Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Erstellt am: Freitag, 11. April 2025 von Gregor
Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die Einführung der Fußfessel nach dem Vorbild Spaniens. Foto: dpa

Im Kampf gegen Gewalt an Frauen setzt die Koalition unter anderem auf die „spanische Fußfessel“. Foto: dpa

Datum: 11.04.2025

Was die Koalition bei Opferhilfe und Prävention plant

Mit „Verantwortung für Deutschland“ haben Union und SPD ihren jetzt vorgestellten Koalitionsvertrag überschrieben. Die Pläne in dem 144 Seiten umfassenden Papier stehen „unter Finanzierungsvorbehalt“. Doch der Vertrag gibt die Leitlinien für die voraussichtliche Regierung vor, auch bei Themen wie Gewaltschutz. Was kündigen die Parteien an – und wie steht der WEISSE RING zu den Plänen?

Gewalt gegen Frauen

Das Bündnis verspricht, das Gewalthilfegesetz – das ab 2032 einen Rechtsanspruch auf kostenlosen Schutz und Beratung für Frauen und Kinder vorsieht – umzusetzen und die Gewaltschutzstrategie des Bundes zu einem „Nationalen Aktionsplan“ zu erweitern. Die Präventions-, Aufklärungs- und Täterarbeit solle verstärkt werden.

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Wir verschärfen den Tatbestand der Nachstellung und den Strafrahmen für Zuwiderhandlungen nach dem Gewaltschutzgesetz und schaffen bundeseinheitliche Rechtsgrundlagen im Gewaltschutzgesetz für die gerichtliche Anordnung der elektronischen Fußfessel nach dem sogenannten Spanischen Modell und für verpflichtende Anti-Gewalt-Trainings für Täter.“ Den Stalking-Paragraphen will die Koalition um das Verwenden von GPS-Trackern erweitern. Diese werden häufig missbraucht, um Frauen zu belästigen und zu kontrollieren.

Laut den jüngsten Zahlen für häusliche Gewalt waren im Jahr 2023 mehr als 70 Prozent der Betroffenen Frauen und Mädchen. Im Vergleich zum Vorjahr stieg der Wert um 5,6 Prozent auf 180.715 (2022: 171.076), teilte das Bundesfamilienministerium mit. Insgesamt wurden 360 Mädchen und Frauen getötet.

Um geflüchtete Frauen besser vor Gewalt zu bewahren, will die Regierung die Residenzpflicht und Wohnsitzauflage lockern. Diese hindern Betroffene oft daran, vom Täter wegzuziehen.

Den Strafrahmen für Gruppenvergewaltigungen möchte die Koalition erhöhen und prüfen, inwiefern sich „offensichtlich unerwünschte und erhebliche verbale und nicht-körperliche sexuelle Belästigungen“ härter bestrafen lassen.

 

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche

Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem (EHS), die Betroffenen eine wichtige, niedrigschwellige Unterstützung bieten, „führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrats fort“, schreibt die Koalition. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen, ist allerdings noch ungewiss.

Die Umsetzung des UBSKM-Gesetzes (Unabhängige Beauftragte für Sexuellen Kindesmissbrauch) will Schwarz-Rot gemeinsam mit den Ländern, Trägern und Einrichtungen unterstützen, vor allem im Hinblick auf die Pflicht der Institutionen, Missbrauchsfälle aufzuarbeiten und Schutzkonzepte zu schaffen.

Die sogenannten Childhood-Häuser in den Ländern – regionale, interdisziplinäre Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erfahren haben – möchte die Koalition mit Bundesmitteln fördern. Im Sorge- und Umgangsrecht soll häusliche Gewalt künftig stärker zu Lasten des Täters berücksichtigt werden; sie stelle eine Kindeswohlgefährdung dar.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die geplante Strategie „Kinder- und Jugendschutz in der digitalen Welt“. Ziel sei es, Eltern durch Wissensvermittlung zu stärken und Anbieter in die Pflicht zu nehmen. Schwarz-Rot will sich für eine verpflichtende Altersnachweise und sichere Voreinstellungen bei digitalen Geräten und Angeboten einsetzen.

  • Der WEISSE RING begrüßt die Pläne grundsätzlich, betont aber, auch hier sei die konkrete Ausgestaltung entscheidend.

 

Schutz und Unterstützung für Opfer

Die schon bestehende Kommission zur Reform des Sozialstaates, in der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten, wird voraussichtlich im vierten Quartal dieses Jahres ihre Ergebnisse präsentieren. Als Ziele geben Union und SPD etwa „Entbürokratisierung“, „massive Rechtsvereinfachung“ und „rascheren Vollzug“ aus. Sozialleistungen könnten zusammengelegt und pauschalisiert werden.

  • Der WEISSE RING gibt zu bedenken, dass dies auch zu Sparmaßnahmen und aufgrund der Pauschalisierung zu weniger „Einzelfallgerechtigkeit“ führen könnte.

Die Länge von Gerichtsverfahren soll möglichst verkürzt werden, „indem wir unter anderem den Zugang zu zweiten Tatsacheninstanzen begrenzen“, erklären Union und SPD. Bei Strafprozessen stellt die Koalition einen besseren Opferschutz in Aussicht; die audiovisuelle Vernehmung von minderjährigen Zeugen soll erleichtert werden.

  • Nach Auffassung des WEISSEN RINGS kann es je nach Fall sicherlich sinnvoll sein, den Instanzenzug zu begrenzen, es bedeutet aber immer auch eine Beschneidung des rechtlichen Gehörs. Eine Verbesserung des Opferschutzes wäre sehr gut, die genauen Pläne sind aber noch unklar.

Psychotherapeutische Angebote, die auch für Opfer von Straftaten wichtig sind, möchte die kommende Regierung ausbauen, gerade im ländlichen Raum. Dazu plant sie zum Beispiel eine Notversorgung durch Psychotherapeuten, wohnortnahe psychosomatische Institutsambulanzen und mehr digitale Behandlungsmöglichkeiten. Ein wesentliches Ziel sei, die Resilienz von Kindern und Jugendlichen zu stärken.

 

Innere Sicherheit

Die Koalition kündigt eine „Sicherheitsoffensive“ an, mithilfe von „zeitgemäßen digitalen Befugnissen“ und ausreichend Personal in den Behörden.

Zu den angekündigten Maßnahmen zählt eine dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, um Anschlussinhaber identifizieren zu können. Die Telefonüberwachung beim Wohnungseinbruchsdiebstahl soll leichter, die Funkzellenabfrage umfassender möglich sein.

Ein weiteres Vorhaben hängt mit Anschlägen wie in Mannheim und Aschaffenburg in diesem Jahr zusammen: „Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten, wie in der jüngsten Vergangenheit, wollen wir die frühzeitige Erkennung entsprechender Risikopotenziale bei Personen mit psychischen Auffälligkeiten sicherstellen. Hierzu führen wir eine gemeinsame Risikobewertung und ein integriertes behördenübergreifendes Risikomanagement ein.“

Um im Vorfeld Terrorangriffen, die mit „Alltagsgegenständen“ begangen werden, besser entgegenzuwirken, will Schwarz-Rot die Anwendung von Paragraf 89a im Strafgesetzbuch (StGB) – Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – ausweiten: auf den Fall, dass der Täter keinen Sprengstoff, sondern Gegenstände wie ein Messer oder ein Auto benutzen will.

Mit „allen Betroffenen und Experten“ beabsichtigt die Koalition, das Waffenrecht zu evaluieren und gegebenenfalls zu ändern, um zu verhindern, dass Menschen illegal Waffen besitzen oder Extremisten und Menschen „mit ernsthaften psychischen Erkrankungen“ sich legal welche beschaffen können. Bei möglichen Gesetzesänderungen gilt: Das Recht soll „anwenderfreundlicher“ werden, zudem müsse bei den Vorgaben die „Verhältnismäßigkeit“ gewahrt bleiben.

  • Um Amokläufe mit Waffen zu unterbinden, werden die Maßnahmen wohl nicht reichen, befürchtet der WEISSE RING.

Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität strebt die Koalition eine vollständige Beweislastumkehr beim Einziehen von Vermögen an, dessen Herkunft nicht geklärt ist.

Ausländische Personen, die schwere Straftaten begehen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, sollen in der Regel ausgewiesen werden, etwa bei Delikten gegen Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder bei einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte.

Zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt ist eine Studie, die auch mögliche Gesetzesänderungen untersucht, geplant.

 

Digitale Gewalt

Die Koalition verspricht ein „umfassendes Digitales Gewaltschutzgesetz“. Damit wolle sie die rechtliche Stellung von Betroffenen verbessern und Sperren für anonyme „Hass-Accounts“ ermöglichen. Sie will zudem prüfen, ob Opfer und Zeugen in Strafverfahren darauf verzichten können, ihre Anschrift anzugeben, wenn die Verteidigung Akteneinsicht beantragt.

Im Cyberstrafrecht gelte es, Lücken zu schließen, beispielsweise bei „bildbasierter sexualisierter Gewalt“. Das Gesetz soll auch Deepfake-Pornografie erfassen, bei der Bilder von Gesichtern prominenter und nicht-prominenter Menschen mit Hilfe von KI auf andere Körper montiert werden.

Online-Plattformen sollen „Schnittstellen zu Strafverfolgungsbehörden“ zur Verfügung stellen, damit Daten, die für Ermittlungsverfahren relevant sind, „automatisiert und schnell“ abrufbar sind. Die Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Plattformen, die strafbare Inhalte nicht entfernen, sollen verschärft werden.

 

Angriffe auf die Demokratie

Die Koalition kündigt an, allen verfassungsfeindlichen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, egal ob Rechtsextremismus, Islamismus, auslandsbezogenem Extremismus oder Linksextremismus.

Hierzu planen die Parteien unter anderem, den Tatbestand der Volksverhetzung zu verschärfen. Wer zum Beispiel mehrfach deswegen verurteilt wird, könnte in Zukunft das passive Wahlrecht verlieren. Zudem will Schwarz-Rot eine Strafbarkeit für Amtsträger und Soldaten prüfen, die in geschlossenen Chatgruppen in dienstlichem Zusammenhang antisemitische und extremistische Hetze teilen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Fälle, die straffrei blieben: Gerichte vertraten die Auffassung, es handele sich um private Gruppen, wo es nicht strafbar sei, solche Inhalte zu verbreiten.

In den vergangenen Jahren haben die Angriffe auf Mandatsträger, Rettungs- und Einsatzkräfte sowie Polizisten deutlich zugenommen. Bei den politischen Amts- und Mandatsträgern stiegen die von der Polizei erfassten Attacken 2024 um 20 Prozent auf 4923. Deshalb wollen Union und SPD den „strafrechtlichen Schutz“ solcher Gruppen prüfen und eventuell erweitern. Darüber hinaus soll das Melderecht überarbeitet werden, um die Privatsphäre der Betroffenen besser zu schützen.

Zum zunehmenden Rechtsextremismus – allein bis zum 30. November 2024 wurden 33.963 Delikte im Bereich „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ und damit so viele wie noch nie registriert – schreibt die Koalition lediglich allgemein: „Der Polarisierung und Destabilisierung unserer demokratischen Gesellschaft und Werteordnung durch Rechtspopulisten und -extremisten setzen wir eine Politik der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Vielfalt, Toleranz und Humanität entgegen.“ Abgesehen von einem NSU-Dokumentationszentrum in Nürnberg werden kaum konkrete Maßnahmen genannt.

Im Kampf gegen Islamismus ist ein „Bund-Länder-Aktionsplan“ vorgesehen, zudem soll die „Task Force Islamismusprävention“ ein festes Gremium im Bundesinnenministerium werden und helfen, den Aktionsplan umzusetzen.

Mit Vereinen und Verbänden, die direkt oder indirekt von ausländischen Regierungen gesteuert und vom Verfassungsschutz beobachtet würden, werde der Bund nicht zusammenarbeiten. Sie sollen verpflichtet werden, offenzulegen, wie sie sich finanzieren.

Als weiteres Ziel gibt die Koalition die Sicherheit jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger an, sowohl im digitalen als auch im öffentlichen Raum, etwa an Schulen und Hochschulen. Hierzu sollen unter anderem Lehrer darin geschult werden, Antisemitismus zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Projekte zur demokratischen Teilhabe sollen weiterhin vom Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ profitieren.

 

Diskriminierung

Die Arbeit der Antidiskriminierungsstelle soll fortgeführt, der Nationale Aktionsplan gegen Rassismus so überarbeitet werden, dass dieser „in seinen verschiedenen Erscheinungsformen“ bekämpft werden könne. Einen besonderen Schutz verspricht die Koalition nationalen Minderheiten, etwa der dänischen Minderheit oder den deutschen Sinti und Roma. Außerdem sollen alle unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung „gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei“ leben können. Dazu, heißt es, „wollen wir mit entsprechenden Maßnahmen das Bewusstsein schaffen, sensibilisieren und den Zusammenhalt und das Miteinander stärken“. Wie genau all dies geschehen soll, steht nicht im Vertrag.

Zwischen 2021 und 2023 waren mehr als 20.000 Fälle von Diskriminierung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gemeldet worden. Die Unabhängige Bundesbeauftragte, Ferda Ataman, kritisierte, das deutsche Antidiskriminierungsrecht sei unzureichend.

