„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Erstellt am: Donnerstag, 27. März 2025 von Gregor

„Verfahren sollten so opfersensibel wie möglich gestaltet werden“

Dr. Marius Riebel ist beim Wissenschaftspreis Opferschutz mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden. Er hat erforscht, wie der Staat besser mit Betroffenen umgehen könnte. Riebel macht viele konkrete Vorschläge, etwa zur Gestaltung von Gerichtsprozessen.

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

Eine Aussage vor Gericht ist für viele Verletzte besonders belastend. Bild: picture alliance/epd-bild/Heike Lyding

Dr. Marius Riebel, der beim Wissenschaftspreis Opferschutz mit dem Nachwuchspreis geehrt worden ist (mehr zur Preisverleihung findet sich hier), spricht im Interview mit der Redaktion des WEISSEN RINGS darüber, welche Bedürfnisse Opfer im Strafverfahren haben, inwiefern diese berücksichtigt werden – und wo es dringenden Verbesserungsbedarf gibt.

Herr Dr. Riebel, Sie haben sich intensiv mit „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ befasst, einem Thema, dem sich die Rechtswissenschaft selten widmet. Wie sind Sie darauf gekommen?

Nach dem ersten Staatsexamen habe ich das Angebot angenommen, an der Universität Leipzig zu arbeiten, um mich tiefer mit rechtswissenschaftlichen Themen auseinandersetzen zu können. Daneben wollte ich etwas Praktisches machen, weshalb ich beim WEISSEN RING als ehrenamtlicher Berater angefangen habe. Oft wollten Betroffene über das anstehende beziehungsweise vergangene Strafverfahren sprechen. Ihr Blick darauf war regelmäßig negativ und mit Ängsten verbunden. Das gab mir den Impuls, dazu zu forschen, welche Erwartungen Betroffene an den Staat und staatliche Verfahren haben.

Was haben Sie mit welchen Methoden untersucht?

Ich habe untersucht, welche Interessen Verletzte haben und inwieweit diese im Strafverfahren, aber auch in anderen staatlichen Verfahren berücksichtigt werden. Dazu habe ich bereits vorliegende empirische Untersuchungen, die Verletzteninteressen herausgearbeitet haben, ausgewertet und die Erkenntnisse mit der derzeitigen Ausgestaltung des Rechts abgeglichen. Dabei habe ich mich zum einen abstrakt mit der Legitimität von Verletztenbelangen auseinandergesetzt. Zum anderen habe ich die bestehenden Rechtsinstitute auf ihr Befriedigungspotenzial hin untersucht und Verbesserungsmöglichkeiten entwickelt.

Was haben Sie im Wesentlichen herausgefunden?

Häufig wird davon ausgegangen, dass Verletzte eine möglichst harte Bestrafung wollen. Die Strafe ist für sie tatsächlich ein relevanter Aspekt. Hier geht es aber weniger um eine möglichst harte Sanktion, sondern mehr darum, dass überhaupt eine staatliche Reaktion erfolgt. Damit wird auch eine Form von Anerkennung verbunden. Daneben haben Betroffene materielle und immaterielle Bedürfnisse: Einerseits sollen Kosten – beispielsweise für die medizinische Versorgung oder den Rechtsbeistand – kompensiert werden. Andererseits wünschen Betroffene, dass während des Verfahrens auf sie eingegangen und Rücksicht auf ihre nicht selten bestehenden psychischen Belastungen genommen wird. Im Zuge dessen ist es relevant, dass sie informiert am Verfahren teilhaben und ihre Perspektive aktiv einbringen können.

Welchen Effekt hat das?

Ein solcher Umgang kann dazu beitragen, dass sie das erlittene Unrecht verarbeiten und damit langfristig leben können. Mit Blick auf den Strafprozess konnte ich feststellen, dass es schon eine ganze Reihe von Instrumenten gibt, die eine verletztengerechte Behandlung sicherstellen können. Gleichzeitig werden diese in bestimmten Bereichen aber nicht genug angewendet. Außerdem konnte ich weitere Gestaltungsspielräume herausarbeiten.

Dr. Marius Riebel ist beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und des WEISSEN RINGS mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden.

Welche Instrumente können helfen, die Interessen von Verletzten zu berücksichtigen?

In Untersuchungen wird von Verletzten beispielsweise die Aussage vor Gericht, aber auch die Konfrontation mit der Tatperson als besonders belastend beschrieben. Hier kann bereits heute Videotechnik eingesetzt werden, um derartige Situationen abzumildern und mehrfache Vernehmungen zu verhindern. Auch ein Ausschluss der Öffentlichkeit oder die Entfernung des Angeklagten kann helfen. Außerdem haben Verletzte Aktivrechte – wie beispielsweise die Möglichkeit, sich als Nebenkläger anzuschließen. Darüber hinaus existieren Informationsrechte, wobei das Gesetz das Idealbild eines über seine Rechte voll informierten Verletzten verfolgt. Die Interessen Betroffener haben aber auch Grenzen.

Welche Grenzen gibt es?

Etwa Rechte der Verteidigung oder rechtsstaatliche Prinzipien wie „in dubio pro reo“. All diese Maximen sind richtig und wichtig, können aber dazu führen, dass ein Urteil oder auch eine Einstellungsentscheidung dem Verletzten keine Anerkennung bringt. Umso wichtiger ist es, das Verfahren so opfersensibel wie möglich zu gestalten. Hier besteht aus meiner Sicht ein großes Potenzial in der Kommunikation mit Verletzten. Wenn ein Täter beispielsweise „in dubio pro reo“ freigesprochen wird, sollte dem Verletzten diese Entscheidung umfassend erklärt werden – auch gerichtsseitig. Dies kann die von Verletztenseite gewünschte Anerkennung bringen, Rechtsfrieden schaffen und zudem Vertrauen in den Rechtsstaat stärken.

Mit welchen weiteren Mitteln könnte die Justiz den Bedürfnissen von Betroffenen besser Rechnung tragen?

Es gibt einige Stellschrauben. Um ein paar Details zu nennen: Im Bereich der Nebenklage könnten umfassendere Prozesskostenhilferegelungen geschaffen werden. Außerdem sollte der Kreis der Nebenklageberechtigten überarbeitet werden. Auch das Institut der psychosozialen Prozessbegleitung ist weiter optimierungsbedürftig. Ein großer Wurf könnte allerdings gelingen, indem die juristische Aus- und Fortbildung verbessert würde. Hier spielen Verletztenrechte und Disziplinen wie Viktimologie bisher kaum eine Rolle. Das muss sich ändern.

Inwiefern?

Juristinnen und Juristen sollten sich – zumindest, wenn sie später etwa mit häuslicher oder sexualisierter Gewalt zu tun haben – damit auseinandersetzen, was Straftaten und Verfahren mit Betroffenen machen. Ich plädiere dafür, Qualifikationsstandards zu normieren. Als Vorbild kann dabei das Jugendgerichtsgesetz (JGG) dienen, wo es unter anderem heißt, dass Jugendrichterinnen und Jugendrichter sowie Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte erzieherisch befähigt und in der Jugenderziehung erfahren sein müssen. Paragraph 37 JGG fordert hier spezifische Kenntnisse in bestimmten Bereichen. Über eine vergleichbare Regelung für Beteiligte an für Verletzte besonders belastenden Strafverfahren sollte zumindest diskutiert werden. Abschließend ist es allerdings auch wichtig, den Blick auf andere Verfahren zu weiten. Hier birgt das soziale Entschädigungsrecht (SGB XIV) große Potenziale, die künftig noch weiter genutzt werden sollten.

Transparenzhinweis:
Dr. Marius Riebel befindet sich seit Mai 2024 im Rechtsreferendariat des Freistaates Sachsen im Landgerichtsbezirk Leipzig. Neben seinem beruflichen Engagement ist er seit 2019 aktives Mitglied beim WEISSEN RING. Vor seinem Referendariat war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, nach seinem mit Prädikat abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunkt Kriminalwissenschaften. Für seine Arbeit zu „Verletzteninteressen im Kontext des staatlichen Umgangs mit Straftaten“ ist er beim Wissenschaftspreis des Bundeskriminalamtes und der WEISSEN RINGS mit dem Nachwuchspreis ausgezeichnet worden.

„Das Gewalthilfegesetz ist ein Fortschritt, aber mit Jubel halten wir uns zurück“

Erstellt am: Donnerstag, 6. März 2025 von Torben

„Das Gewalthilfegesetz ist ein Fortschritt, aber mit Jubel halten wir uns zurück“

Betroffenen von häuslicher Gewalt fehlt es an Hilfsangeboten. Mit dem neuen Gewalthilfegesetz soll sich das ändern. Reicht das aus? Ein Interview mit Dorothea Hecht von der Frauenhauskoordinierung über Vorteile und Lücken des neuen Gesetzes.

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Jeden Tag erleiden Hunderte von Menschen in Deutschland häusliche Gewalt. Nach jüngsten Zahlen des Bundeskriminalamtes sind im Jahr 2023 insgesamt 256.276 Opfer von Partnerschaftsgewalt oder Gewalt gegen Kinder, Eltern oder andere Familienangehörige erfasst worden – 6,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. 70 Prozent der Betroffenen waren weiblich, 75,6 Prozent der Täter männlich.

Es mangelt an Hilfsangeboten. Immer wieder kommt es vor, dass Einrichtungen Betroffenen keinen Platz bieten können. Das neue Gewalthilfegesetz sieht ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vor. Es verpflichtet die Länder, ausreichend Angebote zu schaffen. Dafür bekommen sie vom Bund zwischen 2027 und 2036 insgesamt 2,6 Milliarden Euro. Betroffene können künftig Einrichtungen in ganz Deutschland aufsuchen, egal in welcher Kommune sie leben. Außerdem soll die Prävention ausgeweitet werden, zum Beispiel durch Täterarbeit.

Lesen Sie auch: Istanbul-Konvention: „Gravierende Lücken“

Bei der bundesweit aktiven Frauenhauskoordinierung ist Dorothea Hecht Expertin für rechtliche Fragen. Anlässlich des Internationalen Frauentages hat die Redaktion des WEISSEN RINGS mit ihr über Vorteile und Lücken des neuen Gesetzes gesprochen.

Dorothea Hecht ist Fachanwältin für Familienrecht und bei der Frauenhauskoordinierung Referentin für Recht. Der bundesweit aktive Verein unterstützt Frauenhäuser und Beratungsstellen in fachlicher Hinsicht und bei ihrer politischen Arbeit. (Foto: Frauenhauskoordinierung e.V.)

Frau Hecht, nachdem Bundestag und Bundesrat dem Gewalthilfegesetz vor einigen Wochen zugestimmt hatten, sprach Familienministerin Lisa Paus (Grüne) von einem „historischen Moment“. Teilen Sie diese Sicht?

Die Worte, die Paus gewählt hat, treffen es. Das Hilfesystem bekommt endlich eine solide Grundlage – nach jahrzehntelangen Schwierigkeiten, Frauenhäuser und andere Angebote zu finanzieren. Es handelte sich ja um sogenannte freiwillige Leistungen, die immer abhängig von der Politik und der Haushaltslage waren. Positiv am neuen Gesetz ist zum Beispiel die in konkrete Zahlen gefasste Beteiligung des Bundes.

Laut Paus werden Lücken im Netz der Frauenhäuser und Beratungsstellen geschlossen und die Hilfsangebote deutlich ausgebaut. Wie schätzen Sie die Wirkung des Gesetzes ein?

Es ist ein klarer Fortschritt, aber mit Jubel halten wir uns zurück.

Weshalb?

Ob die bereitgestellten Summen reichen, ist mehr als fraglich. Die auf zehn Jahre gestreckten 2,6 Milliarden Euro vom Bund orientieren sich an den unteren Werten, die in der „Kostenstudie zum Hilfesystem für Betroffene von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt“ berechnet wurden. Den laufenden Bedarf der Einrichtungen zu decken, ist schon schwierig. Jetzt kommen – in einer Zeit mit stark gestiegenen Baukosten – hohe Investitionen hinzu, etwa für den Ausbau der Frauenhäuser. Diese müssen Fachexpertise, beispielsweise für die Bauleitung, einkaufen. Fest steht: Die Bundesländer werden sich finanziell mindestens genauso wie der Bund einbringen müssen.

Wo sehen Sie noch Lücken?

In der Frauenhauskoordinierung haben wir in erster Linie betroffene Frauen und Kinder im Blick. Aber auch wir sehen kritisch, dass etwa non-binäre Menschen und trans Menschen im beschlossenen Gewalthilfegesetz nicht mehr anspruchsberechtigt sind. Außerdem gibt es eine Reihe offener Fragen: Was passiert, wenn ein Bundesland seine Pflichten beim Ausbau der Hilfen nicht erfüllt? Welche Sanktionen können verhängt werden, und welche Folgen hätten diese für die Opfer? Und was ist, wenn sich herausstellt, dass der Bedarf noch größer ist als angenommen?

Ebenfalls problematisch ist die zum Teil nicht nachvollziehbare Bürokratie. So wird angefragt, welches Geschlecht die Mitarbeiterinnen in einem Frauenhaus haben. Die geforderte Bestandsanalyse wird dort wertvolle Ressourcen binden, die für Beratung gebraucht werden.

Was halten Sie vom Zeitplan des Gewalthilfegesetzes?

