Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Opferentschädigung: Jeder zweite Antrag wird abgelehnt

Negativrekord bei der staatlichen Entschädigung für Gewaltopfer im Bund und bei den Ländern. Die Zahlen von 2023 im Überblick

Eine Landkarte von Deutschland, die in rot und grüner Farbe zeigt wie viele Ab- oder Zusagen es für die Opferentschädigung gab im Jahr 2023 pro Bundesland.

Neuer Negativrekord bei der staatlichen Unterstützung für Opfer von Gewalt: Im Jahr 2023 haben die Versorgungsämter in Deutschland 48,1 Prozent der Anträge auf Hilfen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) abgelehnt. Der bisherige Höchstwert aus dem Jahr 2022 lag bei 46,6 Prozent. Das geht aus der jährlichen exklusiven Dokumentation des WEISSEN RINGS hervor.

Zwischen den Bundesländern bestehen teils deutliche Unterschiede. Besonders hoch war die Ablehnungsquote in Schleswig-Holstein (66,2 Prozent), Hamburg (54,2 Prozent) und Sachsen-Anhalt (54,4), am niedrigsten in Sachsen (38,6), Niedersachsen (38,9) und Rheinland-Pfalz (42,4).

Genehmigt haben die Versorgungsämter bundesweit nur 23,4 Prozent der Anträge – so wenig wie noch nie. Der Tiefststand aus dem Jahr 2019 – 26,2 Prozent – wurde unterboten. Die niedrigsten Anerkennungsquoten im Jahr 2023 hatten Schleswig-Holstein (12,3 Prozent), Sachsen (13,8) und Hessen (22,3), die höchsten verzeichneten Mecklenburg-Vorpommern (40,5), Hamburg (37) und Bayern (32,7).

Bund

48 %

Ablehnungen

23 %

Anerkennungen

29 %

Erledigungen aus sonstigen Gründen*

Die Antragsquote ist nach wie vor niedrig und liegt noch unter dem Vorjahreswert. 2023 gingen lediglich 15.125 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht nur 7 Prozent der 214.099 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst hat. Ein Jahr zuvor waren es 7,9 Prozent.

Ein großer Teil der Anträge erledigte sich aus sonstigen Gründen, ohne dass Hilfe geleistet wurde, etwa weil die Betroffenen das Verfahren nicht fortsetzten oder sich die Zuständigkeit durch einen Umzug in ein anderes Bundesland änderte. Die Ursachen für die „Erledigungen aus sonstigen Gründen“ werden bisher weder einheitlich noch bundesweit erfasst. Im Jahr 2023 betrug der Anteil 28,5 Prozent und lag damit noch etwas höher als im Jahr zuvor (27,1 Prozent). Der WEISSE RING geht davon aus, dass viele Opfer ihre Anträge zurückziehen, weil teils jahrelange Antragsverfahren und aussagepsychologische Begutachtungen sie stark belasten.

#OEGreport: Wie der Staat Gewaltopfer im Stich lässt

Fachleute loben das Opferentschädigungsgesetz als „hervorragend“. Dabei kommt die Hilfe bei vielen Betroffenen gar nicht an. Was läuft da falsch? Eine Recherche des WEISSER RING Magazins..

Das OEG wurde 1976 verabschiedet und galt bis Ende 2023. Darin verpflichtete sich der Staat, Menschen zu unterstützen, die beispielsweise von Körperverletzung oder sexualisierter Gewalt betroffen sind. Die Entschädigung, die etwa eine monatliche Rente oder die Zahlung von Behandlungskosten umfasst, richtet sich nach der Schwere der Folgen. Über die Anträge entscheiden regionale Versorgungsämter in den Bundesländern; die Opfer müssen während der Verfahren zum Beispiel Unterlagen einreichen und bei Gutachten mitwirken.

Seit Januar 2024 ist die Opferentschädigung im Sozialgesetzbuch XIV neu geregelt. Aussagekräftige Zahlen zu den Auswirkungen liegen noch nicht vor. Die Reform sieht unter anderem höhere Entschädigungssummen und ein „Fallmanagement“ vor, das Betroffene besser begleiten soll. Darüber hinaus wird der Gewaltbegriff weiter gefasst und soll auch psychische Attacken berücksichtigen. Der WEISSE RING hatte sich für eine Gesetzesnovelle eingesetzt.

„Die jüngsten Zahlen zum Opferentschädigungsgesetz bestätigen unsere Erkenntnisse, dass die dringend notwendige Hilfe bei den Opfern oft nicht ankommt. Wieder müssen wir Negativrekorde melden, obwohl wir seit Jahren auf die Not der Betroffenen hinweisen und Verbesserungen fordern“, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des WEISSEN RINGS. „Wir hoffen, dass die Neuregelung über das SGB XIV endlich Fortschritte bringt, und werden die Entwicklung genau im Blick behalten.“

*Erledigungen aus „sonstigen Gründen“ sind u. a. Rücknahme des Antrags, Abgabe an andere Ämter, Wegzug, Tod.

Jetzt reicht es uns!

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Jetzt reicht es uns!

Beleidigungen und Drohungen sind im Netz für viele Menschen Alltag. Wenn sie Strafanzeige stellen, werden die Verfahren oft ohne Ergebnis eingestellt. Prominente setzen sich zunehmend zur Wehr, indem sie die digitale Gewalt öffentlich machen. Juristisch ist das Veröffentlichen privater Nachrichten jedoch heikel.

Die Moderatorin Lola Weippert steht vor einem roten Hintergrund. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Lola Weippert, Foto: Felix Rachor

„Ich stech‘ dich ab. Deine Art ist so zum Erbrechen.“

Moderatorin Lola Weippert, bekannt aus „Temptation Island“ und „Let‘s Dance“, erhält täglich Hassnachrichten und manchmal sogar Morddrohungen auf Instagram. „Es ist ein ständiges Hass-Rauschen“, sagt sie im Gespräch mit der Redaktion des WEISSEN RINGS. Sie sei den Tätern offenbar „zu laut, zu emotional, zu demokratisch, zu unabhängig“.

Lola Weippert, 1996 in Rottweil geboren, ist eine deutsche Moderatorin bei RTL, bekannt durch „Prince Charming“ und „Temptation Island“. Sie begann ihre Karriere bei bigFM und moderierte später für RTL+. Sie setzt sich gegen Bodyshaming und Hass im Netz ein und lebt in Berlin.

Weippert ist eine von vielen prominenten Betroffenen. „Du bist eine Person des öffentlichen Lebens, und wenn du das postest oder sagst, dann musst du damit leben, dass du solche Nachrichten erhältst“, hört sie als Argument immer wieder. Doch seit ein paar Jahren bildet sich eine Art Gegenbewegung. Betroffene schweigen nicht mehr. Sie posten: Auf Instagram veröffentlichen sie die Beleidigungen und Drohungen. Weippert teilt Videos, in denen sie die Nachrichten einblendet. Um zu zeigen, welchem „geistigen Durchfall“ sie täglich ausgesetzt ist, und um zum Nachdenken anzuregen.

„Ich hoffe, du wirst von einer Gruppe Syrer vergewaltigt.“

Josi klärt auf Instagram unter @josischreibt_ über politische und feministische Themen auf – und kassiert jede Menge Hass dafür. „Früher habe ich regelmäßig Morddrohungen per Privatnachricht bekommen“, berichtet die Influencerin. Um ihre Psyche zu schützen, hat Josi ihr Profil jetzt so eingestellt, dass nur noch Followerinnen und Follower ihr privat schreiben können. Gegen den Hass in den Kommentarspalten hilft das nicht: „Da bekomme ich immer noch sehr regelmäßig degradierende, beleidigende oder sexistische Kommentare“, sagt sie. Auch Josi geht mit den Hassnachrichten in die Öffentlichkeit, macht sie sichtbar. „Die Ausmaße kann sich eine Person, die nicht im gleichen Umfang wie ich online aktiv ist, gar nicht vorstellen – es sei denn, sie sieht diese.“ Dadurch hole sie die Macht über sich selbst zurück und darüber, was auf ihrem Profil geschieht.

Die Influencerin Josischreibt steht vor einem grünen Hintergrund. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Josi, Foto: Manuela Clemens

Josi, bekannt unter dem Instagram- Namen @josischreibt_, ist eine deutsche Influencerin mit etwa 200.000 Followern. Sie thematisiert auf ihrem Account insbesondere Feminismus und Agoraphobie. Ihre Inhalte umfassen persönliche Erfahrungen, Aufklärung und Diskussionen zu diesen Themen.

„Scheiß N****. Abgehobene Slut.“

Aktuell ist die Musikerin und Schauspielerin Nura Habib Omer, bekannt aus der Amazon-Serie „Die Discounter“, besonders betroffen. Auf einem eigens dafür erstellten Instagram-Account postet sie seit Januar die rassistische und sexualisierte verbale Gewalt, die sie erfährt. Zur Weihnachtszeit habe sich die Situation zugespitzt, „also habe ich beschlossen, die Nachrichten nicht nur für mich zu dokumentieren, sondern öffentlich zu machen“, sagt Omer. Viele Leute glaubten, Hass im Netz sei selten. Mit ihrem Account wolle sie zeigen, dass es ein strukturelles Problem ist, und gleichzeitig eine gewisse Kontrolle zurückgewinnen.

Nura Habib Omer ist eine deutsche Rapperin, bekannt als Teil des Duos SXTN. Nach der Auflösung von SXTN startete sie eine Solo-Karriere und thematisiert in ihrer Musik Rassismus, Feminismus und gesellschaftliche Themen. Sie ist zudem Schauspielerin, unter anderem in der Amazon-Serie „Die Discounter“.

Im Gegensatz zu anderen Betroffenen postet sie die Nachrichten nicht anonymisiert, sondern mit den Profilen der mutmaßlichen Täter. „Für mich ist es ein wichtiger Schritt, damit nicht ich allein als Opfer dastehe, sondern dass auch klar wird, wer den Hass schürt und diese menschenverachtenden Inhalte verbreitet“, sagt Omer. Die Menschen hinter den Angriffen müssten die Verantwortung für ihr Handeln spüren, denn die Privatnachrichten voller Rassismus und Sexismus sind in der Regel strafbar.

Das Veröffentlichen dieser privaten Kommunikation mit den Namen der Verfasser aber auch: „Die identifizierende Veröffentlichung einer privaten Nachricht stellt in der Regel eine Persönlichkeitsrechtsverletzung dar, denn jeder Verfasser darf selbst entscheiden, ob und in welchem Personenkreis eine Nachricht veröffentlicht werden soll“, erklärt Christian Solmecke, Anwalt für Internet- und Medienrecht. Solmecke ist selbst auch als Influencer im Internet unterwegs. Betroffene könnten sich gegen die Versender wehren, indem sie Strafanzeige stellen und auch zivilrechtlich gegen sie vorgehen. Solmecke rät davon ab, Nachrichten mit Verfassernamen zu veröffentlichen, um nicht selbst belangt zu werden.

Grundsätzlich schütze das Rechtssystem Betroffene ausreichend und biete auch hinreichend Möglichkeiten, sich zu wehren, erklärt der Anwalt. „Wie so oft scheitert es aber immer wieder an der Umsetzung in der Praxis.“ Die Regulierung der Plattformen führe oft nicht zum Ziel, da die Kommunikation, etwa mit Instagram, „mühselig“ sei. Auch der zivilrechtliche Weg könne schwierig werden, denn oft müsse der Versender erstmal identifiziert werden können.

Nura Habib Omer sieht darin ein Problem. „Wenn mich jemand im Internet massiv beleidigt und bedroht und ich diese Angriffe öffentlich dokumentiere, um auf das Problem aufmerksam zu machen, dann wird mir als der Betroffenen quasi der Spieß umgedreht“, sagt sie. Ausreichend geschützt durch das Rechtssystem fühlt sich Omer nicht. Eine Anzeige habe ins Nichts geführt. „Es fühlt sich oft so an, als würde das ganze Thema von den zuständigen Stellen nicht ausreichend ernst genommen.“

17.193

Frauen und Mädchen wurden laut Lagebild des Bundesinnenministeriums 2023 Opfer digitaler Gewalt, zum Beispiel von Cyberstalking oder anderen Delikten in den sozialen Medien.