 

Menschenhandel

„Deutschland ist zu einer Drehscheibe beim Menschenhandel geworden“, die Opfer seien fast ausschließlich Frauen, schreibt die Koalition am Anfang ihres Kapitels zum Prostituiertenschutzgesetz. Eine Evaluation über die Wirkung des Gesetzes soll bis Juli dieses Jahres vorgestellt werden. Bei Bedarf will das schwarz-rote Bündnis auf eine Experten-Kommission zurückgreifen, um gesetzlich nachzubessern.

  • Dass sich die Koalition dem Thema widmen will, ist nach Ansicht des WEISSEN RINGS positiv, aber auch hier ist die konkrete Umsetzung noch unklar.

Zu anderen Formen von Menschenhandel, etwa zur Ausbeutung der Arbeitskraft, sagt die Koalition nichts. Aus dem letzten Lagebild des Bundeskriminalamtes zu Menschenhandel und Ausbeutung geht hervor, dass 2023 319 Verfahren wegen sexueller Ausbeutung, 37 wegen Arbeitsausbeutung und 204 wegen Ausbeutung Minderjähriger geführt wurden. Experten gehen in diesem Bereich von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene unter anderem aus Angst vor ihren Ausbeutern nur selten Anzeige erstatten.

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Erstellt am: Montag, 31. März 2025 von Gregor

Union und SPD wollen die spanische Variante der Fußfessel im Bund einführen. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Datum: 31.03.2025

Auch Schleswig-Holstein bekämpft häusliche Gewalt mit „spanischer Fußfessel“

Nachdem der Landtag eine Gesetzesreform beschlossen hat, kann die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell in Schleswig-Holstein eingesetzt werden. Die Landesregierung verspricht sich davon einen besseren Schutz. Die Zahl der Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, ist auch im Norden gestiegen.

Kiel/Mainz. Im Kampf gegen häusliche Gewalt setzen die Bundesländer zunehmend auf die elektronische Fußfessel nach spanischem Vorbild. Kürzlich hat der schleswig-holsteinische Landtag mit breiter Mehrheit – nur die FDP stimmte nicht zu – eine entsprechende Gesetzesreform verabschiedet. Bislang konnte die sogenannte Aufenthaltsüberwachung in dem Bundesland nur bei terroristischen Gefährdern genutzt werden, künftig ist das auch bei Partnerschaftsgewalt und Stalking möglich. Voraussetzung ist ein richterlicher Beschluss. Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) sagte in Kiel, die Fußfessel werde Lücken beim Schutz schließen und diesen verbessern.

Wie bundesweit ist in Schleswig-Holstein die Zahl der von häuslicher Gewalt Betroffenen gestiegen, im vergangenen Jahr um 8,8 Prozent auf 9.360. Gut 71 Prozent der Opfer waren Frauen. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervor.

Beim spanischen Modell kann die Fußfessel des Täters mit einer GPS-Einheit kommunizieren, die das Opfer bei sich trägt. Dadurch wird sowohl der Standort des Täters als auch der Betroffenen überwacht, und die Sperrzonen sind nicht fest, sondern dynamisch. Der Alarm wird ausgelöst, falls sich der Überwachte und das Opfer einander nähern.

In Spanien wurde keine der geschützten Frauen getötet

Sachsen und Hessen setzen die neue Technik schon ein. Das Saarland hat ein Gesetz dafür verabschiedet, und in weiteren Bundesländern wird derzeit darüber diskutiert, etwa in Niedersachsen, wo ein Gesetzentwurf in Arbeit ist.

Die noch amtierende Bundesregierung hatte zu Jahresbeginn ein neues Gewaltschutzgesetz auf den Weg gebracht, das die elektronische Aufenthaltsüberwachung vorsieht. Der alte Bundestag hat den Entwurf jedoch nicht mehr beschlossen. Laut dem Papier könnten Familiengerichte in Risikofällen für drei Monate eine Fußfessel anordnen und die Maßnahme um drei Monate verlängern.

Der WEISSE RING hatte sich auf Bundes- und Länderebene intensiv für die elektronische Fußfessel nach spanischem Modell eingesetzt, unter anderem mit Brandbriefen an die Bundesregierung und einer Petition.

Die Redaktion des WEISSER RING Magazins hatte in einer umfassenden Recherche aufgezeigt, wie der Staat Menschen besser vor häuslicher Gewalt schützen könnte und wie erfolgreich die Aufenthaltsüberwachung in Spanien eingesetzt wird: Dort wurde seitdem keine Frau, die mit Hilfe der Fußfessel geschützt wurde, getötet. Insgesamt ging die Zahl der getöteten Frauen um 25 Prozent zurück.

Ungefragt ausgenutzt

Erstellt am: Mittwoch, 12. März 2025 von Selina

Ungefragt ausgenutzt

True Crime boomt. Journalisten erzählen „wahre Verbrechen“ nach, in Podcasts von Lokalzeitungen oder in großen Live-Shows. Fast immer geht es um Mord. Das Publikum ist begeistert, für die Hinterbliebenen aber ist es oft der blanke Horror, der sie buchstäblich zum zweiten Mal verletzt.

Eine Collage mit dem Anwalt Alexander Stevens und der Moderatorin Jacqueline Belle, die ein gemeinsamen True-Crime-Format haben. Zur Collage gehört noch ein Richterhammer, ein Mikrofon und große Menschenmengen in einem Stadion.

Die Show „Tödliche Liebe“ mit den Moderatoren Jacqueline Belle und Alexander Stevens verspricht dem Publikum „ein einzigartiges und fesselndes Erlebnis“ mit Tatortfotos und Akteneinsicht.

Die Angehörigen
(Ostfriesland)

Sie will am Samstag nur schnell zum Friseur, da sieht sie das Plakat im Schaufenster des örtlichen Zeitungshauses: Werbung für den True-Crime-Podcast „Aktenzeichen Ostfriesland“. Auf dem Plakat stehen ein QR-Code und drei kurze Sätze zum Mord an ihrer Schwester, „so eklig, dass ich sie nicht wiederholen will“, sagt Sophia* (27) später.

Im Internet findet sie einen Zeitungsartikel zum Podcast. Das Foto zum Artikel zeigt den Sarg ihrer Schwester. Sophia sieht ihn zum ersten Mal: 2008, als der Mord geschah, durfte sie nicht mit zur Beerdigung, sie war erst zehn Jahre alt. Sie bekommt eine Panikattacke, ihr Herz rast, sie schwitzt. Sie steigt ins Auto und fährt zur nächsten Polizeistation, „machen Sie doch etwas!“, schreit sie den Polizisten an, sie weint. Am Montag kann Sophia nicht zur Arbeit gehen, ihre Psychotherapeutin muss sie auffangen.

Sarah* (39), ihre Schwester, hat den Podcast bereits ein paar Tage vor Sophia entdeckt. Freunde haben ihr die Facebook-Werbung weitergeleitet, „mach das nicht an“, warnten sie. Natürlich macht sie es trotzdem an, es ist doch ihr Fall: der brutale Mord an ihrer Schwester, der Kummer der Familie, die Mutter, die an dem Tag ein Stück mitgestorben sei. Sie hört nur kurz zu, sofort sieht sie sich 16 Jahre zurückversetzt.

„Es fühlte sich an wie an dem Tag, als das alles passiert ist“, sagt sie später: die Angst, die Panik, der Schmerz. Und der Druck: Sie muss ihre Familie schützen. Die Schwester, die Mutter, der Vater – sie dürfen nicht von dem Podcast erfahren! Sarah erleidet einen Nervenzusammenbruch.

Leer ist eine kleine Stadt, Sarah kann ihre Familie nicht schützen. Sophia fährt zum Friseur, Nachbarn erzählen den Eltern von dem Podcast.

Die Angehörige
(Oberbayern)

Ein neuer Start an einer neuen Schule, eine neue Chance, niemand hier kennt ihre Geschichte. Barbara (38) hat ihren Mädchennamen abgelegt, sie hat eine Auskunftssperre für ihre Adresse beantragt. Auch sonst geht es ihr gut: Zum ersten Mal seit dem Mord an ihrer Zwillingsschwester hat sie der bevorstehende Jahrestag nicht aus der Bahn geworfen. Ausgerechnet jetzt erfährt Barbara von dieser True-Crime-Show: eine große Tournee, Zehntausende Zuschauer, im Mittelpunkt der Fall ihrer Schwester. Seit Tagen kann sie nachts nicht schlafen, jetzt sitzt sie mit Herzrasen und Flashbacks im Lehrerzimmer in der Konferenz.

In ihrer früheren Schule hatte die Polizei ihr die Todesnachricht überbracht. In der neuen Schule versucht sie, ihr Zittern zu verbergen. Nicht in Tränen auszubrechen. Nicht rauslaufen zu müssen. Es geht nicht. Barbara muss ihren neuen Kollegen erklären, wer sie ist und was damals geschah. „Ich hatte gedacht, ich könnte hier endlich neu anfangen“, sagt sie.

Am Nachmittag geht sie zur Gitarrenstunde, um sich abzulenken. Sie kann die Gitarre nicht festhalten, so sehr zittert sie.

Die Live-Show
(Hannover)

„Viel Spaß!“ wünscht der Mann an der Kartenkontrolle, „viel Spaß!“ wünscht die Frau am Getränketresen. Rund tausend Menschen drängen sich gut gelaunt ins „Theater am Aegi“ in Hannover, sie prosten sich zu mit Sekt und Bier.

„Tödliche Liebe“ heißt die Live-Show zum True-Crime-Podcast des Radiosenders Bayern 3, die Veranstalter versprechen ein „einzigartiges und fesselndes Erlebnis“, „mit Tatortfotos, Akteneinsicht und der Möglichkeit, live Fragen zu stellen“. Eintrittskarten kosten zwischen 39,90 und 49,90 Euro, VIP-Pakete gibt es ab 99,90 Euro. Gut 100 Termine sind geplant in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die Kommentare im Internet sind positiv: „Super lustiger Abend für Fans und solche, die es noch werden wollen!“, lobt ein Fan aus Wien.

Auf der Bühne stehen zwei breite Sessel und ein Spaten, aus den Lautsprechern sickert dräuende Musik, und schon brandet Jubel auf: Jacqueline Belle (35) und Dr. Alexander Stevens (43) treten ins Scheinwerferlicht, Gastgeber des Bayern-3-Podcasts und Stars des Abends. Die nächsten eineinhalb Stunden wird es um einen Mord in Bayern gehen, um den Mord an Barbaras Zwillingsschwester. Belle und Stevens haben die Namen von Opfer und Täter geändert, „zum Schutz der Angehörigen“, sagt Belle, der Rest der Handlung folgt eng dem Original. True Crime bedeutet ja „wahre Verbrechen“.

KI-Bilder zeigen ein junges Paar, Laura und Stefan heißen die beiden hier, sie wollen bald heiraten. Dann verschwindet Laura spurlos. Der KI-Film stoppt, Cliffhanger.

„Habt ihr eine Idee, was mit Laura passiert ist?“, fragt Jacqueline Belle.

„Tot!“, ruft ein Witzbold in den Saal. Großes Gelächter.

Die wahre Laura verschwand 2012, 2013 wurde ihr Leichnam gefunden. Der wahre Stefan geriet in Verdacht, Ermittlungen wurden aufgenommen, eingestellt, wieder aufgenommen, wieder eingestellt. Die Familie der wahren Laura kämpfte dafür, dass der Fall weiterverfolgt wird. 2020 wurde dem wahren Stefan der Prozess gemacht. Das Gericht verurteilte ihn wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest.

„Wie würdet ihr entscheiden, wenn ihr in diesem Gerichtssaal wäret?“

In der True-Crime-Show bleibt der Fall offen. Jacqueline Belle spielt die Rolle der Anklägerin, Alexander Stevens die des Strafverteidigers. Immer wieder bringt er Entlastendes für Stefan vor. Zum Beispiel zum Spaten, der am Fundort lag und für den sich ein Kaufbeleg bei Stefan fand: „Ich verrate dir einen uralten Strafverteidiger-Trick: nichts glauben, was dir die Polizei erzählt!“ Gelächter.

Das Show-Publikum darf mitraten und mit dem Smartphone Richter spielen.

„Hat Stefan mit dem Verschwinden von Laura zu tun?“„Ja“, sagen 58 Prozent, „Nein“ 42 Prozent.

Es wird Zeit für den Höhepunkt der Show. Belle und Stevens haben mit dem wahren Stefan im Gefängnis ein Interview geführt. Kein Laut ist zu hören im Saal, als der Mörder seine vom Gericht widerlegte Lüge wiederholt, es sei doch nur ein Unfall gewesen.

„Wie würdet ihr entscheiden, wenn ihr in diesem Gerichtssaal wäret?“

Knapp ein Viertel der Zuschauer hält Stefan, in Wahrheit ein rechtskräftig verurteilter Mörder, für unschuldig.

Die Angehörige
(Oberbayern)

„Ins Loch gefallen“ sei sie, als sie vom Inhalt der Show erfahren habe, sagt Barbara, die Zwillingsschwester der wahren Laura. Das Video mit dem Mörder, die Verteidigerrolle von Stevens, die Abstimmung im Saal, „das stellt alles infrage, was meine Familie erreicht hat“.