Es dauert noch fast sieben Jahre, bis der Rechtsanspruch greift. Die Frau, die heute in Not ist, aber keinen Platz findet, hat nichts davon. Andererseits müssen erst die notwendigen Strukturen aufgebaut werden. Schon bei der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt war Deutschland spät dran. Die Vorgaben der Konvention zu Opferschutz, Prävention und Strafverfolgung wurden bereits 2011 von den ersten 13 Staaten in Istanbul unterzeichnet. Bei uns ist sie erst 2018 in Kraft getreten, und bis zur vollständigen Umsetzung ist der Weg noch weit.

Das Gesetz stellt auch eine bessere Prävention in Aussicht. Etwa durch Infokampagnen und Täterarbeit. Was halten Sie davon?

Dieser Teil ist nicht so konkret formuliert, es besteht kein Rechtsanspruch darauf. Andererseits stellt sich die Frage, ob etwa Kampagnen zu den dringenden Aufgaben des Gewalthilfegesetzes zählen – das nicht überfrachtet werden sollte. Aus unserer Sicht geht es nun erst einmal darum, den Schutz und die Beratung zu fördern und spürbar auszubauen.

Wie ist die aktuelle Situation in den Frauenhäusern?

Wir tragen die Notlage gebetsmühlenartig vor uns her: Gemäß der Istanbul-Konvention brauchen wir etwa 21.000 Frauenhausplätze bundesweit, haben aber nur ungefähr 7.000, so dass hier und jetzt 14.000 fehlen. Mit Hilfe des mittlerweile abgeschlossenen Bundesinvestitionsprogramms „Gemeinsam gegen Gewalt“ wurden zusätzliche Plätze geschaffen, aber lange nicht genug.

Frauenhäuser in Deutschland: Versperrter Ausweg

Wir haben eine Unterversorgung – und einen Fachkräftemangel: Junge, gut ausgebildete Frauen sagen immer häufiger, sie könnten nicht für relativ wenig Geld eine so fordernde Arbeit machen, mit teils schwer traumatisierten Menschen, Schicht- und Bereitschaftsdienst. Es braucht höhere Löhne, um die dringend notwendigen Fachkräfte zu gewinnen.

Hintergrund:

Frauenhäuser finanzieren sich mit Geld vom Land und den Kommunen, hinzu kommen Beteiligungen von Frauen sowie Eigenmittel der Träger, die diese durch Bußgelder und Spenden einnehmen müssen. Letzteres ist aufwendig und unsicher.

So standen deutschlandweit zuletzt etwa 7800 Frauenhausplätze zur Verfügung. Nach der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, zu der sich Deutschland 2018 verpflichtet hat, wären aber 21.500 Plätze nötig.

Die Reaktionen auf das neue Gewalthilfegesetz sind geteilt. Esther Bierbaum von der Zentralen Informationsstelle autonomer Frauenhäuser bezeichnet das neue Gesetz als „Meilenstein“. Noch nie hätten sich Bund, Länder und Kommunen so verbindlich und gemeinsam dem Gewaltschutz angenommen. Das Gesetz stelle klar: „Es braucht mehr Geld, Plätze, Qualität und Prävention.“

So wie bislang könne es nicht weitergehen: „Es ist immer schwierig, die Finanzierung aufrechtzuerhalten. Kolleginnen sind fast täglich damit beschäftigt, hilfesuchende Frauen und Kinder abzuweisen, weil der Platz nicht reicht.“ Das Gewalthilfegesetz lasse hoffen, aber: „Wir sehen auch Lücken.“ Bierbaum verweist darauf, dass etwa non-binäre Menschen nicht genannt werden, ebenso wie Geflüchtete.

Auch bleibe „wirtschaftliche Gewalt“ außen vor – von der viele Schutzsuchende betroffen seien: „Sie dürfen nicht eigenständig über Geld verfügen, müssen Rechenschaft ablegen und bekommen häufig nichts. Stattdessen kommt es zu Streit.“

Transparenzhinweis:
Der WEISSE RING begrüßt das Gewalthilfegesetz, weil es die Versorgung verbessert und der Bund sich finanziell beteiligt. In den meisten Fällen sind Frauen von Gewalt betroffen, ihr Schutz muss dringend ausgebaut werden. Wir kritisieren aber, dass das Gesetz nicht für Männer und Transmenschen gilt. Es ist wichtig, dass alle Betroffenen auf Hilfe zählen können.

Die Ruhe in Person

Erstellt am: Montag, 3. März 2025 von Sabine

Die Ruhe in Person

Petra Klein, 69 Jahre alt, ist niemals nervös. Die frühere Polizistin ist beim WEISSEN RING nicht nur Leiterin der Außenstelle Oldenburg, sie repräsentiert den Verein auch in Europa. Jetzt wurde sie für ihr Engagement geehrt.

Sie gratulierten Petra Klein (Mitte), v. l. n. r.: Barbara Richstein, Rosa Jansen, Jürgen Krogmann und Andreas Sagehorn.

Natürlich hätte man sich die Frage sparen können. Historisches Rathaus zu Oldenburg, großer Sitzungssaal, Gäste aus dem In- und Ausland, in der ersten Reihe sitzt der Oberbürgermeister, in einer samtausgeschlagenen Holzkiste liegt das Bundesverdienstkreuz am Bande bereit. „Bist du nervös, Petra?“ Und Petra lächelt nur milde, so wie sie es immer tut, um mit sanfter Stimme zu antworten: „Nein.“

Petra Klein, 69 Jahre alt, ist niemals nervös. Sie war es nicht bei der Polizei damals, als sie bei Geiselnahmen oder Bedrohungslagen vermittelte. Sie ist es heute nicht, wenn ihr aufgewühlte, verzweifelte Verbrechensopfer gegenübersitzen. Nicht im Bundesvorstand des WEISSEN RINGS, wenn sie bei internen Konflikten moderieren muss, und nicht einmal in Brüssel, wenn sie auf Englisch die Interessen Deutschlands bei Victim Support Europe vertreten soll, dem Dachverband der europäischen Opferhilfsorganisationen. Warum sollte sie also jetzt nervös sein, bei ihrer Feierstunde? Sie freut sich einfach, „ich fühle mich sehr, sehr geehrt“, sagt sie.

„Gesicht des WEISSEN RINGS“ in Oldenburg – und Europa
Oldenburgs Oberbürgermeister Jürgen Krogmann (SPD) hebt das Verdienstkreuz aus der Schachtel und bekennt, er sei hier ja nur der Postbote, „denn verliehen hat es Ihnen der Bundespräsident“. Aber auch er freut sich, denn er kennt die Ausgezeichnete seit vielen Jahren: Als Oberbürgermeister kennt er sie als „Gesicht des WEISSEN RINGS“ in seiner Stadt, als ehemaliger Landtagsabgeordneter kennt er sie als Vertreterin des Opferschutzes in der Politik, als Aufsichtsratsmitglied des Klinikums Oldenburg kennt er sie als intensive Begleiterin der Angehörigen im Fall des Krankenhausmörders Niels Högel, der im örtlichen Klinikum Dutzende Patienten ermordete. Den Orden bekomme sie nun „für die um die Bundesrepublik Deutschland erworbenen besonderen Dienste“.

„Nichts macht man allein, das geht nur mit einer ganz tollen Außenstelle.“

Petra Klein zu den Verdiensten.

Aus Brandenburg ist Barbara Richstein angereist, die Bundesvorsitzende des WEISSEN RINGS. Sie zeichnet den Weg von Petra Klein ins Ehrenamt nach: 2009, nach ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst, wurde sie ehrenamtliche Mitarbeiterin beim WEISSEN RING, wenige Monate später übernahm sie bereits die Leitung der Außenstelle Oldenburg. Längst ist Oldenburg eine der größten Außenstellen des Vereins in Niedersachsen: 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aktuell, die in weit mehr als 2000 Fällen seit 2009 Kriminalitätsopfer mit fast einer Millionen Euro unterstützen konnten.

„Ein großes Herz“

Außenstellenleitung sei eine Arbeit, die „ein großes Herz“ erfordere, sagt Richstein. Aber damit nicht genug, Petra Klein engagiere sich „weit über die regionale Ebene hinaus“: Seit 2010 ist sie Mitglied des Bundesvorstands des WEISSEN RINGS, inzwischen sogar als stellvertretende Bundesvorsitzende, seit 2021 ist sie Vizepräsidentin von Victim Support Europe.

Das wissen die Gäste aus den Reihen des WEISSEN RINGS im Ratssaal natürlich alles, nicht aber das, was Andreas Sagehorn, der Präsident der Polizeidirektion Oldenburg, aus 32 Polizeidienstjahren zu berichten hat. Er erinnert an Petra, die Polizistentochter und „Pionierin“, wie er sie nennt. Die in den 70er-Jahren zur Polizei kam, als Frauen dort „eine Seltenheit“ waren. Die dank ihrer Fähigkeit, in allen Lagen ruhig zu bleiben, als erste Frau die Verhandlungsgruppe leitete. Die in den 90er-Jahren, als mehrere Mädchenmorde den Nordwesten Deutschlands erschütterten, die Angehörigen jeweils betreute. „Für sie endete der Job nie damit, die Taten aufzuklären“, so Sagehorn. „Sie hatte immer schon die Opfer im Blick.“

Es gibt noch viel zu tun

Und Petra Klein? Ruhig sitzt sie in der ersten Reihe, lächelt und dankt ihren Gästen. Der Familie. Ganz besonders Ihrem Partner Ferdi (Ferdinand Zuppke). Ihrem „lieben Freund Günni“ (Günter Koschig). Und wo sie mit den beiden schon wieder beim WEISSEN RING angekommen ist: Bianca Biwer, der aus Mainz angereisten Bundesgeschäftsführerin des Vereins, und nochmals „ihrer“ Außenstelle.

„Was für ein unglaublicher Erfolg“, lob Rosa Jansen, Präsidentin VSE, die aus den Niederlanden zur Feierstunde nach Oldenburg kam. Aber sie sagt auch: „Wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns.“ Deshalb sei sie froh, dass Petra keinerlei Interesse zeige, aufzuhören. „Wir brauchen dich wirklich!“

Eine Herzensangelegenheit

Erstellt am: Donnerstag, 28. November 2024 von Sabine

Eine Herzensangelegenheit

Mehr als 25 Jahre saß Barbara Richstein als Abgeordnete im Brandenburger Landtag, fast genauso lange ist sie Mitglied im WEISSEN RING. Im September 2024 wählten die Delegierten des Vereins sie zur neuen Bundesvorsitzenden. Was möchte sie in den kommenden zwei Jahren als oberste Opferschützerin bewegen? Ein Treffen in Berlin.

„Wir sind ein gutes Team“: Barbara Richstein mit Vorstandskollegen bei der Bundesdelegiertenversammlung 2024 in Frankfurt am Main.

An einem kühlen Oktobernachmittag tuckern Ausflugsdampfer auf der Spree durchs politische Berlin, Hauptstadttouristen machen Fotos vom Bundeskanzleramt. Am Ufer gegenüber liegt der „Zollpackhof“. Der Biergarten des Lokals ist verwaist, auf den Tischen sammelt sich buntes Herbstlaub. Der Internetseite des Restaurants zufolge befand sich hier um 1700 das erste Ausflugslokal Berlins. Heute werben die Betreiber mit der Berliner Tradition und schenken zwischen holzvertäfelten Wänden und blau-weißen Tischtüchern bayerisches Bier aus.

Barbara Richstein, 59 Jahre alt, Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Brandenburg und seit knapp vier Wochen zudem neue Bundesvorsitzende des Vereins, hat den Treffpunkt aber nicht wegen der krachledernen Gemütlichkeit vorgeschlagen, sondern wegen der verkehrsgünstigen Lage in Berlin-Mitte.

Sie öffnet ihre Aktentasche und legt einen Stapel Papier aufs Tischtuch. Das, sagt sie, habe sie neulich beim Ausräumen in ihrem Büro gefunden: Kopien von Presseartikeln, erschienen im Jahr 2002, als Richstein Justizministerin in Brandenburg wurde. „Der Opferschutz soll verstärkt werden“, schrieb die „Lausitzer Rundschau“, der „Tagesspiegel“ zitierte groß: „Ein verstärkter Opferschutz liegt mir besonders am Herzen“. Barbara Richstein lächelt. „An der Aussage hat sich nichts verändert“, sagt sie heute, 22 Jahre später.

Seit 1999 saß die CDU-Politikerin aus Falkensee am Rande Berlins im Brandenburgischen Landtag, zuletzt als Vizepräsidentin des Potsdamer Hauses. Zur Landtagswahl im September 2024 ist die 59-Jährige nicht mehr angetreten. Nach 25 Jahren im Landtag ist für Richstein also Schluss in der Politik, oder wie sie sagt: „Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.“

Barbara Richstein ist seit 2002 Mitglied im WEISSEN RING.

Lassen Sie uns raten, Frau Richstein: Sie sind mit dem Fahrrad da?

Nein. (Sie lacht.) Mit der Bahn, der Hauptbahnhof ist ja nur ein paar Hundert Meter entfernt von hier.

Bei Ihrer Vorstellung vor der Wahl zur Bundesvorsitzenden des WEISSEN RINGS wurde das augenzwinkernd als ausdrücklicher Vorteil der Kandidatin Richstein angepriesen: Sie könnten künftig jederzeit mit dem Fahrrad in die Hauptstadt radeln, um dort öffentliche Termine wahrzunehmen und Netzwerke zu knüpfen.

Das stimmt. Aber wissen Sie auch, woher die Fahrrad-Anspielung kam?

