jüngere Mitarbeiter das authentischer, sagt sie. Sie hat den WEISSEN RING auch in Uni-Vorlesungen vorgestellt. Für die Opferhilfe könne man im Gegensatz zum Tierschutzverein nicht mit niedlichen Tierfotos werben, erklärt sie. „Man muss was Gutes tun wollen.“ Drei Sitzungen hält der Bundesvorstand im Jahr ab. Da hatte sie Dinge vorzubereiten, vorzustellen, nachzubereiten, weiterzugeben. Um zu den Treffen quer durch Deutschland fahren zu können, musste sie auch schon mal freinehmen oder Über­stunden abbauen.

Sitzen in solchen Vorständen nicht eher Menschen, die älter und männlich sind? Sie stimmt zu, schränkt allerdings ein: „Wobei das mittlerweile im Wandel ist.“ Der Vorstand des WEISSEN RINGS werde jünger und ­weiblicher. Aber es bleibe noch viel zu tun: Frauen ­hätten schon der Familie wegen weniger Zeit. Zweitägige Treffen, Abendtermine – schwierig.

Wie das so war in Runden mit überwiegend älteren ­Männern? „Ich muss echt sagen, dass ich das Gefühl hatte, von den meisten, wenn nicht sogar von allen respektiert zu werden.“ Sie kehrt nun mit einer Teilzeitstelle zum BKA nach Wiesbaden zurück. Was sie dort machen wird, dazu möchte sie nichts sagen, auch nach wiederholter Nachfrage nicht. Nur, dass es etwas Neues ist und sie einen Bereich leiten wird. Ein Bürojob. Agel überlegt sich ganz genau, was sie mit der Öffentlichkeit teilen möchte.

Ihren Namen hat der Reporter schon einige Tage vor dem Gespräch gegoogelt. Die meisten Treffer sind älter als fünf Jahre. Meist ging es dort um ihre Doktorarbeit, die sie im Fach Kriminologie über sogenannte ­Ehrenmorde geschrieben hat; Morde, die an Frauen begangen werden, weil eine vermeintliche Familienehre wiederhergestellt werden sollte. Auf die Idee brachte sie ein Fall in Berlin, über den damals viel berichtet wurde. „Ich weiß noch, dass die Mutter des Angeklagten, der seine Schwester umgebracht hatte, im Gerichtssaal herumgeschrien hat. Sie konnte nicht verstehen, dass ihr Sohn verurteilt wird. Da habe ich mich gefragt: Wie kann das sein? Warum trauert sie in dieser Situation nicht um ihre Tochter?“ Hat sie es durch die Doktorarbeit begreifen können? „Ich habe einen Eindruck bekommen, in welchen Familienstrukturen solche Taten verübt werden. Ich kann es trotzdem immer noch nicht nachvollziehen, wie man so handeln kann.“

Die ersten Gespräche fand sie „teilweise echt hart“

Agel hatte also schon im Studium mit menschlichen Abgründen zu tun, mit Verbrechen. Das Interesse dafür setzte kurz vor Ende der Schule ein. „Da habe ich mir Gedanken gemacht, was danach kommen könnte, ein Praktikum bei einem Rechtsanwalt absolviert und gedacht: Das könnte ich mir vorstellen. Dass ich keine Lehrerin werde, wusste ich.“ Sie studierte also Jura, wusste ziemlich schnell, dass sie etwas bei der Polizei machen möchte. Bloß nicht Anwältin. „Weil ich keine Lust hatte, mich über irgendwelche Nachbarschaftsstreitigkeiten zu ärgern. Über unwichtige Dinge, bei denen die Emotionen hochkochen.“ Das ist auch so der Eindruck, den man von ihr hat: Agel möchte etwas machen, das Bedeutung hat.

Zur Kriminologie gehört auch die Viktimologie, die Opferforschung. Dort lerne man auch, was Opfer wollen, sagt sie. Und was wollen Opfer? „Vor allem die ­Anerkennung als Opfer. Das erreicht man, indem man ihnen Gehör schenkt.“ Das hat sie auch durch ihre Arbeit beim WEISSEN RING gelernt. Ihr war es wichtig, sich die Zeit zu nehmen, die es für so ein Gespräch braucht. „Opfer erzählen eher von sich aus. Ich würde da nie viel fragen. Damit kann man auch viel anrichten. Das Opfer könnte durch die Fragen ein zweites Mal traumatisiert werden.“

Die ersten Gespräche fand sie „teilweise echt hart“. Zeigt sie in solchen Situationen also selbst Gefühle? „Da ist es der Mittelweg. Es hilft nicht, in Tränen ­auszubrechen. Man muss trotzdem eine professionelle Distanz ­wahren. Aber es ist für jeden Gesprächspartner auch total schrecklich, wenn da ein Eisklotz sitzt und am Ende sagt: Guten Tag, vielen Dank, auf Wiedersehen.“

Im Studium war sie Opfern von Verbrechen nie so nah gewesen. Da las sie bloß in Akten über sie. „Als Jurist ist es wichtig, dass man, wenn man über Dinge entscheiden soll, weiß, was die Auswirkungen auf Personen sind. Zum Beispiel, wenn ich eine Wohnungsdurchsuchung anordne, sollte ich wissen, was es für die Person bedeutet, wenn um 6 Uhr morgens die Polizei auf der Matte steht und die ganze Wohnung durchsucht. Und ich sollte wissen, dass Opfer unter Umständen ein ganzes Leben lang leiden.“ Die ehrenamtliche Arbeit für den WEISSEN RING bietet ihr also den Kontakt zu einer Realität, die ihr im Alltag nicht begegnet, auf die sie aber durch ihren Job beim BKA Einfluss nimmt. Ein Polizist ist immerhin noch auf der Straße unterwegs. Sie bleibt im Büro.