Wenige Wochen vor dem Start der Show habe Jacqueline Belle mit ihr telefoniert und um eine Stellungnahme für die Show gebeten, sagt Barbara. Sie habe Belle gebeten, auf die Darstellung ihres Falls zu verzichten. „Das letzte Gespräch mit ihr habe ich heulend beendet.“ Sie besucht die Show nicht selbst, sie will sich schützen, aber sie lässt sich den Inhalt von Bekannten schildern. „Jetzt weiß ich, dass sie auf unseren Fall gar nicht verzichten konnten: Dann hätten sie ja keine Show mehr gehabt.“

Eine Collage mit dem Logo des Podcasts "Aktenzeichen Ostfriesland", ein Foto von einem Publikum und einer Justitia-Statue.

„True Crime funktioniert“, sagt der Chefredakteur: „Aktenzeichen Ostfriesland“ ist der erfolgreichste Podcast der Zeitungsgruppe Ostfriesland – „mit riesigem Abstand“. Mit True Crime erreicht der Verlag junge Leser und bindet sie an die Zeitung.

Barbara schaltet eine Anwältin ein, die ein langes Schreiben an den Bayerischen Rundfunk (BR) aufsetzt. Unter anderem fordert sie, dass keine Bilder aus der Originalakte in der Show gezeigt werden. Es geht unter anderem um ein Bild von der Unterwäsche ihrer Schwester.

Lang ist auch die Antwort aus der Rechtsabteilung des BR, eher knapp der Inhalt: Der BR könne als Lizenzgeber der Show nicht in das Bühnenprogramm eingreifen, sehe aber auch keinen Anlass dafür. Opferrechte würden nicht verletzt, das Leid der Angehörigen nicht relativiert.

Aber: Die Moderatoren der Show hätten zugesagt, künftig keine Originalbilder aus der Akte mehr zu verwenden.

Der Podcast
(Ostfriesland)

Stimme 1: „Hier passieren durchaus auch Morde, Totschläge, allerlei Gewaltdelikte … das sticht natürlich trotzdem komplett heraus.“

Stimme 2: „Ich war ehrlich gesagt ziemlich geflasht … dass ich gedacht habe: krass … das hier in Leer?!“

Stimme 1: „So viel können wir, glaube ich, schon mal sagen, es sind wirklich Abgründe, die sich da auftun, und auch verstörende Details.“

Stimme 2: „Bleibt dran, es bleibt spannend!“

Die beiden Lokaljournalisten der Zeitungsgruppe Ostfriesland sind fasziniert. Der 16 Jahre zurückliegende Mordfall, den sie im Zeitungsarchiv entdeckt haben, der Mord an Sophias und Sarahs Schwester, ist besonders: besonders verstörend, besonders grausam, besonders spektakulär. Fünf Folgen nehmen sie sich Zeit, die Geschehnisse im Podcast „Aktenzeichen Ostfriesland“ nachzuerzählen.

Im Lokaljournalismus funktionieren True-Crime-Podcasts zumeist so: Zwei Zeitungsjournalisten sprechen über das, was sie im Zeitungsarchiv recherchiert haben. So ist es auch hier, die Journalisten spekulieren über eine mögliche Beziehung von Opfer und Täter, über das mögliche Motiv des Täters, über seinen möglichen Suizid. Antworten können sie nicht geben, der Täter starb am Tag der Tat bei einem Autounfall, juristisch aufgearbeitet wurde der Mord deshalb nie.

„Bleibt dran, es bleibt spannend!“

Die Folgen heißen „Der Crash“ oder „Die Beerdigung“, jeder Folge steht eine Triggerwarnung voran: „Die Inhalte, die wir schildern, können belastend und retraumatisierend sein. Wenn du befürchtest, dass dir das nicht guttun könnte, hör bitte nicht weiter.“ Vor Facebook-Werbung, vor Schaufenster-Plakaten, vor gesprächigen Nachbarn wird nicht gewarnt.

In der letzten Folge sprechen die Journalisten über „Die Berichterstattung“.

Stimme 1: „Klar, natürlich konnte man nicht mehr mit (dem Mordopfer) in Rücksprache treten, das liegt in der Natur der Sache dieses schrecklichen Ereignisses. Aber es geht ja auch viel um die Angehörigen, die Hinterbliebenen und so.“

Stimme 2: „Die Angehörigen müssen beklagen, dass ihr Kind gestorben ist, und auch noch auf eine brutale Art und Weise getötet worden ist … und dann müssen sie diese Öffentlichkeit noch ertragen. Ich weiß von vielen dieser Familien, dass die das nicht geschafft haben. … Und da muss man auch wirklich jedes Mal abwägen: Was kann man noch machen und was auch nicht?“

Die Angehörigen
(Ostfriesland)

Für Sophia und Sarah steht fest: Was man nicht machen kann, das ist so ein Podcast.

Beide Schwestern haben eine diagnostizierte Posttraumatische Belastungsstörung, beide haben unabhängig voneinander die Zeitung kontaktiert. „Ich habe den Reporter nur angeschrieben“, sagt Sophia. Auch andere meldeten sich bei der Zeitung und berichteten von der Belastung der Angehörigen durch den Podcast: ein damaliger Ermittler, ein Mitarbeiter des WEISSEN RINGS in Ostfriesland.

Der Zeitungsverlag reagierte auf die Kritik: Er stoppte die Werbung für den Podcast, er nahm die Plakate ab, er beendete die Social-Media-Kampagne. Er nahm Abstand von der Idee, jede Folge einzeln zu bewerben und zu veröffentlichen.

Nur eines tat der Verlag nicht: Er nahm den Podcast nicht aus dem Netz.

 

Auf einer roten Fläche ist mit weißen Kopfhörerkabeln ein Männchen gezeichnet. Es sieht aus wie ein Kreidemännchen das man von Tatorten kennt. Die Kopfhörer sollen auf True-Crime-Podcasts anspielen.

Die dunkle Seite des True-Crime-Booms

Wenn es immer mehr True-Crime-Formate gibt, die über wahre Verbrechen berichten, dann gibt es auch immer mehr Ver­brechensopfer, deren Geschichte öffentlich erzählt wird – und die dadurch vielleicht ein zweites Mal verletzt werden. Ein Lage­bericht zu True Crime in Deutschland.

Die Öffentlichkeit
(Mainz und Berlin)

Im Pressekodex des Deutschen Presserats heißt es: „Bei der Berichterstattung über Gewalttaten (…) wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab.“ Vor der Abwägung steht aber die Frage: Gibt es überhaupt ein Informationsinteresse der Öffentlichkeit an einem 16 Jahre zurückliegenden Mord in Ostfriesland oder an einem zwölf Jahre zurückliegenden Mord in Bayern?

Der Mainzer Journalismus-Professor Dr. Tanjev Schultz fordert „strenge Kriterien“ für True-Crime-Beiträge. „Ein Fall muss für die Gegenwart noch etwas bedeuten. Es muss – wieder oder weiterhin – aktuelle Aspekte geben“, schreibt er in einem Gastkommentar für das WEISSER RING Magazin. „Ohne eine Wende in einem Kriminalfall, ohne drängende aktuelle Fragen sind True-Crime-Beiträge oft nur dies: eine Verkaufsmasche.“

„Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren.“

Wie Schultz sieht der Berliner Medienanwalt Professor Dr. Christian Schertz ein „überwiegendes Informationsinteresse“ nur bei Straftaten der Zeitgeschichte, „die zur DNA der Bundesrepublik gehören“: etwa die RAF-Verbrechen oder die NSU-Morde. Hinter der „großen Zahl der Morde und Tötungsdelikte, die wieder ins Licht der Öffentlichkeit gezogen werden, obwohl sie abgeurteilt und abgeschlossen sind“, erkennt er keine journalistischen Motive, sondern ökonomische: „Das persönliche Schicksal von Menschen wird genutzt, um Einschaltquote, Auflage und Klickzahlen zu generieren“, sagt er im Interview mit dem WEISSER RING Magazin.

Der Chefredakteur
(Ostfriesland)

Lars Reckermann, 54 Jahre alt, hat wenig Zeit. Gestern war er in Berlin, Chefredakteurstagung; heute trifft er sich mit alten Kollegen in Oldenburg; morgen ist große Mitarbeiterversammlung in Leer. Unser Gespräch quetscht er zwischen Berlin und Oldenburg.

Wie alle Tageszeitungschefredakteure treibt Reckermann der Medienwandel um; die Titel der Zeitungsgruppe Ostfriesland haben seit Ende der 90er-Jahre mehr als 40 Prozent ihrer Druckauflage verloren. Deshalb experimentiert er wie so viele andere Chefredakteure mit digitalen Formen. Eine davon heißt Podcast – und der erfolgreichste Podcast der Zeitungsgruppe heißt „Aktenzeichen Ostfriesland“, sagt er begeistert, „mit riesigem Abstand“. Der Verlag verdiene kein Geld damit, er bekomme aber anderes von Wert: junge Menschen unter 40! Eine hohe Durchhör-Quote! Fans, eine Community! „Hier erleben Leute, für die Zeitung nur noch totes Papier ist, dass es uns auf anderen Kanälen gibt. True Crime funktioniert.“

Es gibt also ein Verlagsinteresse an dem 16 Jahre alten Mordfall. Gedeckt wird das laut Reckermann aber von einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit: „Ein so außergewöhnlicher Fall gehört zum historischen Gedächtnis der Stadt Leer und zur DNA einer Lokalzeitung.“

Der Chefredakteur sagt aber auch: „Die Kritik der Angehörigen hat uns sensibilisiert, da bleibt etwas hängen. Ich glaube, es wird in Zukunft ein bisschen anders laufen bei uns.“ Wie anders, das weiß er noch nicht.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk
(München)

Die Abstimmung mit dem Smartphone. Die Kritik am rechtskräftigen Urteil. Das Mörderinterview aus dem Gefängnis. Der missachtete Wunsch der Zwillingsschwester, den Mord bitte nicht zum Gegenstand der Show zu machen. Verstößt das nicht gegen den Pressekodex? Gegen ein sensibles und ethisches Vorgehen, für das Bayern 3 sich nach eigenen Angaben einsetzt? Schürt das nicht Zweifel am Rechtsstaat?

Wir schicken einen Fragenkatalog an den Bayerischen Rundfunk.

„Im Gegenteil“, antwortet Bayern 3 aus München: „Durch das Programm werden ja gerade Einblicke in unsere Gerichtsbarkeit gewährt, die üblicherweise in dieser Tiefe Nicht-Juristen nicht bekannt sind.“ Die Show zeige, wie das Rechtssystem funktioniere. Die Urteilskritik sei „durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit“ ebenfalls „Teil des Rechtsstaats“. So wie letztlich auch das Mörderinterview: Bei den dort wiederholten Aussagen handele es sich „um die Wiedergabe eines Teils des Prozesses“.

Die Show biete „juristische Einordnung und Erklärung“, mehr noch: „Durch die einerseits juristisch-journalistische, andererseits sehr empathische Aufbereitung erfährt das schwierige, aber wichtige Thema ,Femizid‘ anhand dieses exemplarischen Falles Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.“

Es sei „mit einem besonderen Maß an Sensibilität und Fingerspitzengefühl“ gearbeitet worden. Für die Show habe man die Namen von Täter und Opfer geändert, und man zeige inzwischen keine Originalfotos mehr, „um den Wünschen der Familie noch mehr zu entsprechen“. True Crime im Dienste der Allgemeinheit?

Die Angehörigen
(Oberbayern und Ostfriesland)

Es gehe wieder los, sagt Barbara. Seit die Show laufe, versuchten Journalisten, sie zu kontaktieren: über Kollegen, Bekannte, ihre Anwältin. Neue Berichte über den alten Fall erscheinen. „Und dann sitzt man da abends und bricht zusammen. Und der Partner muss einen auffangen.“

Was wünscht sie sich?

„Eine bessere Rechtsgrundlage“, sagt Barbara. „Wenn das Schlimmste passiert, wenn jemand stirbt, dann steht das Opfer nach zehn Jahren ohne Schutz da.“

„Ich wünsche mir, dass der Podcast gelöscht wird“, sagt Sophia.

„Vielleicht wäre schon etwas gewonnen, wenn man es anders machen würde“, überlegt Sarah, ihre Schwester. „Wenn man wenigstens versuchen würde, die Angehörigen zu kontaktieren, bevor man so eine Welle lostritt.“

Es sei doch so, sagt Barbara: „Die haben eine erfolgreiche Show, die schlafen gut. Ich liege nachts wach und muss es aushalten.“

*Namen geändert

Transparenzhinweis:
In der Show „Tödliche Liebe“ wurde bislang auf die Hilfsangebote des WEISSEN RINGS hingewiesen, die Veranstalter sammelten zudem Spenden für den Verein. Der WEISSE RING hatte auf Anfrage von Bayern 3 Informationsmaterial und eine Spendensammelbox zur Verfügung gestellt. Inhalt und Ablauf der Show waren dem Verein zum Zeitpunkt der Anfrage nicht bekannt. Autor Karsten Krogmann und Lars Reckermann, Chefredakteur der Zeitungsgruppe Ostfriesland, haben zwischen 2016 und 2019 bei der „Nordwest-Zeitung“ zusammengearbeitet.

Auch Sprache ist ein Messer 

Erstellt am: Montag, 10. März 2025 von Selina
Salman Rushdie sein Buch "Knife".