Nein. Verraten Sie es uns?

Im Sommer war ich mit einer Freundin auf einer Fahrradtour, so wie in jedem Jahr. Genau in diese Zeit fiel aber die digitale Sitzung des Geschäftsführenden Bundesvorstands des WEISSEN RINGS, bei der bekannt gegeben werden sollte, dass ich kandidieren werde. Eigentlich wollten wir bis zu der Sitzung eine Gaststätte erreicht haben, das hat aber nicht geklappt. So habe ich mich dann mit Fahrradhelm eingewählt. Unglücklicherweise war das in der Nähe von Wacken, wo gerade der erste Tag des berühmten Heavy-Metal-Festivals gefeiert wurde und die Musik entsprechend dröhnte. (Sie lacht.) Aber es hat dann ja doch alles geklappt.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie als Bundesvorsitzende kandidiert haben? Zunächst waren Sie als Versammlungsleiterin nominiert, nicht als Kandidatin für die Vereinsführung …

Das kam auch überraschend für mich. Patrick Liesching, der die vergangenen beiden Jahre der Bundesvorsitzende war, hat mich im Sommer in einem persönlichen Gespräch gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, seine Aufgaben zu übernehmen. Ich empfand und empfinde es als eine große Auszeichnung, überhaupt gefragt zu werden, und es passte gut zusammen mit dem Ende eines Lebensabschnitts: Vor zwei Jahren hatte ich entschieden, dass ich nach 25 Jahren aus der Landespolitik ausscheide und mich neuen Aufgaben widmen möchte.

Allerdings bin ich auch Aufsichtsrätin beim Deutschen Leichtathletikverband. Deshalb musste ich erst mal abklären, ob meine Engagements für beide Seiten okay sind. Das passte, und das freut mich sehr, denn der WEISSE RING liegt mir schon seit über 20 Jahren am Herzen.

Was ändert sich im WEISSEN RING mit Barbara Richstein als Bundesvorsitzender?

Ich glaube, ich kann wunderbar anknüpfen an die gute Arbeit, die Patrick Liesching in den vergangenen beiden Jahren geleistet hat. Ich bin sehr glücklich, dass wir ihn überzeugen konnten, als Stellvertreter weiter dem Geschäftsführenden Bundesvorstand anzugehören.

Wir sind ein gutes Team in dem Gremium, und die Zusammenarbeit ist einfach schön. Ich werde das Rad auch nicht neu erfinden: „Digitale Gewalt“ wird uns weiter beschäftigen, das war 2024 das Jahresthema des WEISSEN RINGS, und das wird es auch im kommenden Jahr sein. Die Maschen der Betrüger im Digitalen werden immer raffinierter, deshalb ist Prävention in diesem Bereich so wichtig.

Der WEISSE RING hat aber auch viele andere Dinge angestoßen. Dazu gehört unser Anliegen, dass die Fußfessel-Überwachung nach dem spanischen Modell auch in Deutschland eingeführt wird, um Opfer häuslicher Gewalt besser zu schützen.

Haben Sie Hoffnung, dass das spanische Modell zeitnah kommt?

Um ganz ehrlich zu sein: In dieser Legislaturperiode, in der keiner weiß, wie lange die überhaupt noch bestehen wird, glaube ich da eher nicht dran.

Was Barbara Richstein zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann: Zwei Wochen nach unserem Gespräch wird Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seinen Finanzminister Christian Lindner (FDP) entlassen – das Ende der Ampelkoalition. Auch FDP-Justizminister Marco Buschmann, der einer bundesrechtlichen Fußfessel-Regelung ablehnend gegenüberstand, tritt zurück. Neuwahlen sollen Ende Februar stattfinden.

Ich habe aber die Hoffnung, dass eine neue Bundesregierung das spanische Modell in der kommenden Legislaturperiode auf den Weg bringt. Das wird auch Zeit, denn jeder Tag ohne die Verschärfung des Gewaltschutzgesetzes ist für die Betroffenen einer zu viel.

,,Wir müssen noch lauter werden und die Probleme im Opferschutz klar als solche benennen, den Finger in die Wunde legen."

Barbara Richstein
Im Frühjahr 2024 haben Sie, damals noch als designierte Versammlungsleiterin, einen Fragebogen für unser Magazin ausgefüllt. Darin sagten Sie, der WEISSE RING müsse insbesondere in den neuen Bundesländern noch bekannter werden. Wie wollen Sie das als Bundesvorsitzende anstellen?

Der WEISSE RING war in der Vergangenheit sehr westdeutsch orientiert. Das fängt bei den Gremienbesetzungen an und reicht bis zu Seminarinhalten, in denen die meisten Fallbeispiele aus den alten Bundesländern stammen.

Generell ist Diversität wichtig, auf allen Ebenen. Und natürlich eine gute Öffentlichkeitsarbeit. Wir müssen noch lauter werden und die Probleme im Opferschutz klar als solche benennen, den Finger in die Wunde legen. Dass das klappen kann, zeigen die zahlreichen Reaktionen zu unserem Einsatz für das spanische Modell bei der Fußfessel.

Der Verein muss aber nicht nur in Ostdeutschland bekannter werden, sondern bundesweit – vor allem bei den jüngeren Menschen. Ich war Mitte Oktober beim Dialogforum, einem Treffen der Jungen Mitarbeitenden des Vereins aus ganz Deutschland. Viele von denen haben mir gesagt: „Uns kennt keiner“. Die „Generation Eduard Zimmermann“ um den Mitbegründer des WEISSEN RINGS, der durch die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ so etwas wie eine Institution war, wird eben immer kleiner.

Die Bundesdelegiertenversammlung des WEISSEN RINGS, die Sie zur Bundesvorsitzenden gewählt hat, hat auch einen Unvereinbarkeitsbeschluss verabschiedet, der den Verein vor einer möglichen Unterwanderung durch extremistische Kräfte schützen soll. In einigen Regionen der neuen Bundesländer erreichte die in Teilen rechtsextreme AfD bis zu 40 Prozent der Wähler, auch bei Ihnen in Brandenburg kam die Partei auf knapp 30 Prozent. Erschwert so ein Unvereinbarkeitsbeschluss Ihren Plan, den WEISSEN RING „ostdeutscher“ zu machen?

Die Gefahr von Unterwanderung durch Extremisten – und damit meine ich nicht nur durch Parteien, sondern auch Menschen mit einer solchen Weltanschauung – ist schon sehr groß. Der Beschluss ist inhaltlich ja auch nicht ganz neu: Schon 2018 haben wir uns von Extremisten klar distanziert, nun ist das auch in unserer Satzung verankert.

Ich glaube, da sind die Deutschen ein bisschen feinfühliger geworden und verstehen, warum wir uns so positionieren müssen. Es ist daher folgerichtig, dass der Beschluss bei der Delegiertenversammlung in Frankfurt fast einstimmig beschlossen wurde. Das ist ein gutes Zeichen. Der WEISSE RING ist keinesfalls unpolitisch, aber er ist überparteilich.

Im Gespräch: Barbara Richstein beim Interviewtermin im „Zollpackhof“ in Berlin.

Im Jahr 2018 distanzierte sich der WEISSE RING von extremistischen Strömungen und Parteien. Der Bundesvorstand verurteilte damals Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit aufs Schärfste und beschloss einstimmig, dass sich der Verein nicht von extremistischen Parteien instrumentalisieren lässt und keine Spenden von der AfD annimmt. Auslöser war die missbräuchliche Verwendung des Logos des WEISSEN RINGS bei einer öffentlichen Spendensammlung durch einen Ortsverband der AfD in Nordrhein-Westfalen. Nach der Veröffentlichung des Vorstandsbeschlusses im Magazin des WEISSEN RINGS erklärten ein paar Dutzend Vereinsmitglieder ihren Austritt.

Sie waren lange im Brandenburgischen Landtag. Wie haben Sie die AfD dort erlebt?

In den letzten Jahren ist der Umgangston rauer geworden, das merken wir in der Gesellschaft, wir merken es aber natürlich auch in der Politik. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen sich gegenseitig weniger zuhören, sondern viele sich nur noch auf das Kontra, auf die eigene Gegenposition konzentrieren. Das liegt aber nicht nur an der AfD, muss man ehrlicherweise sagen.

Die Brandenburger AfD wird derzeit vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall beobachtet, aber einige ihrer Abgeordneten gelten bereits als gesichert rechtsextrem. Es wurde in den Debatten schon deutlich, dass einige von denen eine völkisch-nationale Einstellung haben. Egal, welches Thema diskutiert wurde, sie haben immer wieder die Schleife bekommen, gegen Migranten zu hetzen und gegen andere, die nicht in ihr Weltbild passen.

Waren Sie als CDU-Politikerin Hass und Hetze ausgesetzt?

Hm. (Sie überlegt kurz.) In den 25 Jahren habe ich nur ein- oder zweimal einen unschönen Brief bekommen. Ich habe immer versucht, andere nicht persönlich anzugreifen und nicht zu stark zu polarisieren. Das ist nicht meine Klaviatur und hat mir bei der Arbeit, vor allem als Vizepräsidentin des Landtags, sehr geholfen. Ein Kollege von der Opposition hat mir mal gesagt: „Sie sind zu allen gleich streng.“ Das galt auch für meine eigene Fraktion.

Viele Politikerinnen und Politiker berichten von massiver analoger und digitaler Gewalt, zunehmend auch im kommunalen Bereich. In der Stadt Neubrandenburg hat jüngst ein Bürgermeister aus diesem Grund sein Amt niedergelegt. Was kann, was muss der Staat tun, um diese Menschen und ihre Ämter besser zu schützen?

Es ist ja schon einiges geschehen. Erst im Sommer hat die „Starke Stelle“ ihre Arbeit aufgenommen, das ist eine bundesweite Ansprechstelle für kommunale Amts- und Mandatsträgerinnen und -träger. Betroffene Politiker können sich dort individuell beraten lassen. In Brandenburg gibt es außerdem ein mobiles Beratungsteam: Als in meiner Kommune eine Flüchtlingsunterkunft gebaut werden sollte, gab es viel Widerstand. Das Beratungsteam hat dann alle an einen runden Tisch geholt und dazu eingeladen, sachlich miteinander zu reden.

Das Innenministerium in Brandenburg hat zudem eine Umfrage unter kommunalen Mandatsträgern gemacht, um faktenbasiert herauszufinden, wie viel Gewalt die wirklich erleben – und von wem sie angegriffen werden. Spannenderweise sind es manchmal nicht nur die Bürger, die Politiker bedrohen, sondern auch Kollegen aus den eigenen oder anderen Fraktionen.

Was kann, was muss eine Opferschutzorganisation wie der WEISSE RING tun, um Politikerinnen und Politiker zu schützen?

Im Bereich der Politik geht es oft um verbale Taten, körperliche Angriffe sind zum Glück eher die Ausnahme. Viele, die im Netz angegriffen werden, möchten vor allem geschützt werden. Es ist aber nicht immer leicht zu sagen, ab wann eine Aussage justiziabel ist und wann nicht. Das können wir auch nicht entscheiden. Der WEISSE RING versteht sich als Lotse im Hilfesystem, und dazu gehört, auf Angebote wie die „Starke Stelle“ zu verweisen, deren Netzwerkpartner wir auch sind. Außerdem gibt es noch spezialisierte Institutionen wie HateAid, die sehr erfahren sind im Umgang mit digitaler Gewalt und Betroffenen gut helfen können.

Wäre es ein hilfreiches Mittel gegen digitale Gewalt, wenn jeder sich nur noch mit dem Klarnamen im Internet anmelden dürfte?

Das würde ich mir wünschen. Ich glaube aber, dafür ist es schon zu spät, das haben wir verpasst. Bei unserer Bundesdelegiertenversammlung im September hat der Faktenchecker Oliver Klein vom ZDF über Hass im Netz berichtet und gesagt: „Die Lüge ist dreimal um die Welt, bevor die Wahrheit ihre Schuhe angezogen hat.“ Ich fürchte, wir werden das Problem nicht von heute auf morgen in den Griff bekommen. Deshalb ist es wichtig, auf Prävention zu setzen, vor allem bei der jüngeren Generation, die ja schon ganz anders mit digitalen Medien aufwächst.

Digitale Gewalt ist ein recht junges Tatphänomen. Meinten Sie das, als Sie vor Ihrer Wahl ankündigten, der WEISSE RING müsse sich stärker auf neue Deliktphänomene einstellen?

Ja, neben der Verrohung und Gewalt im Netz gehören auch die moderne Form des Enkeltricks, Phishing-Mails und KI-gesteuerte Betrugsmaschen dazu. Ich habe neulich erst eine SMS bekommen: „Hallo Papa, ich habe eine neue Telefonnummer.“ Da dachte ich: „Sehr schön, jetzt bin ich plötzlich Papa.“ Das ist natürlich eine offensichtliche Betrugsmasche, aber die Menschen müssen auch wissen, dass Banken keine unseriösen E-Mails schreiben und dass Polizisten zu Hause keine Wertsachen oder vermeintliches Falschgeld sicherstellen. Prävention ist nicht ohne Grund ein Satzungsziel des WEISSEN RINGS.

Neu ist auch das Sozialgesetzbuch 14 (SGB XIV), das im Januar 2024 das bisherige Opferentschädigungsgesetz abgelöst hat. Der WEISSE RING hat ja wiederholt auf Missstände beim alten OEG hingewiesen. Sehen Sie bereits Verbesserungen für die Opfer?