Etwas von Bedeutung

Es gibt Menschen, die haben eine große Geschichte zu erzählen, warum sie beim WEISSEN RING gelandet sind, warum sie sich dort noch immer engagieren. Carina Agel hat keine solche Geschichte zu erzählen. Und gerade deshalb eben doch: Wer sich für Kriminalitätsopfer engagiert, braucht dafür kein Erweckungserlebnis, ­keinen Wendepunkt im Leben, keine originelle Begründung, schon gar nicht die Erfahrung, selbst Opfer geworden zu sein. Es reicht das schlichte Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun. Wieso, weshalb, warum? Ist doch egal. Das ist für einen Journalisten, der gern die große Geschichte erzählen möchte, ein wenig unbefriedigend. Journalisten wollen nicht unbedingt über Menschen schreiben, die abwägend antworten, die sich völlig zurücknehmen können, sachlich auftreten, die keine laute Meinung vertreten. Opfer aber brauchen genau solche Menschen, um sprechen zu können.

„Wann wird der WEISSE RING endlich überflüssig, Herr Ziercke?“

Erstellt am: Freitag, 12. August 2022 von Sabine

„Wann wird der WEISSE RING endlich überflüssig, Herr Ziercke?“

Nach vier Jahren als Bundesvorsitzender tritt Prof. Jörg Ziercke nicht wieder zur Wahl an. Im Interview mit der Redaktion von „Forum Opferhilfe“ schaut er kritisch zurück, wagt den Blick nach vorn und spricht über die Themen, die ihn zuletzt besonders beschäftigt haben.

Nach vier Jahren als Bundesvorsitzender tritt Prof. Jörg Ziercke nicht wieder zur Wahl an.

Herr Ziercke, Sie waren lange der oberste Polizist in Deutschland. Nach Ihrem Abschied als BKA-Chef hätten Sie den verdienten Ruhestand genießen können – stattdessen engagierten Sie sich beim WEISSEN RING für Kriminalitätsopfer. Warum?

In meinen 47 Jahren im Polizeidienst habe ich immer wieder gemerkt, dass wir zwar dem Täter sehr viel Zeit widmen, aber diese Zeit nicht für die Opfer aufbringen. Die Polizei hat nicht nur eine repressive Aufgabe, sondern vor allem auch eine präventive. Der präventive Opferschutz ist schon seit Anfang der 90er Jahre mein Thema gewesen, mit der Gründung des Deutschen Forums für Kriminalprävention, wo ich dabei sein durfte, und beim Aufbau der kommunalen kriminalpräventiven Räte in Deutschland. Als der WEISSE RING dann auf mich zukam und anbot, das Thema in den Ruhestand mitzunehmen, war für mich klar, dass das ein Unruhestand wird: für die Opfer etwas zu erreichen, was ich in meinem Amt nicht habe erreichen können.

,,Bei der Wahl im September bin ich 75 Jahre alt – und ich finde, dass Jüngere den Staffelstab übernehmen sollten."

Jörg Ziercke
Nach vier Jahren als Bundesvorsitzender haben Sie sich jetzt entschieden, nicht wieder zu Wahl anzutreten. Haben Sie denn alles erreicht für die Opfer, was Sie erreichen wollten?

Nein. Ich glaube aber, dass wir mit dem neuen Sozialgesetzbuch XIV, dem Übergang vom Opferentschädigungsgesetz ins Soziale Entschädigungsrecht, sehr viel erreicht haben. Es war uns ein ganz wichtiges Anliegen, eine angemessene Versorgung zu ermöglichen auch für diejenigen, die durch Gewalt schwerste Schäden erleiden. Es ist uns aber von der Politik viel versprochen worden an Erleichterungen, was die Antragsstellung angeht und was die Verfahrensabläufe angeht. Diese Ziele haben wir nicht erreicht, das wird weiterhin eine wichtige Aufgabe sein für den WEISSEN RING. Dass ich jetzt aufhöre, hat einfach mit dem Alter zu tun. Bei der Wahl im September bin ich 75 Jahre alt – und ich finde, dass Jüngere den Staffelstab übernehmen sollten. Als Berater stehe ich natürlich gern weiter zur Verfügung.

Sie sprechen das Soziale Entschädigungsrecht an. Warum sind Sie nicht zufrieden, was muss sich dringend ändern?

Ich bin deshalb nicht zufrieden, weil sich schon in den Vorbesprechungen immer wieder gezeigt hat, wie groß der Einfluss der Bürokratie ist auf das, was die politisch Handelnden wollen. Wir sind in der Diskussion teilweise nur schrittweise vorangekommen, weil immer wieder neue Hinweise aus der Bürokratie kamen: Dies geht nicht, das geht nicht, jenes wollen wir nicht. Die 16 Bundesländer waren sich zum Beispiel nicht einig, ob man Clearingstellen einrichten soll. Diese Stellen sollen den Opfern helfen: Wenn eine Entscheidung negativ ausfallen könnte, soll sich zunächst eine Clearingstelle mit externen Fachleuten der Sache annehmen und prüfen, ob die Entscheidung auch gerechtfertigt ist. Im Grunde glaubt Bürokratie den Opfern nicht.

Anders als der WEISSE RING.