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Auch Sprache ist ein Messer 

Salman Rushdie
„Knife – Gedanken nach einem Mordversuch“
Penguin Verlag, 256 Seiten, 25 Euro 

Am 14. Februar 1989 rief der iranische Revolutionsführer Chomeini die Muslime in aller Welt auf, den Schriftsteller Salman Rushdie zu töten, Autor des Buches „Die satanischen Verse“.

33 Jahre und 16 Bücher später, am 12. August 2022, stürmt im Amphitheater von Chautauqua ein junger Mann zur Bühne, wo Rushdie, mittlerweile 75 Jahre alt, spricht. Der Schriftsteller sieht den Mann im Augenwinkel kommen; es ist das Letzte, was sein rechtes Auge sehen wird. 15-mal sticht der Angreifer zu, sein Messer trifft Hand, Hals, Leber, Unterleib, Auge.

Rushdie überlebt – und sticht schon bald zurück, mit Worten: „Auch Sprache ist ein Messer“, schreibt er. „War ich unvermutet in einen Messerkampf geraten, war Sprache womöglich die Waffe, mit der ich mich wehren konnte.“ Sprache, so Rushdie, könne die Welt aufschneiden und ihre Bedeutung zeigen, und genau das tut der Schriftsteller in seinem Buch „Knife“, Messer. Er legt die Folgen des Verbrechens frei, zeigt seine Gefühle: den Schmerz, die Angst, die Scham.

18 Tage lang, „die längsten achtzehn Tage meines Lebens“, rang Rushdie auf der Intensivstation um sein Leben. Ihm wurde klar, dass er über das Attentat schreiben muss. Schreiben als Therapie, der Gedanke behagte ihm nicht, „Schreiben ist Schreiben und Therapie ist Therapie“, notiert er später. Aber da schreibt er längst, es geht nicht anders.

„Knife“ zeigt, schmerzhaft auch für den Leser, die „körperlichen Demütigungen“, die der Verletzte ertragen muss. Den Verlust der Autonomie. Die Zumutungen, denen ihn „Dr. Auge, Dr. Hand, Dr. Stich, Dr. Schnitt, Dr. Leber, Dr. Zunge“ aussetzen. Rushdie erinnert sich, sich „matt“ gefühlt zu haben, „erschöpft, deprimiert, fassungslos, krank, schwach“. Nur an ein Gefühl erinnert er sich nicht: Wut. „Wut kam mir wie ein sinnloser Luxus vor. Wut nutzte mir nichts; ich hatte mich um Wichtigeres zu kümmern.“

Wichtiger ist es für ihn, zu verstehen, und dafür nutzt er das Mittel, das ihn als Schriftsteller berühmt gemacht hat: die Fantasie. Er stellt sich einen Dialog mit seinem Attentäter vor. 27 Sekunden lang stach der Mann auf den hilflosen Schriftsteller ein, seitenlang kehrt der Schriftsteller nun das Machtverhältnis um und schlägt mit Worten auf den Attentäter ein, den er „A.“ nennt, „A. wie Arschloch“. Er spricht mit ihm über Gott und Glauben, über Liebe und Leben. „Untermotiviert“ kommt ihm die Tat seines „gescheiterten Mörders“ vor. Fast gelangweilt beendet er schließlich das Gespräch: „Ich habe nicht länger die Energie, ihn mir vorzustellen, so wie er nie in der Lage war, sich mich vorzustellen.“

Auf Gewalt habe er mit Kunst antworten wollen, so Rushdie. Am Ende seines nachdenklichen und klugen, deshalb so wertvollen Buches steht er wieder auf der Bühne in Chautauqua und fühlt sich: ganz. Das Verbrechen hat ihn nicht zerbrochen.

penguin.de/buecher/salman-rushdie-knife

„Aussage hat mich und meine Familie sehr befremdet“

Erstellt am: Donnerstag, 27. Februar 2025 von Sabine

Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

Datum: 27.02.2025

„Aussage hat mich und meine Familie sehr befremdet“

Walter Lübcke war 2019 aufgrund seines Einsatzes für Geflüchtete von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Seine Witwe Irmgard Braun-Lübcke kritisiert aktuelle Äußerungen von Merz und ruft zu Engagement für die Demokratie auf.

Mainz – „Die Aussage von Friedrich Merz am Samstag beim gemeinsamen Wahlkampfabschluss der CSU und CDU in München hat meine Familie und mich sehr befremdet und ich möchte sie so nicht stehen lassen“, schreibt Irmgard Braun-Lübcke, die Witwe des von einem Rechtsextremisten ermordeten CDU-Politikers Walter Lübcke, in einer aktuellen Stellungnahme. Anders als Merz behauptete, habe es nach der Ermordung ihres Mannes „ein starkes, gesellschaftlich breites Bekenntnis zu unserer Demokratie und ihren Werten“ gegeben.

Merz hatte bei seinem Auftritt als Spitzenkandidat der CDU gesagt: „Ich frage mal die Ganzen, die da draußen rumlaufen, Antifa und gegen Rechts: Wo waren die denn, als Walter Lübcke in Kassel ermordet worden ist von einem Rechtsradikalen? Wo waren die da?“

Braun-Lübcke stellt klar: In ihrer Heimatstadt Wolfhagen, in Kassel und in vielen weiteren Städten und Gemeinden in ganz Deutschland gingen viele Menschen auf die Straße – linke, liberale und konservative Demokraten: „Gemeinsam haben sie sich klar gegen Gewalt, Hass und Hetze sowie eindeutig für Demokratie, Freiheit und Menschlichkeit positioniert. Dies gab uns als Familie sehr viel Kraft und zeigte, wir sind nicht allein, du bist nicht allein, wir treten gemeinsam ein für den Bestand unserer Demokratie“, erklärt die Frau des früheren Kasseler Regierungspräsidenten, die als Lehrerin arbeitete. Sie waren fast 40 Jahre verheiratet und haben zwei gemeinsame Söhne.

Engagierte Frau mit Haltung: Hier nimmt Irmgard Braun-Lübcke an einem Runden Tisch zu politisch motivierter Gewalt teil, bei dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Eröffnungsrede hielt. Foto: Annette Riedl/dpa

Walter Lübcke war 2019 aufgrund seines Einsatzes für Geflüchtete von einem Rechtsextremisten erschossen worden. Zuvor war im Netz gegen ihn gehetzt und zu Gewalt aufgerufen worden. Das Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte den Mörder 2021 zu lebenslanger Haft und stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Während ihrer Aussage vor Gericht mahnte Irmgard Braun-Lübcke: „Aus Worten werden Taten.“

Jetzt stellt sie Merz’ Äußerungen und rhetorische Fragen nicht nur richtig, sondern sendet auch einen starken Appell: „Heute, in dieser schwierigen Zeit, in der so Vieles, was bisher selbstverständlich war, ins Wanken gerät oder keine Gültigkeit mehr hat, sind wir alle mehr denn je gefordert, insbesondere die Politik, die Menschen zusammenzuführen und gemeinsam für Werte einzutreten, wie es mein Mann getan hat.“

Ein Besuch in Magdeburg

Erstellt am: Mittwoch, 19. Februar 2025 von Sabine

Ein Besuch in Magdeburg

Seit dem Anschlag in Magdeburg melden sich Dutzende Betroffene beim WEISSEN RING. Was bedeutet solch ein Großereignis für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Gemeinsam betreuen sie Opfer des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt (v.l.): Uta Wilkmann, Friederike Bessel und Uwe Rösler vom weissen ring in Magdeburg

Es ist Freitag. Nur noch vier Tage bis Heiligabend. Die einen denken über die letzten fehlenden Geschenke nach, andere planen das Weihnachtsessen. Plötzlich leuchtet eine Eilmeldung auf dem Handy auf und vertreibt jeden Gedanken an Besinnlichkeit. Ein Mann ist mit seinem Auto 400 Meter über den Weihnachtsmarkt in Magdeburg gerast. Es gab zwei Tote und 70 Verletzte, heißt es in den ersten Nachrichten. In den nächsten Stunden und Tagen steigen die Zahlen immer weiter bis auf sechs Tote und 600 Betroffene.

„Der Anschlag geschah um 19 Uhr, ich hatte davon um 19.30 Uhr durch die Nachrichten im Fernseher erfahren“, erinnert sich Cornelia Stietzel. Sie ist die Außenstellenleiterin des WEISSEN RINGS in Magdeburg und damit die erste Anlaufstelle für Opfer vor Ort. Die Außenstellenleiterin und ihr Team treffen sich monatlich im Magdeburger Rathaus, um über Erlebtes, aber auch Organisatorisches zu sprechen. Nur wenige Meter entfernt befindet sich nun eine Gedenkstelle mit Blumen und Bildern der Opfer.

Im Rathaus von Magdeburg trifft sich die Außenstelle des WEISSEN RINGS monatlich, um über Organisatorisches sowie Soziales zu sprechen.

In der Außenstelle arbeiten zehn Ehrenamtliche, darunter Uwe Rösler. Zum Tatzeitpunkt war er im Skiurlaub. „Meine Frau schickte mir eine Nachricht, und ich wollte es erst nicht glauben“, sagt Rösler. Als plötzlich seine Freunde ebenfalls Nachrichten bekamen, wurde ihm klar: Das ist wirklich passiert. „Während wir uns vergnügt haben und Bierchen tranken, starben in Magdeburg Menschen – das war heftig für mich“, sagt er.

„Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Yvonne Reinicke

350 Kilometer südwestlich von Magdeburg, in Mainz, stufen noch am Abend der Gewalttat Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer, Verena Richterich, die Leiterin der „Opferhilfe“, und die Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Kerstin Godenrath, den Anschlag als „Großereignis“ ein. Schnell müssen eine Reihe von Fragen beantwortet werden, wie es die Leitlinien des Vereins für solche Ausnahmesituationen vorgeben: Kann die Außenstelle vor Ort die Betreuung übernehmen? Welche Telefonnummer sollen Betroffene wählen, um schnell Hilfe zu bekommen? Können wir die finanzielle Soforthilfe für Betroffene erhöhen? Richten wir ein Spendenkonto ein? Verschicken wir eine Pressemitteilung? Wer beantwortet Medienanfragen? Am Wochenende telefonieren Bundesgeschäftsführung, Opferhilfe, Landesvorstand, Außenstelle und Pressestelle immer wieder miteinander. „Bereits am 23. Dezember fanden in Magdeburg erste Beratungsgespräche mit Betroffenen statt“, sagt Cornelia Stietzel.

Es hätte jeden treffen können

Das Großereignis ist für die Ehrenamtlichen von Anfang an eine große Herausforderung, aus verschiedenen Gründen. „Da ist die Nähe zum Geschehen. Magdeburg ist meine Heimat – es hätte jeden treffen können“, sagt Friederike Bessel sichtlich angefasst. Ihre Kollegin Yvonne Reinicke fügt hinzu: „Man hört von solchen Anschlägen in Großstädten wie in Berlin, aber dass so etwas in Magdeburg passieren könnte, daran denkt man gar nicht.“

Ein Herz aus Steinen soll an die Opfer erinnern. In Magdeburg lassen sich viele solcher kleinen Gedenkstätten finden. Vor der Johanniskirche liegen beispielsweise Dutzende Blumen.

Hinzu komme die Anzahl der Betroffenen, die die Außenstelle betreut. „Wir haben bis jetzt über 100 Fälle betreut – und das als kleines Team“, sagt Cornelia Stietzel. Die oberste Priorität des WEISSEN RINGS ist es, die Opfer zu schützen. „Wir können daher keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, und das darf nicht passieren“, erklärt sie.

Wohl aber können die Ehrenamtlichen berichten, wie es ihnen mit der Beratung so vieler Betroffener geht. „Einzelberatungen habe ich gut im Griff, aber wenn ich größere Gruppen habe, mit den unterschiedlichen Emotionen, unterschiedlichen Verletzungen, da bin ich am Ende einer Beratung einfach platt“, sagt Ingrid Männl. Das Team unterstütze sich gegenseitig und lenke sich durch Gespräche für einen Moment ab. „Einmal traf ich Friederike zwischen zwei Beratungen, und wir kamen ins Gespräch. Ich erfuhr, dass sie Deutsche Meisterin ist – die Anekdote hat mich zwischenzeitlich runtergeholt“, sagt Cornelia Stietzel. Deutsche Meisterin? „Ich habe zwei Hunde und trainiere mit ihnen die Zielobjektsuche, und 2024 lief das ganz gut“, erklärt Friederike Bessel. Alle im Raum können für einen kleinen Augenblick lachen.

„Wir können keine Betroffenen-Geschichte erzählen. Jeder Fall ist so speziell, die Menschen würden sich wiedererkennen, das darf nicht passieren.“

Cornelia Stietzel

Cornelia Stietzel lobt den Zusammenhalt der Menschen in der Stadt. Ein Beispiel: „Ganz große Unterstützung erhalten wir von der Kontakt- und Beratungsstelle für Selbsthilfegruppen der Caritas mit der unkomplizierten Bereitstellung von Räumlichkeiten“, erzählt sie. Hier können sich die Opferhelferinnen und Opferhelfer mit Betroffenen treffen.