Das Gute ist: Der Katalog nach dem SGB XIV ist größer geworden. Theoretisch können Betroffene von Gewalttaten nun höhere Entschädigungen erhalten. Das Problem ist aber nach wie vor, dass die Opfer dafür oft immer noch zu einem Gutachter müssen, was wieder zu Retraumatisierungen führen kann.

Wir haben bislang den Eindruck, dass die Versorgungsämter seit der Umstellung des OEG auf das SGB XIV vor allem mit sich selbst beschäftigt sind.

Ich glaube, die Umstellung braucht noch ein bisschen Zeit. Das ist ein behördeninternes Verfahren und betrifft die gänzliche Umstellung der IT.

Wie sieht denn derzeit das Verhältnis zu den Landessozialämtern aus?

Nach der Veröffentlichung unserer Recherche „Tatort Amtsstube“ in unserem Magazin vor zwei Jahren, in der wir Missstände bei der Umsetzung des damaligen Opferentschädigungsgesetzes veröffentlicht haben: eher holprig. (Sie lacht.)

Es gibt aber viele Bemühungen, die Zusammenarbeit mit den Landessozialämtern zu verbessern und uns besser zu verknüpfen. Wir haben in Brandenburg und auch in anderen Bundesländern zum Beispiel unsere Außenstellen mit den Mitarbeitern der Behörden zusammengebracht, sodass jeder auch auf Augenhöhe sieht, wer da eigentlich mit wem zu tun hat.

Im nächsten Jahr soll es weitere Treffen auf regionaler Ebene geben, um zu schauen, ob sich für die Opfer qualitativ etwas an der Arbeit geändert hat.

Stichwort Opfer: In Frankreich findet zurzeit ein aufsehenerregender Vergewaltigungsprozess statt. Die Betroffene, Gisèle Pelicot, möchte, dass das, was sie erlebt hat, öffentlich diskutiert und gezeigt wird. Sie machte Schlagzeilen mit dem Satz: „Die Scham muss die Seite wechseln!“ Verfolgen Sie den Fall?

Das ist ein sehr krasser Fall. Ich finde, diese Frau ist sehr mutig, und es ist bemerkenswert, dass sie die Scham nicht annimmt. Ich hoffe, dass sie ein Vorbild für andere betroffene Frauen sein kann und sie ermutigt, selbstbewusst zu sagen: „Ja, ich bin vergewaltigt worden, aber es war definitiv nicht meine Schuld!“

Meinen Sie, dass sich durch den Prozess auch das Opferbild in Deutschland nachhaltig ändern kann?

Ich hoffe es sehr. Es herrscht bei einigen Menschen leider immer noch das Stereotyp, Betroffene seien selbst schuld, weil sie zum Beispiel das falsche Kleid getragen haben. Auch Verteidiger arbeiten oft in diese Richtung. Da muss sich etwas ändern.

,,Die Ehrenamtlichen sind das Herzstück des WEISSEN RINGS."

Woran denken Sie da?

Dieses Jahr wollte das Europäische Parlament eine einheitliche Definition des Straftatbestands „Vergewaltigung“ festlegen, die in allen Mitgliedsstaaten gelten sollte. Das Vorhaben ist aber gescheitert, unter anderem an unserem Bundesjustizminister Marco Buschmann von der FDP, weil er die Europäische Union aus formalen Gründen als nicht zuständig ansah. Die Begründung kann ich nicht nachvollziehen. Es gibt auch Rechtsexperten, die das Gegenteil gesagt haben. Wir hätten da längst weiter sein können.

Den Plänen des Europäischen Parlaments zufolge sollte jegliche „Vornahme einer nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlung an einer Frau“ als Vergewaltigung gelten, wobei „das Schweigen der Frau, ihre fehlende verbale oder körperliche Gegenwehr oder ihr früheres sexuelles Verhalten“ nicht als Zustimmung betrachtet werden dürften. Vereinfacht ausgedrückt: nur Ja heißt Ja. In manchen EU-Staaten, zum Beispiel in Schweden oder Spanien, ist diese Regelung bereits geltendes Recht. In Deutschland gilt seit einer Änderung des Sexualstrafrechts im Jahr 2016 hingegen das Prinzip „Nein heißt Nein“.

Wie geht es für Sie jetzt weiter? Nicht nur der WEISSE RING muss in Ostdeutschland bekannter werden – umgekehrt müssen Sie als Vorsitzende eines ostdeutschen Landesverbands vermutlich auch an Ihrer Bekanntheit auf Bundesebene arbeiten. Werden Sie in den nächsten Wochen nun Deutschland bereisen, um sich in allen 400 Außenstellen des Vereins vorzustellen?

Alle Außenstellen zu besuchen wird vermutlich etwas schwierig. (Sie lacht.) Aber beim Treffen der Jungen Mitarbeitenden war ich schon, auch bei den Zentralen Ehrenamtlichen Diensten, also beim Opfer-Telefon und bei der Onlineberatung des Vereins. Ich werde zu so vielen Landestagungen fahren wie möglich. Ich merke, dass die Leute enorm motiviert sind.

Die Ehrenamtlichen sind das Herzstück des WEISSEN RINGS, das habe ich auch bei der Vorstellung vor meiner Wahl gesagt.

 

Nach dem Interview brauchen wir noch ein paar Fotos. In einem Clubraum des „Zollpackhofs“ entdeckt Barbara Richstein eine Wand voller Wimpel und Embleme. Es sind die von Rotary-Clubs aus ganz Deutschland. Richstein lacht, dann zückt sie das Handy und macht mehrere Fotos. „Da bin ich auch Mitglied“, sagt sie. Was sie nicht sagt: Sie ist die Präsidentin ihres Rotary-Clubs in Falkensee. Auch das ist ein Ehrenamt.

Natürlich.

Die Prozessbegleiter

Erstellt am: Freitag, 11. Oktober 2024 von Sabine

Die Prozessbegleiter

Klaus-Peter Zejewski und Holger Kuhrt engagieren sich ehrenamtlich beim WEISSEN RING. Bei einem Treffen in Berlin wird rasch klar: Sie haben viel zu erzählen.

Bauklötze als Hilfsmittel

Manchmal haben sie danach Fingernagel­abdrücke an ihren Händen. „Und Taschen­tücher und eine Flasche mit Wasser haben wir immer dabei“, sagen die beiden erfahrenen Herren, die an diesem Vormittag im Landesbüro des WEISSEN RINGS in Berlin sitzen. Früher war hier ein Möbelhaus drin, aber seit 13 Jahren sind die Räumlichkeiten in der Bartning­allee 24 im Hansaviertel die Berliner Zentrale der Hilfs­organisation. Das Amtsgericht Tiergarten ist nur 300 Meter vom Landesbüro entfernt. Dort sind Klaus­-Peter Zejewski und Holger Kuhrt öfter anzutreffen: als Begleitung für Opfer im Strafverfahren. Und dort halten sie manchmal die Hand des Opfers, die sich vor Anspannung an ihnen festkrallt.

Die beiden kennen sich seit über zehn Jahren durch den WEISSEN RING und sind mittlerweile „leicht befreundet“, wie sie scherzhaft sagen. Wie ernst das gemeint ist, lassen sie offen. Nach dem Termin wollen sie noch gemeinsam zum Italiener essen gehen. Doch erst einmal stehen in dem Besprechungsraum Kaffee, Wasser, Saft und Süßigkeiten bereit. Beide haben einen Hefter mit Unterlagen über ihre Gruppe „Begleitung im Strafverfahren“ mitgebracht.

Zu erzählen gibt es viel, denn Klaus­-Peter Zejewski ist seit 13 Jahren beim WEISSEN RING dabei, Holger Kuhrt seit 17 Jahren. Der Urberliner Zejewski ist außerdem stell­vertretender Außenstellenleiter Berlin Nord sowie der Koordinator der Gruppe Begleitung im Strafverfahren. Holger Kuhrt ist seit etwa fünf Jahren in der Gruppe, aber so genau weiß er das gar nicht, denn es sind schon so viele Jahre, die er beim Opferhilfeverein aktiv ist.

Dass Opfer von Straftaten eines besonderen Schutzes im Strafverfahren bedürfen, wusste Klaus­-Peter Zejewski schon vor seinem Ehrenamt. Als Polizeibeamter saß er oft im Gerichtssaal. Und beide wissen von den Sorgen und Unsicherheiten der Opfer bei einem Strafprozess. „Sie haben Angst vor der Begegnung mit dem Täter, sie waren vielleicht noch nie in einem Gerichtssaal und kennen die Abläufe nicht, oder sie haben Angst, in dieser schwierigen Situation allein zu sein“, sagen sie.

Deshalb bieten die derzeit zwölf Ehrenamtlichen der Berliner Gruppe, sechs Frauen und sechs Männer, den Opfern Hilfe bei der Prozessvorbereitung an. Wenn gewünscht, begleiten sie sie auch während des Prozesses. „Wir hören immer wieder, dass die Opfer dem Tag vor Gericht bestenfalls mit einem mulmigen Gefühl ent­gegensehen“, sagen sie. Die Mitarbeiter sehen sich als Vertrauenspersonen, die sich die Sorgen der Opferzeugen anhören und sie ihnen zu nehmen versuchen. Seit zehn Jahren gibt es beim WEISSEN RING das zusätzliche Angebot der Psychosozialen Prozessbegleitung. „Aber nicht in jedem Opferschutzfall ist die Beiordnung der Psychosozialen Prozessbegleitung möglich, und dann kann man unser Angebot nutzen“, sagt Holger Kuhrt.

Seit vielen Jahren für den WEISSEN RING aktiv: Holger Kuhrt (links) und Klaus-Peter Zejewski.

Der gebürtige Hamburger hat sein Leben lang mit Men­schen gearbeitet. Er war Inhaber und Geschäftsführer eines Headhunter­-Unternehmens, das für andere Unternehmen Führungskräfte rekrutierte. Seine Frau arbeitete in der Erwachsenenbildung in Berlin. „Wir hatten eine Pendel­ Ehe, und als ich mit dem Arbeiten aufgehört habe, bin ich zu ihr nach Berlin gezogen.“ Einen Monat nichts machen, das gönnte er sich. Dann war es seltsam, nicht mehr jeden Tag ins Büro zu gehen. Schnell fragte er sich, was er ab jetzt den ganzen Tag machen solle. Also bewarb er sich beim WEISSEN RING und saß zum ersten Mal beim Vor­stellungsgespräch auf der anderen Seite.

Zwölf Jahre arbeitet Holger Kuhrt nun schon ehrenamt­lich in der Opferbetreuung und ist zwischenzeitlich auch Außenstellenleiter. Eigentlich wollte er schon aufhören, denn während der Unterstützung von Betroffenen ging er durch „alle Höhen und Tiefen der menschlichen Seele“, sagt er. Dann jedoch erfuhr er von der Gruppe Begleitung im Strafverfahren und hatte Lust, noch einmal etwas Neues zu machen. Seit fünf Jahren ist der 80­-Jährige dort nun schon wieder dabei.

Es gibt viele Fälle, die beiden für immer im Gedächtnis bleiben werden. Bei Holger Kuhrt ist es zum Beispiel der Fall eines damals gerade 17-­jährigen Mädchens. Er wurde zu einer türkischen Familie in Moabit geschickt. „Sie hat ihr T­-Shirt hochgezogen, und da war ein genähter Schnitt vom Schambein bis fast unter den Hals“, erinnert er sich. Das Mädchen ist für ihr Leben lang gezeichnet, dachte sich Holger Kuhrt bei ihrem Anblick. Der Täter war ihr Freund, der nicht damit umgehen konnte, dass sie sich von ihm trennen wollte.

Für seine Opferzeugin war der Prozess besonders heraus­fordernd, aber auch für ihn selbst. „Sie wäre fast kolla­biert, und ich musste sie vor dem Täter und seiner Familie abschirmen“, erinnert er sich. Also greift Holger Kuhrt zu einer ungewöhnlichen Maßnahme, um sie sicher in den Gerichtssaal zu geleiten. Er leiht sich einen Rollstuhl aus der Sanitätsstation, legt ihr eine Wolldecke über den Kopf und schiebt sie in den Gerichtssaal.

Klaus-Peter Zejewski griff auch schon einmal spontan zu ungewöhnlichen Maßnahmen, um eine Opferzeugin zu schützen.

Sehr oft kommt es auf Grundlage der Opferaussagen zur Verurteilung des Täters. Deshalb sind sie vor Gericht wichtige Zeugen. Doch für viele Opfer ist die Aussage vor Gericht eine Ausnahmesituation und Belastung. Umso wichtiger ist die Arbeit der Strafprozessbegleiter. Sie sollen professionell auftreten und kompetente Ansprechpartner für die Opfer vor, während und nach dem Strafprozess sein. „Lebenserfahrung, innere Stabilität und Empathie sollte man mitbringen“, sagt Holger Kuhrt. Aber genauso staunt er über das neueste Mitglied der Gruppe, das erst 20 Jahre alt ist und die Arbeit trotzdem schon gut meistert.

Die Akademie des WEISSEN RINGS bietet ein kostenloses Seminar für die Außenstellenleitungen und die anderen Ehrenamtlichen an. Darin wird ein Querschnitt an Inhalten vermittelt, mit denen sie konfrontiert werden können. Zum Beispiel rechtliche Aspekte im Schutz von Opfer­ zeugen, kommunikative Ansätze zur Vorbereitung auf die Rolle der Opfer im Strafverfahren, Grundelemente der Psychotraumatologie oder Übungen zur Vorbereitung auf den Strafprozess. Das Seminar ist gefragt und in diesem Jahr schon ausgebucht.