13.479

weibliche Opfer waren es noch 2022. Mit 25 Prozent ist das demnach ein deutlicher Anstieg der weiblichen Opferzahlen im Vergleich zum Vorjahr.

„Ermüdend“ nennt Josi ihre Erfahrungen mit dem Justizsystem als Opfer von digitaler Gewalt. Sie habe bei der Polizei Hasskommentare angezeigt, doch laut ihrer Aussage stellte die Staatsanwaltschaft die Verfahren ein. Josi betont: Es lohne sich dennoch, Anzeige zu erstatten, allein damit die Fälle sichtbar werden und in den Statistiken auftauchen.

„Ich habe Dinge zur Anzeige gebracht. Ich muss allerdings sagen, dass es mich schockiert, dass es nie Konsequenzen gab“, sagt Lola Weippert. Die mutmaßlichen Täter hätten bei Vernehmungen angegeben, ihr Handy sei gestohlen oder ihr Account gehackt worden. „Damit war das dann leider schnell abgetan, was ich als erbärmlich empfinde“, sagt Weippert. Auf Anfrage bestätigt die Berliner Generalstaatsanwaltschaft: Zwei Verfahren wurden eingestellt, da ein Tatverdächtiger nicht identifiziert werden konnte. Außerdem erklärt die Behörde, dass dies eher die Regel als eine Ausnahme sei. Die Staatsanwaltschaft habe die Aufgabe, die Aussagen des Beschuldigten mit den vorhandenen Beweismitteln zu widerlegen. Oft könnten die Restzweifel nicht beseitigt werden – im vorliegenden Fall also, ob die Behauptung zutrifft, das Handy sei gestohlen worden.

Die Schauspielerin und Musikerin Nura ist in der Hocke und streckt ihre Hände am Boden entlang nach vorne. Das Foto wurde sichtlich zerkratzt und soll so auf digitale Gewalt aufmerksam machen.

Foto: Tatsiana Tribunalova

Weippert und andere Betroffene haben das Gefühl, als Opfer digitaler Gewalt hilflos und allein zu sein. Der bundesweit aktive Verein HateAid möchte das ändern und bietet Betroffenen rechtliche Beratung, psychologische Hilfe und Unterstützung beim Melden von Hassinhalten. In Baden-Württemberg und Bayern gibt es die Meldestelle „Respect“. Eine weitere Meldestelle ist „HessenGegenHetze“. Gemeldete Fälle werden dort geprüft und bei Verdacht auf strafbare Inhalte an die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) weitergeleitet. „Die Veröffentlichung der gegen sie gerichteten Hassbotschaften wirkt für die Betroffenen gegebenenfalls vorübergehend als ein entlastendes Ventil“, sagt auf Anfrage Adina Murrer, Pressesprecherin des Hessischen Innenministeriums. Murrer empfiehlt aber, Kontakt mit spezialisierten Beratungsstellen aufzunehmen.

2023 gab es einige Erfolge: In Hessen wurden 85 Verfahren mit Strafbefehl beantragt, davon 62 rechtskräftig abgeschlossen. 56-mal gab es Geldstrafen (15–180 Tagessätze) und einmal eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten zur Bewährung. Von 37 weiteren Verfahren mit Anklage wurden zehn abgeschlossen, mit sechs Geldstrafen (60–135 Tagessätze) und einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten zur Bewährung.

Nach Angaben von HateAid mussten Täter in der Vergangenheit Geldstrafen und -entschädigungen zwischen 600 und 2.500 Euro zahlen. Der Verein berichtet, dass etwa 93 Prozent seiner Gerichtsprozesse erfolgreich verlaufen seien.

Betroffene fordern stärkere Regularien. Lola Weippert wünscht sich von Plattformen eine Verifizierung per Personalausweis bei der Kontoerstellung. Hass im Netz sei gefährlich und könne im schlimmsten Fall zu Suizid führen, wie das Beispiel der österreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr zeigt. Sie nahm sich nach massiven Hasswellen das Leben. Weippert selbst leidet an „schlechten“ Tagen unter Todesängsten und Panikattacken aufgrund solcher Nachrichten: „Hoffe, du kriegst Krebs und deine Eltern auch.“

Transparenzhinweis:
Die Moderatorin Lola Weippert ist Botschafterin des WEISSEN RINGs und unterstützte die Kampagne „Schweigen macht schutzlos“. Josi vom Instagram-Account @josischreibt_ hat bereits in der Vergangenheit bei dem Format „Nachgefragt“ des WEISSEN-RING- Instagram-Accounts mitgemacht. Auch die ehrenamtlichen Opferhelferinnen und Opferhelfer des WEISSEN RINGs unterstützen als Lotsen durchs Hilfssystem Betroffene von digitaler Gewalt.

Der lange Kampf des Andreas S.

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Der lange Kampf des Andreas S.

Als Kind wurde Andreas S. in Holzminden mehr als 150-mal von einem Kinderpsychiater missbraucht. Als Erwachsener kämpft er seit einem Vierteljahrhundert für Aufklärung. Jetzt steht er kurz vor seinem Ziel: Im Frühjahr 2025 beginnt ein unabhängiges Institut mit der Aufarbeitung des Leids, das ihm und vielen weiteren Kindern widerfahren ist.

Ein Mann mit Glatze schaut gerade aus. Das Bild ist stark belichtet so dass der Mann nicht komplett zu erkennen ist. Auf dem Foto ist Andreas S.. ein Opfer von Missbrauch in der Kindheit.

Andreas S. spricht offen über seine Geschichte und lässt sich auch fotografieren. Er möchte aber nicht erkannt werden, um sich und seine Familie vor Anfeindungen zu schützen. Foto: Erik Hinz

Eine Stadt im Münsterland, im Januar 2025. Andreas S. sitzt an seinem Küchentisch und sagt, dass es ihm heute gut gehe und er offen über all das sprechen könne, was jetzt folgt, ohne dass ihm der Boden unter den Füßen wegbricht. „Ich schäme mich nicht mehr für das, was mir widerfahren ist“, sagt der 51-Jährige. „Man muss sich nicht für etwas schämen, was einem widerfährt. Man kann sich doch nur für etwas schämen, was man getan hat. Ich habe aber nichts getan.“

Jahrelang hat ein Kinder- und Jugendpsychiater Andreas S. in seiner Sprechstunde missbraucht. Viele Jahre konnte S. das Erlebte nicht einordnen. Erst als junger Erwachsener wehrte er sich, auch um andere zu schützen. Er spricht offen über seinen einsamen Kampf, möchte aber nicht, dass sein vollständiger Name in diesem Text genannt wird, um sich und seine Familie vor Anfeindungen zu schützen.

Als er davon zu Hause erzählte, entgegnete seine Mutter: „Hab dich nicht so.“

Sein Vater meinte später, er steigere sich da in etwas hinein. Wer soll einem glauben, wenn einem nicht einmal die eigenen Eltern glauben?

1984

Insgesamt 156-mal fuhr Andreas S. als Kind in die Klinik. „Geh mal nach hinten“, habe der Arzt nach dem Gesprächsteil stets gesagt – und meinte damit einen separaten Raum, in dem eine Liege mit einem Heizlüfter stand.

Andreas S. sagt, er habe immer darunter gelitten, dass seine Eltern wenig Zeit hatten. Durch die Arztbesuche habe er die Aufmerksamkeit seiner Mutter bekommen. Also fuhr er jahrelang weiter mit dem Fahrrad in die Klinik. Insgesamt 156-mal, immer mittwochs, jeweils für 50 Minuten. „Geh mal nach hinten“, habe der Arzt nach dem Gesprächsteil stets gesagt. „In einem separaten Raum stand eine Liege mit einem Heizlüfter, da haben dann die körperlichen Untersuchungen stattgefunden.“ Als Andreas S. im Jahr 2023 die Klinik in Holminden noch einmal mit zwei Journalisten des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ besuchte, die seine Geschichte recherchierten, traf ihn fast der Schlag. „Die alte Liege von damals stand immer noch in dem Behandlungsraum.“

Auf dem Foto ist Andreas S. von hinten fotografiert worden.

Empathische Geste: Der Gutachter Prof. Dr. Jörg Fegert hat einen Ring für Andreas S. anfertigen lassen – als Anerkennung für dessen intensiven Kampf um die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Der Ring zeigt einen Menschen, der sich vor Schmerz krümmt, aber gleichzeitig stolz aufrichtet.

Mit 14 sei er wegen der voranschreitenden Pubertät uninteressant geworden für den Psychiater, der Missbrauch endete. Lange Zeit verdrängte Andreas S. die Gedanken an das Geschehen. Erst als er Mitte der 1990er-Jahre im Fernsehen einen Bericht über den belgischen Sexualmörder Marc Dutroux sah, da sei ihm schlagartig klar geworden: Das, was ihm als Kind im „Lustigen Bach“ widerfahren ist, das war Missbrauch.

Es ist nicht ungewöhnlich, so etwas spät zu erkennen. Die meisten Menschen wenden sich erst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach einem Missbrauch an Beratungsstellen. „Es war schrecklich. Ich war über mehrere Tage in einer Art Trancezustand, habe fast nichts gegessen und sehr viel geweint.“ Er suchte Hilfe, fand sie zunächst bei einer Freundin und dann professionell. Dort riet man ihm von einer Strafanzeige ab, die Taten seien ohnehin verjährt. Er solle sich erst mal um sich selbst kümmern. Andreas S. sagt: „Als mir bewusst wurde, dass womöglich andere Kinder immer noch missbraucht werden, habe ich beschlossen, etwas zu unternehmen. Der Arzt praktizierte ja noch.“ Das habe ihm Antrieb gegeben, sich aus seiner Ohnmacht und Opferrolle zu befreien.

Man riet ihm von einer Strafanzeige ab, die Taten seien ohnehin verjährt. Er solle sich erst mal um sich selbst kümmern.

Andreas S. kontaktierte nun die Ärztekammer Niedersachsen, die Bezirksregierung Hannover und die Staatsanwaltschaft Hildesheim. Unangemeldet besuchte eine Delegation der Bezirksregierung die Klinik und stellte fragwürdige Behandlungs- und Untersuchungsmethoden fest. Sie informierte das Familienwerk im Dezember 1996 darüber. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wussten die Verantwortlichen in Holzminden von den Vorwürfen. Im März 1997 untersagte das Familienwerk nach eigenen Angaben dem Arzt sämtliche körperlichen Untersuchungen, die nicht zum Standard bei psychiatrischen Behandlungen zählen. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte das Verfahren aber wieder ein. Es sei nicht Aufgabe der Justiz, ärztliche Untersuchungsmethoden zu bewerten, hieß es. Im Oktober 1997 beauftragte die Bezirksregierung Hannover den renommierten Kinder- und Jugendpsychiater Professor Dr. Jörg Fegert, heute Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder-​ und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm, die Untersuchungsmethoden des Arztes in Holzminden zu prüfen.

1999

Die Staatsanwaltschaft erhob im Juli 1999 Anklage gegen den Arzt. Eine juristische Aufarbeitung des Falls gab es trotzdem nie: Der angeklagte Kinder- und Jugendpsychiater nahm sich zwei Tage vor Prozessbeginn im Dezember 1999 das Leben.

Parallel dazu wandte sich Andreas S. an das Magazin „Der Spiegel“, um die Geschichte publik zu machen. Als dann Fegerts Gutachten sowie Artikel in der „Neuen Westfälischen“ und im „Spiegel“ erschienen, ging alles ganz schnell: Die Bezirksregierung Hannover entzog dem Arzt die Approbation, weil das Gutachten zu dem Schluss gelangt war, dass der Psychiater in Holzminden seine Stellung als „Tarnung“ genutzt habe, sein Handeln klassische Muster pädophiler Handlungen aufweise und er den Kindern nachhaltig geschadet habe. Es meldeten sich weitere Jungen, die Staatsanwaltschaft ermittelte erneut: Bei einer Razzia entdeckten die Ermittler bei dem Psychiater Bilder, Videos und Tagebuchaufzeichnungen mit sexuellen Fantasien, die zu den Kindern passten.