Unterstützung erfahre das Team von Tag eins an auch vom Landesbüro Sachsen-Anhalt und aus der Bundesgeschäftsstelle des WEISSEN RINGS in Mainz, vor allem durch Jana Friedrich. Sie arbeitet im Referat „Opferhilfe“ und ist als Sachbearbeiterin für sogenannte Großereignisse zuständig. Als Friedrich am Tattag die Eilmeldung las, war ihr erster Gedanke ein Schimpfwort, das sie nicht wiederholen möchte. „Danach habe ich das ganze Wochenende den Live-Ticker verfolgt“, sagt sie. Ihr war klar: Diese Tat wird vom Verein als Großereignis eingestuft werden.

Uta Wilkmann erzählt, dass sie am Abend der Gewalttat im Kino war. Als sie es verließ, war alles voller Blaulicht. Im Radio erfuhr sie, was passiert ist, und dachte sofort an die ganzen Opfer sowie ihre Arbeit als Ehrenamtliche.

Jana Friedrich ist genau für solch einen Fall ausgebildet. „Ich habe die Akte angelegt, E-Mails an die Außenstelle Magdeburg und das Landesbüro Sachsen-Anhalt vorbereitet, mit allen wichtigen Informationen und Unterlagen“, sagt sie. Wichtige Informationen sind zum Beispiel, dass der Soforthilferahmen hochgesetzt und die Bedürftigkeitsprüfung ausgesetzt wird. Friedrich gab dazu eine Liste der verantwortlichen Leistungsträger weiter und das Spendenkonto mit dem dazugehörigen Stichwort. „Ich helfe den Außenstellen, die Opfer zu unterstützen“, beschreibt sie ihre Arbeit als hauptamtliche Mitarbeiterin in der Bundesgeschäftsstelle.

Ein Rückblick

Die Einstufung von Taten als „Großereignis“ gab es nicht von Beginn an. Der Auslöser, Kategorien mit passenden Leitlinien zu entwickeln, war das Großereignis 2016 – als in Berlin auf dem Breitscheidplatz ein Mann mit einem Lkw in einen Weihnachtsmarkt fuhr. 13 Tote. Dutzende weitere Opfer. Sabine Hartwig war damals die Berliner Landesvorsitzende beim WEISSEN RING, und als ehemalige Kriminalbeamtin wusste sie sofort, was bei solch einer Dimension zu tun war. In jenem Jahr schuf der Verein Maßnahmen und Strukturen, die noch heute gelten:

„Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen.“

Cornelia Stietzel

Etablierung einer Krisenstruktur: Jährlich bietet die WEISSER RING Akademie ein zweitägiges Großereignis-Seminar an, das Ehrenamtliche auf Taten wie in Magdeburg vorbereitet. Jeder der 18 Landesverbände hat einen sogenannten Koordinator für Großereignisse, der als Ansprechpartner fungiert und zum Beispiel kontrolliert, ob die zuständige Außenstelle überlastet ist. Und der gegebenenfalls nach Unterstützung in anderen Außenstellen Ausschau hält. Dazu gibt es Supervision für die hilfeleistenden Ehrenamtlichen.

Dokumentation und Kommunikation: In Krisensituationen ist eine gründliche Dokumentation aller Vorgänge wichtig, um die Übersicht zu behalten. Die Ehrenamtlichen in den Außenstellen sowie die Hauptamtlichen in der Bundesgeschäftsstelle dokumentieren alle Opferfälle, jede Presseanfrage und die Spendeneingänge.

Medienmanagement: Damit sich die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort auf die Opferarbeit fokussieren können, wird festgelegt, wer Auskünfte an die Presse gibt. Alle Medienanfragen gehen an das Team Medien & Recherche der Bundesgeschäftsstelle in Mainz.

Finanzielle Soforthilfen: Soforthilfen bis zu 1.000 Euro können durch einen Opferhilfe-Fonds unbürokratisch und schnell ausgezahlt werden, um unmittelbare Bedürfnisse der Opfer und Angehörigen zu decken, etwa für Reisekosten, Einkommensausfall oder medizinische Behandlungen.

Die aktuelle Situation in Magdeburg

„Ich habe zwar die Schicksale in schriftlicher Form auf dem Tisch liegen, ich spreche aber nicht direkt mit Opfern“, sagt Jana Friedrich aus der Bundesgeschäftsstelle. Ansprechpartner für die Betroffenen vor Ort sind die an der WEISSER RING Akademie ausgebildeten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – vor allem in der Außenstelle Magdeburg, aber auch in anderen Außenstellen des WEISSEN RINGS. Besucher des Weihnachtsmarktes waren beispielsweise aus Niedersachsen oder Bayern angereist. Auch wenn die Opferhelferinnen und -helfer teilweise bereits jahrelange Erfahrung in der Opferarbeit haben, ist es für sie kein Alltag, dass Angehörige am Telefon weinend zusammenbrechen. Friedrich hat daher mehrmals in der Woche mit der Außenstellenleiterin Cornelia Stietzel Kontakt. „Ich frage immer als Erstes, wie es ihr geht“, sagt sie. Aktuell liegen mehr als hundert Fälle auf dem Schreibtisch von Friedrich. Die Zahl der einlaufenden Fälle steigt kontinuierlich.

An einem Baum in der Innenstadt von Magdeburg liegen Blumen, Kerzen und Engel, um an die Opfer der Gewalttat zu erinnern.

In den kommenden Wochen wird Magdeburg weniger in der Medienlandschaft auftauchen. Die Opfer aber bleiben. „Denn viele Betroffene kommen erst Wochen oder sogar Monate nach der Tat auf uns zu. Vielfach versuchen sie, ihr Leben zunächst weiterzuleben, und merken erst mit der Zeit, dass Unterstützung benötigt wird“, erklärt Verena Richterich, Leiterin der Opferhilfe. „Der WEISSE RING steht den Betroffenen zu jedem Zeitpunkt zur Seite.“

Die Erfahrung von 2016, vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz, zeigt, dass der WEISSE RING noch viele Jahre mit Opfern in Kontakt steht. Cornelia Stietzel möchte in Zukunft die Betroffenen aus Magdeburg zusammenführen. „Mir ist aufgefallen, dass sich immer wieder Opfer bei uns über andere Betroffene erkundigen, die sie beispielsweise verletzt auf der Straße liegen sahen“, sagt die Außenstellenleiterin. Ein gemeinsames Treffen in einem geschützten Raum soll Abhilfe schaffen.

Der WEISSE RING ist von Montag bis Freitag im Einsatz, die Ehrenamtlichen sind in Notfällen auch am Wochenende ansprechbar.

Hilfe nach dem Horror

Erstellt am: Mittwoch, 8. Dezember 2021 von Sabine

Hilfe nach dem Horror

Ein Mann ermordet in Würzburg drei Frauen mit einem Messer. Die Tat bestürzt das ganze Land: Hätte sie verhindert werden können? In unserem Portrait stellen wir zwei Helfer vor, die viel für die Opfer und die Angehörigen getan haben.

Nach der Tat: Würzburg trauert. Foto: Nicolas Armer/dpa

Die Küchenmesser im Kaufhaus „Woolworth“ in der Würzburger Innenstadt liegen nicht mehr in der Auslage. Das ist zumindest eine beruhigende Veränderung. Denn an dieser Stelle hatte sich im Sommer 2021 ein wohl 24 Jahre alter Geflüchteter aus Somalia von der Verkäuferin die Ware zeigen lassen, um dann mit einem Messer mit langer Klinge wild um sich zu stechen. Drei Frauen kamen ums Leben, ein zwölfjähriges Mädchen und vier weitere Personen wurden schwer verletzt. Das beherzte Eingreifen von Passanten verhinderte, dass noch mehr Menschen zu Schaden kamen.

Der Amoklauf sorgte deutschlandweit für Bestürzung, die Anteilnahme für die Opfer war enorm: Die Spenden erreichten sechsstellige Summen. Alois Henn vom WEISSEN RING in Würzburg bekam die Nachricht von der Tat noch am Abend mitgeteilt, die folgenden drei Wochen verbrachte er am Schreibtisch. Es ging um schnelle Hilfe, um Koordination und Kooperation zwischen den beteiligten Stellen – zum Schutz der Opfer und Angehörigen. Es wurde eine Herkulesaufgabe, doch Henn und Außenstellenleiter Martin Koch sind seit Jahrzehnten an Ausnahmefälle gewöhnt.

Nicht über Pensionierung gefreut

Bei einem Treffen in diesem Herbst trägt Henn einen schwarzen Hut, Koch eine helle Cap und beide kariertes Hemd unter ihren Pullovern. Sie erzählen ausführlich und pointenreich von ihrem Leben – aber auch von den dunklen Tagen nach der Würzburger Tat. Wenn man die beiden agilen Ehrenamtler so beobachtet, kommt man gar nicht auf den Gedanken, in welch hohem Alter sie sich noch derart engagieren: Henn zählt 79 Jahre, Koch sogar 85.

Sie mussten lernen, die Perspektive zu wechseln: die ehemaligen Polizisten und heutigen Opferhelfer Martin Koch (links) und Alois Henn. Foto: Ron Ullrich

Neben dem augenscheinlichen Faible für Kopfbedeckungen eint sie noch die gemeinsame Biografie als ehemalige Polizisten: Koch war Leiter der Mordkommission in Würzburg. Er wurde mit 60 Jahren pensioniert und war einer der wenigen Arbeitnehmer in Deutschland, die sich über die Rente nicht gefreut haben. Er wollte weiter aktiv sein,  und so schloss er sich 1997 dem Team des WEISSEN RINGS an. Dabei wurde er auch zu einer Art Botschafter: Er allein soll 300 Personen als Mitglieder zum WEISSEN RING gebracht haben. Koch, der in diversen Klubs vom Radfahren bis zum Wandern unterwegs ist, leistete Überzeugungsarbeit. Sein Kollege Henn scherzt: „Wenn er mit einer Gruppe im Bus unterwegs war, ist er nie ohne neue Mitglieder zurückgekommen.“

Auch Alois Henn kam zum WEISSEN RING, weil ihn Koch nach dessen Pensionierung 2003 anwarb. Von 1962 an hatte er zuvor bei der Polizei gearbeitet, aus eigenem Antrieb sogar die Stationen gewechselt, um überall Neues zu entdecken: So war er bei der Einsatzleitung, der Autobahnpolizei, dem Unfallkommando, als „Operator“ im Einsatz und später im Rechnungswesen. „Ich habe alle Sparten kennengelernt.“ Heute, nach seiner offiziellen Dienstzeit, bekleidet Henn so viele Ehrenämter, dass er sie gar nicht alle aufzählen kann. So ist er unter anderem Ehrenvorsitzender des Polizeichors und des Sängerkreises Würzburg. Im September wurde er für sein Engagement mit dem Ehrenzeichen des Bayerischen Ministerpräsidenten ausgezeichnet.

Täter mit Opfer-Perspektive konfrontiert

Die beiden Mitarbeiter vom WEISSEN RING haben also jahrelange Erfahrung gesammelt, zeichnen sich durch ihr Engagement und ihre Begeisterungsfähigkeit aus – und wer an Astrologie interessiert ist, mag diesen Zufall als weitere Erklärung für ihre Gemeinsamkeiten anführen: Beide wurden am 9. Juni geboren – Koch im Jahr 1936, Henn 1942.

Beim WEISSEN RING mussten sie erst einmal lernen, die Perspektive zu wechseln. Die Polizei sieht Opfer zunächst einmal als Zeugen einer Straftat an, in ihrer heutigen Tätigkeit rückt die Opferperspektive in den Mittelpunkt. „Ich wäre zu meiner Zeit bei der Polizei froh gewesen, wenn ich vom WEISSEN RING gewusst hätte“, sagt Koch. Für Henn ist eine Wechselwirkung entscheidend: In den Gesprächen zeigt er Empathie, muss gleichzeitig die Sympathie seines Gegenübers erlangen, damit das Gespräch vertrauensvoll und tiefergehend ablaufen kann. „Ich stelle mir die Fragen: Was ist passiert? Wo liegt der Schaden? Und wie kann ich helfen?“ Nicht alles in diesem Lernprozess laufe autodidaktisch ab, neben den langjährigen Erfahrungen helfen den beiden die Aufbauseminare der WEISSER RING Akademie.

Außerdem hat Henn eine besondere Initiative gestartet: Er hält Vorträge vor der Bereitschaftspolizei – und in der JVA. Hier konfrontiert er Täter meistens zum ersten Mal mit der Perspektive ihrer Opfer. „Die Reaktionen sind frappierend“, so Henn. Einmal habe ein Sexualstraftäter den Raum verlassen, weil er es nicht mehr ausgehalten habe. Zehn Minuten später sei er zurückgekehrt. „In diesen Sitzungen wird Tacheles geredet, psychologisch lerne ich da unglaublich viel.“ Die Hälfte der Täter bitte nach den Vorträgen sogar noch um Einzelgespräche. Die Begegnungen sind wohl einmalig in Deutschland und könnten ein Vorbildprojekt werden, glauben die beiden. Die Rückfallquote liege bei den Tätern, die die Vorträge besuchten, bei nur fünf Prozent – während sie im Schnitt wohl um das Sechsfache höher ausfalle.

Der Horror von Würzburg

Für Henn geht es beim WEISSEN RING um zwei Ansätze: die organisatorische und die psychologische Hilfe. „Wichtig ist aber vor allem, dass man sich auf Augenhöhe begegnet. Und: Zuhören! Zuhören! Zuhören!“ Genau diese Tugenden waren gefragt nach dem 25. Juni 2021 – nach der Messerattacke von Würzburg.