Klaus-­Peter Zejewski kramt einen Stoffbeutel hervor und legt ihn auf den Tisch. Darin liegen bunte Bauklötzchen aus Holz. „Manche der Seminarteilnehmer kommen sich etwas veräppelt vor, wenn sie damit arbeiten sollen“, sagt er und lacht. „Kennen Sie das Beziehungsbrett aus der Psychotherapie?“, wollen die beiden wissen. In der Familientherapie wird es angewendet, um Zusammen­ hänge, Strukturen und Prozesse zu visualisieren und diese zu verändern. In der Vorbereitung auf das Strafverfahren dienen die Klötzchen zur ersten Orientierung im Gerichts­saal: Wo sitzt der Richter, der Angeklagte und sein Ver­teidiger, wo der Staatsanwalt und natürlich, wo sitzt man als Opferzeuge oder Opferzeugin?

Pro Jahr kümmert sich die Gruppe um etwa 35 Opfer, die vor Gericht aussagen müssen und dabei professionelle Hilfe brauchen. Die Menschen kommen aus ganz Berlin zu ihnen. Meist geht es um Gewaltdelikte wie häusliche Gewalt, Körperverletzung oder sexuellen Missbrauch. Deshalb ist die Geschlechtermischung in der Gruppe auch hilfreich, denn manche Frauen wollen oder können nach den traumatisierenden Erlebnissen auch nur mit Frauen sprechen.

Als er vor 13 Jahren in Rente ging, meldete sich der heute 75-­jährige Zejewski beim WEISSEN RING. Während seiner beruflichen Tätigkeit als Polizeibeamter hatte er immer wieder Kontakt mit dem Verein. Diese Erfahrungen wollte er nutzen, um den Opfern zu helfen. Der Fall, von dem Klaus­-Peter Zejewski nun erzählt, ist aber kein klassischer mit einem Opferzeugen. Das Opfer konnte nicht mehr aus­ sagen, denn es wurde bei der Tat getötet.

Vor acht Jahren hat er eine junge Frau vor Gericht begleitet, die Zeugin dieses Mordes wurde. Sie kam nachts mit dem Auto nach Hause. Vor einem Lokal in Neukölln hatten sich einige Leute versammelt. Plötzlich zog ein Mann eine Waffe und erschoss vor ihren Augen einen anderen Mann. „Sie hat sich nicht getraut auszusteigen und blieb im Auto sitzen, bis die Polizei kam“, erinnert sich Klaus­-Peter Zejewski, „die Polizei hat sie dann verhört, denn sie war die einzige unabhängige Zeugin vor Ort.“

Sie hatte vor allem Angst vor dem Täter und seinem Umfeld und wollte ihm vor Gericht nicht begegnen. Bei diesem Fall war auch die Presse beim Gerichtstermin dabei. Die Zeugin wollte von beiden weit weg sein. Außerdem war die Vorbereitung auf die Verhandlung und vor allem auf die Befragung durch den Verteidiger wichtig. „Denn er hat sie natürlich zum Tatablauf, zur genauen Uhrzeit und Täterbeschreibung in die Mangel genommen“, so Zejewski.

Holger Kuhrt verbrachte einst mehrere Stunden mit einem Opfer in der Botschaft Kanadas.

Durch die Arbeit für den WEISSEN RING ist er eigentlich gar nicht im Ruhestand angekommen. „Das ist sehr befriedigend für mich, da ich immer noch voll am Leben teilnehme und dabei auch noch meine Hilfe einbringen kann“, sagt er. Als Ausgleich zu der manchmal auch belastenden Arbeit liest er täglich zwei Tageszeitungen. „Und wenn der Akku mal wieder leer sein sollte, fahre ich auf meine Lieblingsinsel Sylt.“ Auch seine Frau, mit der er zwei erwachsene Kinder hat und in einer Wohnung in Berlin lebt, ist als Fraktionsvorsitzende einer Partei und stellvertretende Gemeindevorsitzende politisch aktiv.

Wahrscheinlich könnten die beiden noch lange weitererzählen. Über die Jahre beim WEISSEN RING sind sie auf die unterschiedlichsten Menschen und Schicksale getroffen und haben viel erlebt. Einmal kam zu Klaus­-Peter Zejewski sogar eine bekannte Berliner Schauspielerin. Ihren Namen will er, obwohl das Jahre her ist, nicht verraten. Und Holger Kuhrt war einmal über Stunden mit einem Opfer in der Kanadischen Botschaft in Berlin eingesperrt. „Die Dame hatte keine Papiere dabei, und sie haben uns nicht rausgelassen“, erinnert er sich. Irgendwie haben sie es dann aber doch geschafft.

Trotz aller Opferrechtsbestrebungen sind Betroffene von Straftaten vor Gericht oft nur ein „Beweis­ mittel“. Menschen wie Klaus­-Peter Zejewski, Holger Kuhrt und die anderen ehrenamtlichen Mitarbeiter der Berliner Gruppe vom WEISSEN RING helfen ihnen dabei, entspannter zur Verhandlung gehen zu können. Denn sie wissen, sie sind nicht allein. Und dafür sind sie dankbar.

Die Umtriebigen

Erstellt am: Freitag, 11. Oktober 2024 von Sabine

Die Umtriebigen

Shatha Yassin­-Salomo und Elke Yassin-Radowsky machen beim WEISSEN RING gemeinsame Sache. Auch der Enkel interessiert sich für ihre ehrenamtliche Arbeit.

Elke Yassin-Radowsky (links) und ihre Tochter Shata Yassin-Salomo (rechts)

Ihr vierjähriger Enkel hat Shatha Yassin-­Salomo schon ein paarmal gefragt: „Oma, wie sehen die Bösis aus?“ Dass Oma und Uroma Menschen helfen, die „Bösis“ begegnet sind, denen also etwas Schlimmes passiert ist, so viel hat auch er schon ver­standen. Die Arbeit beim WEISSEN RING machen die beiden immerhin schon länger als er auf der Welt ist.

Eine Antwort darauf, wie Menschen aussehen, die anderen Böses wollen, haben Shatha Yassin­-Salomo und ihre Mutter Elke Yassin-­Radowsky aber auch nach vielen Jahren im Dienst für den WEISSEN RING nicht. „Man erkennt sie eben nicht“, sagt Shatha Yassin­-Salomo.

Elke Yassin-­Radowsky arbeitet schon seit fast 25 Jahren für den WEISSEN RING im Raum Erlangen. Seit 2008 leitet sie zudem die Außenstellen der Stadt Erlangen und des Kreises Erlangen­-Höchstadt, später kam die Außenstelle im Landkreis Fürth hinzu. Die Außenstellen für die Städte Fürth und Nürnberg leitet Shatha Yassin­-Salomo seit 2021, als Ehrenamtliche kam sie 2017 zum WEISSEN RING.

Das Ende ihres Berufslebens war für Elke Yassin-­Radowsky der Anlass, ein Ehrenamt zu übernehmen, und für ihre Tochter, mehr Verantwortung zu schultern. Beide sind sich einig: In der Rente nur noch zu Hause sitzen oder in den Urlaub fahren, das kam für sie nicht infrage. „Ich wollte etwas Sinnvolles machen“, sagt Elke Yassin-­Radowsky. „Etwas bewirken“, ergänzt Shatha Yassin-­Salomo. Etwas, das sie auch weiterhin herausfordert.

„Ich war nicht berufen, aber es ist zu meiner Berufung geworden“, sagt Elke Yassin-­Radowsky. Sie war direkt begeistert von der Arbeit des Opferhilfevereins. „Men­schen, die am Ende sind, zu helfen, weiterzumachen.“ Es sei immer eine Herausforderung, eine schlimme Situation in etwas halbwegs Positives zu verwandeln. Ihre Begeisterung konnte sie schon weitertragen: Ihre Schwester ist ebenfalls seit zehn Jahren im Einsatz – und eben ihre Tochter. „Eines meiner Enkelkinder werde ich auch noch überzeugen – die sind aber im Moment noch zu eingebunden im Beruf“, sagt Elke Yassin-­Radowsky mit Augenzwinkern.

Sie hat in ihrem Leben schon viel gesehen. Mit 18 zog es sie in die Welt hinaus. „Die Vorstellung, die Ehefrau eines Sie­mens-­Diplom-­Ingenieurs zu werden, war mir ein Graus“, sagt sie. Ehefrau eines Siemens­-Diplom-­Ingenieurs – das gilt im Raum Erlangen als Abziehbild für einen traditio­nellen, eher spießigen Lebensentwurf.

Stattdessen ging sie nach England zum Studieren, lernte dort ihren Mann kennen. Ihre Tochter kam in London zur Welt, später lebte die Familie im Irak, dem Heimat­land ihres Mannes. Dass er nachher, als sie zurück nach Erlangen zogen, eine Stelle als Siemens­-Diplom-­Ingenieur annahm, konnte Elke Yassin­-Radowsky nach den Jahren unterwegs mit vielen Eindrücken und Erlebnissen gut verkraften, erzählt sie und lächelt. Sie selbst hat lange Zeit in der Forschung an der Universität in Erlangen als medizinisch-­technische Assistentin gearbeitet. Es beein­flusse einen, wenn man nicht nur zu Hause sitzt, sondern in der Welt herumkommt, findet Elke Yassin-­Radowsky. Vor allem habe es Einfluss darauf, wie man auf Menschen zugeht.

Elke Yassin-Radowsky engagiert sich schon seit fast 25 Jahren für den WEISSEN RING, ihre Tochter ist seit 2017 dabei.

Obwohl der Anlass für ihr Ehrenamt für Mutter und Tochter der gleiche war, ist die Arbeit in den Außenstellen doch unterschiedlich. Für Shatha Yassin­-Salomo war zu Beginn ihres Einsatzes als Leiterin in Nürnberg und Fürth erst einmal Struktur schaffen angesagt. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nur etwa zehn Ehrenamtliche im Team, dafür noch zwei weitere Außenstellen angegliedert. Eine davon, den Landkreis Fürth, hat sie an ihre Mutter abgegeben, das Nürnberger Land hat eine neue, eigene Außenstelle bekommen. Shatha Yassin-­Salomo hat zudem neue Ehrenamtliche für die Arbeit beim WEISSEN RING gewonnen und ein­gearbeitet – offenbar kann nicht nur ihre Mutter, sondern auch sie Menschen für dieses Ehrenamt begeistern

Aber auch in der alltäglichen Arbeit der Außenstelle hat sie für Struktur und Organisation gesorgt. Die Dienstpläne in den Büros in Nürnberg und Fürth sind so gefüllt, dass immer jemand im Einsatz und erreichbar ist. Für die Fälle, die Shatha Yassin­-Salomo am Telefon entgegennimmt, erstellt sie für jeden Tag eine ausführliche Übersicht mit dem, was ihre Mitarbeitenden im jeweiligen Termin erwartet: Um was für eine Straftat geht es? Was braucht die betroffene Person? Formulare schickt sie schon vorab an die Betroffenen, damit in der Beratung nicht zu viel Zeit für Schreibkram verloren geht.

„Dieses Strukturierte hat meine Tochter nicht von mir, das hat sie eher aus ihrem Berufsleben“, sagt Elke Yassin­-Radowsky. Shatha Yassin-­Salomo war Lehrerin für Latein und Französisch, hat aber auch Fortbildungen für Lehrkräfte gegeben und als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schulreferat in Nürnberg gearbeitet. „Ich habe Bildung von allen Seiten kennengelernt.“

In ihrer Laufbahn war sie hoch engagiert, hat Leitungsaufgaben und Projekte an ihrer Schule übernommen. Sie ist eine, die anpackt und sich nicht zufriedengibt, bis es wirklich gut läuft. „Das ist meine Art. Wenn mich etwas interessiert, gehe ich über die Norm hinaus.“ Organisation und Koordination habe sie immer gemocht, vor allem, wenn sie zu einem guten Ergebnis führen. Eigenschaften, von denen sie auch in ihrem Ehrenamt profitiert.

,,Ich war nicht berufen, aber es ist zu meiner Berufung geworden."

Elke Yassin-Radowsky

In der Außenstelle von Elke Yassin­-Radowsky hingegen wird mehr auf Zuruf gearbeitet. Die Leiterin nimmt Anrufe entgegen und gibt die Fälle dann an ihre acht Ehrenamtlichen weiter. Anders als in Nürnberg und Fürth gibt es in Erlangen, Erlangen­ Höchstadt und im Landkreis Fürth keine Büros – die Mitarbeitenden besuchen die Betroffenen dort, wo sie das Gespräch führen möchten. Das habe seine Vorteile, die Gespräche würden so oft als persön­licher und lockerer empfunden, sagt Elke Yassin­-Radowsky. Man sei auch weniger an einen Stunden­plan gebunden. In ihrer Außenstelle begleiten sie die Menschen oft von Anfang an: manchmal bevor sie Anzeige erstattet haben und bis zum Gerichts­prozess.

Dass beide so unterschiedlich arbeiten, liegt vor allem an der Größe der Außenstellen. „Erlangen ist statistisch die zweitfriedlichste Stadt in Bayern“, sagt Elke Yassin­-Radowsky. In Nürnberg und Fürth sei da schon mehr los. Den 100 bis 150 Fällen, die sie und ihr Team bearbeiten, stehen mehr als 300 in den beiden Städten ihrer Tochter gegenüber.