Wir glauben den Opfern ganz grundsätzlich. Bürokratie geht da kritisch ran: Das Opfer hat die Beweislast, festzustellen, zu belegen, nachzuweisen, was passiert ist. Und das endet dann manchmal eben auch so, dass die Bürokratie sagt: Ja, dann sollen die Opfer doch vor Gericht gehen, dann warten wir mal das Urteil ab. Aber das wird traumatisierten Opfern nicht gerecht! Im Strafverfahren hat der Täter das letzte Wort. Und ein Gericht muss im Zweifel für den Angeklagten entscheiden, das ist ein wichtiger Rechtsgrundsatz. In den Sozialbehörden in Deutschland wird allerdings im Zweifel gegen das Opfer entschieden. Hier braucht es einen Paradigmenwechsel: Bürokratie sollte grundsätzlich dem Opfer glauben und nicht grundsätzlich an ihrer Aussage zweifeln.

Das heißt, die Kultur in Behörden muss sich ändern?

Deutlich! Das, was der WEISSE RING jetzt mit seinem Ländervergleich zutage gefördert hat, ist aus meiner Sicht ein Beleg für die Unterschiedlichkeit der Auslegung von Gesetzen in den Behörden: So gravierend jeder Einzelfall ist, so unverständlich muss es jedem Opfer vorkommen, dass man in einem Bundesland zu 50 Prozent Erfolg mit seinem Antrag hat und in einem anderen nicht annähernd. Das ist der eine Punkt, um den es geht. Der zweite Punkt ist, dass die Politik die Aufgabe hat, dass dieses Gesetz in der Öffentlichkeit bekannt gemacht wird. Vor den rund 200.000 Gewaltdelikten, die wir in Deutschland haben, gefährliche Körperverletzung, Raubüberfälle, schwerste Verletzungen, folgen nur in etwa zehn Prozent der Fälle Anträge auf Unterstützung bei den Sozialbehörden.

Und es gibt noch einen dritten Punkt. In den Ländern gibt es neben Anerkennungen und Ablehnungen auch noch die Kategorie „Erledigungen aus sonstigen Gründen“. Dahinter verbergen sich nach meiner festen Überzeugung zu einem großen Teil Fälle,  in denen es die Menschen leid sind, die Beweisanforderungen zu erfüllen, die immer wieder mit gutachterlicher Tätigkeit, mit Stellungnahmen, mit schriftlichen Eingaben verbunden sind, zumal sich das Verfahren  oft erheblich in die Länge zieht. Es dauert Wochen, Monate oder Jahre, so dass die Menschen am Ende erschöpft und enttäuscht sind und dann von sich aus nicht mehr weitermachen. Das heißt, wenn man die Zahl dieser Rückzüge genauer fassen könnte, dann ist die Zahl der Menschen, die Entschädigung erhalten, noch niedriger. Ich behaupte, dass von den rund 200.000 Gewaltfällen, die wir in Deutschland im Jahr haben, nur drei bis vier, vielleicht fünf Prozent Opfer wirklich Leistungen durch den Staat erhalten. Und das, finde ich, ist ein Skandal, der durch die Bürokratie mit verursacht wird.

Im Opferentschädigungsgesetz steht: Der Staat verpflichtet sich, seine Bürger zu schützen – und in den Fällen, wo er es nicht konnte, verspricht er, für ihre Versorgung einzustehen. Kommt der Staat dieser Verpflichtung nach?

Der Staat kommt seiner Verpflichtung eindeutig nicht nach. Das zeigen unsere Recherchen. Ich unterstelle kein absichtsvolles Verhalten des Staates oder der Politik. Die Bürokratie ist nicht entsprechend vorbereitet auf den Umgang mit einem problematischen Rechtsbereich auf der einen Seite und mit Problemen auf der anderen Seite, die der Mitarbeiter möglicherweise mit dem traumatisierten Antragsteller hat. Deshalb glaube ich, dass ein Paradigmenwechsel erforderlich ist. Es braucht eine klare Ansage der Politik, dass bei Zweifeln Externe hinzugerufen werden und dass ein verpflichtender Zeitrahmen festgelegt wird, in dem der Antrag abgearbeitet sein muss. Man darf die Betroffenen nicht endlos hinhalten. Dafür kämpfen wir beim WEISSEN RING.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Sie sind angetreten beim WEISSEN RING mit dem Vorsatz, das Ehrenamt zu stärken und Nachwuchs zu finden. Was hat sich da getan?

Das Problem, vor dem nicht nur wir als Opferhilfeverein stehen, sondern alle Vereine oder Parteien, ist ja, dass sich der Einzelne heute nicht mehr so stark binden will, sondern offener und freier handeln möchte. Die Mitgliedschaft in Vereinen und Parteien ist deutlich zurückgegangen in Deutschland, und darunter leiden wir natürlich auch. Auf der anderen Seite steht das Engagement der ehrenamtliche Helfer natürlich im Zentrum unserer Bemühungen. Das ist eine große Anstrengung, die wir unternehmen. Es gelingt uns, Gott sei Dank, die etwa 3000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die der WEISSEN RING hat, auf diesem Niveau zu halten, sie auszubilden und Nachwuchs zu finden. Es gibt aber auch Menschen, die weder ehrenamtlich arbeiten noch Mitglied sein wollen, die aber mit Geld helfen möchten. Und da muss ich sagen: Die Spendenbereitschaft in Deutschland ist enorm. Beim WEISSEN RING haben wir die Situation, dass wir auf der einen Seite viel Zuwachs haben im Bereich der Vermächtnisse, also der testamentarischen Zuwendungen, auf der einen Seite aber eben auch von 120.000 bis 150.000 Menschen jährlich Geld als Spende bekommen. Und trotz der zwangsläufig rückläufigen Mitgliederzahl – wir waren mal bei etwa 65.000 Mitgliedern Anfang der 90er Jahre, heute sind wir bei 42.000 – sind die Zuwendungen von Mitgliedern gestiegen. Die Menschen sind bereit, Geld zu spenden. Hier hilft uns der gute Ruf des WEISSEN RING natürlich ganz enorm.