„Damit war klar, dass es kein ärztliches Handeln war, sondern dass der Arzt seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt hat auf Kosten seiner Patienten“, sagt Andreas S. heute. Das sah damals auch die Staatsanwaltschaft so und erhob im Juli 1999 Anklage gegen den Arzt. Eine juristische Aufarbeitung des Falls gab es trotzdem nie: Der angeklagte Kinder- und Jugendpsychiater nahm sich zwei Tage vor Prozessbeginn im Dezember 1999 das Leben. Doch vorher schickte er Andreas S. noch eine Postkarte.

Auf der Karte, das wird Andreas S. niemals vergessen, stand unter einem Totenkopf in lateinischer Sprache: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Es ist ein Vers aus dem Matthäus-Evangelium. „Ich habe die Postkarte verbrannt. Aber ich hatte tatsächlich viele Jahre wahnsinnige Schuldgefühle“, schildert der 51-Jährige. „Vermutlich würde der Mann noch leben, wenn ich das nicht ins Rollen gebracht hätte. Aber ich weiß nicht, wie viele Kinder er dann noch missbraucht hätte.“ In den 14 Jahren, die der Psychiater in Holzminden wirkte, waren rund 7.500 Kinder und Jugendliche bei ihm in Behandlung. Andreas S. ist sich sicher, dass der Missbrauch weitergelaufen wäre, denn schon damals hätten trotz vieler Hinweise alle weggesehen, weil der Arzt zu den Honoratioren der Stadt gehörte. Die Lokalzeitung „Täglicher Anzeiger Holzminden“ schrieb im Juni 1998: „Offensichtlich wussten viele Holzmindener von den Vorwürfen gegen den Mediziner, nur wenige sprachen darüber.“ Noch kurz bevor dem Arzt die Approbation entzogen wurde, war er feierlich aus der Klinik verabschiedet worden.

Manchmal klingelt während des knapp vierstündigen Gesprächs in der Küche von Andreas S. das Telefon. Er wechselt dann mühelos vom Deutschen ins Englische. Er spricht mehrere Sprachen verhandlungssicher und hat beruflich Karriere gemacht.

Der alleinerziehende Vater ist Führungskraft in einer gemeinnützigen Organisation. Der sexuelle Missbrauch durch den Psychiater in seiner Kindheit beherrschte nicht seinen Alltag, aber die Erlebnisse meldeten sich immer wieder, besonders in Krisensituationen. Andreas S. hatte Panikattacken und Flashbacks. Ein bestimmter Geruch, der ihn an den Arzt erinnerte, löste sofort Brechreiz bei ihm aus. Er machte Psychotherapien, doch keine führte zur Linderung. Bis zur Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und einer professionellen Behandlung vergingen noch viele Jahre.

Und immer wieder stellte sich Andreas S. diese bohrenden Fragen: Warum lässt das Albert-Schweitzer-Familienwerk dieses Unrecht nicht aufarbeiten? Wie vielen Kindern ist es noch so ergangen wie mir? Haben die Menschen Hilfe?

Im Jahr 2016 schrieb er dann einen Brief an das Familienwerk und bat um Aufarbeitung und die Übernahme institutioneller Verantwortung. Die Antwort kam zwei Jahre später. Darin hieß es, man könne „eine öffentliche Klarstellung von Recht und Unrecht“ nicht leisten. „Der Brief war schrecklich für mich“, sagt Andreas S., er bittet jetzt um eine kurze Gesprächspause. Er möchte jetzt erstmal eine dampfen. Er holt sich seine E-Zigarette und nimmt einen tiefen Zug. Und noch einen zweiten.

2025

Erst nach weiterem Druck und Recherchen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ lenkt das Albert-Schweitzer- Familienwerk ein und beauftragt im Juni 2024 ein externes Institut, den sexuellen Missbrauch kleiner Patienten im Therapeutikum „Lustiger Bach“ aufzuklären. Das Institut soll im Mai 2025 einen Aufruf an Betroffene starten.

Andreas S. erzählt von einer weiteren Grenzerfahrung auf seinem langen Leidensweg: 2019 hatte er während einer Zugfahrt nach Berlin eine heftige Panikattacke und rief den Krisendienst in Berlin-Charlottenburg an. Heute sagt er: „Erst da ist mir klargeworden, dass ich dieses Trauma nicht loswerde, ohne es vernünftig aufzuarbeiten.“ Ein Freund empfahl ihm eine Tagesklinik für Traumatherapie. „Das hat mir sehr geholfen.“ In der Therapie rekonstruierte ein Parfümeur sogar den Geruch, der die Übelkeit bei ihm auslöste. Er roch so lange daran, bis er sich nicht mehr davor ekeln musste.

Am Ende erhielt er eine Entschädigung in Höhe von 4.398,53 Euro. Andreas S. rechnete es auf die 156 Sitzungen um: Macht 28,20 Euro für jeden Missbrauchsfall.

Seine persönliche Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in seiner Kindheit hat Andreas S. damit vorangebracht. Doch er wollte auch eine offizielle Anerkennung als Opfer. Er hörte vom Opferentschädigungsgesetz (OEG), mit dem sich der Staat verpflichtet, Opfern zu helfen, die er nicht vor Gewalt schützen konnte. „Ich wusste ja nicht, was mir blüht“, sagt Andreas S. heute über den langen Weg zur Entschädigung. Vor allem die Fragen, die er sich vom Sachbearbeiter des zuständigen Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) gefallen lassen musste, nach sexuellen Vorlieben und was er dabei empfinde, seien eine absolute Zumutung gewesen. „Es war die Hölle.“ Am Ende erhielt er eine Entschädigung in Höhe von 4.398,53 Euro. Andreas S. rechnete es auf die 156 Sitzungen um: Macht 28,20 Euro für jeden Missbrauchsfall. „Mir geht es nicht ums Geld. Aber dieser Mann konnte über viele Jahre agieren und ist immer wieder geschützt worden. Die Staatsanwaltschaft war involviert. Die Anstalten körperlichen Rechts waren involviert. Das Gesamtsystem hat versagt.“ Und dafür sei das OEG eigentlich gemacht. „Ich würde den OEG-Antrag nicht noch einmal stellen“, sagt er rückblickend.

2023 wendet sich Andreas S. erneut an das Familienwerk, jetzt an das Kuratorium. Erst nach weiterem Druck und Recherchen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ lenkt das Albert-Schweitzer-Familienwerk ein und beauftragt im Juni 2024 das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), den sexuellen Missbrauch kleiner Patienten im Therapeutikum „Lustiger Bach“ aufzuklären. Damals sei deutlich geworden, „dass wir aus Sicht der Opferperspektive zu wenig getan haben und eine professionelle und unabhängige Aufarbeitung notwendig ist“, teilte das Familienwerk auf Anfrage des WEISSER RING Magazins mit. Bislang habe es Kontakt zu vier Personen gegeben, die konkretes Interesse an einer Aufarbeitung signalisiert hätten. Das IPP werde im Mai 2025 einen Aufruf starten, der sich sowohl an Betroffene richtet als auch an Menschen, die vom Missbrauch wussten. Die Ergebnisse des Instituts sollen im Jahr 2027 veröffentlicht werden.

Die Berichterstattung, sagt Andreas S., habe nicht nur den Druck auf das Familienwerk erhöht, sondern sei auch sehr heilsam für ihn gewesen. Deshalb spreche er über seine Geschichte. Seine Mitarbeitenden haben ihn auf den Fotos in den Artikeln erkannt, obwohl er sich, wie auch für diese Geschichte im WEISSER RING Magazin, nur so fotografieren lässt, dass er eigentlich nicht sofort erkannt werden kann. „Man empfindet Scham, natürlich. Die Arbeit ist doch der letzte Ort, an dem man so etwas teilen möchte. Aber: Es war richtig. Der positive Zuspruch hat gutgetan und die Scham ist weg.“ Andreas S. geht es um die Anerkennung von Unrecht, um Empathie und die Übernahme von Verantwortung. „Ich hätte vermutlich längst klein beigegeben, wenn das Familienwerk in irgendeiner Form uns Betroffene um Verzeihung gebeten hätte.“ Das sei aber bis heute nicht geschehen.

Ein Anruf bei Christian Schertz

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Ein Anruf bei Christian Schertz

In einem Gastbeitrag für das Magazin des WEISSEN RINGS setzte sich Medienanwalt Professor Dr. Christian Schertz 2023 mit dem True-Crime-Boom auseinander. Unter dem Titel „Opferrechte bleiben bei True Crime auf der Strecke“ nannte er die Rechtslage für Betroffene „kaum zu ertragen“ und forderte gesetzliche Nachbesserungen. Was hat sich getan seither?

Medienanwalt Christian Schertz steht vor einer braunen Holztür.

Foto: Julia Steinigeweg

Herr Professor Schertz, lesen Sie, hören Sie, schauen Sie True Crime?

Ich schaue mir immer wieder True-Crime-Formate an – aber vorrangig, weil ich mich sowohl wissenschaftlich als auch in öffentlichen Äußerungen gegen einige dieser kommerziellen True-Crime-Formate ausspreche. Meines Erachtens werden hier nämlich die Opferrechte schlicht missachtet. Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren. Um aber mitzureden zu können, muss ich mir angucken, was die Medien da machen. Und ich kann nur sagen, dass viele der Formate meines Erachtens eklatante Opferrechtsverletzungen enthalten – oder aber, wenn es keine Rechtsverletzungen sind, dass die Opfer rechtlos sind, weil sie als Verstorbene leider postmortal keine Persönlichkeitsrechte mehr besitzen.

Christian Schertz (59) gilt als einer der bekanntesten Medienanwälte Deutschlands. 2005 gründete er gemeinsam mit Simon Bergmann seine eigene Kanzlei „Schertz Bergmann“. Er lehrt zudem als Honorarprofessor für Presse-, Persönlichkeits- und Medienrecht, etwa an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam und der TU Dresden, und ist Herausgeber und Autor zahlreicher Fachbücher.

Gibt es True-Crime-Formate, denen Sie Positives abgewinnen können?

Nachvollziehbar finde ich etwa Fernsehformate, die der Fahndung dienen, wie „Aktenzeichen XY… Ungelöst“, also Fälle, wo der Täter noch nicht ermittelt ist. In diesen Fällen erlaubt auch der Gesetzgeber die Nutzung von Bildern von Opfern und Tätern zu Fahndungszwecken, das ist sogar ausdrücklich erwünscht. Aber das ist ja ein völlig anderer Ansatz als in schätzungsweise 90 Prozent der aktuell laufenden True-Crime-Formate, die Verbrechen spektakulär und effekthascherisch inszenieren mit teilweise unerträglichen Details der Morde, um Auflage und Quote zu machen.

In den allermeisten True-Crime-Formaten geht es um zurückliegende und juristisch abgeschlossene Mordfälle. Darf sich Journalismus hier auf ein öffentliches Interesse berufen?

Dass man im Wege von Chronistenpflichten historische Straftaten darstellt, die zur DNA der Bundesrepublik gehören, das verstehe ich. Weil das Zeitgeschichte ist. Ich denke dabei zum Beispiel an die RAF-Taten, das Gladbecker Geiseldrama oder Entführungstaten wie den Fall Oetker. Aber bei der großen Zahl der Morde und Tötungsdelikte, die wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, obwohl sie abgeurteilt und abgeschlossen sind, sehe ich kein überwiegendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Weil dieses Interesse immer abzuwägen ist mit der Menschenwürde und den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen.

„Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren.“

Vor wenigen Wochen habe ich die Live-Show des „Bayern 3 True Crime“-Podcasts besucht. Die Show verbindet einen echten Mordfall mit Unterhaltungselementen, das Publikum darf interaktiv per Smartphone abstimmen: Ist der Täter, ein rechtskräftig verurteilter Mörder, schuldig oder nicht schuldig? Wie bewerten Sie so etwas rechtlich und moralisch?

Ich finde das verwerflich. Wir haben ja ganz bewusst im deutschsprachigen Rechtsraum uns gegen ein Geschworenen- oder Jury-System entschieden, sondern es entscheiden glücklicherweise Berufsrichter und nicht die Volksseele in Gestalt von Laien. Es ist höchst unseriös, im Rahmen einer Show gewissermaßen im Nachgang ein Jury-System zu Unterhaltungszwecken einzuführen. Noch unseriöser finde ich es, wenn sich hierbei öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten beteiligen, weil die im Rahmen ihrer Programmgrundsätze eindeutig die Menschenwürde beachten müssen – und ich finde es würdelos für die Opfer, was hier geschieht.