Als Henn den Fall abends auf seinen Schreibtisch bekam, kabelte er gleich der Betreuungsstelle der Polizei durch: Wir stehen bereit, um zu helfen! „Wichtig ist, so einer Situation mit Bedacht zu begegnen und nicht überstürzt Entscheidungen zu treffen. Wir müssen intensiv mit der Polizei zusammenarbeiten.“ Der WEISSE RING habe die große Stärke, sofort und unbürokratisch zu helfen. Bei dem Attentat starb eine junge Mutter, ihre zwölfjährige Tochter überlebte. Der Lebenspartner und der Bruder des Mädchens waren da aber noch in Brasilien, also organisierte die Opferhilfe einen Flug der beiden, um die Familie in der Stunde dieser Trauer zusammenzubringen.

Die Anteilnahme in Würzburg ist groß. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Insgesamt sieben Opfer des Attentats meldeten sich beim WEISSEN RING, die finanziellen Hilfen beliefen sich auf rund 15.000 Euro. Eine 42 Jahre alte Frau war nach dem Angriff querschnittsgelähmt, ein 16-Jähriger hatte Messerstiche im Rücken erlitten. Eine andere Frau schlug den Angreifer mit der Einkaufstasche und konnte sich auf diese Weise retten – aber sie war daraufhin traumatisiert.

Die Spendenaktion „Würzburg zeigt Herz“ erbrachte insgesamt 200.000 Euro.  Henn zeichnete für einen Spendenaufruf übers Radio verantwortlich und gab in der Presse Interviews. „Ich saß drei Wochen lang ununterbrochen am Schreibtisch – die Informationen liefen kreuz und quer und mussten zusammengeführt werden.“

Immer wieder Messer-Attacken

Die Stadt, das ganze Land sprach über die Tat. Der Horror von Würzburg rief in ganz Deutschland Fragen auf: Wie konnte es zu dieser Tat kommen – und hätte sie verhindert werden können? Nur drei Tage später attackierte ein 32-Jähriger in Erfurt zwei Männer mit einem Messer. Auch im November 2021 schockieren Bluttaten das Land: Ein Geflüchteter aus Syrien stach in einem ICE in der Oberpfalz wahllos auf Passagiere ein, am gleichen Abend richtete ein Mann in einem Bekleidungsgeschäft in München das Messer gegen einen Jungen. Dem Täter im ICE attestierte ein Sachverständiger eine „paranoide Schizophrenie“. Der Angreifer von Würzburg wurde in diesem Jahr von einem Gericht als „nicht schuldfähig“ angesehen.

Zwei Messerangreifer, zwei Geflüchtete, zwei Mal mit psychischen Problemen – nur ein Zufall? Gegenüber der „Welt am Sonntag“ sagte Lukas Welz, der Geschäftsführer der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer: „Uns fehlen einfach die Mittel.“ 30 Prozent der Geflüchteten litten demnach unter einer psychischen Erkrankung, doch nur fünf Prozent würden betreut. Tatsächlich hat ein Großteil der Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind, traumatische Erfahrungen wie Krieg, Folter oder Vertreibung in der Heimat machen müssen. Für die Aufarbeitung und medizinische Betreuung fehlten in Deutschland nicht nur die Mittel, sondern auch das Bewusstsein für diese besondere gesellschaftliche Herausforderung.

Jedoch wurden nicht alle Geflüchteten im Umkehrschluss zu potenziellen Gewalttätern. Einer der mutigen Passanten, die sich in Würzburg dem Täter entgegenstellten, war ein geflüchteter Kurde, der erst einige Monate zuvor nach Deutschland eingereist war. Mit seinem neu erworbenen Rucksack und lauten Schreien stellte er sich dem Täter entgegen, bis die Polizei eintraf. So konnte ein noch schlimmeres Blutbad verhindert werden.

Die Opfer: Frauen

Ob die Tat insgesamt hätte verhindert werden können, darüber stritt die Öffentlichkeit. Der Täter aus Somalia soll laut Zeugen „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“) gerufen haben – seine Opfer waren Frauen. Diese Indizien führten zum Verdacht einer islamistischen Tat, doch eindeutige Beweise für diese Verbindung blieben aus. Der Terrorismusforscher Peter Neumann erklärte gegenüber der „Zeit“, dass islamistische Organisationen nun vermehrt den Einzeltätertypus bewerben. Gleichzeitig warnte er, dass sich der Fall in Würzburg gar nicht so leicht beurteilen lasse: „Ist das überhaupt noch Terrorismus, ist das was ganz anderes, hängt sich da jemand mit seiner psychischen Krankheit nur an solche Slogans ran?“ Was war zuerst da: die psychischen Probleme oder die extremistische Einstellung?

Ein Meer an Kerzen und Blumen in der Würzburger Innenstadt. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Aus Opfersicht ist aber wichtig, dass gerade hier eine Früherkennung und Präventionsarbeit stattfindet. Ein Gutachten zur psychischen Störung nach der Tat erzürnt die Opfer, weil der Täter formell keine Haftstrafe antreten muss, sondern womöglich in die Psychiatrie eingewiesen wird. Doch der Täter von Würzburg war bereits vor dem Amoklauf zwangsweise in psychiatrischer Behandlung gewesen. Einmal hatte er in Würzburg ein Auto angehalten, sich hineingesetzt und sich geweigert, den Wagen zu verlassen. Bewohner der Innenstadt erzählen, dass der Somalier stadtbekannt gewesen war, weil er immer barfuß durch die Straßen lief. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann wiegelte in Interviews in der Folge jedoch ab: Diese Aktionen hätten nicht ausgereicht, um den Mann einzusperren. Auch die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS, Alois Henn und Martin Koch, teilen diese Ansicht. „Ich halte es auch für ausgeschlossen – du kannst jemanden nicht dafür wegsperren“, so Koch. Und Henn sagt: „Solche Dinge kann man nicht verhindern.“

Ein bisschen Normalität

Henn und Koch haben im Nachgang der Tat viel für die Opfer und die Angehörigen getan – mitunter sind es die kleinen Hilfen, die große Wirkung entfalten. Die Zwölfjährige, die in Würzburg ihre Mutter verlor, lebt nun mit Vater und Bruder zusammen, die erst durch die finanzielle Unterstützung aus Brasilien anreisen konnten. Sie wohnten nun bei ihr, erzählt Henn, und besuchten Deutschkurse. „Sie können sich schon sehr gut verständigen.“

Als eine private Spende in Höhe von 250 Euro für das Mädchen einging, stockte der WEISSE RING auf 400 Euro auf und kaufte ihr ein neues Kinderfahrrad. Es ist nicht viel, aber ein kleines Stück Normalität, nach all den dunklen Stunden.

Der Anschlag, der alles veränderte

Erstellt am: Montag, 5. April 2021 von Sabine

Der Anschlag, der alles veränderte

Am 19. Dezember 2016 steuerte ein islamistischer Terrorist einen Lastwagen in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. 13 Menschen starben. Der Anschlag veränderte die Arbeit des WEISSEN RINGS.

Der Berliner Breitscheidplatz aus der Luft. Foto: Christoph Soeder

2016

Am Abend des 19. Dezember 2016 erreicht Sabine Hartwig eine Nachricht aus Sizilien. Es ist eine E-Mail von ihrem Cousin, er macht sich in der Ferne Sorgen um sie: „Bine, bist du dabei?“, fragt er. Wobei? Hartwig wundert sich. Erst als sie den Fernseher einschaltet, sieht sie, was zwei S-Bahn-Stationen weiter, am Breitscheidplatz, passiert ist: Ein Lastwagen ist in den Weihnachtsmarkt gerast, überall liegen Trümmer, Blaulichter blinken, immer mehr Rettungswagen fahren vor. Menschen wurden verletzt, Menschen wurden getötet. Die Journalisten im Fernsehen sprechen von einem Anschlag.

Hartwig, 66 Jahre alt, arbeitet seit mehr als 20 Jahren für den WEISSEN RING, seit 2002 ist sie die Berliner Landesvorsitzende. Sie versteht sofort: Dies ist eine Größenordnung, die alles sprengt, was wir kennen im Verein. Sie geht ins nahe Landesbüro, allein steht sie dort im Flur und sagt sich: Okay, der Verein kennt das vielleicht noch nicht, aber du kennst es. Das ist eine Großlage, so wie damals bei der Polizei. Und du ziehst das jetzt an dich, so wie damals bei der Polizei.

30 Jahre lang war Sabine Hartwig leitende Kriminalbeamtin bei der Berliner Polizei, 20 Jahre davon arbeitete sie im Mobilen Einsatzkommando. Oft genug hat sie eine BAO eingerichtet, wie es im Polizeideutsch heißt, eine „Besondere Aufbauorganisation“. Eine BAO braucht die Polizei, wenn die üblichen Zuständigkeiten und Mittel nicht ausreichen für einen komplexen Einsatz. So etwas braucht jetzt auch der WEISSE RING, entscheidet Hartwig, hier, im Landesbüro an der Berliner Bartningallee.

13 Menschen sind gestorben auf dem Breitscheidplatz, Dutzende wurden verletzt, körperlich oder seelisch oder beides, es gibt traumatisierte Augenzeugen und Ersthelfer. Die Opfer kommen aus verschiedenen deutschen Bundesländern, viele auch aus dem Ausland: aus Israel, Italien, Polen, Tschechien oder aus der Ukraine. Die Opfer haben Angehörige, die nicht wissen, an wen sie sich wenden können.

Schon am Morgen des 20. Dezember klingeln die Telefone im Landesbüro Sturm. Eine Studentin sucht ihre Mutter. Kinder, Eltern, Geschwister beklagen sich, dass sie bei den Hotlines nicht durchkommen oder zu falschen Krankenhäusern geschickt wurden. Die Presse ruft an, Journalisten wollen Informationen, Interviews, Opferkontakte, Fotos.

2020

„Das war das Allerschlimmste“, erinnert sich Martina Linke vier Jahre später im großen Besprechungsraum des Landesbüros, damals Lagezentrum, an die vielen Presseanfragen: Tagespresse, Frühstücksfernsehen, Abendschau. Berliner Lokalmedien, überregionale Medien, Journalistenanrufe aus Israel oder Italien. Ein Boulevardreporter fragt, ob der WEISSE RING ihm nicht Zugang zu einer Intensivstation verschaffen könne, er möchte ein schwerverletztes Opfer fotografieren.

Linke, Jahrgang 1954, war früher ebenfalls bei der Kriminalpolizei. Sie hatte mit Raub und Erpressung zu tun, mit Mord und Totschlag, später wurde sie die Opferschutzbeauftragte des Landeskriminalamts. Schon aus der Polizeiarbeit kennt sie Sabine Hartwig, seit 2012 ist sie ihre Stellvertreterin beim WEISSEN RING. Diese Dimension ist dennoch neu für sie. Bis heute betreut Martina Linke Opfer des Anschlags auf dem Breitscheidplatz.

Der Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin veränderte auch den WEISSEN RING. Foto: Christoph Soeder

2016

Großlage bedeutet auch: Viele Menschen stellen Fragen, viele Menschen geben Antworten. Die Folge kann ein Durcheinander sein, Kompetenzwirrwarr, Gerüchte, Falschinformation. Sabine Hartwig legt ein paar Regeln fest. Die erste richtet sich an ihre drei Mitarbeiterinnen im Landesbüro und lautet: Bitte dokumentiert alles! Alle Erfahrung in so einer Situation zeigt, dass man nachmittags wieder vergessen hat, was vormittags besprochen wurde.

Der Breitscheidplatz liegt im Ortsteil Charlottenburg. Erste Anlaufstelle für Opfer wäre demnach die Außenstelle West I. Aber Hartwig ist klar, dass eine Außenstelle das unmöglich allein schaffen kann. Sie informiert die anderen Berliner Außenstellen. Am Ende werden es 125 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sechs Landesverbänden des WEISSEN RINGS sein, die Anschlagsopfer betreuen.

Das Telefon in Berlin läutet weiter Sturm. Die zweite Regel, die Sabine Hartwig ausgibt, lautet: Niemand gibt Auskünfte an Journalisten, nur ein festgelegter Personenkreis spricht. Presseanfragen müssen über die Pressestelle der Bundesgeschäftsstelle in Mainz laufen. Medienanfragen können Menschen, die eigentlich anderes zu tun haben, nämlich Verbrechensopfern zu helfen, unter Stress setzen. Andererseits brauchen Opferhelfer die Medien auch. „Tue Gutes und rede darüber“, das ist nicht nur ein Spruch: Opfer und Angehörige müssen wissen, an wen sie sich wenden können, damit ihnen geholfen werden kann. Und auch Spender sollen erfahren, wo ihre Spenden gerade besonders nötig gebraucht werden. Denn Opferhilfe kostet Geld.

Bereits um 9.55 Uhr kommt am 20. Dezember grünes Licht aus Mainz für einen Opferhilfe-Fonds über 50.000 Euro. Die Obergrenze für finanzielle Soforthilfen für die Opfer des Terroranschlags steigt auf 1.000 Euro. „Wir können den Anschlagsopfern helfen“: Diese Nachricht streut Sabine Hartwig in ein breites Netzwerk. Mails gehen raus an die Polizei Berlin, an Landeskriminalamt, Bundeskriminalamt, Generalstaatsanwaltschaft, Generalbundesanwalt.