Stichwort Spenden: Der WEISSE RING betont immer wieder seine Unabhängigkeit von Staat und Politik und vor allem von staatlichen Zuwendungen. Warum ist das so wichtig für den Verein?

Wie wichtig das ist, haben wir in der Debatte über das neue Soziale Entschädigungsrecht sehr deutlich erlebt. Wir waren bevorzugter Gesprächspartner der Bundesregierung. Ich hatte selbst die Gelegenheit, im Bundeskanzleramt über diese Probleme zu sprechen. Und da wurde schon deutlich, welchen Stellenwert wir als ehrenamtliche Organisation haben. Da wir keine Zuschüsse vom Staat nehmen, muss sich der Staat umso mehr mit uns ins Benehmen setzen. Unsere Unabhängigkeit ist ein wichtiges Pfund, mit dem wir wuchern können: Wir können frei entscheiden, was wir berichten, wie wir berichten, wie wir dokumentieren, wie wir die Dinge ansprechen. Wir müssen es nur selbst verantworten können. Wir müssen nicht auf irgendeine Partei oder auf irgendeinen Politiker Rücksicht nehmen. Ich glaube, dass wir da den richtigen Ton finden. Mein Eindruck ist, dass unsere Berichte und Veröffentlichungen große Anerkennung finden. Unsere Veröffentlichungen zum Thema Femizide haben zum Beispiel hervorragende Wirkung erzeugt.

Zum Thema Femizid hat der WEISSE RING nicht nur eine umfangreiche Recherche veröffentlicht. Sie haben direkt im Anschluss einen Brandbrief an hochrangige Politiker verschickt, in dem Sie sofortiges Handeln zum Schutz von Frauen forderten. Warum war das notwendig?

Wenn im Jahr etwa 115 Frauen getötet werden durch Partner oder Ex-Partner, dann kann das niemanden kaltlassen. Ich bin vor einigen Monaten angesprochen worden von einer Frau, die in der Nähe von Kiel lebt, deren Tochter und Enkel auf offener Straße in Freiburg erstochen worden sind durch den Ex-Partner der Frau. Der Täter stammte aus einem islamischen Kulturkreis. Da haben Sie ein Thema, das in der Öffentlichkeit völlig kontrovers diskutiert wird. Nach unserer Veröffentlichung haben wir zahlreiche Rückmeldungen bekommen. Nach diesem Interview werden wir heute dazu noch ein Gespräch mit der Sozialministerin in Rheinland-Pfalz führen, auch anderweitig habe ich solche Gespräche schon geführt. Und dann hört man immer wieder: Ja, was sollen wir denn tun?

Was soll die Politik denn Ihrer Meinung nach tun?

Was sie tun sollte ist erstens, nicht darauf zu vertrauen, dass diejenige Frau, die zu Gericht geht und dort ein Verbot erreicht, laut dem sich der Mann ihr und ihrem Kind nur auf 200 Meter annähern darf, dadurch geschützt ist. Ein solches Verbot braucht Überwachung und Überprüfung. Wenn am Ende die Tötung oder die schwere Verletzung eines Menschen stehen kann, dann ist es durchaus verhältnismäßig, demjenigen, für den das Verbot gilt, bestimmte Einschränkungen zuzumuten, zum Beispiel durch eine Fußfessel. Zweitens sollte man nicht glauben, allein durch eine Gefährderansprache der Polizei jemanden von einer Tat abhalten zu können. Wobei der größte Witz ja eigentlich ist, dass der Gefährder gar nicht kommen muss, wenn die Polizei ihn zu einer Gefährderansprache einlädt. Das heißt, es braucht von polizeilicher Seite ein Hochrisikomanagement. In Deutschland gibt es so etwas nur in wenigen Ländern, es gibt kein gemeinsames Konzept der Bundesländer. Diese Forderung stelle ich: dass man bundesweit ein Risikomanagement für solche Fälle einrichtet, wo dann nicht nur Polizei entscheidet, sondern auch Experten aus Jugendamt, Sozialbehörde, Justiz, Psychologie beteiligt sind. Es wird kein hundertprozentiger Schutz möglich sein. Aber Maßnahmen wie zum Beispiel das Interventionsprogramm RIGG in Rheinland-Pfalz zeigen, dass die Fallzahlen deutlich zurückgegangen sind. Das macht Mut.

Glauben Sie, dass es eine wichtige Aufgabe für eine Institution wie den WEISSEN RING ist, solche umfassenden Recherchen wie zu Femiziden oder zum Opferentschädigungsgesetz anzustellen? Um  damit in Lücken zu stoßen, die andere nicht ausfüllen, und um Fakten an die Politik heranzutragen?