Aber auch neben der Beratung fallen in Nürnberg und Fürth Aufgaben an. Zumindest, wenn man die Arbeit beim WEISSEN RING so versteht wie Shatha Yassin­-Salomo. Sie hält in beiden Städten engen Kontakt zu verschiedenen Stellen und anderen Hilfsorganisationen – der Polizei und den Gleich­stellungsbeauftragten etwa oder dem Verein Wild­wasser, einer Fachberatungsstelle für Mädchen und Frauen gegen sexuellen Missbrauch und sexuali­sierte Gewalt. „Ich möchte, dass die wissen, wer ich bin“, sagt Shatha Yassin­-Salomo. Auch ihre Mutter pflegt zu den relevanten Stellen in Erlangen einen guten Kontakt. Es ist wichtig, präsent zu sein, wissen beide. Mit einer guten Vernetzung sei eine engere Zusammenarbeit möglich und auch ein Weiterleiten von Betroffenen an zusätzliche Hilfsangebote, die für sie sinn­voll sein könnten.

Sie halten auch Vorträge zu den Themen, die für den WEISSEN RING wichtig sind, aktuell sind etwa Betrug im Internet und am Telefon oder Cybermobbing besonders relevant. „Das war auch etwas, das ich erst lernen musste“, sagt Elke Yassin­-Radowsky, die mittlerweile wohl um die 100 Vorträge gehalten hat, „aber im Leben lernt man eben immer dazu.“

Und es gibt noch etwas, das sie mit der Zeit gelernt hat: eine gewisse Distanz zu wahren und die Leidensgeschichten der Opfer nicht zu nah an sich heranzulassen. „Es betrifft mich nicht mehr so wie früher.“ Auch wenn sie heute weniger selbst berät und begleitet, kenne sie die Fälle oft trotzdem, weil viele schon beim ersten Kontakt am Telefon ihre ganze Geschichte erzählen.

Immer wieder seien welche dabei, die sie erschüttern, doch sie wisse mittlerweile, wie sie sich abgrenzen könne. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr ein Fall, bei dem eine Frau auf dem Nachhauseweg von einem Dorffest ver­gewaltigt wurde. Nach der Gerichtsverhandlung habe sie zu Elke Yassin-­Radowsky gesagt, sie wolle sie nie wieder sehen. „Das hat mich zuerst schockiert“, erinnert sie sich. Hatte sich die Betroffene nicht gut betreut gefühlt? „Aber dann habe ich verstanden: Sie wollte einfach mit der Sache abschließen und sie hinter sich lassen.“

Eingespieltes Team: Mutter und Tochter.

In jüngster Zeit hatte sie mit zwei Frauen zu tun, die in ihrer Kindheit von den Eltern und deren Bekannten missbraucht wurden. So etwas macht sie auch heute noch fassungslos. Menschen, denen so etwas passiert, können das oft ihr ganzes Leben lang nicht verarbeiten. Trotzdem: „Ich denke nicht, dass sich durch die Arbeit meine Welt­sicht verändert hat. Ich war immer optimistisch“, sagt Elke Yassin­-Radowsky.

Bei ihrer Tochter ist das anders. Sie sagt, sie sei vor­ sichtiger geworden: „Ich weiß einfach zu viel.“ Fälle von Kindesmissbrauch gehen auch ihr besonders nahe. Vor allem, wenn den Müttern vom Jugendamt oder vor Gericht nicht geglaubt wird. Dann versuche sie, die Betroffenen mit erfahrenen Anwältinnen und Anwälten zu vernetzen und immer wieder auch mit Frauen, die Ähnliches erlebt haben.

Die Arbeit habe auch ihr Menschenbild beeinflusst, auch wenn sie nicht alle über einen Kamm scheren mag. Sie vertraue heute nicht mehr blind. „Ich habe ein großes Gerechtigkeitsempfinden“, sagt Shatha Yassin­-Salomo. Sie lese viel rund um Verfahren und Dinge, die bei Tren­nungen, Stalking und Missbrauch eine Rolle spielen, sehe sich Dokumentationen an, konsumiere alles an Informa­tionen auf der Suche nach Lösungsansätzen. „Wenn ich in ein Thema einsteige, dann richtig.“

Ihr sei es wichtig, Statistiken mit Leben zu füllen. Auch deshalb, damit Betroffene sich öfter trauen, um Hilfe zu bitten oder ihre Peiniger anzuzeigen. Gerade bei Gewalt in der Familie sei viel Scham im Spiel, Opfer fühlen sich mit­ schuldig oder haben Angst, mit einer Anzeige die Familie zu zerstören. Dieses Thema lasse sie nicht los.

Wie lange Elke Yassin-­Radowsky noch weitermachen kann, weiß sie noch nicht. Bald hat sie die 25 Jahre voll. Für ihr besonderes Engagement wurde sie 2022 vom bayerischen Ministerpräsidenten mit dem Ehrenabzeichen für besondere Verdienste im Ehrenamt ausgezeichnet. Sie hat sich gefreut und sieht die Auszeichnung doch ganz fränkisch-­nüchtern und pragmatisch. Die Ehrennadel liegt heute in der Schublade.

„Facebook ist besonders toxisch“

Erstellt am: Montag, 7. Oktober 2024 von Torben

„Facebook ist besonders toxisch“

Dr. Daniel Nölleke erforscht das Thema Online-Hass im Leistungssport an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er spricht im Interview über Hass bei den Olympischen Spielen in Paris, über Gruppendynamik in Fankurven und erklärt, warum er den Einsatz von künstlicher Intelligenz gegen Hassrede im Internet problematisch findet.

Foto: Andrea Bowinkelmann

Herr Dr. Nölleke, warum ist Online-Hass im Sport aus Ihrer Sicht so ein großes Thema?

Im Sport ist das Problem ausgeprägter als in anderen Bereichen: Prominente Sportlerinnen und Sportler sind bereits lange mit Hass und Hetze konfrontiert – im Fußball zum Beispiel. Im Stadion scheint es fast schon ein geduldeter Teil der „Fankultur“ zu sein, Leute zu beleidigen und zu beschimpfen. Hinzu kommt jetzt, dass die Logik von sozialen Netzwerken ein idealer Nährboden für Pöbeleien und Drohungen ist.

Was ist der Anlass für den Hass, und welche Gruppen äußern diesen?

Das sind ganz unterschiedliche Gruppen und Anlässe. Beim Skateboarding kann es passieren, dass Skaterinnen und Skater aus den eigenen Reihen angegriffen und beleidigt werden, weil sie durch ihre Teilnahme an Olympischen Spielen angeblich die Glaubwürdigkeit der Szene aufs Spiel setzen. Viele Reitsportlerinnen und Reitsportler sehen sich massiven Drohungen von Tierschutzaktivisten ausgesetzt. Manchmal sind es kleine Anlässe, an denen sich Online-Hass entzündet. Diese Wirkmechanismen besser zu verstehen ist ein Ziel unseres Forschungsprojekts. Es sind nicht immer die polarisierte rechtspopulistische Gesellschaft oder aus Russland gesteuerte Computer-Bots, die Leute online attackieren.

Bleiben wir kurz bei der polarisierten Gesellschaft. Haben sich da aus Ihrer Sicht die Grenzen des Sagbaren verschoben?

Es ist sehr offensichtlich, dass da Grenzen verschoben worden sind in Bezug auf Hass und Hetze – auch weil es so vorgelebt wird von populistischen Politikerinnen und Politikern. Weil immer seltener zwischen Fakten und Meinungen getrennt wird. Weil es schnell heißt, das ist „Cancel Culture“ oder „hier wird meine Redefreiheit eingeschränkt“, sobald etwas gegen Hassrede gesagt wird.

,,Es ist sehr offensichtlich, dass da Grenzen verschoben worden sind in Bezug auf Hass und Hetze."

Dr. Daniel Nölleke
Die scheinbare Anonymität im Netz wird oft als Grund angeführt, warum Hass und Hetze online so stark verbreitet werden.

Es gibt dazu sehr viel Forschung, die besagt, dass es so einfach nicht ist. Die Leute machen das sehr oft unter ihren Klarnamen. Ich glaube trotzdem, dass Anonymität eine Rolle spielt, im Sinne einer gefühlten Anonymität, durch eine Gruppendynamik, in der Einzelne gar nicht so eine große Rolle spielen. Ich kommentiere also nicht als Daniel Nölleke, sondern als Teil einer Gruppe. Das kennt man aus Fußballstadien, zum Beispiel, wenn Spieler oder Schiedsrichter kollektiv ausgepfiffen oder übelst beschimpft werden. Diese Stadionatmosphäre macht was mit einem. Zum anderen steht Sport per se für Emotionen, für Jubel und Enttäuschung. Der Sport in Stadionatmosphäre ist prädestiniert für polarisierende Äußerungen. Es ist sehr plausibel, dass es ähnliche Mechanismen in Kommentarspalten von Social-Media- Accounts und Online-Foren gibt, in denen man sich plötzlich als Teil einer Gruppe von Gleichgesinnten fühlen kann.

Was sagt die Forschung zu den Auswirkungen auf die Sportlerinnen und Sportler?

Auch da ist die Antwort leider unbefriedigend. Während Vereine und Verbände den Online-Hass mittlerweile als gravierendes Problem erkannt haben, fehlt es vonseiten der Forschung bislang weitgehend an systematischem Wissen zu Hassrede im Sport.

Sie sind Anfang Juli mit Ihrem Forschungsprojekt an den Start gegangen, passend zu Olympia 2024 in Paris. Was haben Sie dort wahrgenommen?

Wir werten die Daten gerade aus. Was ich schon sagen kann: Wir haben leider auch zu diesem Event einiges an Hass gefunden im Netz. Natürlich die unsägliche Diskussion um die „männliche“ Boxerin Imane Khelif aus Algerien. Das war schon ein heftiger Fall. Oder die australische Breakerin Rachael Gunn alias „Raygun“, die null Punkte bekommen hat und in der Folge im Internet sehr viel Hass und Häme erfahren musste. Aber uns haben vor allem Zwischen-den-Zeilen-Geschichten interessiert. Zum Beispiel, wenn Spielerinnen und Spielern eine deutsche Identität abgesprochen wurde mit dem Clowns-Emoji hinter der Frage „Deutsch?“. Oder wenn jemand zu einzelnen Athletinnen und Athleten postet: „Paralympics?“. Dahinter verbirgt sich gleich eine doppelt gemeinte Abwertung. Das sind spannende Fälle für uns, die wir uns sehr genau anschauen.

Der Deutsche Olympische Sportbund hat dem „Team D“ erstmals einen KI-Filter für die Social-Media-Accounts angeboten. Was halten Sie davon?

Wenn die KI gut trainiert ist, finde ich es zunächst mal gut, wenn schlimme Dinge rausgefiltert und aus- blendet werden. Es ist wichtig, dass Hass keine Bühne geboten wird, denn sonst würden die Grenzen immer weiter verschoben. Ich fände es aber problematisch, diese Grenzen des Sagbaren allein durch eine KI aus- loten zu lassen. Es ist oft ein schmaler Grat zwischen legitimer Kritik und Hass – zumindest aus Sicht der Kritisierten bzw. Angefeindeten. Ich frage mich: Ist das dann noch der öffentliche Diskurs, den wir von Social Media erwarten, wenn wir nur noch den „Daumen hoch“ erlauben? Außerdem hat KI natürlich gerade da ihre Grenzen, wo Hass eben nicht offensichtlich durch Kraft- ausdrücke, sondern sarkastisch oder zynisch zwischen den Zeilen stattfindet.

Auf welcher Plattform haben Sie während der Olympischen Spiele den meisten Hass wahrgenommen?

Facebook ist unter den großen Social-Media-Plattformen offenbar die toxischste, zumindest nach vor- läufigen Erkenntnissen. Auch auf TikTok gibt es sicher grenzüberschreitende Kommentare; aber zumindest nach außen scheint das doch eher eine Gute-Laune-Plattform zu sein.

Dr. Daniel Nölleke ist Juniorprofessor für Sportjournalismus und Öffentlichkeitsarbeit am Institut für Kommunikations- und Medienforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Foto: LSB NRW / Andrea Bowinkelmann

Sie kooperieren im Rahmen Ihrer Forschung auch mit Spitzensportverbänden wie dem Deutschen Volleyballverband, dem Deutschen Ruderverband oder dem Deutschen Turnerbund. Zieht sich dieser Online-Hass denn wirklich durch alle Sportarten?

Ja. Das kann man tatsächlich so sagen. Ich glaube nur, die Verbände sind unterschiedlich gut aufgestellt, was den Umgang damit angeht. Vielen fehlen schlicht die personellen Ressourcen, um das Problem zu priorisieren. Außerdem sind sie eher punktuell damit konfrontiert, insbesondere im Zuge von Großereignissen. Aber alle, die ich auf der Suche nach Kooperationspartnern für das Projekt kontaktiert habe, beschrieben mir Online-Hass gegen Sportlerinnen und Sportler als relevantes Thema.

Gibt es Unterschiede bei Online-Hass gegen Sportlerinnen und Sportler?