Für den True-Crime-Report, den wir 2023 in unserem Magazin veröffentlicht haben, haben Sie in einem Gastbeitrag den Gesetzgeber aufgefordert, „dringend“ bei den Opferrechten nachzuschärfen. Wie ist der Stand jetzt, knapp zwei Jahre später?

Da ist nichts passiert. Jeder, dem ich das erzähle, auch aus der Politik, sagt: Sie haben völlig recht, Herr Schertz, das geht so nicht. Aber passiert ist nichts. Es ist eine geradezu perverse und schier unerträgliche Situation, dass die Mörder aufgrund ihrer Persönlichkeitsrechte und nach Haftverbüßung aufgrund des dann bestehenden Rechts auf Resozialisierung oftmals nicht mehr identifizierend dargestellt werden dürfen mit Namen und Bild – die Persönlichkeitsrechte der Opfer aber erlöschen, weil sie verstorben sind, weil sie ermordet wurden.

Was muss geschehen, damit verstorbene Verbrechensopfer künftig auch in True-Crime-Formaten zu ihrem Recht kommen?

Ich sehe Handlungsbedarf für den Gesetzgeber, dass er ein postmortales Persönlichkeitsrecht schafft, was derlei Ausschlachtungen von menschlichen Tragödien untersagt.

Istanbul-Konvention: „Gravierende Lücken“

Erstellt am: Freitag, 31. Januar 2025 von Juliane

Istanbul-Konvention: „Gravierende Lücken“

Die Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Doch ein Bericht offenbart alarmierende Defizite.

Eine Frau demonstriert im Jahr 2021 in Hannover für Frauenhäuser. Foto: Moritz Frankenberg / dpa

Die Istanbul-Konvention verpflichtet Deutschland, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Doch der erste Monitoring-Bericht der Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte offenbart alarmierende Defizite: Deutschland bleibt weit hinter den menschenrechtlichen Vorgaben zurück. Viele Frauen finden in akuter Not keinen Platz in Schutzeinrichtungen, und die Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt sind oft unzureichend.

Der Bericht zeigt, wie weit Deutschland von einer flächendeckenden Umsetzung entfernt ist. Trotz punktueller Fortschritte bestehen gravierende Defizite bei der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. „Seit 2018 ist Deutschland durch die Istanbul-Konvention zum Handeln verpflichtet“, sagt Müşerref Tanrıverdi, Leiterin der Berichterstattungsstelle. „Doch auch sechs Jahre später fehlt immer noch eine nationale Gewaltschutzstrategie. Staatliches Handeln ist dringend geboten, denn von physischer oder sexualisierter Gewalt ist in Deutschland jede dritte Frau mindestens einmal im Leben betroffen.“

Täglich werden hierzulande 728 Frauen und Mädchen Opfer körperlicher Gewalt. Auch das Beratungsaufkommen ist hoch. „Hilfseinrichtungen, die sich auf Gewalt gegen Frauen und sexuellen Missbrauch spezialisiert haben, verzeichnen seit Jahren eine hohe und in der Tendenz zunehmende Frequentierung“, heißt es im Bericht. Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ dokumentierte für 2020 bis 2023 jährlich zwischen 51.400 (2020) und 59.050 (2023) Beratungskontakte mit direktem Bezug zum Thema Gewalt gegen Frauen. Dennoch fehlt es vielerorts an ausreichendem Schutz und nationaler Koordination.

 

Die fünf größten Schutzlücken im Überblick:

I. Fehlende nationale Gewaltschutzstrategie

Deutschland hat keine umfassende Strategie zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt. Stattdessen existiert ein Flickenteppich aus regional unterschiedlichen Regelungen. Eine nationale Koordinierungsstelle fehlt ebenso wie eine einheitliche Strategie, um das Zusammenspiel von Strafverfolgungsbehörden, Justiz, Zivilgesellschaft und Kinderschutz- Behörden zu gewährleisten. Die Folgen sind gravierend: Informationslücken gefährden den Schutz der Betroffenen. Die Istanbul-Konvention fordert eine gesamtgesellschaftliche Lösung für geschlechtsspezifische Gewalt – ein Problem, das nicht an Landesgrenzen haltmacht. Schon 2022 kritisierte GREVIO, das internationale Kontrollgremium der Istanbul-Konvention, das Fehlen einer nationalen Strategie und Koordinierungsstelle in Deutschland.

II. Mangelnde Finanzierung von Opferschutz und Beratung

Viele Frauenhäuser und Beratungsstellen sind chronisch unterfinanziert und müssen sich oft mit kurzfristigen, projektgebundenen Mitteln behelfen. Das führt zu Unsicherheit und erschwert langfristige Planung. Im Jahr 2022 konnten 15.018 Frauen nicht in Schutzeinrichtungen aufgenommen werden – durchschnittlich 104 Frauen pro Einrichtung. Besonders in ländlichen Regionen gibt es nicht genügend Schutzeinrichtungen, die für viele Frauen die einzige Möglichkeit sein könnten, Gewalt zu entkommen. Auch das GREVIO-Komitee forderte eine gleichmäßigere Verteilung von Schutzräumen, um Frauen in Not eine sichere Zuflucht zu bieten.

Die Istanbul-Konvention:
Bund, Länder und Kommunen sind verpflichtet, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen und zu verhindern sowie Frauen und Mädchen zu schützen. Das ergibt sich aus den 81 Artikeln des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der sogenannten Istanbul-Konvention. Diese ist seit dem 1. Februar 2018 geltendes Recht in Deutschland. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat das Deutsche Institut für Menschenrechte damit betraut, die Umsetzung unabhängig zu beobachten und zu begleiten. Hierfür hat es die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt eingerichtet, die im November 2022 an den Start gegangen ist.

„Die großen Lücken bei der Unterstützung für Betroffene müssen dringend geschlossen werden“, fordert Tanrıverdi. „Betroffene brauchen ein Recht auf Zugang zu Schutz und Beratung. Bund, Länder und Kommunen sind gemeinsam in der Pflicht, Frauenhäuser und Fachberatungsstellen flächendeckend bereitzustellen und finanziell abzusichern. Deshalb braucht es jetzt ein gutes Gewalthilfegesetz.“

Die prekäre finanzielle Lage der Hilfseinrichtungen steht in starkem Kontrast zur gesellschaftlichen Bedeutung des Opferschutzes. Die fehlende langfristige Finanzierung zwinge die Dienstleistungsanbieter dazu, so bemängelte GREVIO bereits im Jahr 2022, einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit in die Beantragung und erneute Beantragung ihrer Finanzierung zu investieren, was ihnen wertvolle Zeit für ihre Kerntätigkeiten raubt.

III. Mangelnde Transparenz bei Schutzanordnungen

Eilschutzanordnungen sollen im Ernstfall eine sofortige räumliche Distanz zwischen Opfer und Täter schaffen. Dazu zählen Wohnungsverweisungen, Rückkehr- und Kontaktverbote. Diese Schutzmaßnahmen werden durch Polizeigesetze der Länder geregelt. Doch es mangelt oft an einer klaren Kommunikation zwischen Polizei und Gerichten, was Schutzlücken erzeugt. So ist zum Beispiel nicht immer eindeutig festgelegt, wann Wohnungsverweisungen verlängert werden müssen. „Ein effektiver Gewaltschutz ist somit nicht gewährleistet“, heißt es im Monitoring-Bericht.

Die Berichterstattungsstelle fordert daher eine verbesserte Datenerhebung und Auswertung der gerichtlich angeordneten Schutzmaßnahmen. Damit könnte nachvollzogen werden, ob die Anordnungen den Opferschutz tatsächlich gewährleisten und wie die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern verläuft.

IV. Fehlende Regelung zum Umgangs- und Sorgerecht

Ein großes Problem stellen Umgangsregelungen bei Trennungen dar, wenn häusliche Gewalt eine Rolle spielt. Der aktuelle rechtliche Rahmen ermöglicht zwar die Berücksichtigung von Gewalt bei Entscheidungen zum Umgangs- und Sorgerecht, doch dies geschieht in der Praxis oft nicht. In manchen Fällen kann es jedoch durch Umgangskontakte sogar zu schwerer Gewalt bis hin zu Tötungsdelikten kommen.

Hier besteht laut Berichterstattungsstelle „dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf“, um gewaltbetroffene Elternteile besser zu schützen. Ein bundeseinheitlicher Rechtsanspruch auf schnelle, unbürokratische Hilfe, etwa durch verpflichtende Fortbildungen für Richterinnen und Richter und eine Reform des Familienverfahrensrechts, wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Das Bundesministerium der Justiz hat im Januar 2024 zwar Eckpunkte für eine Reform des Kindschaftsrechts vorgelegt, die auch den Forderungen der Istanbul-Konvention gerecht werden sollten. Doch der Referentenentwurf des Gesetzes sorgte zuletzt für Zoff, nicht zuletzt wohl deshalb, weil der damalige Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann (FDP) den Entwurf laut Medienberichten an die Länder weitergeleitet hatte, ohne sich regierungsintern mit Familienministerin Lisa Paus (Grüne) abzustimmen. Ein eigener Gesetzentwurf der Bundesregierung schaffte es nach dem Aus der Ampelkoalition bis Redaktionsschluss nicht mehr ins parlamentarische Verfahren.

V. Defizitäre Datenbasis

Eine der größten Hürden für eine wirksame Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt bleibt die unzureichende Datenbasis. Denn für eine wirksame Politik und gesetzliche Regelungen benötigt man verlässliche Daten. Viele Informationen zum tatsächlichen Ausmaß von Gewalt gegen Frauen fehlen jedoch nach Beobachtung der Berichterstattungsstelle, beispielsweise zur Anzahl der Verurteilungen oder zur Häufigkeit von Schutzanordnungen. Es existiert in Deutschland keine einheitliche Statistik, die den Verlauf von der polizeilichen Anzeige bis zur gerichtlichen Entscheidung erfasst.

Eine solche systematische Datenerhebung wäre jedoch unerlässlich, um die Umsetzung der Istanbul-Konvention kontinuierlich zu überwachen und die Schutzmaßnahmen anzupassen. Besonders im Bereich der Justiz und Gesundheit besteht hier nach Ansicht der Berichterstattungsstelle Nachholbedarf, um präzise Einblicke in das Ausmaß und die Verbreitung geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland zu gewinnen.

Fazit

Die Bilanz des „Monitors Gewalt gegen Frauen“ ist ernüchternd und alarmierend zugleich. Die Istanbul-Konvention soll Frauen und Mädchen effektiv vor Gewalt schützen – in Deutschland ist dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Der Bericht zeigt, dass die bestehenden Defizite in vielen Bereichen das Leben der Betroffenen gefährden. „Bei der Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt geht es um eine zentrale Voraussetzung für eine freie Gesellschaft: dass Frauen frei von Gewalt und Bedrohung leben können“, betont Müserref Tanrıverdi. Der Bericht zeigt: Eine umfassende und langfristig angelegte Strategie ist dringend erforderlich, um die Istanbul-Konvention endlich mit Leben zu füllen, damit Frauen und Mädchen den Schutz finden, der ihnen zusteht.

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

Erstellt am: Freitag, 31. Januar 2025 von Sabine

Der Bundestag beschloss, dass die Pille danach für Vergewaltigungsopfer kostenfrei wird. Foto: Christian J. Ahlers

Datum: 31.01.2025

Pille danach wird für Vergewaltigungsopfer kostenfrei

In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt, beschloss der Bundestag. Das ist vor allem einer Betroffenen zu verdanken.

Mainz – In Zukunft soll die Pille danach für alle Frauen kostenlos werden, wenn es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Vergewaltigung gibt. Das beschloss der Bundestag in der Nacht zu Freitag. Die bisherige Regelung sah eine regelhafte Kostenübernahme nur dann vor, wenn die Betroffene 22 Jahre oder jünger ist.

Der Beschluss ist nicht nur eine gute Nachricht für alle Opfer sexualisierter Gewalt, sondern auch ein Erfolg für Gudrun Stifter. Sie hatte die Debatte angestoßen, nachdem sie selbst vergewaltigt wurde. Stifter erhielt damals eine Rechnung von ihrer Krankenkasse über mehrere Hundert Euro: Sie müsse auch als Opfer die Laborkosten für alle Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten selbst tragen, wurde ihr damals mitgeteilt. Ebenso für die „Pille danach“, um eine durch die Tat möglicherweise verursachte Schwangerschaft zu verhindern. Das wollte sie nicht akzeptieren.