Bei mir ist diese Erkenntnis immer stärker gewachsen im Laufe der Zeit – weil diese Recherchen ja kein anderer anstellt. Wir haben zum Glück die Mittel, um das zu tun. Es ist eine ganz wichtige Aufgabe des WEISSEN RINGS, diese Dinge der Politik gegenüber so praktisch zu erklären, dass sie daraus Schlussfolgerungen ziehen kann. Das ist keine Parteipolitik, das ist Opferpolitik.

Wie politisch darf und muss ein Opferhilfeverein sein? Oder anders gefragt: Wie unbequem darf und muss er sein?

Die Frage, wie politisch und auch unbequem wir sein dürfen, haben wir ja sehr deutlich beim Thema AfD gespürt…

… Sie meinen den sogenannten AfD-Beschluss des Bundesvorstands zu Beginn Ihrer Amtszeit, laut dem niemand ehrenamtlich oder hauptamtlich für den WEISSEN RING arbeiten darf, der in einer fremdenfeindlichen oder antisemitischen Bewegung aktiv ist, und laut dem der WEISSE RING auch keine Spenden von der AfD annimmt …

… genau. Die AfD hatte sich auf sehr undemokratische Weise unseres Images bemächtigt, indem man an einen politischen Stand das Logo des WEISSEN RINGS angebracht hatte und die Aussage „Wir sammeln für den WEISSEN RING“. Dafür hatten wir keine Zustimmung geben. Uns war klar, dass wir das nicht einfach so laufen lassen können, dass wir mit unserem guten Ruf vereinnahmt werden für eine politische Absicht. Wir grenzen uns ganz klar von denen ab, die kein wirklich demokratisches Profil haben als Partei. Wir sind ansonsten parteipolitisch neutral, aber es geht nicht, wenn Werte, die uns wichtig sind, wie zum Beispiel Antidiskriminierung, mit Füßen getreten werden von Vertretern einer Partei. Und dafür muss sich die Partei insgesamt in die Verantwortung nehmen lassen, wenn sie das nicht abstellen kann. Und die AfD kann dies offensichtlich nicht.

Der WEISSE RING hatte 2001 das Jahresthema „Hass und Hetze“ gewählt und in zahlreichen Veröffentlichungen die Verrohung der Gesellschaft thematisiert. Die kritische Auseinandersetzung mit Hass und Hetze vor allem von Rechts fand Beifall, stieß aber auch auf Widerspruch bei Mitgliedern und führte sogar zu Vereinsaustritten. Muss ein Verein auch so etwas aushalten?

Auf jeden Fall. Wir müssen es aushalten können, dass Menschen zu uns kommen und sich auch wieder von uns trennen. Wir laufen hinter niemandem her, wir wollen für die Opfer möglichst viel erreichen. Und insofern müssen Menschen, die mit unserem Verhaltenskodex sich nicht in Übereinstimmung befinden, auch nicht zum WEISSEN RING kommen.

Zu Beginn Ihrer Amtszeit gab es nicht nur die Diskussionen um den AfD-Beschluss, der WEISSE RING erlebte eine ernste Krise: Es gab Vorwürfe gegen einen ehrenamtlichen Mitarbeiter in Lübeck, sich sexuell übergriffig gegenüber Frauen verhalten zu haben und später einen weiteren Fall mit Missbrauchsvorwürfen gegen einen ehrenamtlichen Mitarbeiter im Hochsauerlandkreis. Der Verein hat daraufhin die Regeln zur Betreuung weiblicher Opfer deutlich verschärft und unter anderem ein strenges Sechs-Augen-Prinzip eingeführt. Das führte zu Protesten einiger zumeist männlichen Ehrenamtlichen, einige legten ihr Amt nieder. Wie sehr hat das Verein getroffen?

Dass Opferhelfer ihre Position missbrauchen gegenüber einem Kriminalitätsopfer und es ein zweites Mal zum Opfer machen, ist das natürlich völlig indiskutabel und muss sofort zu einer Reaktion der Verantwortlichen des WEISSEN RINGS führen. Ich glaube, darüber sind sich auch alle im Verein im Klaren. So haben wir in diesen Fällen in Lübeck und im Hochsauerland natürlich entschieden, dass diese Mitarbeiter den Verein sofort verlassen mussten. Aber wir haben auch entschieden, dass wir verstärkt Sicherungen einbauen müssen. Einen hundertprozentigen Schutz kann man niemandem versprechen, aber man kann etwas tun. Deshalb haben wir gesagt, wir müssen die Begegnungssituation so gestalten, dass einerseits Frauen geschützt sind, andererseits auch dem Opferhelfer kein Vorwurf gemachen werden kann. Das hat im WEISSEN RING erstaunlicherweise insbesondere bei einigen älteren Mitarbeitern dazu geführt, dass die gesagt haben: Der Vorstand vertraut uns nicht mehr. Ich habe das mal mit dem Strafgesetzbuch verglichen: In den 300 Paragrafen steht, dass wir alle nicht einbrechen dürfen, nicht vergewaltigen dürfen, nicht körperverletzen dürfen, ohne dass sich davon jemand diskriminiert fühlt. Genau das machen wir hier auch: Wir stellen eine Regel auf und sagen, wir möchten, dass wir uns in diesem Fall so oder so verhalten. Mehr sagen wir damit nicht.

,,Ich glaube, dass nur diese Offenheit gegenüber der Öffentlichkeit dazu führen kann, dass man uns Glauben schenkt."