Ja, die gibt es. Männliche Sportler werden eher für ihre Leistungen kritisiert; bei Sportlerinnen sind es häufig frauenfeindliche Kommentare, die den Körper und das Aussehen der Frau angreifen und sie zu sexualisierten Objekten degradieren. Weitgehend unabhängig vom Geschlecht sind rassistische Kommentare, die schwarze Sportlerinnen und Sportler erfahren müssen. Interessant ist, inwiefern Sportlerinnen und Sportler unterschiedlich damit umgehen. Sind Fußballer schon so an Anfeindungen gewöhnt, dass sie selbst explizite Androhungen von Gewalt mittlerweile kaltlassen? Auch das wollen wir in unserem Forschungsprojekt in den kommenden zwei Jahren durch viele Interviews herausfinden.

Ein Blick in die Zukunft: Wird der Hass wieder verschwinden?

Es wird, nicht nur für Sportlerinnen und Sportler, sondern für uns alle wichtiger werden, den Umgang damit zu lernen. Dieser Hass wird wohl leider nicht wieder verschwinden, solange es böse Menschen gibt.

Im Wald seines Lebens

Erstellt am: Donnerstag, 5. September 2024 von Sabine

Im Wald seines Lebens

Die Liebe zum Wald ist Anton Müller wohl genetisch mitgegeben worden. Aber auch der Sinn für Gerechtigkeit, und so engagiert sich der frühere Forstwirt seit mehr als 30 Jahren für den WEISSEN RING in Kaiserslautern. Er schaffte es sogar, beides miteinander zu verbinden: den Wald und die Opferarbeit.

Der Wald ist Anton Müllers Zuhause.

Dunkle Wolken mit weißen Spitzen kriechen über die Hügel, hier irgendwo am nördlichen Zipfel des Pfälzerwalds. „Es ist DAS größte zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands“, sagt Anton Müller, das ist ihm wichtig. Er sitzt auf dem Fahrersitz seines silbernen Skoda und manövriert den Kombi durch steile Kurven und enge Straßen. Müller ist an diesem nasskühlen Maitag auf dem Weg zu einem für ihn besonderen Ort.

„Ich komme aus einer uralten bayerisch-pfälzischen Forstfamilie, ich bin die zehnte Generation, deswegen ist die Liebe zum Wald wohl schon genetisch verankert“, sagt Müller, „die wird mir bleiben bis zum Lebensende.“ Es gebe da diesen Spruch aus dem Japanischen, aber von dem halte er eigentlich nicht so viel: im Wald baden. „Für mich bedeutet der Wald: Wenn ich mich hier aufhalte, geht es mir gut.“ Dass es tatsächlich esoterisch angehauchte Gruppenseminare zum Waldbaden gibt, Bäume umarmen inklusive, naja, davon sei er kein Fan. Er findet, jeder solle den Aufenthalt ganz individuell wahrnehmen, egal ob beim Joggen, Fahrradfahren oder Wandern. Egal wie, „alle sind durch den Aufenthalt im Wald erholt an Leib und Seele“, glaubt Müller, der hier jahrzehntelang als Forstamtsleiter für acht Förstereien verantwortlich war.

Seit 2011 ist er zwar in Ruhestand, doch der Wald lässt ihn nicht los.

Er hat zum Beispiel einen Lieblingsbaum, eine Eiche, um die 400 Jahre alt muss sie sein. Dort geht er zu jeder Jahreszeit hin und hat so „schon viele Probleme gut gelöst“, wie er sagt. Manchmal dachte er unter der mächtigen Baumkrone auch über die Menschen nach, die er in seinem Ehrenamt als Opferhelfer beim WEISSEN RING durch schwere Zeiten lotste.

Der frühere Forstwirt engagiert sich seit mehr als 30 Jahren für den WEISSEN RING in Kaiserslautern.

Denn nicht nur die Liebe zum Wald sei wohl genetisch veranlagt, sagt Müller, auch sein Gerechtigkeitssinn sei ihm mitgegeben worden. Schon in der Schulzeit spürte er Wut in sich hochkriechen, wenn jemand ungerecht behandelt wurde. 1978 – der WEISSE RING bestand erst zwei Jahre – wurde er Mitglied im Verein, „die Generation Eduard Zimmermann eben“, sagt Müller. Er bezieht sich auf den TV-Journalisten Zimmermann, Moderator der Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ und Initiator des WEISSEN RINGS. Zunächst war Müller passiver Unterstützer des Vereins, Familie und Job ließen ihm keine Zeit für mehr. Dennoch hatte er auf dem Anmeldebogen schon angekreuzt, er wolle sich später aktiv beteiligen.

Ende der 80er-Jahre meldete sich die Bundesgeschäftsstelle in Mainz bei ihm: In Kaiserslautern gebe es nur einen Mitarbeiter, im Landkreis gar keinen, und ob sein Angebot noch stehe? Es stand. „Wir waren damals ein weißer Fleck auf der Landkarte“, erinnert sich Müller. 1994 übernahm er die Außenstelle im Landkreis, fünf Jahre später kam die Stadt dazu, als beide Standorte zusammengelegt wurden.

„Hier“, sagt Müller und zeigt rechts aus dem Autofenster, an dem ein dreistöckiger Bau vorbeihuscht, der ein wenig so aussieht wie die Après-Ski-Hotels in den Tiroler Alpen. „Das ist der Barbarossahof, da trifft sich unsere Außenstelle immer zur Monatsbesprechung.“

Müller warb neue Mitstreiter und baute ein Netzwerk auf: Politik, Wirtschaft, Justiz und andere Hilfsorganisationen – alle sollten wissen, was der WEISSE RING macht. Eine Arbeit, von der der Verein bis heute profitiert. Es ist noch nicht allzu lange her, da bekam Müller ein Schreiben von der Bundesgeschäftsstelle: Dem Verein seien aus einem Wirtschaftsstrafprozess 250.000 Euro zugesprochen worden. „Ich dachte zuerst, das sei ein Druckfehler, und habe in Mainz angerufen“, sagt Müller und lacht dabei immer noch etwas ungläubig. Doch die Zahl stimmte, und das liegt an einer Besonderheit: Die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern ist die Zentralstelle für Wirtschaftsstrafsachen, zuständig für die Landgerichtsbezirke Bad Kreuznach, Mainz und Trier. Immer wieder leisten straffällig gewordene Unternehmen Zahlungen, um gerichtliche Verfahren zu vermeiden, oder werden zu Geldbußen verurteilt. Viele dieser Beträge gehen an gemeinnützige Organisationen. In der Regel liegen die Summen jedoch im unteren fünfstelligen Bereich, wenn überhaupt, und werden oft in Raten abgestottert. „Hier war das ganze Geld nach drei Tagen auf dem Konto“, erinnert sich Müller.

Müller ist an seinem Ziel angekommen, den Wagen hat er am Rand eines Waldweges geparkt. Er geht tiefer in den Forst, es knarzt und knackt bei jedem Schritt.

Es war 2016 – der WEISSE RING feierte in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag –, da schrieb Müller wie in jeder Weihnachtszeit den Jahresbericht für seine Außenstelle und stellte etwas Bemerkenswertes fest: Seit Gründung der Außenstelle haben die Ehrenamtlichen in Kaiserslautern mehr als 1.000 Menschen geholfen.

Tausend Opfer, das sind tausend Schicksale.

Anton Müller half mehr als 30 Jahre Opfern durch schwere Zeiten.

„Da muss man was machen“, sagte sich Müller. Er erinnerte sich an seinen Lieblingsbaum im Wald – und an eine Parallele: „Bäume zeichnen sich aus durch Kraft, Langlebigkeit und Geduld. Viele dieser Eigenschaften benötigen auch Opfer, die infolge der Taten oft entwurzelt sind und viel Zeit benötigen“, sagt der 78-Jährige. Was lag da also näher, als für jedes der tausend Opfer einen Baum zu setzen?

So entstand der „Weg und Wald der Hoffnung“. Das Prinzip ist einfach: Forstarbeiter pflanzen Birken, Linden, Kastanien und Eichen in vier Waldgebieten. Bestehende Flächen werden auf diese Weise aufgeforstet, Lücken gefüllt und kranke Bäume ersetzt. Finanziert wird das Projekt, an dem auch das Forstamt Kaiserslautern beteiligt ist, durch Spenden: Für je 100 Euro wird ein Baum gepflanzt – ein Teil des Geldes fließt direkt in die Opferhilfe des WEISSEN RINGS, der andere Teil wird für die Pflanzung und Pflege des Baumes und zum Walderhalt in Deutschland verwendet.

Müller steht vor einer hölzernen Spendentafel am Wegesrand. Der Ort ist bewusst gewählt: Der Waldweg ist beliebt und führt zur alten Bergruine Beilstein, zahlreiche Menschen kommen hier täglich vorbei. Dutzende schwarze Plaketten mit Namen in weißer Schrift sind am Holz angebracht, es sind die Namen der bisherigen Spender, darunter ein Polizeipräsidium, ein Förderverein und zahlreiche Privatmenschen. „Einige von denen haben schon für vier oder fünf Bäume gespendet“, sagt Müller. Auch die Landesvorsitzende des WEISSEN RINGS in Rheinland-Pfalz, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, ist auf einer Plakette verewigt. Um die 500 Bäume seien bisher gepflanzt worden, erklärt Müller.

Als 2018 der 250. Baum gepflanzt wurde, kamen viele Politiker, Vorstandsmitglieder und die Medien – das Fernsehen und die lokale Zeitung berichteten groß. Mittlerweile ist es um das Projekt etwas ruhiger geworden. Um sein Werk in Erinnerung zu halten, hat Müller mit einem befreundeten Fotografen einen Kalender mit Aufnahmen des Waldes erstellt, der als Werbemittel an Unterstützer verschenkt wird.

Dass Müllers Engagement keineswegs vergessen ist, zeigte sich gerade erst wieder im April, als er für sein 30-jähriges Wirken als Opferhelfer bei der Landestagung in Mainz ausgezeichnet wurde. In ihrer Laudatio bezeichnete die Landesvorsitzende Bätzing-Lichtenthäler sein Lebenswerk als „einzigartig“, Müller selbst nannte sie eine „Institution des Vereins“.

Es ist nicht seine einzige Auszeichnung: 2018 erhielt Müller die Verdienstmedaille des Landes, doch der Diplom Forstwirt möchte das als Wertschätzung für sein ganzes Team in der Außenstelle verstehen. Opferarbeit sei ja schließlich „keine One-Man-Show“, sagt er.

Müller setzt sich wieder in den silbernen Skoda, er möchte noch andere Projekte zeigen, die er in der Region auf den Weg gebracht hat:

  • eine Hochzeitsallee, in der frisch Vermählte einen Baum pflanzen können. „Problematisch wird es dann, wenn die Paare sich scheiden lassen“, sagt der Forstwirt und lacht;
  • einen „Tisch der Gemeinschaft“ abseits des Waldes, zwölf Meter lang, aus einem einzigen Douglasien-Stamm geschnitzt. Bis zu 100 Menschen können daran während ihrer Wanderungen rasten.

Während der Fahrt blickt Müller zurück. Forstamtsleiter, das sei ein Beruf mit sehr viel Bürokratie gewesen: Für acht Förstereien war er zuständig, sorgte für die Einhaltung von Gesetzen, wirkte an Nutzungsplänen mit, schrieb Stellungnahmen. Aber es sei auch ein sehr vielfältiger Job gewesen, „wir haben uns selbst immer scherzhaft Universaldilettanten genannt“, sagt er und lacht. Die Flexibilität kam ihm als Opferhelfer oft zugute. Im März 2023 gab er zwar nach 29 Jahren das Amt des Außenstellenleiters ab und zog sich aus dem operativen Geschäft zurück, ganz loslassen kann und will er aber nicht: Zu den monatlichen Treffen der Außenstelle geht er weiterhin und gibt seine Erfahrung weiter. In mehr als 30 Jahren als Opferhelfer hat er schließlich viel erlebt. „Ohne Empathie geht es nicht, aber das ist ja die Kunst: sich nicht zu sehr in die Fälle hineinziehen zu lassen, Distanz bewahren“, sagt Müller. „Sonst ist man verloren.“

Ihm sei das all die Jahre eigentlich gut gelungen. Nur ein Fall, der lässt ihn bis heute nicht los.

In seinem Heimatort hatte ein Mann seine drei Kinder erst betäubt und dann umgebracht, der ganze Ort stand unter Schock. Auch Müller, der selbst zwei Töchter hat. Nach mehreren Monaten bat die Mutter ihn um seelischen Beistand. „Sie zeigte mir Bilder der Kinder, das war ganz schlimm.“ Aber nach einiger Zeit habe sie wieder zurück ins Leben gefunden, sagt Müller. Er klingt erleichtert.

Müller parkt sein Auto vor einem Café in Enkenbach. Er möchte sich kurz aufwärmen.

Ob er die Tausend noch schafft bei den Bäumen im „Weg und Wald der Hoffnung“? „Naja“, sagt Müller, „es ist noch ein weiter Weg. Aber sagen wir mal so: Ich werde nicht aufhören.“

Er steigt ins Auto und fährt zurück in den Wald. In silva salus.

Abschied von „Papa Müller“

Erstellt am: Montag, 19. August 2024 von Sabine

Abschied von „Papa Müller“

15 Jahre stand Gosbert Müller an der Spitze des Landesverbandes Baden-Württemberg, auch lange danach hielt der frühere Landeskriminaldirektor den Kontakt zum WEISSEN RING. Im Alter von 90 Jahren starb Anfang August der Mann, der im Verein den wertschätzenden Spitznamen „Papa Müller“ bekommen hatte.