 

Gudrun Stifter (Foto: Christian J. Ahlers)

2021 hatte Stifter eine Petition vor den Bayerischen Landtag gebracht, in der sie die Übernahme der Kosten forderte. In einer Beschlussempfehlung hatte sich der Landtag dafür ausgesprochen, dass sich die bayerische Staatsregierung für eine Änderung auf Bundesebene einsetzen soll. Jetzt, fast vier Jahre später, wurde ihre Hartnäckigkeit und Engagement von Erfolg gekrönt.

Es war nicht die erste Petition von Gudrun Stifter: Die Redaktion des WEISSEN RINGS hat die Münchenerin im Jahr 2023 begleitet, als sie in bundesweiten Petitionen Verbesserungen bei der Umsetzung des Opferentschädigungsgesetzes (OEG, seit 2024: Sozialgesetzbuch XIV) forderte. Damals sagte sie: „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht.“

 „Ich ertrage einiges, aber Ungerechtigkeit nicht!“

In der Theorie ist das Entschädigungsrecht in Deutschland ein gutes Gesetz, in der Praxis leiden viele Antragsstellende jedoch unter den zermürbenden Verfahren. Gudrun Stifter will das ändern.

Kommt bald die Fußfessel für Gewalttäter?

Erstellt am: Donnerstag, 22. August 2024 von Sabine

Foto: Christoph Klemp

Datum: 22.08.2024

Kommt bald die Fußfessel für Gewalttäter?

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals "offen" gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt.

Mainz – Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich erstmals „offen“ gezeigt für eine bundeseinheitliche Regelung zum Einsatz der elektronischen Fußfessel bei Gewalttätern in Fällen häuslicher Gewalt. „Auch Regelungen im Gewaltschutzgesetz kann ich mir grundsätzlich vorstellen”, sagte er in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Mit Fußfesseln können die Behörden überwachen, ob sich Gefährder trotz gerichtlicher Kontaktverbote den Betroffenen nähern. Recherchen des WEISSEN RINGS haben gezeigt, dass Gewalttäter in Deutschland jährlich tausendfach gegen solche Anordnungen verstoßen und es dadurch immer wieder zu schweren Verletzungen und sogar Tötungen kommt.

Der WEISSE RING, Deutschlands größte Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, fordert deshalb schon lange eine Aufnahme der elektronischen Überwachungsmöglichkeit ins Gewaltschutzgesetz. Im Dezember 2023 hatte Dr. Patrick Liesching, Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS, einen entsprechenden Brandbrief an Minister Buschmann geschickt. Liesching wies darauf hin, dass in Deutschland an jedem dritten Tag ein (Ex-)Partner eine Frau töte, und schrieb: „Was mich besonders erschüttert: Viele dieser Frauen hatten sich vor der Tat hilfesuchend an den Staat gewandt.“ Er sei der Überzeugung, „dass der deutsche Staat Frauen besser schützen kann, als er es derzeit tut“. Erst vor wenigen Tagen stellte Liesching gemeinsam mit Hessens Justizminister Christian Heinz (CDU) eine Bundesratsinitiative des Landes vor, mit der das Gewaltschutzgesetz erweitert werden kann.

Bislang hatte Bundesjustizminister Buschmann allerdings ablehnend auf derartige Forderungen reagiert. So antwortete sein Haus Ende 2023 auf eine Anfrage der Redaktion des WEISSEN RINGS: Die Schaffung einer entsprechenden Anordnung im Gewaltschutzgesetz wäre „nicht geeignet, um den angestrebten lückenlosen Opferschutz zu gewährleisten“.

Mit Blick auf die aktuellen Äußerungen Buschmanns im RND-Interview sagte Patrick Liesching am Donnerstag: „Wir freuen uns sehr, dass sich nunmehr auch der Bundesjustizminister für eine bundesrechtliche Regelung beim Fußfessel-Einsatz gegen Gewalttäter öffnet. Jetzt hoffen wir im Interesse der schutzbedürftigen Frauen, dass die hessische Bundesratsinitiative schnell zu der längst überfälligen Gesetzesänderung führt.“

Wie die elektronische Aufenthaltsüberwachung von Gewalttätern bedrohte Frauen schützen kann, zeigt seit Jahren das Beispiel Spanien. Der WEISSE RING und die hessische Bundesratsinitiative regen ein solches Modell auch für Deutschland an.

„Es wird höchste Zeit“

Erstellt am: Freitag, 16. August 2024 von Sabine

Foto: WEISSER RING e. V.

Datum: 16.08.2024

„Es wird höchste Zeit“

Hessens Justizminister Heinz besucht den WEISSEN RING in Eschborn und stellt Pläne zum besseren Schutz von Frauen gegen Gewalt vor.

Eschborn – Der hessische Justizminister Christian Heinz (CDU) hat am dritten Tag seiner „Rechtsstaats-Tour“ durch Hessen den hessischen Landesverband des WEISSEN RINGS in Eschborn besucht. Im Gespräch Dr. Patrick Liesching, Vorsitzender des WEISSEN RINGS im Bund und in Hessen, und der ehrenamtlichen Opferhelferin Ingeborg Altvater ging es um den besseren Schutz von gewaltbetroffenen Frauen durch den Einsatz von elektronischer Aufenthaltsüberwachung (Fußfessel). Die hessische Landesregierung hat eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, eine entsprechende Regelung in das Gewaltschutzgesetz aufzunehmen. Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann stellt sich dem bislang entgegen.

„Statistisch gesehen findet in Deutschland jeden Tag der Versuch einer Tötung einer Frau statt, jeden dritten Tag kommt es auch zu einer Vollendung einer Tötung. Das ist etwas, das mich persönlich sehr bewegt, weil ich auch als Staatsanwalt solche Fälle hatte. Und wenn man dann in die Details geht, die da ermittelt werden, die Betroffenheit von Angehörigen, von Kindern, von Waisen oder Halbwaisen sieht, dann ist das etwas, das einen nicht kalt lässt und das einen hohen Handlungsdruck erzeugt“, sagte Liesching zu Beginn des Gespräches. „Deswegen begrüße ich die Initiative von Justizminister Heinz außerordentlich.“

Die Bundesratsinitiative sieht unter anderem vor, die elektronische Fußfessel durch eine Änderung des Gewaltschutzgesetzes bundesrechtlich zu verankern. „Momentan gibt es lediglich nach den Polizeigesetzen der Länder die Möglichkeit, dass Betroffene von häuslicher Gewalt durch die elektronische Fußfessel bei den Tätern nur kurzfristig und vorübergehend geschützt werden, eben bis gerichtliche Maßnahmen greifen. Um eine dauerhafte und nicht nur kurzfristig wirkende Möglichkeit zu haben, gerichtliche Kontakt- oder Näherungsverbote mit einer Fußfessel zu kontrollieren, muss die Fußfessel ins Gewaltschutzgesetz aufgenommen werden“, sagte der Justizminister.

Dr. Patrick Liesching richtet Forderungen an die Bundespolitik. Foto: WEISSER RING

Eine bundeseinheitliche Regelung zur präventiven, elektronischen Aufenthaltsüberwachung fordert der WEISSE RING seit Jahren. „Es ist höchste Zeit, dass der Bundesgesetzgeber endlich wirksame Instrumente schafft, um der Gewalt durch (Ex-)Partner zu begegnen. Die bisherigen Regelungen des Gewaltschutzgesetzes sind nicht ausreichend. Modelle zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung in Spanien und anderen europäischen Ländern zeigen eindrucksvoll, dass man solche Tötungen erfolgreich und effektiv verhindern kann. Deshalb kann ich die ablehnende Haltung von Bundesjustizminister Buschmann in keiner Weise nachvollziehen“, so Liesching.

Marco Buschmann hat sich in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur im vergangenen Juli gegen eine einheitliche Regelung ausgesprochen, wofür ihn der WEISSE RING scharf kritisierte. Der FDP-Politiker sieht zwar ebenfalls eine Notwendigkeit, den Schutz vor Gewalt durch Partner beziehungsweise Ex-Partner zu verbessern. Länder, die dafür elektronische Fußfesseln nutzen wollten, könnten dies aber selbst regeln, sagte Buschmann im Interview.

In Hessen ist der Einsatz von Fußfesseln zum Schutz vor gewalttätigen (Ex-)Partnern möglich. „Die Praxis hat aber gezeigt, dass das allgemeine Gefahrenabwehrrecht, was das sogenannte HSOG ist, ein sehr schwaches Schwert ist“, so Justizminister Christian Heinz im Gespräch mit dem WEISSEN RING. Das Tragen einer Fußfessel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr sei nur für zwei bis maximal drei Wochen rechtlich zulässig. Recherchen des WEISSEN RINGS haben außerdem gezeigt, dass der Anordnung einer Fußfessel nach dem Landespolizeigesetz häufig sehr hohe rechtliche Hürden entgegenstehen und dies bislang nur in wenigen Bundesländern überhaupt möglich ist.

Einen kleinen, aber doch sehr bedrückenden Einblick in die Lage von häuslicher Gewalt betroffener Menschen, brachte die Außenstellenleiterin des Main-Taunus-Kreises im WEISSEN RING, Ingeborg Altvater. Sie berichtet: „Wenn Frauen es geschafft haben, sich aus einer gewaltsamen Beziehung zu trennen, dann hört das Leid nicht auf, sondern die Frauen leben unserer Erfahrung nach dann in einer Situation, die voll von Angst, von Bedrohungen, von Unsicherheit ist. Konkret sieht es dann so aus, dass sich die Frauen immer mehr zurückziehen. Sie leben teilweise in abgedunkelten Räumen, sperren sich da ein, verbarrikadieren sich, denn sie müssen immer wieder erleben, dass trotz Annäherungsverboten der gewalttätige Ex-Partner sich ihnen nähert.“ Der Einsatz einer Fußfessel würde die Situation der Frauen dramatisch verbessern, davon ist die Außenstellenleiterin überzeugt. „Wir wollen häusliche Gewalt konsequent bekämpfen. Die Bundesregierung muss jetzt endlich handeln“, so der hessische Justizminister in Eschborn. Laut Christian Heinz hat die aktuelle Bundesregierung noch ein Jahr und damit ausreichend Zeit, ein Bundesgesetzgebungsverfahren ordnungsgemäß zu Ende zu bringen.

So funktioniert das Schutzprogramm RIGG

Erstellt am: Montag, 29. November 2021 von Torben

So funktioniert das Schutzprogramm RIGG

Als erstes Bundesland in Deutschland installierte Rheinland-Pfalz mit RIGG ein Schutzprogramm für Frauen, die Opfer von Gewalt und Morddrohungen werden. Frauenministerin Katharina Binz sagt: „Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache!“

Foto: Christoph Soeder/ WEISSER RING

Leben Frauen in Rheinland-Pfalz dank RIGG sicherer als in anderen Bundesländern?

Mit dem Rheinland-Pfälzischen Interventionsprojekt gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen (RIGG) verfügen wir bereits über ein gutes Unterstützungssystem für von Gewalt betroffene Frauen. Im Rahmen von RIGG wurden bereits viele Maßnahmen umgesetzt, die auch von der Istanbul-Konvention gefordert werden, wie etwa das wachsende Angebot an Unterstützung für von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder sowie die Vernetzung und Zusammenarbeit von staatlichen und nichtstaatlichen Stellen.

Trotz dieser guten Lage ist uns vor dem Hintergrund der Istanbul-Konvention bewusst, dass es noch einiges zu tun gibt. Zur Erhebung des Umsetzungsstands der Istanbul-Konvention wird derzeit eine Analyse durch ein externes Institut durchgeführt.

Chronik eines angekündigten Todes

#WRstory

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Melden sich andere Bundesländer bei Ihnen, um von Ihren Erfahrungen zu profitieren?

RIGG hat nach wie vor bundesweit Vorbildcharakter. Andere Bundesländer interessieren sich immer wieder für unsere Konzepte – so auch für das Hochrisikomanagement.