Gleichzeitig stellen sich die bekannten Fragen. Das Opferentschädigungsgesetz greift nicht, wenn die Tat mit einem Kraftfahrzeug verübt wurde. Auch nicht, wenn ein hasserfüllter islamistischer Terrorist einen Sattelzug als Waffe gegen unschuldige Weihnachtsmarktbesucher einsetzt. Welche Ansprüche haben die Betroffenen stattdessen? Das Landesbüro nimmt Kontakt zur Verkehrsopferhilfe auf, zur Unfallhilfe, zum Landesamt für Gesundheit und Soziales.

Regeln helfen, eine Großlage zu bewältigen. Es gibt aber keine Regel, die dabei hilft, die vielen Opferberichte zu bearbeiten.

2020

„Ich hatte eine junge Frau am Telefon“, erinnert sich Tina Wiedenhoff. „Sie rief für ihren Freund an, der als Ersthelfer am Breitscheidplatz war. Er wollte wissen, ob die Frau überlebt hat, der er geholfen hat. Er selbst hat es nicht geschafft, bei uns anzurufen, er konnte es nicht.“

Wiedenhoff, 55 Jahre alt, arbeitet seit 30 Jahren für den WEISSEN RING, sie ist die Büroleiterin in Berlin. „Der junge Mann hatte stundenlang bei der verletzten Frau gesessen. Ihr Bein war abgerissen. Die Freundin beschrieb mir die Frau ganz genau, sie trug eine weinrote Jacke. Der erste Notarzt ging vorbei. Diese weinrote Jacke, die hat sich mir so eingeprägt. Ich habe mir das die ganze Zeit vorgestellt, wie der junge Mann da neben der Frau mit der weinroten Jacke saß.“

Hat die Frau überlebt? „Ich weiß es nicht. Ich habe hinterher in den Berichten immer nach Hinweisen auf diese Frau gesucht.“ Wiedenhoff fand keine Hinweise.

2016

Sabine Hartwig legt noch etwas fest: Wir brauchen Supervision für unsere Mitarbeiter. Helfen kann bedeuten: da sein, zuhören, mitfühlen. Hilfe kann aber auch materiell sein. Bloß welche materielle Hilfe ist für wen die richtige? Eingeübte Mechanismen können in so einer Situation ins Leere laufen. Oft brauchen Kriminalitätsopfer anwaltliche Unterstützung, der WEISSE RING hilft mit Erstberatungsschecks. Doch zeitnah nach einem Terroranschlag lindern solche Schecks keine Not, wenn der Täter zuerst auf der Flucht ist und wenig später von der Polizei erschossen wird. Der Familie eines toten Terroropfers hilft es auch nichts, wenn der Verein zerstörte Kleidung und Schuhe ersetzt. Aber sie braucht vielleicht Reisekosten. Heilbehandlungen müssen finanziert werden, Finanzengpässe aufgefangen. Jemand muss die Koordination der Hilfen übernehmen. Sabine Hartwig teilt für die Weihnachtstage Sonderschichten ein im Landesbüro.

Ein junger Mann, selbstständig, liegt wochenlang im Koma, die Ärzte operieren ihn wieder und wieder, anschließend geht er für Monate in die Reha. Weihnachtsmarkttrümmer haben ihn getroffen, der Lastwagen hatte sie in die Luft geschleudert. Kopf, Arme, Hüfte, Beine, die linke Körperseite ist schwer verletzt. Wie soll der junge Mann die Miete für sein Büro weiterbezahlen? Zerstört der Anschlag auch seine berufliche Existenz?

Ein anderer Mann liegt ein Dreivierteljahr auf der Intensivstation. Seine Töchter studieren, sie müssen aus Süddeutschland anreisen. Die Ehefrau nimmt sich eine kleine Wohnung in Berlin, um bei ihrem Mann sein zu können. Wer trägt die Kosten? Bringt der Anschlag die Familie in schwere Finanznöte?

Der WEISSE RING hilft dem jungen Mann und der Familie. Ehrenamtliche Hilfe kann für Menschen niederschwellig wirken, die vor staatlicher Unterstützung zurückschrecken. Es gibt aber auch Leute, die lehnen spendenfinanzierte Hilfe ab, mit dem Satz: Andere Menschen haben das Geld nötiger als ich, ich komme schon klar. Wieder andere, darunter Opfer, Angehörige, Augenzeugen, bieten anschließend ihre Mitarbeit als ehrenamtliche Helfer an.

2020

Vier Jahre nach dem Terroranschlag ist der Breitscheidplatz festungsgleich gesichert. Hohe Zäune umringen ihn, schwere Metallpoller ragen aus dem Beton, Polizistensichern den Platz in Einsatzuniform. Der Terroranschlag hat deutschen Weihnachtsmärkten die heimelige Leichtigkeit genommen, den Rest gegeben hat ihnen in diesem Jahr das Corona-Virus: Ein Dutzend Holzbuden stehen wie hingewürfelt über den Platz verteilt, vielleicht doppelt so viele Besucher sind unterwegs.

Auf den Stufen der Gedächtniskirche stehen Blumen, Fotos, Gedenklichter. Die Namen der Getöteten sind in den Beton geschnitten, vor den Stufen zieht sich ein goldener Riss durchs Pflaster. Kurz vor dem Jahrestag werden die Andenken täglich mehr.

Sabine Hartwig, 70 Jahre alt, ist seit 2009 Trägerin des Bundesverdienstkreuzes am Bande. Foto: Karsten Krogmann

Im Landesbüro nennt Sabine Hartwig ein weiteres wichtiges Stichwort zur Opferhilfe nach Ereignissen dieser Dimension: Nachsorge. Opferhilfe endet nicht mit einem Stichtag. Hier im Landesbüro gab es im Juni 2017 ein Hinterbliebenen-Treffen. Im März 2019 folgte ein Verletzten-Treffen. Einige Zitate von Verletzten:

„Der Austausch im privaten Raum, ohne Politiker, war hervorragend.“

„Ich habe meine eigenen Beeinträchtigungen erst jetzt richtig erkannt und weiß jetzt, dass ich ein Trauma erlitten habe.“

„Das Kennenlernen von Gleichgesinnten war ein großer Gewinn.“

„Der Abend im Friedrichstadtpalast war eine Bombe.“ Der WEISSE RING hatte zu einem Kontrastprogramm zu den aufwühlenden Gesprächen eingeladen: eine Revue im berühmten Friedrichstadtpalast.

Es gibt positive Geschichten zu erzählen. Der junge Mann, selbstständig, der sein Büro behalten wollte, ist wieder arbeitsfähig, sein Büro läuft gut. Der andere Mann, der so lange im Koma lag, kann kurze Strecken wieder laufen. Eine Familie, allesamt in Therapie, berichtet, wie eng sie zusammengerückt sind durch die traumatische Erfahrung. Die bei dem Anschlag schwerverletzte Tochter hat ein Kind bekommen.

2016

Sabine Hartwig und Martina Linke, beide Referentinnen in der WEISSER RING Akademie, dem Ausbildungszentrum des Vereins, fragen sich: Was wäre, wenn so etwas woanders passiert wäre? In einer Kleinstadt zum Beispiel, wo es nicht so viele Mitarbeiter gibt und kein großes Landesbüro? Müssen wir nicht damit rechnen, dass so etwas wieder geschieht? Wir müssen vorbereitet sein. Wir brauchen Leitlinien, wir brauchen ein Ausbildungsprogramm, wir brauchen ein Netz von Koordinatoren für solche Ereignisse.

2020

Fünf Mal fand inzwischen das Wochenendseminar „Großereignisse“ der WEISSER RING Akademie statt, zuletzt im September 2020 in Fulda, Sabine Hartwig war natürlich wieder dabei. Die Teilnehmer kamen aus Thüringen, Hamburg oder Bayern, Referenten aus der Bundesgeschäftsstelle und von außerhalb trugen vor. Sie sprachenüber den Aufbau eines Lagezentrums, korrekte Dokumentation, über Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit, rechtliche Fragen und über die Nachsorge. Dutzende ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des WEISSEN RINGS haben das Seminar mittlerweile durchlaufen, jeder Landesverband hat inzwischen einen Koordinator für Großereignisse benannt.

Martina Linke, 66 Jahre alt, betreut noch heute Opfer des Anschlags auf dem Breitscheidplatz. Foto: Karsten Krogmann

„Wir sind vorbereitet“, sagt Sabine Hartwig.

Dezember 2020, im Berliner Landesbüro klingelt das Telefon, es rufen wieder Journalisten an. Sie suchen Kontakt zu Überlebenden des Anschlags am Breitscheidplatz für ihre Jahrestags-Berichterstattung. Sabine Hartwig kann ihnen nicht helfen. Seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt musste der WEISSE RING bereits fünf Mal die neu geschaffenen Leitlinien für Großereignisse anwenden:

  • Am 7. April lenkte ein Mann in Münster, Westfalen, einen Kleinbus in eine Gruppe Menschen. Vier Menschen starben, mehr als 20 wurden verletzt.
  • Am 9. Oktober 2019 versuchte ein Mann in Halle, Sachsen-Anhalt, in die Synagoge einzudringen, um Juden zu töten. Er ermordete zwei Menschen, zwei weitere verletzte er auf der Flucht schwer, Dutzende Menschen erlitten Traumata.
  • Am 19. Februar 2020 erschoss ein Mann in Hanau, Hessen, neun Menschen mit Migrationshintergrund in und vor Shisha-Bars. Anschließend tötete er in seinem Elternhaus zuerst seine Mutter und dann sich selbst.
  • Am 24. Februar 2020 fuhr ein Mann in Volkmarsen, Hessen, mit seinem Auto in eine Zuschauergruppe beim Rosenmontagsumzug. Mehr als 150 Menschen wurden verletzt.
  • Zuletzt kam es am 1. Dezember 2020 in Trier, Rheinland-Pfalz, zu einer Amokfahrt. Ein Mann tötete mit seinem Wagen fünf Menschen, 24 weitere verletzte er.

Acht Minuten, 85 Schicksale

Erstellt am: Donnerstag, 6. Juni 2019 von Sabine

Acht Minuten, 85 Schicksale

Acht Minuten. Acht Minuten braucht Sebastian Bührmann, um die 85 Namen zu verlesen. Und zu jedem dieser Namen ein Todesdatum. Es sind unfassbar lange acht Minuten. Eine Todesliste, die kein Ende nehmen will.

Standen den Angehörigen der Mordopfer im Prozess zur Seite: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des WEISSEN RINGS aus den Außenstellen Oldenburg und Delmenhorst. Foto: Foto- und Bilderwerk Sven Seebergen

Acht Minuten. Acht Minuten braucht Sebastian Bührmann, um die 85 Namen zu verlesen. Und zu jedem dieser Namen ein Todesdatum. Es sind unfassbar lange acht Minuten. Eine Todesliste, die kein Ende nehmen will. Absolute Stille in der Halle. Nur Bührmanns Stimme ist zu vernehmen, klar, deutlich, fest. Manche der Anwesenden nicken, bestätigend, dass der Name, der eben verlesen worden ist, der des Vaters, der Mutter, der Ehefrau, des Ehemanns, des Sohns oder der Tochter ist. Andere lassen sich von ihrer Trauer überwältigen, zücken ein Taschentuch. Ein paar von ihnen bekommen sofort Zuspruch und tröstende Gesten. Einen Blick voller Mitgefühl und Verständnis. Eine Hand, die sich auf ihre Schulter legt.

An einem tristen Donnerstagmorgen Anfang Juni endet in der Weser Ems Halle im niedersächsischen Oldenburg einer der größten Strafprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Angeklagt war dabei ein 42-Jähriger, der als Krankenpfleger zwischen 2000 und 2005 insgesamt 100 Menschen in zwei verschiedenen Kliniken ermordet haben soll – so lautete der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Für 85 dieser Taten verurteilt ihn die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg unter dem Vorsitz von Richter Bührmann nach 24 Verhandlungstagen schließlich zu lebenslanger Haft und stellt dabei die besondere Schwere der Schuld fest. Eine Haftentlassung des Verurteilten nach 15 Jahren ist somit ausgeschlossen. Für sechs weitere Taten war der 42-Jährige bereits in früheren Prozessen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden.

An jenem Tag blickt die Welt schon früh nach Oldenburg. Es ist 8 Uhr, vor der Halle hat sich eine Handvoll Zuschauer eingefunden, die geduldig auf Einlass warten. Gleich werden sie von einer ganzen Schar Journalisten verschiedener Nationalitäten umlagert, gut zwei Dutzend Berichterstatter sind zwei Stunden vor dem Beginn der Urteilsverkündung da, haben ihre Kameras aufgebaut und die Übertragungswagen in Betrieb genommen. „Für mich geht es heute um Gerechtigkeit, auch um Befriedigung“, sagt ein Mann. „Das Verfahren ist würdig geführt worden, auch mit Blick auf die Angehörigen“, analysiert er weiter. Seine Analyse dürfte dabei als fundiert und routiniert gelten. Fundiert, weil er, Christian Marbach, Sprecher der Angehörigen der Opfer ist und jedem einzelnen Verhandlungstag gegen den Mörder seines Großvaters beigewohnt hat. Routiniert deshalb, weil er im Laufe des Prozesses nicht müde geworden ist, vor den Kameras seine Stimme zu erheben und Journalisten in den Block zu diktieren, dass er selbst von einer weitaus höheren Zahl an Opfern ausgehe, 300 könnten es gewesen sein; oder dass er die Justiz loben will, weil sie in diesem Mammutprozess dafür Sorge getragen hat, dass auf die Bedürfnisse und Gefühle der Angehörigen der Opfer ein besonderes Augenmerk gelegt wird. „Es war ein sehr fairer Prozess – auch dem Täter gegenüber“, zieht er ein Resümee.