Jörg Ziercke
Als der Verein im Februar 2021 von den Missbrauchsvorwürfen gegen den Mitarbeiter im Hochsauerlandkreis erfuhr, haben Sie etwas Ungewöhnliches getan: Der WEISSE RING hat entschieden, selbst eine Pressemitteilung zu veröffentlichen und den Fall auf einer immer wieder aktualisierten Internetseite transparent aufzubereiten. Warum haben Sie selbst den Blick der Öffentlichkeit auf den Fall gelenkt?

Ich glaube, dass nur diese Offenheit gegenüber der Öffentlichkeit dazu führen kann, dass man uns Glauben schenkt. Dass man uns vertraut in dem, was wir tun. Dieses Vertrauen ist das höchste Gut, das wir gegenüber Opfern haben. Deshalb haben wir gesagt: Wir erstatten Selbstanzeige, wir suspendieren sofort den Mitarbeiter, wir gehen mit aller Transparenz in die Öffentlichkeit. Wir wollten unser Wissen teilen. Gleichwohl war das ein neuer Weg, diese Art von Offenheit waren auch wir nicht gewohnt. Aber wir haben uns überzeugen lassen von unserem Presseteam. Ein Punkt, der mich überzeugt hat: In der Öffentlichkeit kommt oft schnell der Verdacht eines Systemversagens auf. Diesen Verdacht kann man nur durch Offenheit und Transparenz ausräumen.

Welche Rolle spielen für Sie die Sozialen Medien, wenn es darum geht, den WEISSEN RING und seine Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen?

Wir müssen uns dem Informations- und Kommunikationsverhalten der Bevölkerung in den verschiedenen Altersgruppen viel stärker anpassen. Wenn sich weite Teile der Menschen heute nicht mehr aus der Zeitung informieren, sondern über das, was in Social Media dargestellt wird, dann müssen wir da mit am Ball sein. Und das sind wir auch. Es geht ja nicht nur darum, Informationen zu vermitteln, sondern auch darum Menschen anzusprechen, sei es als ehrenamtliche Helfer, als Spender, als Mitglieder. Wenn es darum geht, dass Opfer den WEISSEN RING um Hilfe bitten, geht es letztlich immer um Vertrauen. Das ist unser entscheidendes Kapital, dass wir auch über die digitalen Kanäle aufbauen.

Digitaler wird auch die Bundesdelegiertenversammlung des WEISSEN RINGS im September in Radebeul: Gewählt wird nicht mehr mit Stimmzetteln, sondern zum ersten Mal  mit Tablets. Ist das ein Zeichen dafür, dass der WEISSE RING sich für das digitale Zeitalter richtig aufstellt?

Der WEISSE RING muss, was die Modernisierung angeht, ganz klar auf Digitalisierung setzen. Wenn man Digitalisierung sagt, muss man aber auch Sicherheit mitdenken. Gerade wir haben es ja mit hochsensiblen Daten zu tun. Das Wissen um diese Zusammenhänge muss heute jeder Mitarbeiter mitbringen. Die Pandemie hat ja gezeigt, wie sich Arbeit verändert. Wenn wir teilweise im Homeoffice arbeiten und teilweise im Büro, dann müssen wir realisieren, dass die Sicherheit der Daten an allen Orten gewährleistet ist.

Prof. Jörg Ziercke ist seit 2018 Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS.

Gibt es etwas, das Sie Ihrer Nachfolgerin, Ihrem Nachfolger gern mit auf dem Weg geben möchten?

Ich würde mir wünschen, dass der WEISSE RING den eingeschlagenen Weg weitergeht, etwa im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Dass immer wieder nach neuen Themen geforscht wird, die den Opfern zugutekommen. Ich wäre auch sehr dafür, dass wir Themen wie die soziale Ungerechtigkeit, über die wir beim Opferentschädigungsgesetz gesprochen haben, wissenschaftlich aufbereiten. Auf der anderen Seite war es für mich eine wichtige Erkenntnis, dass ein ehrenamtlicher Verein keine Behörde ist, wo von oben nach unten eine Weisung erteilt werden kann. Jeder ehrenamtliche Mitarbeiter gibt uns seine Freizeit, sein Engagement, das müssen wir zuerst einmal anerkennen. Das Ziel kann deshalb nicht Kontrolle sein, sondern Integrität. Ich glaube, dass es der entscheidende Weg ist, die Werte des Vereins, seine Kultur stetig weiterzuentwickeln, um zu dieser Form der Integrität zu kommen.

Letzte Frage: Wann wird der WEISSE RING endlich überflüssig, weil er nicht mehr gebraucht wird?

Das ist die große Frage, ob man das Thema Kriminalität in einer Gesellschaft wirklich klären und lösen kann. Ich denke, das kann man nicht. Es wird immer Regelverletzungen geben. Irgendjemand hat mal gesagt: Jede Gesellschaft hat die Kriminalität, die sie verdient. Womöglich ist das so. Der WEISSE RING hat eine Daueraufgabe.

„Wir mussten Vertrauen für unseren Verein schaffen!“

Erstellt am: Freitag, 6. Mai 2022 von Sabine

„Wir mussten Vertrauen für unseren Verein schaffen!“

Jürgen Lüth ist einer, der dafür sorgt, dass die Dinge funktionieren – auch beim WEISSEN RING in Brandenburg. Dort leistete der frühere Polizeipräsident erfolgreiche Aufbauarbeit, doch die Sorge um die Verrohung der Gesellschaft bleibt.

„Man muss mit den Menschen sprechen, sie mitnehmen“, sagt Jürgen Lüth.