Das Hochrisikomanagement funktioniert, das hat eine Auswertung durch die Universität Koblenz-Landau ergeben. Wissen Sie, wie viele Frauen Sie in den vergangenen 20 Jahren schützen konnten vor Gewalt oder sogar vor dem Tod?

Katharina Binz, geboren 1983 in Zell an der Mosel, ist seit Mai 2021 Ministerin für Familie, Frauen, Kultur und Integration des Landes Rheinland-Pfalz. Die studierte Politikwissenschaftlerin war ab 2013 zunächst hauptamtliche Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und dann ab 2017 Landtagsabgeordnete. Binz ist verheiratet und Mutter eines Kindes. Foto: MFFKI

Das Hochrisikomanagement war zunächst 2015 in einem Pilotprojekt im Polizeipräsidium Rheinpfalz gestartet und erprobt worden. Ab Mitte 2016 kamen weitere Pilotstandorte im Polizeipräsidium Westpfalz hinzu. Die Fallzahlen aus der Auf- und Ausbauphase waren noch nicht repräsentativ, weil Abläufe und Zählweisen zunächst vereinheitlicht werden mussten. Ab 2018 waren stetig steigende Zahlen an Hochrisikofällen zu verzeichnen: 2018 waren es 354 Fälle, 2019 waren es 448 Fälle und 2020 waren es bereits 521 Fälle. Dieser Trend zeigt, dass sich das Hochrisikomanagement vor Ort bewährt. Es ist inzwischen flächendeckend in Rheinland-Pfalz eingeführt worden. Die Studie der Uni Koblenz-Landau von 2016 hat gezeigt, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Fällen, die in einer interdisziplinären Fallkonferenz besprochen wurden, bei rund 20 Prozent liegt. Dagegen liegt sie bei Fällen, die nicht in Fallkonferenzen bearbeitet wurden, bei 42 Prozent. Dies zeigt die Wirksamkeit des Ansatzes. Absolute Zahlen zu der Frage, wie viele Frauen definitiv durch das Hochrisikomanagement vor Gewalt oder dem Tod geschützt werden konnten, liegen naturgemäß nicht vor. Dazu wäre nicht zuletzt eine dauerhafte Beobachtung jedes Einzelfalles erforderlich.

Wenn das Hochrisikomanagement Alarm schlägt – wie kann man dann die gefährdete Frau am besten schützen?

Als Schutzmaßnahme kann die Polizei auf der Grundlage des Gewaltschutzgesetzes und des Polizeiordnungsgesetztes Wohnungsverweisungen und Rückkehrverbote sowie Kontakt- und Näherungsverbote aussprechen, die bei Verstoß bußgeldbewährt sind. Alternativ kann sie die betroffene Frau gegebenenfalls mit ihren Kindern in einem Frauenhaus in Sicherheit bringen. Daneben werden in Rheinland-Pfalz – ebenfalls im Rahmen von RIGG – vom Innenministerium neun Täterarbeitseinrichtungen „Contra häusliche Gewalt“ gefördert. In diesen Beratungsstellen wird Männern, die in Ehe, Familie und Partnerschaft Gewalt ausüben oder ausgeübt haben, ein soziales Trainingsprogramm angeboten. Die Teilnahme erfolgt auf freiwilliger Basis, aufgrund behördlicher Empfehlung oder behördlicher Anordnung im Rahmen strafprozessualer oder gerichtlicher Verfahren.

Seit Jahren geht bundesweit die Zahl der Gewaltdelikte in Deutschland zurück. Was gleich hoch bleibt oder sogar steigt, ist die Gewalt von Männern an Frauen. Warum bekommen wir das so schwer in den Griff?

Das Bundeskriminalamt hat kürzlich eine neue Statistik veröffentlicht, nach der jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet wird. Andere Untersuchungen zeigen, dass jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt durch ihren Ehe- beziehungsweise Lebenspartner oder Freund wird. Diese Zahlen zeigen, wie groß das gesellschaftliche Phänomen der Gewalt in engen sozialen Beziehungen ist, von dem Frauen jeden Alters und unabhängig von sozialer Schicht, dem Bildungsstand, dem Einkommen, der Nationalität, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit betroffen sind.

Das Hochrisikomanagement war zunächst 2015 in einem Pilotprojekt im Polizeipräsidium Rheinpfalz gestartet und erprobt worden. Ab Mitte 2016 kamen weitere Pilotstandorte im Polizeipräsidium Westpfalz hinzu. Die Fallzahlen aus der Auf- und Ausbauphase waren noch nicht repräsentativ, weil Abläufe und Zählweisen zunächst vereinheitlicht werden mussten. Ab 2018 waren stetig steigende Zahlen an Hochrisikofällen zu verzeichnen: 2018 waren es 354 Fälle, 2019 waren es 448 Fälle und 2020 waren es bereits 521 Fälle. Dieser Trend zeigt, dass sich das Hochrisikomanagement vor Ort bewährt. Es ist inzwischen flächendeckend in Rheinland-Pfalz eingeführt worden. Die Studie der Uni Koblenz-Landau von 2016 hat gezeigt, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Fällen, die in einer interdisziplinären Fallkonferenz besprochen wurden, bei rund 20 Prozent liegt. Dagegen liegt sie bei Fällen, die nicht in Fallkonferenzen bearbeitet wurden, bei 42 Prozent. Dies zeigt die Wirksamkeit des Ansatzes. Absolute Zahlen zu der Frage, wie viele Frauen definitiv durch das Hochrisikomanagement vor Gewalt oder dem Tod geschützt werden konnten, liegen naturgemäß nicht vor. Dazu wäre nicht zuletzt eine dauerhafte Beobachtung jedes Einzelfalles erforderlich.

Wenn das Hochrisikomanagement Alarm schlägt – wie kann man dann die gefährdete Frau am besten schützen?

Als Schutzmaßnahme kann die Polizei auf der Grundlage des Gewaltschutzgesetzes und des Polizeiordnungsgesetztes Wohnungsverweisungen und Rückkehrverbote sowie Kontakt- und Näherungsverbote aussprechen, die bei Verstoß bußgeldbewährt sind. Alternativ kann sie die betroffene Frau gegebenenfalls mit ihren Kindern in einem Frauenhaus in Sicherheit bringen. Daneben werden in Rheinland-Pfalz – ebenfalls im Rahmen von RIGG – vom Innenministerium neun Täterarbeitseinrichtungen „Contra häusliche Gewalt“ gefördert. In diesen Beratungsstellen wird Männern, die in Ehe, Familie und Partnerschaft Gewalt ausüben oder ausgeübt haben, ein soziales Trainingsprogramm angeboten. Die Teilnahme erfolgt auf freiwilliger Basis, aufgrund behördlicher Empfehlung oder behördlicher Anordnung im Rahmen strafprozessualer oder gerichtlicher Verfahren.

Seit Jahren geht bundesweit die Zahl der Gewaltdelikte in Deutschland zurück. Was gleich hoch bleibt oder sogar steigt, ist die Gewalt von Männern an Frauen. Warum bekommen wir das so schwer in den Griff?

Das Bundeskriminalamt hat kürzlich eine neue Statistik veröffentlicht, nach der jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet wird. Andere Untersuchungen zeigen, dass jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt durch ihren Ehe- beziehungsweise Lebenspartner oder Freund wird. Diese Zahlen zeigen, wie groß das gesellschaftliche Phänomen der Gewalt in engen sozialen Beziehungen ist, von dem Frauen jeden Alters und unabhängig von sozialer Schicht, dem Bildungsstand, dem Einkommen, der Nationalität, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit betroffen sind.

ODARA nimmt hauptsächlich das Rückfallrisiko in den Blick. Es werden jeweils Aspekte abgefragt, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen typische Alarmsignale zu drohender Gewalt darstellen – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Kriterien sind zum Beispiel das gewalttätige Verhalten des Partners in der Vergangenheit, gemeinsame Kinder, gemeinsames Wohnen, Suchtverhalten, Waffenbesitz. Diese Aspekte sind mit Wertungspunkten versehen. Werden jeweils spezifische Punktzahlen erreicht, so wird ein Fall in das Hochrisikomanagement aufgenommen.

Grafik: Eingesetzte Instrumente zur Risikoabschätzung der Polizei in den Bundesländern (PDF-Format)

Was lässt sich Rheinland-Pfalz den Schutz von Frauen kosten?

Das Frauenministerium hat die Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen in diesem Jahr mit insgesamt rund 5,2 Millionen Euro gefördert, im kommenden Jahr planen wir sogar mit 5,7 Millionen Euro – vorausgesetzt, der Landtag stimmt dem vorgelegten Haushaltsentwurf zu. Hinzu kommen Maßnahmen der anderen Ressorts, wie z.B. dem Innenministerium für die Förderung der Täterarbeitseinrichtungen, die letztlich ebenfalls den Schutz von Frauen zum Ziel haben.

In Deutschland gibt es eine intensive Diskussion um den passenden Begriff für Morde an Frauen. Was halten Sie vom Begriff „Femizid“? Braucht es einen eigenen Straftatbestand „Femizid“?

Ich vertrete die Auffassung, dass der Begriff „Femizid“ in erster Linie dazu dienen kann, das Phänomen der Tötung von Frauen und den besonderen Hintergrund in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Unser Strafgesetzbuch bietet aber bereits alle erforderlichen Ahndungsmöglichkeiten, wenn es um Tötung aus niedrigen Beweggründen geht. Entscheidend ist hier vielmehr die juristische Einordnung im Strafverfahren – die Tötung einer Frau darf nicht weniger schwer oder anders gewichtet werden, weil sie durch den Partner oder Ex-Partner geschieht. Es ist und bleibt ein Mord. Als solcher muss er auch geahndet werden.

Die Werkzeuge der Risikoanalyse

Seit 20 Jahren gibt es RIGG, das rheinland-pfälzische Interventionsprojekt gegen Gewalt in engen sozialen Beziehungen. Als erstes Bundesland in Deutschland hat Rheinland-Pfalz ein Hochrisikomanagement geschaffen, zunächst in einigen Modellregionen, mittlerweile im ganzen Land. Immer, wenn die Polizei in einem Fall von häuslicher Gewalt zu einem Einsatz gerufen wird, muss die betroffene Frau einen Fragebogen ausfüllen. Es gibt zwei verschiedene Bögen: ODARA, in Kanada entwickelt, versucht die Rückfallwahrscheinlichkeit des Täters zu ermitteln. DA, das „Danger Assessment“ nach Jacquelyn Campbell, entwickelt in den USA, zielt auf das Tötungsrisiko.

Der Campbell-Fragebogen stellt Fragen wie: „Ist er arbeitslos?“, „Kontrolliert er die meisten oder alle Ihrer täglichen Aktivitäten (z.B. schreibt er Ihnen vor, mit wem Sie befreundet sein können, wann Sie Ihre Familie sehen können, über wie viel Geld Sie verfügen können oder wann sie das Auto benutzen dürfen?)“ oder „Verfolgt er Sie oder spioniert er Ihnen nach, hinterlässt er bedrohliche Nachrichten, beschädigt er Dinge von Ihnen oder ruft Sie an, obwohl Sie das nicht möchten?“ Für jedes „Ja“ gibt es Punkte. Wer 18 Punkte erreicht, gilt als Hochrisikofall. Ein schneller Blick zeigt: Anne hätte vermutlich  20 Punkte oder mehr erreicht.

Polizeioberkommissar Wladimir Karlin arbeitet als „Koordinator für Gewalt in engen sozialen Beziehungen“ bei der Polizeiinspektion Neustadt an der Weinstraße seit Jahren mit dem Campbell-Bogen. Er sagt, wenn ein Hochrisikofall identifiziert wird, wird die Polizei sofort aktiv: Sie vernimmt die Betroffene, um mehr über den Mann zu erfahren. Und sie nimmt Kontakt zum Mann auf.

Das Herzstück des Hochrisikomanagements sind aber die Fallkonferenzen. Das ist keine feste Runde, berichtet Karlin: Es nimmt teil, wer etwas zum jeweiligen Einzelfall beizutragen hat. Das ist die Polizei. Die Opferschutzbeauftragte. Vielleicht das Frauenhaus. Das Jugendamt. Manchmal die Ausländerbehörde.

Im Fall Anne wäre in einer Fallkonferenz alles auf den Tisch gekommen: die Drohungen, die Kontrolle, das Frauenbild ihres späteren Mörders.