Gosbert Müller wurde 90 Jahre alt und starb am 2. August 2024. Foto: WEISSER RING

Ein Schönschreiber war Gosbert Müller, jemand, der auch im digitalen Zeitalter noch handgeschriebene Postkarten verschickte, dem Geschriebenen Wert und dem Adressaten oder der Adressatin Wertschätzung beimaß. Mit dem Stift in der Hand hielt er den persönlichen Kontakt zum WEISSEN RING aufrecht, auch lange nach seiner Amtszeit als Vorsitzender des baden-württembergischen Landesverbandes.

Es ist leicht vorstellbar, wie Müller, Jahrgang 1934, schreibend am Tisch sitzt, jemand, der als unaufgeregt, besonnen und herzlich beschrieben wird. Es fügt sich ein Bild zusammen, in das seine altertümlich anmutende, aber „unnachahmlich schöne Schrift“ passt, wie es Hartmut Grasmück formuliert, der aktuelle Landesvorsitzende.

Der gebürtige Würzburger Müller – den unterfränkischen Spracheinschlag legte er nie ganz ab –  machte zunächst einen Abschluss als Diplom-Verwaltungswirt, 1952 ging er zur Polizei. Dort arbeitete er sich bis zum Landeskriminaldirektor hoch, brachte sich ein unter anderem in die Entwicklung der Landes-Nachhaltigkeitsstrategie und in der Fachkommission Zwangsheirat. Auf einem Trauerportal gibt es einen Kommentar, in dem Müller charakterisiert wird als jemand, „der immer ein offenes Ohr für seine Mitarbeiter hatte und auch half, wo immer es ihm möglich war.“ Diese familiäre Nahbarkeit und Hilfsbereitschaft im Beruf zeigte er ebenso im WEISSEN RING, wo sie ihm den wertschätzenden Spitznamen „Papa Müller“ einbrachten.

Nach seiner Pensionierung baute Müller die Kooperation zwischen Verein und Polizei aus. 15 Jahre lang, von 1994 bis 2009, stand er an der Spitze des Verbands in seinem Bundesland. Müller brachte aus dem Arbeitsleben Sachkompetenz und Opferempathie mit, investierte wohl etwa die Hälfte seiner Zeit in das Ehrenamt auf Landes- und Bundesebene, wo er sich an wichtigen Weichenstellungen beteiligte. Parallel war er 2001 Gründungsmitglied und bis 2010 stellvertretender Vorsitzender der Landesstiftung Opferschutz.

Neben der Professionalität spielten stets Humor und Geselligkeit eine Rolle bei „Papa Müller“. Er war jemand, mit dem man, traf man ihn zufällig in Stuttgart, spontan in die Kneipe gehen wollte und konnte. Jemand, der nach Seminaren im Papiermacherzentrum in Gernsbach mit allen Ehrenamtlichen beim badischen Vesper im Billardzimmer saß, Witze machte und regelmäßig zu den Letzten am Tisch gehörte. Auch Fotos von netten langen gemeinsamen Abenden gibt es, so ist zu hören.

Gosbert Müller verstand es auch, die Zeichen der Zeit zu lesen. Ein Schönredner war er jedoch nicht. „Ab einem gewissen Alter muss man auch loslassen und das Erreichte in jüngere Hände geben können“, sagte er 75-jährig, als er sich vor 15 Jahren von der Landesspitze und den Abenden im Billardzimmer zurückzog.

Der Einsatz für Kriminalitätsopfer blieb indes nicht ungesehen: Bereits 1994 erhielt Müller das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2010 dann die höchste Auszeichnung für Bürger in Baden-Württemberg, den Verdienstorden. Der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus würdigte Müllers Engagement mit den Worten, er sei vielen Menschen zum Vorbild geworden.

Ein Vorbild vielleicht auch für diejenigen, die heute geschwind mit ihren Fingerspitzen über Tastaturen fliegen und über Smartphones wischen. Man mag innehalten und sich fragen: Für wen möchte man den Stift in die Hand nehmen und sorgfältig überlegte Worte notieren? Wer benötigt gerade Aufmerksamkeit und Zuwendung? So, wie es der Schönschreiber Gosbert Müller getan hat.

Er wurde 90 Jahre alt und starb am 2. August 2024.

Der Akribische

Erstellt am: Dienstag, 6. August 2024 von Sabine

Der Akribische

Lorenz Haser ist seit 30 Jahren für den WEISSEN RING tätig. Seit seiner Pensionierung hat er sein zeitliches Engagement weiter gesteigert.

277 Tage Arbeit für den Verein, 89-mal Referent für die Grundseminare im Landesverband: Lorenz Haser

Genau 6.654 Stunden. Zusammen sind das 277 Tage, fast 40 Wochen, die Lorenz Haser seit 2006 für den WEISSEN RING gearbeitet hat. „Das ist jetzt aber nur die Verwaltung“, sagt er. Haser scrollt durch die Tabelle auf seinem Computer. Im weißen Hemd und mit Fliege – „Schließlich wird ein Foto gemacht“ – sitzt er im Arbeitszimmer in seinem Haus in Peißenberg im oberbayerischen Landkreis Weilheim-Schongau. Neben seiner Urkunde zum 25. Jubiläum beim WEISSEN RING hängen Familienfotos an der Wand. Auf dem Mauspad ist er mit seinem Enkel abgebildet.

Seit 30 Jahren arbeitet Lorenz Haser, 69, für den WEISSEN RING. Rund 30 Stunden im Monat, rechnet er aus, braucht er als Außenstellenleiter für die Verwaltung. Wie viele Fälle er in den Jahren betreut hat, kann er hingegen nicht sagen. „Manche Sachen sind mit einem Telefongespräch erledigt, weil ein Opfer nur eine Auskunft oder einen Kontakt braucht.“ Andere ziehen sich über Jahre. Seit der Gründung der Außenstelle 1987, das kann er wieder aus seiner Tabelle lesen, haben er und seine ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen 1.400 Opfer betreut.

Haser leitete die Außenstelle Weilheim-Schongau von 1994 bis 1999, nach einer beruflich bedingten Pause übernahm er von 2000 bis 2006 die Stellvertretung der Außenstellenleitung, bevor er wieder die Leitung übernahm. Seine akribische Art hat mit Hasers Beruf zu tun. 42 Jahre war er Polizist, davon 37 bei der Kriminalpolizei. Über seine Arbeit will er allerdings nicht mehr sprechen. „Jetzt bin ich schon seit 2015 im Ruhestand“, sagt er. Seit der Pension widmet er sich geschätzt rund 80 Stunden pro Monat der ehrenamtlichen Arbeit für den WEISSEN RING.

„Ich erfasse wirklich alles“, sagt Haser. Der Beamte in ihm scheint immer wieder durch, und Haser kommt doch noch einmal auf seinen Beruf zu sprechen. Über den fand er nämlich einst zum WEISSEN RING. „Als Polizist muss man neutral sein, aber die Opfer taten mir immer leid“, sagt er. „Die stehen oft alleine da.“ Bei Vernehmungen, erzählt er, kam er mit den Opfern von Raubdelikten und bei Tötungsdelikten mit Hinterbliebenen ins Gespräch. „Die sind fix und fertig und wissen oft nicht, wie es weitergehen soll, im Leben, aber auch finanziell.“ Als 1994 sein Chef bei der Morgenbesprechung verkündete, dass die Außenstelle wegen Personalmangels vor dem Aus stehe, antwortete Haser geradeheraus: „Schade.“ Sein Chef reagierte ebenso spontan: „Dann mach es halt du“, sagte er. Na gut, Haser zuckt beim Erzählen mit den Schultern, „dann habe ich es halt gemacht.“ So konnte er ehrenamtlich den Opfern helfen, deren Schicksale ihn im Job berührten.

„Da ist man schon stolz.“

Lorenz Haser

Haser und sieben Ehrenamtliche in der Außenstelle begleiten vor allem Opfer von Sexualdelikten, Körperverletzung, sogenannter „häuslicher Gewalt“ und Stalking. „Man erinnert sich ja hauptsächlich an die ‚spektakuläreren‘ Fälle“, sagt er und setzt Anführungszeichen in die Luft. Ihm fällt eine Frau ein, die er betreute und die später ein Buch über ihr Leben schrieb. Haser erinnert sich an die Vorstellung und Lesung. „Sie schrieb, dass sie sich das Leben genommen hätte, wenn der WEISSE RING nicht gewesen wäre“, sagt Haser. „Da ist man schon stolz.“

Mit den Opfern trifft sich Haser meistens an öffentlichen Orten, zum Beispiel im Café. „Das Problem auf dem Land ist, dass jeder jeden kennt. Wenn ich öfter mit jemandem gesehen werde, fragen die Leute gleich: Was will die oder der vom WEISSEN RING? Was ist denn da passiert?“ Seit dem Jahr 2000 war Haser – er zeigt wieder in seine Tabelle – insgesamt 89-mal als Referent oder Leiter für die verschiedene Seminarformate für die Ehrenamtlichen tätig.

2019 hat er in seiner Außenstelle zudem ein Team aufgestellt, dass sich nach Großereignissen, wie etwa Amokläufen oder Anschlägen, um die Betreuung von Opfern und Hinterbliebenen kümmert. „Bisher sind wir verschont geblieben“, sagt er. „Gott sei Dank.“

Seit 30 Jahren arbeitet Lorenz Haser, 69, für den WEISSEN RING.

Haser glaubt, dass es für Opfer das Entscheidende ist, „dass wir Zeit haben, mit ihnen reden, auf sie eingehen. Oft sagen die Opfer, ich sei der Erste, der ihnen richtig zuhört.“ Im Gespräch versucht er herauszufinden, was sein Gegenüber braucht. „Jedes Opfer ist anders – aber alle werden gleich behandelt“, sagt Haser. „Wir sind für die Opfer da, und wir glauben dem Opfer.“ Das ist auch seine Erfahrung vor Gericht. „Auch wenn die Strafe gering ausfällt – Hauptsache, das Opfer weiß: Die haben mir geglaubt.“

In diesem Jahr wird Haser 70. Vor vier Jahren wollte er eigentlich schon aufhören, dann verlieh ihm 2020 die Landrätin im Namen des Bundespräsidenten die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland, die höchste Auszeichnung, die die Bundesrepublik als Anerkennung für Verdienste um die Allgemeinheit vergibt. Haser führt ins Wohnzimmer und holt die Schatulle mit der Medaille aus dem Wohnzimmerschrank. „Natürlich freue ich mich“, sagt Haser und fügt bescheiden an: „Aber hätten sie nicht auch andere verdient?“

Während der Pandemie wollte er die Außenstelle nicht im Stich lassen. Sein neuer Plan: Zwei Jahre will er sie mindestens noch leiten, vielleicht drei. Fünf sollen es aber nicht mehr werden. „Die Mitarbeiter sagen immer, ich darf nicht aufhören, aber ich will auch nicht am Sessel kleben“, sagt er. „Und wer weiß, wie lange ich noch fit bin?“ Er will sich rechtzeitig um eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger in der Außenstelle kümmern.

Hasers Freizeit besteht überwiegend aus seinem Ehrenamt. Ansonsten spielt er Schafkopf und Akkordeon – „beides gern, aber nicht besonders gut“, sagt er und lacht. Und da sind der Garten, ein Sportraum im Keller, vier Enkel. Seine Tochter ist seit 20 Jahren Mitarbeiterin beim WEISSEN RING, die Enkel meldete Haser direkt nach ihrer Geburt als Mitglieder an.

Auch am Wochenende ist Haser im Einsatz; früher, als er noch kein Handy hatte, war er über das Festnetz auch nachts erreichbar. Einmal rief ihn eine ältere Dame mitten in der Nacht an und wollte wissen, wie spät es sei. „Ich antwortete: Zwei Uhr, aber warum rufen Sie mitten in der Nacht bei mir an? Es stellte sich heraus, dass sie am nächsten Tag in der Früh für eine Kaffeefahrt abgeholt werden sollte und die Batterie vom Wecker leer war. Meine Nummer stand im Kreisboten – mit dem Zusatz ‚rund um die Uhr‘.“ Er erklärte ihr noch, wie sie die Batterie wechselt, dann war die Sache erledigt. Haser nimmt es mit Humor.

Sonst ist er regelmäßig mit schweren Schicksalen konfrontiert. Wie gewinnt er Abstand? „Das musste ich im Beruf schon“, sagt er. „Da gilt auch, dass man mit dem Opfer mitfühlt, aber nicht mitweint – denn wenn ich mich gehen lasse, kann ich nicht mehr logisch denken und für das Opfer da sein.“ Am erfüllendsten bei seinem Engagement für den WEISSEN RING sei, sagt Haser, „wenn ich glaube, dass es dem Opfer jetzt besser geht, und ich das Gefühl habe, dass ich da auch ein bissl mitverantwortlich bin.“

Motivation findet er aber auch, wenn er selbst gar nicht beteiligt ist. Haser erinnert sich an die Begegnung mit einem Ehepaar, das sich im Café an seinen Tisch setzte, als er auf ein Opfer wartete. Als er sein Ehrenamt erwähnte, erzählten sie, dass ihre Tochter ermordet worden sei, und dass ihnen der WEISSE RING in Nordrhein-Westfalen einen Erholungsurlaub ermöglicht habe. „Das tat ihnen offensichtlich gut“, sagt Haser. „Die Welt ist oft klein – solche Begegnungen nehme ich als Zeichen: weitermachen!“