Organisieren, organisieren. Jürgen Lüth benutzt das Wort häufig. Es passt aber auch gut zu dem, was er tut. Denn Jürgen Lüth ist einer, der dafür sorgt, dass die Dinge funktionieren. Dass Menschen bekommen, was sie brauchen – um gut zu arbeiten und um gern zu arbeiten. Wie ein fordernder und zugleich sorgender Familienvater, der weiß, dass Leistung Wohlbefinden braucht, Zusammenhalt und Anerkennung. Der viel verlangt, aber auch viel gibt.

Das Landesbüro des WEISSEN RINGS in Potsdam, Brandenburg, zum Beispiel: liegt in einer hübschen, zentralen Wohngegend, hat helle Räume, Einzelarbeitsplätze und ein Konferenzzimmer. Lüth, groß, schlank, im adretten weißen Rollkragenpulli, führt herum. „Seit unserer Gründung sind wir zweimal umgezogen, bis wir diese Adresse gefunden haben. Den Büromöbelhersteller konnte ich überzeugen, uns die gesamte Ausstattung zu spenden.“

Lüth bittet Platz zu nehmen, neben einem Schreibtisch, der schon nicht mehr seiner ist, denn der brandenburgische Noch-Landesvorsitzende wird sich im Mai in den Ruhestand verabschieden. Mit 75. Er schwenkt langsam den Hagebuttenteebeutel in seiner Tasse. „Bald kommt das dritte Urenkelkind. Da ist es wohl Zeit, sich der eigenen Familie zu widmen.“ Freut er sich auf die Freizeit? „Man wird sich vielleicht noch neue Aufgaben suchen müssen“, meint er. „Vielleicht ein Buch schreiben …?“ Er winkt ab: Ist auch mal gut.

„Ich bin einer, der ein paar Nächte durcharbeiten kann“

An Aufgaben mangelte es bislang nie. Lüth scheint sie schneller zu sehen als andere Menschen und sich dann auch gleich reinzustürzen. Eigentlich wollte er nach der zehnten Klasse Förster werden, „aber es gab zu wenige Reviere“. Und wer weiß, wie diesem Netzwerker die einsame Arbeit im Wald bekommen wäre? Stattdessen machte er Abitur, wurde Diplom-Agrotechniker und leitete schließlich ein Trockenwerk in Herzberg, Brandenburg. Gearbeitet wurde in drei Schichten, rund um die Uhr, und auch Lüth arbeitete oft nachts – oder er fuhr nach Feierabend über Land, um nach seltenen, aber dringend benötigten Ersatzteilen zu suchen. Von zu Hause aus konnte er sehen, ob die Trocknungsanlage für Mais, Gras und Zuckerrüben lief – „ich fühlte mich 24 Stunden gebunden“. Und hat er auch mal geschlafen? „Ich bin einer, der ein paar Nächte durcharbeiten kann, wenn es drauf ankommt.“ Auch das sagt er öfter.

,,Wir müssen uns austauschen. Die Polizei muss sich als große Familie erleben."

Jürgen Lüth

Weil jeder Betrieb in der DDR ab einer gewissen Größe eine paramilitärische „Kampfgruppe der Arbeiterklasse“ für die Zivilverteilung bilden sollte, meldete sich Lüth als Freiwilliger bei der Verkehrspolizei. Ein smarter Zug: Damit war die verfügbare Belegschaft zu klein für eine Kampfgruppe, sie konnte unbehelligt ihrer Arbeit nachgehen. Und Lüth machte der Nebenjob Spaß: „Trotz der Schreckensseiten, die die Aufnahme von Unfällen haben kann.“

Er wäre schon nach dem Studium gern zur Polizei gegangen, war aber kein SED-Mitglied, sondern in der Bauernpartei. Als diese 1990 mit der CDU fusionierte, zog Lüth per Direktmandat für die CDU in den Potsdamer Landtag ein. Er war bekannt, ihn freute das Vertrauen, das die Menschen ihm entgegenbrachten, „und so habe ich mich mit ganzer Kraft und voller Begeisterung an die Arbeit gemacht“. Seine Stimme bebt fast, die Begeisterung ist immer noch da. 1992 wurde ihm der Posten des Polizeipräsidenten von Cottbus angeboten. Eine große Aufgabe. Von den 3.000 Angestellten blieben im Zuge der Umstrukturierung nur 1.500, mit denen musste er fortan „Sicherheit organisieren“. Gleichzeitig musste er sie auf etwaige Stasi-Vergangenheit überprüfen und in ein neues Rechtssystem überführen. „Man muss mit den Menschen sprechen, sie mitnehmen“, sagt er. „Und man muss jede Gelegenheit nutzen, um Wertschätzungen auszusprechen.“ An Unfallstellen habe er manches Mal angehalten und den Kollegen für ihren Einsatz gedankt.

Der Netzwerker ist Feuer und Flamme

Unterstützer fand Lüth dabei in Polizei-Führungskräften der alten Bundesrepublik, die ihm auch vom WEISSEN RING und den Aufgaben des Vereins erzählten. Als er 1993 vom damaligen Bundesvorsitzenden des Vereins, Herbert Becker, Besuch erhielt und zur Mitarbeit eingeladen wurde, war er wieder Feuer und Flamme. Lüth trat in den Bundesvorstand ein, seit 1996 ist er Landesvorsitzender. Sein erstes großes Anliegen war es, die Interessen der Menschen aus den neuen Bundesländern zu vertreten: „Die Leute hatten Jahrzehnte DDR-Politik erlebt. Viele waren durch die politischen Neuerungen eingeschüchtert. Wir mussten Vertrauen für unseren Verein schaffen!“ Lüth führte zahllose persönliche Gespräche; er fand Verbündete in den Ministerpräsidenten Manfred Stolpe und Matthias Platzeck, und er schmiedete Partnerschaften mit Vertretern von Kommunen, Sportvereinen und Kirchen. Er organisierte Medientermine und öffentliche Events, um den WEISSEN RING bekannter zu machen, und er sorgte dafür, dass jeder neue Außenstellenleiter öffentlichkeitswirksam in sein Amt eingeführt wurde. Landräte, Bürgermeister und die Präventionsbeauftragten der Polizei waren dabei oft an seiner Seite.