In Baden-Württemberg haben die Akten nach ihrem Umzug von Freiburg ins nahe Teningen aber plötzlich häufig einen anderen Inhalt: „Die Zuständigkeit hat gewechselt“, heißt es nun auf zahlreichen Papieren; ein anderes Jugendamt und ein anderes Familiengericht müssen nun den Fall bearbeiten.

Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten, eine Gewalttat zu verhindern: Entweder man schützt das Opfer, oder man überwacht den Täter.

Möglichkeit 1, Opferschutz:
Die radikalste und erfolgversprechendste Methode ist es, die gefährdete Frau in ein Zeugenschutzprogramm zu nehmen. Neue Identität, neue Stadt, neue Sicherheit.

„Da wird dann wirklich der Reset-Knopf gedrückt“, sagt ein erfahrener Kripo-Beamter aus Süddeutschland, der solche Zeugenschutzfälle betreut hat. „Das ist von einem Tag auf den anderen ein neues Leben.“

Die Frauen fragten dann oft: Meine Angehörigen darf ich aber noch sehen, oder? Nein. Kontakt zu den alten Schulfreundinnen halten? Nein. Wenigstens das Handy darf ich doch behalten? Nein. „Wir arbeiten dann eine lange Liste ab“, sagt der Kripo-Beamte: Die Steuernummer muss gelöscht werden, die Daten in Melderegister, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Schufa, Vereinsmitgliedschaften, ob Naturschutzbund oder WEISSER RING. „Das wird immer komplexer wegen der vielen Datenverknüpfungen“, sagt der Beamte.

Meistens, sagt er, scheitert diese Möglichkeit aber nicht an der Komplexität, sondern an den betroffenen Frauen. „Wenn sie mit allen brechen sollen, sind die meisten Frauen wieder raus.“

Mitunter hilft aber auch schon  die schnelle temporäre Herausnahme der Frau. Zum Beispiel bei den „typischen Eskalationsereignissen“, wie Karlin sie nennt: bevorstehender Scheidungstermin, Bekanntwerden eines neuen Lebenspartners, Verkauf des Hauses nach der Trennung, Zwangsversteigerung. Man bringt die Frau vorübergehend in einem Frauenhaus unter, vielleicht weit genug entfernt in einem anderen Bundesland – wenn es denn einen Platz für sie gibt, es gibt ja viel zu wenige Frauenhausplätze in Deutschland. Vielleicht kann auch eine Ferienwohnung angemietet werden. Möglich ist das, es gibt ein Zeugenschutzkoordinierungsprogramm zwischen den Bundesländern. „Manchmal glätten sich in dieser Zeit die Wogen“, sagt der Beamte aus Süddeutschland: Die Lebenssituation ändert sich, der Mann lässt sich vielleicht in einer Klinik behandeln, er hat eine neue Freundin.

Möglichkeit 2, Täterüberwachung:
Rechtlich gibt es da enge Grenzen, in Deutschland darf die Polizei aus gutem historischen Grund niemanden einfach so auf Verdacht einsperren.

„Ein vielfach leider noch unterschätztes Mittel ist die Gefährderansprache, eine sehr konfrontative Gefährderansprache. Diese Leute denken nur bis zur Tat und haben oft einen Tunnelblick. Die haben überhaupt keinen Anschlussplan. Ähnlich wie Gefängnisausbrecher, die nur bis zum Gefängnistor denken. Manche rudern nach einer Gefährderansprache total zurück und kommen in die Defensive.“
(Uwe Stürmer)

Polizist Wladimir Karlin hält ebenfalls viel von der Gefährderansprache. Dem Mann wird deutlich klargemacht, welche Konsequenzen sein Tun haben kann – wenn er sich zum Beispiel nicht an ein  Annäherungsverbot hält. „Diese Trennung der beiden  ist wichtig“, sagt Karlin, „sonst zieht die Frau oft unter Druck des Mannes ihre Aussage wieder zurück.“

Er wirbt aber auch dafür, „flexibel“ auf den Mann einzuwirken. So könne es zum Beispiel in manchen Fällen helfen, den Iman hinzuzuziehen, wenn der Mann ein religiöser Moslem sei.

In Spanien gibt es seit vielen Jahren elektronische Armbänder, mit denen gewalttätige Männer überwacht werden können. Nähern sie sich der Frau, geht ein Signal bei der Frau und bei der Polizei ein.

Sarah Rahe ist im Frauenministerium in Mainz die zuständige Referatsleiterin für Gewaltprävention und Gewalt in engen sozialen Beziehungen. Sie sagt: „Wir machen so viele Fallkonferenzen wie möglich. Aber eine Erfolgsgarantie gibt es nicht.“

2019 gab es in Rheinland-Pfalz 519 Fallkonferenzen in 448 Fällen. Das Land hat das Projekt durch die Universität Koblenz-Landau evaluieren lassen. Ergebnis: Durch die Fallkonferenzen konnte das Risiko, dass eine Frau erneut Gewalt durch ihren Mann erleidet, knapp halbiert werden.

Opfer dürfen nicht nur „Beweismittel“ sein

Erstellt am: Mittwoch, 27. Januar 2021 von Torben

Opfer dürfen nicht nur „Beweismittel“ sein

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht spricht im Interview mit dem WEISSEN RING über die Strafverschärfungen bei Missbrauchstaten und über den Kampf gegen Hass im Netz.

Foto: Christoph Soeder

Frau Ministerin Lambrecht, sind Sie jemals Opfer einer Straftat geworden?

So wie viele Politikerinnen, die sich gegen rechtsextreme Hetze und Gewalt engagieren, bekomme ich regelmäßig üble Drohungen. Diese sind oft voller Hass auf Frauen oder auf die Demokratie. Solche Drohungen bringe ich konsequent zur Anzeige. Aber als Politikerin kann ich damit leichter umgehen als Menschen, für die Hass-Attacken im Netz und auf der Straße bitterer Alltag geworden sind. Für diese Menschen müssen wir da sein und sehr viel entschiedener als früher gegen Hass und Hetze vorgehen.

Als Justizministerin sind Sie von Amts wegen vor allem für Täter zuständig. Stimmen Sie uns zu?

Nein, und das wäre auch ein völlig falsches Amtsverständnis. Richtig ist, dass die Täter oft die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber unsere Unterstützung und Solidarität gilt den Opfern von Straftaten. Mein Haus ist für die Strafprozessordnung zuständig. Darin haben die Rechte der Verletzten von Straftaten zentrale Bedeutung. Diese Rechte haben wir in den letzten Jahren immer weiter gestärkt. Erst vor wenigen Tagen habe ich einen Gesetzentwurf vorgelegt, um Zeugen besser vor Bedrohungen zu schützen. Genauso wichtig ist: Nur wer seine Rechte kennt, kann sie nutzen. Deshalb haben wir mit hilfe-info.de jetzt eine Online-Plattform mit wichtigen Infos, Ansprechpartnern und Unterstützungsangeboten vor Ort gestartet.

Aber die Strafverfolgung, das Strafrecht und auch die Strafprozessordnung stellen doch nach wie vor die Verursacher von Kriminalität in den Mittelpunkt, nicht die Betroffenen. Ganz konkret: Kommen die Opfer zu kurz im deutschen Recht?

Es ist in der Tat so, dass Verletzte schwerer Straftaten lange Zeit im Strafverfahren vor allem „Beweismittel“ waren. Es dauerte lange, bis man erkannte, dass es hier um Menschen mit traumatischen Erfahrungen, mit Schicksalen und Gefühlen geht, die unsere Unterstützung dringend benötigen. Ein Strafprozess ist eine Ausnahmesituation für die Betroffenen. Dass dieser Perspektivwechsel stattgefunden hat, ist auch dem Engagement des WEISSEN RINGS und vieler weiterer Opferhilfeeinrichtungen zu verdanken. Erst im vergangenen Jahr haben wir im Bundestag das Opferentschädigungsrecht grundlegend reformiert. Betroffene von Gewalttaten haben ab dem nächsten Jahr einen Anspruch auf Hilfe in Trauma-Ambulanzen, die in ganz Deutschland zügige psychologische Hilfen anbieten.

Werden ab dem 1. Januar 2021 tatsächlich flächendeckend Trauma-Ambulanzen eingerichtet sein? Also auch in ländlichen Regionen? Denn das Thema ist ja Ländersache. Was kann denn der Bund dafür tun, wie wollen Sie das sicherstellen?

Nahezu alle Bundesländer verfügen bereits über Trauma-Ambulanzen. Ab 2021 liegt es jedoch nicht mehr im Ermessen der Länder, ob sie Zugang zu den Trauma-Ambulanzen gewähren. Denn der Bund hat mit der Reform des Sozialen Entschädigungsrechts einen einklagbaren Anspruch von Betroffenen auf Leistungen der Trauma-Ambulanz geschaffen. Es besteht auch ein Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Fahrtkosten zur nächstgelegenen Ambulanz. Der Bund wird zudem bundeseinheitliche Qualitätsstandards in einer Verordnung festlegen, da geht es zum Beispiel um die Erreichbarkeit der Trauma-Ambulanzen.

,,Ich hab größte Hochachtung vor Menschen, die sich ehrenamtlich für Betroffene von Straftaten einsetzen. Ein großer Dank an sie alle!"

Christine Lambrecht
Beim WEISSEN RING bewerben sich immer wieder ehemalige Polizisten oder Staatsanwälte als ehrenamtliche Mitarbeiter. Ihre Motivation begründen sie damit, dass sie sich im Berufsleben nicht hinreichend um die Opfer hätten kümmern können. Was sagen Sie denen?

Ich habe größte Hochachtung vor Menschen, die sich ehrenamtlich für Betroffene von Straftaten einsetzen. Ein großer Dank an sie alle! Die tägliche Arbeit der Polizistinnen und Polizisten sowie der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte lässt die Betreuung der Opfer nicht immer so zu, wie es wünschenswert wäre. Das hat auch mit der hohen Arbeitsbelastung zu tun. Oftmals kann man allerdings schon mit geringem Aufwand Betroffene wirksam unterstützen, indem man sie gezielt auf ihre Rechte und Unterstützungsangebote aufmerksam macht. Dazu gehören Opferhilfeeinrichtungen und die Trauma-Ambulanzen.

Ein aktuelles Beispiel: Sie haben den Fonds für die Opfer des rechtsextremistischen Oktoberfest-Attentats als „wichtiges Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen“ bezeichnet. Warum dauerte es 40 Jahre, bis es dieses Zeichen gab?

Der Generalbundesanwalt hat in diesem Sommer die Ermittlungen abgeschlossen, nachdem sie vor einigen Jahren wiederaufgenommen worden waren. 40 Jahre nach der Tat gibt es nun endlich die klare Feststellung: Das Oktoberfest-Attentat war ein rechtsextremistischer Terroranschlag, der schwerste der deutschen Nachkriegszeit. Bei vielen Betroffenen wirken die Erinnerungen und Verletzungen dieses schrecklichen Anschlags bis heute nach. Der Bund, der Freistaat Bayern und die Stadt München haben sich nun entschlossen, mit dem Fonds in Höhe von 1,2 Millionen Euro ein weiteres Zeichen der Solidarität mit den Betroffenen zu setzen. Uns ist sehr bewusst, dass diese Hilfe sehr, sehr spät kommt. Umso wichtiger ist es, dass es sie jetzt geben wird.

Im regelmäßigen Austausch: Bundesjustizministerin Lambrecht mit dem Bundesvorsitzenden des WEISSEN RINGS, Jörg Ziercke (rechts), und Bundesvorstandsmitglied Gerhard Müllenbach, bei einem Gesprächstermin in Berlin. Foto: Soeder

Ein anderes aktuelles Thema ist die sexuelle Gewalt gegen Kinder. Nach den Schlagzeilen zu Lügde, Münster oder Bergisch Gladbach richtete sich auch hier Ihr Blick auf die Täter: Sie brachten Strafverschärfungen auf den Weg. Glauben Sie tatsächlich, Sie können damit Missbrauchstaten verhindern?