„Das Reden hat mir geholfen“

Ein paar Meter weiter, vor dem Seiteneingang der Halle, durch den die Prozessbeteiligten das Gebäude betreten, steht Dietmar B. und plaudert mit einem weiteren Mann über Autos, über das Wetter, über dies und das. Er wirkt äußerlich gelassen. Mit dieser äußerlichen Gelassenheit erzählt B. auch, warum er dort steht: Der Angeklagte soll seinen Vater ermordet haben. Daher sei er der Nebenklage beigetreten, habe jeden Prozesstag die gut 100 Kilometer zwischen seiner Heimatstadt und Oldenburg im Auto hinter sich gebracht, die Verhandlung recht zurückgelehnt verfolgt. Bis zu dem Tag, an dem das Gericht den Mord an seinem Vater rekonstruiert. „Mir ging es dabei alles andere als gut, ich war total niedergeschlagen. Man macht sich so seine Gedanken“, schildert B.. In einer Verhandlungspause setzt er sich in dem Bereich, der in einem Nebenraum der Halle für die insgesamt 126 Nebenkläger reserviert ist, an einen Tisch. Eine ihm bislang unbekannte Frau nimmt neben ihm Platz. „Ihnen geht es nicht so gut“, stellt sie sofort fest. Da wollen die Worte aus ihm raus, er fängt an zu reden und zu reden. Über seinen seelischen Schmerz. Über die Belastung, den Vater exhumieren lassen zu müssen, wo er doch längst mit seinem Verlust klargekommen war in all den Jahren nach seinem Tod. Über das Unverständnis, dass die Verantwortlichen der beiden Kliniken in Delmenhorst und in Oldenburg, in denen die Mordserien stattfanden, den Angeklagten nicht stoppten, obwohl es doch genügend Hinweise gegeben habe. „Das Reden hat mir in diesem Moment geholfen“, ist sich B. sicher. „Und die sind ja alle nett“, fügt er an.

Links: Petra Klein, Leiterin der Außenstelle Oldenburg, Foto: Hermann Recknagel, Rechts: Edgar Harms, Foto: Foto- und Bilderwerk Sven Seebergen

Mit „die“ meint er ehrenamtliche Mitarbeiter der Außenstellen des WEISSEN RINGS in Oldenburg und in Detmold. Bis zu neun von ihnen sind vom ersten Tag der Verhandlung an dabei, gleichzeitig oder im Schichtdienst. „Aus unserer Sicht ist es einmalig, dass ein Richter prophylaktisch Opferhelfer zu einem Prozess dazu geholt hat“, sagt Petra Klein, Leiterin der Oldenburger Außenstelle des WEISSEN RINGS und Mitglied im Bundesvorstand der Opferhilfeorganisation. „Wir sind zunächst gefragt worden, wie viele von unseren ehrenamtlichen Mitarbeitern am Prozess teilnehmen könnten. Ich habe wiederum in unserer Außenstelle nachgefragt – und hatte schnell eine gute Truppe zusammen. Auch eine Mitarbeiterin aus der Außenstelle Delmenhorst wollte dabei sein“, erinnert sie sich.

Auch an diesem letzten Tag im Mammutprozess sind wieder sechs Opferhelfer des WEISSEN RINGS anwesend. Klein versammelt sie um sich – ein kurzes Briefing folgt, wie schon an den 23 Verhandlungstagen zuvor. „Sollte jemand während der Urteilsverkündung rausgehen, gehen wir hinterher“, sagt sie. Die Helferinnen nicken. Dann prüfen zwei von ihnen, ob noch genügend Materialien auf den Tischen ausliegen: Taschentücher, Gummibärchen, Flyer. Und Traubenzucker. „Wir haben im Prozess wahrscheinlich gut zehn Kilogramm Traubenzucker verbraucht“, sagt Klein. Ein kleiner Schub Energie, wenn es für die Angehörigen im Gerichtssaal emotional zu belastend wird, wenn die verletzte Seele den Körper schwächt. Energie, die auch Richter Bührmann benötigt, er kommt kurz vorbei, um sich für die Urteilsverkündung einen kleinen Vorrat Traubenzucker zu holen, sich zu wappnen für diese Ausnahmesituation, die da auf ihn wartet.

24 lange Verhandlungstage

Eine Nebenklägerin, die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS hatten bereits mehrfach Kontakt mit ihr, tritt zu der Gruppe. Ihre Mutter ist unter den Opfern. „Am Samstag war ein großer Artikel über den Prozess in der Zeitung“, schildert sie, „ich saß ich mit meinem Mann im Garten, die Sonne schien. Ich habe gelesen und angefangen zu weinen. Dann habe ich zu meinem Mann gesagt: Schau mal, die Rosen blühen. Das hat der Mörder nicht.“ Weitere Opferangehörige kommen auf die Frauen vom WEISSEN RING zu, richten freundliche Worte an sie, schenken ein Lächeln, manchmal auch gequält. Man ist sich näher gekommen in diesen 24 außerordentlichen Tagen. Schicksalsgemeinschaft. Dann gehen sie ein letztes Mal in diesem Verfahren zusammen in den Saal: die Richter, die Angehörigen der toten Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern, Kinder, die Nebenkläger-Anwälte, gut 50 Journalisten, die gleich das Urteil um den Globus schicken werden, Polizisten und Justizbeamte, fast 100 Zuschauer. Und die Opferhelfer, die sich in den Reihen der etwa 90 Nebenkläger verteilen. Dann verkündet Richter Bührmann das Urteil der Schwurgerichtskammer. Und das Verfahren findet sein vorläufiges Ende.

Links: Ute Brandt , Rechts: Kurt Werner, Fotos: Foto- und Bilderwerk Sven Seebergen

Ute Brandt, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Außenstelle des WEISSEN RINGS in Oldenburg, steht kurz nach Prozessende in dem abgetrennten Bereich für die Opfer und ihre Begleiter. „Das Vorsitzende war bemerkenswert. Er hat den Prozess mit einer Schweigeminute begonnen für alle die, die nicht dabei sein konnten – also mit einer Schweigeminute für die Opfer“, erinnert sie sich. Was ihr noch eindrucksvoller in Erinnerung geblieben ist, ist die Verlesung der Anklageschrift im Anschluss an jene Schweigeminute. „Ich hatte Tränen in den Augen“, erzählt Brandt. Ihre eigenen Gefühle bekam sie aber schnell in den Griff, musste sie schnell in den Griff bekommen. „Ich hatte den Gedanken: Das sind nicht meine Angehörigen. Aber ich bin hier, um diesen Menschen zu helfen“, sagt sie. Trost spenden, zum Gespräch bereitstehen, menschlichen Beistand bieten – das funktioniert nur richtig, wenn man bei aller Empathie auch Abstand wahren kann. Brandt kommt dabei zugute, dass sie Opfer nicht zum ersten Mal in einer Gerichtsverhandlung zur Seite gestanden, schon in so manchen menschlichen Abgrund geschaut hat. Doch die lange Dauer des Prozesses war auch für sie eine neue Erfahrung. „Ich war bis auf einen Tag immer hier. Und habe dafür Überstunden abgebaut“, erzählt sie. Schon im Gehen, ruft sie ihren Kolleginnen noch einen letzten Gruß zu: „Macht’s gut. Ich muss ja jetzt zur Arbeit. Hilft ja nix.“

Ihre Kolleginnen sind indes noch in Gespräche vertieft. Die meisten Nebenkläger verlassen das Gebäude unmittelbar nach Prozessende. Abstand gewinnen, auch räumlich. Andere haben aber noch weiteren Gesprächsbedarf. Die Inhalte der Unterhaltungen ähneln auch an diesem Tagen jenen, die die Mitarbeiter der Opferhilfeorganisation mit den Angehörigen der Ermordeten an den Prozesstagen zuvor geführt haben. Es geht weniger um juristische Fragen – die hatte Richter Bührmann im Laufe der Verhandlung wiederholt und ausführlich erklärt. „Ein wenig Einordnung der juristischen Details ist zwar hier und da noch notwendig gewesen. Den höchsten Redebedarf gab es aber in punkto Gefühle: Was macht das mit mir? Viele wussten zunächst nicht, wie mit dem eigenen Erleben umzugehen“, erläutert Außenstellenleiterin Klein.

15 Freisprüche

Ein eigenes Erleben im Rahmen dieses Prozesses hatte auch Ursula Bunjes, eine weitere Mitarbeiterin in der Oldenburger Außenstelle der Opferhilfeorganisation. Wie hat sie ihre Gefühle bewältigt? „Ich bin Christin. Ich gebe alles nach oben ab“, sagt sie und lächelt. „Natürlich bewegt mich das hier alles. Wichtig ist dennoch, dass man es nicht zu nah an sich ranlässt und damit dem Täter zu viel Macht gibt – aber das kennen wir ja beim WEISSEN RING“, schildert sie. Einigen Menschen, denen sie in der Weser Ems Halle begegnet ist, hat sie Gottes Segen gewünscht – was ihr Kraft für ihre Aufgabe gibt, könnte auch anderen in schweren Stunden Trost sein. Keiner, so sagt sie, habe diesen frommen Wunsch nicht gern angenommen. Und dann erzählt sie von vielen Begebenheiten im Rahmen der Verhandlungstage, Bilder, die sich ihr eingeprägt haben, detailliert, nachhaltig. „Das Schlimme, was anderen Menschen widerfährt, darf uns ehrenamtliche Mitarbeiter nicht runterziehen. Das macht für mich auch einen Teil unserer Professionalität in der Opferhilfe aus“, zeigt sich Bunjes überzeugt.

Links: Ursula Bunjes, Rechts: Petra Dolch, Fotos: Foto- und Bilderwerk Sven Seebergen

Dietmar B. hat seine Gefühle nicht mehr im Griff. Er, der nur wenige Stunden vorher noch so souverän, gelassen gewirkt hatte, scheint ein wenig verloren, seine Augen glänzen, seine Stimme ist brüchig geworden. Sein Vater, das hat er nun durch die Justiz bestätigt bekommen, gehört zu den 85 Ermordeten. Als dieser Anfang des Jahrtausends im Oldenburger Klinikum starb, hatte er eine mögliche Ursache für sein überraschendes Versterben darin gesehen, „dass es zu wenig Personal gab“, wie er sagt. „Gewissheit“, das ist das Urteil jetzt für ihn. B. tauscht noch schnell Adressen aus mit einer jungen Frau Mitte 30, auch eine Nebenklägerin, auch den Vater durch den Mörder genommen bekommen. Eine letzte Umarmung, dann geht auch B.

Dann gibt es da noch die 15 Fälle, in denen den Angehörigen noch nicht einmal jene Gewissheit vergönnt ist, von der B. gesprochen hat. Außenstellenleiterin Klein etwa sitzt nach Prozessende mit einem Mann zusammen, der seine Mutter verloren hat, als sie unerwartet in einer der beiden Kliniken verstorben ist, anschließend aufgrund dieses Verlustes in die Mühlen der Ämter und in die Obdachlosigkeit geriet, sich mittlerweile aber wieder gefangen hat. „Da ist jemand auf dem Weg, und wir können ihm vielleicht helfen. Und dann: Freispruch“, sagt Klein. Zum zweiten Mal eine vergebene Hoffnung: Der Mann hatte gehofft, seine Mutter würde wieder lebendig aus dem Krankenhaus kommen. Dann hatte er bis zuletzt gehofft, wenigstens erfahren zu dürfen, ob sie eines natürlichen Todes gestorben ist – oder nicht. Beide Male wurde er enttäuscht. „Man hört diese Geschichten und weiß, was dahintersteckt. Das fasst natürlich auch mich an. Aber ich sage meinen Mitarbeitern immer: Ihr sollt mitfühlen, aber nicht mit fühlen“, sagt Klein.

Links: Regina Palkowski, Rechts: Cornelia Erhardt, Fotos: Foto- und Bilderwerk Sven Seebergen

An diesem tristen Donnerstagmorgen endet in der Weser Ems Halle im niedersächsischen Oldenburg einer der größten Strafprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zu den mittelbaren Opfern in dieser beispiellosen Mordserie zählen die Angehörigen der Ermordeten, mutmaßlich auch die Angehörigen des Täters und all die Väter, Mütter, Töchter und Söhne der Ärzte, die für sein Verhalten nach Auffassung der Justiz ein Stück weit Verantwortung tragen und über die nun ebenfalls Recht gesprochen werden wird. Die letzte Reminiszenz an die direkten Opfer wird so schnell niemand vergessen, der dabei war: acht Minuten. Acht Minuten brauchte Sebastian Bührmann, um 85 Namen zu verlesen. Und zu jedem dieser Namen ein Todesdatum. Es waren unfassbar lange acht Minuten.

Links: Barbara Wienberg-Hoyer, Rechts: Ingrid Kleemann, Fotos: Foto- und Bilderwerk Sven Seebergen