,,Wir mussten Vertrauen für unseren Verein schaffen!"

Jürgen Lüth

Lange Zeit vergeblich kämpfte Lüth um den Aufbau von Trauma-Ambulanzen in Brandenburg. Dass es keine gab, ärgerte ihn sehr. Menschen, die zum Opfer von Gewalt und anderen Verbrechen wurden, brauchen psychologische Betreuung, sofort, selbst wenn sie recht stabil wirken. Denn posttraumatische Belastungsstörungen können auch später auftreten und lange wirken. Erst seit 2021 schreibt das Bundesgesetz vor, dass Trauma-Ambulanzen überall bereitstehen müssen.

Womöglich war es ihm auch deshalb ein Bedürfnis, selbst Opfer zu beraten und ihnen beizustehen, auch wenn dies nicht zu den Aufgaben eines Landesvorsitzenden gehört. Im Fall Ulrike B. zum Beispiel, der ihm sehr naheging. 2001 war die Zwölfjährige aus Eberswalde entführt, missbraucht und ermordet worden. Er sprach mit den Eltern, arbeitete mit im Team der Trauerbewältigung – „das heißt, viel Zeit mitbringen, zuhören können. Auch mal eine Hand halten.“

Zusammenhalt. Den braucht es nicht nur in solch entsetzlichen Einzelfällen, die ganze Gesellschaft benötigt ihn. Lüth sah mit Sorge, wie sich die festen Bindungen auflösten, die er zu DDR-Zeiten schätzte. An die Stelle enger Netze traten Vereinzelung und Wegschauen, gleichzeitig brachen Hass und Gewalt hervor. Die rechtsextremen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda erlebte er als Polizeipräsident Anfang der Neunziger – auch Cottbus war da in Alarmbereitschaft.

Als gelte es, sich dieser Entwicklung mit aller Kraft entgegenzustemmen, organisierte Lüth in den folgenden Jahren unermüdlich: das bürgerliche Miteinander im Freundeskreis für Lübben, den er gleich nach der Wende mitgegründet hatte. Die Arbeit der Deutschen Gesellschaft, dem überparteilichen Bürgerverein zur Förderung politischer, kultureller und sozialer Beziehungen in Deutschland und Europa, in dem er den Vorstandsposten von Angela Merkel übernahm. Und als Mitglied den Sicherheitsausschuss des Brandenburger Landesfußballverbands. Bis heute ist er Sicherheitsbeauftragter beim FC Energie Cottbus, der zu Erstliga-Zeiten bis zu 22.000 Fans in sein Stadion zog, darunter auch immer Hooligans und Neonazis. Hat er mal die Nerven verloren, wenn es hoch herging? „Nein“, sagt Lüth. Doch ein Böller habe ihm mal schwer den Fuß verletzt.

Immer alles richtig gemacht?

Ist er selbst Cottbus-Fan? „Ich bin überhaupt kein Fußballfan!“ Er singt auch nicht, und doch hat er Brandenburgs Polizeichor gegründet. Er musiziert nicht, eine Polizeiorchester-Parade hat er dennoch ausgerichtet. Und obwohl er auch kein Radsportler ist, organisiert er seit mehr als 25 Jahren Touren für Polizisten, Bürgermeister, Staatsanwälte aus verschiedenen Ländern, unter dem Motto „Wir radeln für Völkerverständigung“. Warum das alles? Freude bereiten, Zusammenhalt fördern. „Wir müssen uns austauschen. Die Polizei muss sich als große Familie erleben.“

Im März 2019 wurde ihm für seine Verdienste beim WEISSEN RING und in den anderen Ehrenämtern das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Ist er stolz auf das, was er erreicht hat? „Ja“, sagt Lüth mit fester Stimme. Und die eigene Familie, wo blieb die bei all dem Engagement? Die, meint er nachdenklich, musste wohl zu oft ohne ihn auskommen. „Vielleicht hat man da doch nicht immer alles richtig gemacht.“

Jetzt kommt die Zeit, das zu ändern. Auch wenn die Sorge um die Gesellschaft ihn wohl niemals loslassen wird. Brutalität nimmt weiter zu, weltweit in Form von Kriegstreiberei und nationalistischem Machthunger. Und hinter mancher Wohnungstür als häusliche Gewalt. Übergriffe auf Polizistinnen, Polizisten und andere Menschen in Uniform werden immer aggressiver. Gleichzeitig sind Zeugen weniger bereit, einzugreifen. Die Angst der Zeugen kann er ein Stück weit nachvollziehen: „Die Menschen fürchten sich vor Rache.“ Er kennt sie selbst, die anonymen Gewaltandrohungen, die Menschen erhalten, die sich engagieren. Hat er selbst auch Angst? „Nein“, sagt Lüth. „Man gibt ja immer sein Bestes“, sagt er. „Trotzdem können wir nicht verhindern, dass manche Menschen Böses tun.“