Um Kinder vor diesen entsetzlichen Verbrechen zu schützen, haben wir ein umfassendes Paket beschlossen. Dazu gehören deutlich schärfere Strafen und eine effektivere Strafverfolgung. Diese Maßnahmen greifen ineinander. Täter fürchten nichts mehr, als entdeckt zu werden. Den Verfolgungsdruck müssen wir deshalb massiv erhöhen. Dazu dienen auch die Strafschärfungen, die Verfahrenseinstellungen künftig ausschließen. Der Gesetzentwurf enthält aber auch wichtige Maßnahmen im präventiven Bereich. Wir werden besondere Qualifikationsanforderungen für Familienrichterinnen und Familienrichter, Jugendrichterinnen und Jugendrichter, Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälte sowie Verfahrensbeistände gesetzlich verankern. Wir werden auch sicherstellen, dass Kinder unter 14 Jahren vom Gericht grundsätzlich persönlich angehört werden und sich das Gericht einen persönlichen Eindruck vom Kind verschafft.

Ein Hauptproblem bleibt doch: Ein Kind muss sich im Durchschnitt sieben Mal an einen Erwachsenen wenden, bis ihm jemand zuhört und glaubt. Was kann eine Bundesjustizministerin dafür tun, dass Kindern mehr Gehör geschenkt wird?

Wir brauchen höchste Wachsamkeit und Sensibilität für Kinder, die gefährdet sind oder bereits Opfer von sexualisierter Gewalt wurden. Hier ist jeder und jede gefordert. Mein Gesetzespaket ist ein wichtiger Schritt, um Personen, die Umgang mit Kindern haben, wachzurütteln. Jugendämter, Schulen, Kindergärten oder Sportvereine müssen Kinder ernst nehmen und sensibel auf auffällige Wesensänderungen von Kindern reagieren.

Lambrecht gehört dem linken Parteiflügel der SPD an, sie gilt als ehrgeizig und durchsetzungsfähig. Als sie 2019 als Justizministerin auf Katarina Barley folgte, war das dennoch eine Überraschung. Foto: Soeder

Sexuelle Gewalt gegen Kinder soll künftig nicht als Vergehen, sondern als Verbrechen geahndet werden. Das hat Folgen für die kindlichen Opfer, die möglicherweise häufiger vor Gericht als Zeugen aussagen müssen. Wie wollen Sie diese Kinder vor Retraumatisierung schützen?

Wiederholte Vernehmungen machen es Kindern noch schwerer, das Entsetzliche, das sie erleben mussten, zu verarbeiten. Deswegen haben wir es Ende 2019 zur gesetzlichen Regel gemacht, dass die Vernehmung von allen Opfern von Sexualstraftaten und damit auch und gerade von minderjährigen Opfern bereits im Ermittlungsverfahren durch eine Richterin oder einen Richter erfolgt. Diese Vernehmung wird auf Video aufgezeichnet. Die Aussage kann später in der Hauptverhandlung verwertet werden. So können Mehrfachvernehmungen vermieden werden.

Laut Koalitionsvertrag sollten die Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Mit einem Passus, demzufolge das Wohl des Kindes „bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen“ ist. 2019 sagten Sie, das könne bis Ende 2020 geschehen sein. Inzwischen liegt das Projekt auf Eis. Schaffen Sie das noch bis zur nächsten Bundestagswahl?

Wer es mit dem Schutz von Kindern ernst meint, muss die Kinderrechte im Grundgesetz verankern. Bei jedem staatlichen Handeln muss das Kindeswohl im Blick sein. Jedem Kind muss zugehört werden. Das würden die Kinderrechte im Grundgesetz verdeutlichen. Über die Grundzüge haben wir uns in der Bundesregierung geeinigt. Jetzt muss die Union endlich den Weg dafür freimachen, dass Bundestag und Bundesrat über die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz beraten können.

Halle, Hanau, der Fall Lübcke, zuletzt ein antisemitischer Angriff in Hamburg: Wir haben es zunehmend mit Gewalttaten zu tun, deren Täter sich zuvor im Internet radikalisiert haben, aufgestachelt durch Hass und Hetze sowie Verschwörungsmythen. Hat der Staat diese Gefahrenquelle zu lange übersehen?

Die Radikalisierung, die wir im Netz erleben, ist schlimmer geworden. Es gibt eine Spirale von Drohungen, die bis hin zu dem rechtsextremistischen Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke geführt haben. Auch die Corona-Krise spült einmal mehr Wellen von Hass und kruden Verschwörungserzählungen ins Netz, ein großer Teil davon ist rassistisch oder antisemitisch. Damit beschäftigen wir uns sehr intensiv. 2017 gehörten wir zu den Ersten in Europa, die strikte Zeitvorgaben für soziale Netzwerke gesetzlich verankert haben. Offensichtlich strafbare Postings müssen innerhalb von 24 Stunden nach einem Hinweis gelöscht werden. Mit unserem Gesetzespaket gegen Hass und Hetze gehen wir noch deutlich weiter. Schwere Fälle von Hasskriminalität müssen künftig dem Bundeskriminalamt gemeldet werden. Diese Fälle müssen endlich konsequent vor Gericht landen.

Lambrecht: „Schwere Fälle von Hasskriminalität müssen endlich konsequent vor Gericht landen.“ Foto: Soeder

Ihr Gesetz gegen Hasskriminalität haben Sie selbst „von zentraler Bedeutung für die Verteidigung unserer Demokratie“ genannt. Aktuell steht es aus verfassungsrechtlichen Gründen auf wackligen Füßen, der Bundespräsident hat noch nicht unterschrieben. Was machen Sie, wenn die Unterschrift weiter ausbleibt?

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Monat nach dem Beschluss des Gesetzes im Bundestag eine Entscheidung veröffentlicht, die einzelne Bestimmungen des Gesetzes berührt. Die Bundesregierung arbeitet deshalb jetzt mit Hochdruck daran, die jüngsten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unter anderem zu den Befugnissen des Bundeskriminalamts umzusetzen.

Also haben Sie keinen Zweifel, dass das Gesetz zeitnah kommen wird?

Das hat höchste Priorität. Das weiß auch mein Kollege Horst Seehofer, dessen Ministerium die wesentlichen Änderungen auf den Weg bringen muss.

Mit diesem Gesetz gegen Hasskriminalität nehmen Sie vor allem die Betreiber der Internetseiten in die Pflicht, die Hass und Hetze zulassen. Woher nehmen Sie den Optimismus, dass ausgerechnet diejenigen, die seit Jahren keinerlei Verantwortungsbewusstsein zeigen, dem Treiben ein Ende setzen werden?

YouTube, Facebook und Co sind in der Verantwortung, sich nicht als Hetz-Plattformen missbrauchen zu lassen. Die Plattformen haben eine Verantwortung, der sie endlich gerecht werden müssen. Wenn sich immer mehr Menschen aus den Diskussionen in sozialen Netzwerken zurückziehen, weil sie keine Lust mehr haben auf Hass und Hetze, dann schadet das auch dem Geschäft der Plattformen. Daher passiert dort auch endlich etwas. Doch das reicht noch nicht. Auf europäischer Ebene beraten wir weitere Schritte. Die Betreiber müssen endlich ganz klar gegen Rassismus, Frauenhass, Muslim- oder Judenfeindlichkeit auf ihren Plattformen vorgehen. Genauso wie gegen Verschwörungsmythen, die gerade in der Corona- Zeit Leben und Gesundheit von Menschen gefährden können.

Verlagern Sie nicht einfach Verantwortung? Wäre es nicht Aufgabe des Staates, mit eigenen Ermittlungsgruppen das Netz zu durchforsten, um Straftaten aufzudecken und anzuklagen?

Durch die Meldepflicht der sozialen Netzwerke bei Volksverhetzungen oder Morddrohungen wird es zu sehr viel mehr Ermittlungsverfahren kommen. Das BKA gibt die Fälle an die zuständigen Staatsanwaltschaften ab, die können konsequent ermitteln und anklagen.

,,Recht und Gesetz gelten im Internet genauso wie im analogen Leben. Wir müssen das Recht aber viel stärker als früher auch im Netz durchsetzen."

Christine Lambrecht
Das Internet entpuppt sich immer wieder als ein weitgehend verfolgungsfreier Raum. Sehen Sie überhaupt eine Chance, dessen Herr zu werden?

Recht und Gesetz gelten im Internet genauso wie im analogen Leben. Wir müssen das Recht aber viel stärker als früher auch im Netz durchsetzen. Dafür hat die Justiz zahlreiche Ermittlungsinstrumente wie etwa Onlinedurchsuchungen, die wir ermöglicht haben. Ich werde in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, der auch das Problem illegaler Plattformen im Internet, auf denen etwa Kinderpornografie, Drogen oder Waffen gehandelt werden, angeht.

Beispiel Kinderpornografie und Kindesmissbrauch: Im Ermittlungskomplex Bergisch Gladbach gibt es Tausende Verdächtige, bislang aber nur vereinzelte Anklagen. Ist die Justiz chancenlos gegen die digitale Kriminalität?

Die intensiven Ermittlungen zeigen, dass die Justiz diese schrecklichen Taten aufklären und die Täter überführen kann. Die Anwendbarkeit der Ermittlungsinstrumente weiten wir mit dem Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder weiter aus. Gleichzeitig erleichtern wir die Verhängung von U-Haft in diesen Fällen. Wir verdoppeln die Fristen, in denen Taten in das Führungszeugnis aufgenommen werden – auf 20 Jahre nach Verbüßung der Freiheitsstrafe. Zugleich schaffen wir ein besonderes Beschleunigungsgebot: Im Interesse der Kinder müssen die Strafverfahren mit besonderer Priorität geführt werden.

Besteht überhaupt so etwas wie Waffengleichheit? Gerade hat sich der EuGH abermals gegen die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen, die Ermittler für ein wichtiges Mittel im Kampf gegen Kinderpornografie und Kindesmissbrauch halten. Wie sehen Sie das?

Wenn der Europäische Gerichtshof die deutschen Regelungen bestätigt, können wir die Vorratsdatenspeicherung in diesem Bereich einsetzen. Die Vorratsdatenspeicherung ist eines, aber nicht das einzige Mittel zur Bekämpfung der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und der Kinderpornografie. Die Ermittlungserfolge der letzten Zeit zeigen, dass effektiv und konsequent ermittelt wird.

Auf der einen Seite steht der Datenschutz gegen diese Möglichkeit der Verbrechensbekämpfung. Auf der anderen Seite teilen Menschen freiwillig Millionen persönliche Daten in den sozialen Netzwerken, sammeln Internetkonzerne und andere Unternehmen alles an Daten, werden wir mit personalisierter Werbung zugespamt. Passen unsere Datenschutzgesetze noch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit?

Der Datenschutz hindert nicht die Verfolgung schwerer Straftaten. Hierfür enthält die Strafprozessordnung scharfe Eingriffs- und Überwachungsbefugnisse, die Gerichte anordnen können. Für alle anderen Bereiche gilt: Der Schutz der Privatsphäre ist in der digitalen Welt besonders wichtig. Wir wollen keine gläsernen Menschen, die mit jedem Klick noch mehr über sich preisgeben. Bürgerinnen und Bürger sollen selbst entscheiden können, welche persönlichen Daten von ihnen verwendet werden dürfen. Datenschutz ist ein Grundrecht – und Voraussetzung für Vertrauen in digitale Dienste. Hier bleibt bei vielen Anbietern viel zu tun. Wie es geht, haben wir mit der Corona-Warn-App gezeigt. Die App hilft, Infektionsketten zu durchbrechen, wird inzwischen von über 20 Millionen Bürgerinnen und Bürgern genutzt und schützt dabei strikt die Privatsphäre.

Transparenzhinweis:
Christine Lambrecht, 1965 in Mannheim geboren, ist seit 1982 Mitglied der SPD. Seit dem 27. Juni 2019 ist sie Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz. Im Interview mit dem WEISSEN RING spricht sie unter anderem über sexuelle Gewalt gegen Kinder, die mögliche Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz und zunehmende Hasskriminalität im Netz. Lambrecht war 1998 zum ersten Mal für den Wahlkreis Bergstraße als Abgeordnete in den Bundestag gewählt worden. Im September 2020 teilte ihr Wahlkreis mit, dass sie bei der Bundestagswahl 2021 nicht mehr antreten werde. In einem Schreiben an die SPD-Mitglieder der Region habe Lambrecht deutlich gemacht, „dass Politik als Beruf nur auf Zeit ausgeübt werden sollte“, hieß es damals.